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Inhaltsübersicht

Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-499-13412-8

ISBN E-Book 978-3-688-10814-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-10814-5

Fußnoten

Blauer Springbrunnen, menschliche Stadt, 316 Sonnentage im Jahr (Anm. d. Ü.)

Anmerkungen

Die Ablösung

Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Zweiter Teil, Sechstes Kapitel, Vom Gesindel, München, 1988 (dtv), S. 124.

Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Einführungszitat zu Der Wanderer, Erstes Kapitel, Dritter Teil, a.a.O., S. 193.

Auf dem Gipfel des Aspromonte ist der Schnee sauber

Gedicht von Giorgio Caproni aus Il franco cacciatore, Garzanti Editore, 1983.

Der Stich des Saphirs

Aus: Dante, Die Göttliche Komödie. Deutsch von Friedrich Freiherr von Falkenhausen. © Insel Verlag 1937.

Für Egi

Vorbemerkung

Die in diesem Band zusammengefaßten Erzählungen sind auf der Grundlage einer mehrmonatigen Reise entstanden, die Tahar Ben Jelloun im Jahre 1990 mit seinem Freund und Übersetzer Egi Volterrani durch Sizilien, Kalabrien und die Umgebung von Neapel führte. Die neapolitanische Tageszeitung Il Mattino hatte den Schriftsteller gebeten, literarische Erzählungen über die vielschichtige, oft grausame Wirklichkeit des Südens zu schreiben.

Tahar Ben Jelloun und Egi Volterrani legten etwa viertausend Kilometer zurück und unterhielten sich mit über hundert Ortsansässigen, von Richtern über politische Aktivisten bis hin zu Taxifahrern und Sozialarbeitern. Der Schriftsteller studierte Zeitungsartikel und Prozeßakten, füllte Hunderte von Seiten mit Notizen, hörte zu und sah hin. Tahar Ben Jelloun wollte keine Reportagen schreiben, sondern, wie er selbst sagt, «Stoffe aus der Wirklichkeit zu Fiktionen verweben und der Literatur ihre ursprüngliche Funktion zuerkennen: das ‹Einbrechen› in das scheinbar Wirkliche».

Die fünfzehn Erzählungen bilden die Versatzstücke eines Romans, dessen Hauptfigur die Mafia ist. Die Personen in den Geschichten gibt es in gewisser Weise wirklich, einige werden sich sogar wiedererkennen, doch alle sind in erster Linie von einer literarischen Wahrheit beseelt. Der Leser hat Gelegenheit, über die Schulter des Autors einen anderen, oft naiven, fremden, aber vielleicht gerade deshalb intensiveren Blick zu wagen auf eine Wirklichkeit, die von der Alltagsberichterstattung immer wieder abgedeckt worden ist, dadurch allerdings auch in ihrer Komplexität oft überdeckt wurde.

C.K.

Der blinde Engel

Im Land des gewaltsamen Todes sind manche Kinder bewaffnet. In ihren Schulranzen findet man neben den Butterbroten für die Zehn-Uhr-Pause eine Neun-Millimeter-Pistole, die ihnen oft der Onkel oder Großvater zum Geburtstag geschenkt hat.

Kinder, die töten, werden ihrerseits getötet. Im Himmel haben sie einen schlechten Ruf. Nur wenige Engel sind bereit, sie zu schützen und ihre Schritte im Jenseits zu lenken. Allein ein blinder Engel, der selbst zum unschuldigen Opfer einer Abrechnung zwischen zwei Mafia-Clans in Quindici wurde – ein Blindgänger traf seine Augen –, meldet sich freiwillig für den Empfang und die Erlösung dieser gefallenen Kinder.

Wie der Engel von Alexandra Alpha, dessen Geschichte von José Cardoso Pires berichtet wird, überfliegt er manchmal die Stadt, vielleicht nicht am siebten Tag eines strahlenden Monats, sondern an einem windstillen Frühlingstag. Letztes Mal haben sich seine Flügel in den Hochspannungsdrähten verfangen, er prallte auf einen Felsen. Seither steigt Tag und Nacht ein wenig Rauch von der Spitze dieses schwarzen Felsens hoch. Man sagt, es sei die glühende Seele des blinden Engels, die sich in die Unendlichkeit verzehrt.

Seit jenem Unglückssturz haben manche Kinder die Waffen niedergelegt.

Witwe Courage

1

Maria Rosa trägt ein ganzes verödetes Leben in ihrem Gesicht. Ein unterbrochenes Leben. Verhöhnte Jahre. Zerbrochene Ehre. Verlorene Achtung. Ihr Gesicht ähnelt der sizilianischen Erde, grob und verletzt, von der Zeit und den Menschen mißhandelt. Ein Gesicht, in dem jede Falte eine Wunde ist, eine am hellichten Tag vollzogene Verunglimpfung. Maria Rosas Hände sind jung geblieben. Sie sind feingliedrig und lang und passen nicht zu dem traurigen, schwermütigen Blick. Ihre Hände werden sich nie mehr auf Giacomos legen. Sie haben seine Augen anmutig und sanft geschlossen. Die letzte Geste einer brutal unterbundenen Zärtlichkeit. Das letzte Streicheln in diesem Herbst der roten Gräser.

Ganz in Schwarz, wartet sie, die Hände um eine schwarze Tasche verkrampft. Sie sagt nichts, sieht zu Boden und starrt dann auf einen Punkt an der Wand. Sie weiß nicht mehr, seit wann sie da ist, auf einer Bank, in diesem Gang, wo die Leute vorbeigehen, ohne sie zu sehen. Sie ist nicht zum erstenmal hier, diesem Pförtner gegenübersitzend, der rauchend Zeitung liest. In Wahrheit interessiert sich der Mann nicht für das Weltgeschehen. Er interessiert sich nur für die sizilianischen Lokalnachrichten. Er trägt einen Bleistift über dem Ohr und schreibt jeden Abend die Zahl der Toten und Verwundeten in ein Heftchen. Er zieht Summen, führt diese Buchhaltung genau und beständig. Seine Kommentare gibt er laut von sich, trägt sie aber nicht ein. Heute ist er wütend und macht kein Hehl daraus: «Es gibt keine Scham mehr! Jetzt brechen sie auch noch das Tabu und töten Frauen! Leonarda, Vicenza und Lucia, kaltblütig ermordet, um den geständigen Sohn zu bestrafen. Ein Blutbad in Bagheria. Mutter, Schwester und Tochter. Das habe ich schon lange nicht mehr gesehen, genau gesagt elf Jahre lang. Das ist doch nicht in Ordnung, oder was meinen Sie, gnädige Frau?»

Maria Rosa wendet sich ihm zu, signalisiert ihre Ohnmacht, indem sie die Augen zur Decke hebt, und verfällt dann wieder in Gedanken. Sie wartet darauf, vom Bürgermeister empfangen zu werden. Man hat ihr vorgeschlagen, einen seiner Berater zu treffen. Sie hat abgelehnt. Sie besteht darauf, mit dem Bürgermeister persönlich zu sprechen. Sie wartet. Man hat ihr gesagt, er sei außerhalb bei einer Versammlung und man wisse nicht, wann er zurückkomme. Sie hat sich in Geduld geübt und kennt die Lichtstreifen der Zeit. Ihr Gesicht ist weiß. Ein beunruhigtes Weiß. Keine Blässe, sondern die Farbe andauernder Bestürzung. Ein schwer einzukreisender Ausdruck zwischen nach innen gewandtem Zorn und einem das Gedächtnis nährenden Schmerz. Wie Blut, das nicht mehr ihres ist.

Wer hätte gedacht, daß Maria Rosa eines Tages auf diesem Gang, auf dieser Holzbank warten würde? Wer hätte erwartet, daß diese stets behandschuhten Hände heute bloß und unsicher sein würden? Der Pförtner hat die Zeitung durch. Er faltet sie sorgfältig zusammen und zieht Lottoscheine aus der Tasche, auf denen er Kästchen ankreuzt. Es ist nicht das offizielle Lotto. Es ist illegal, inoffiziell, aber durchaus öffentlich. Alle wissen davon, niemand spricht darüber.

Maria Rosa steht auf, macht einige Schritte und bleibt dann vor dem Fenster stehen. Sie sieht auf die breite Allee, die Via Roma, und deutet ein Lächeln an. Das sanfte, friedliche Licht dieses Tages entreißt sie ihrer Melancholie. Sie erinnert sich an einen Spaziergang in Gibellina mit Giacomo, ein Jahr bevor der Ort von einem Erdbeben verschluckt wurde. Es war das Jahr ihrer Hochzeit, 1967 … Giacomo hatte seinen Fleischerladen noch nicht. Damals arbeitete er bei einem Pferdezüchter aus Gibellina. Er liebte es, mit Maria Rosa im Wald spazierenzugehen, Pilze zu sammeln und auf dem Hügel zu essen.

Heute ist nichts mehr an seinem Platz. Das Städtchen auf dem Hügel gibt es nicht mehr. Nur noch einen Haufen Ruinen. Selbst die Erinnerung daran ist unwirklich. Hat sie sie erfunden, nur um die Zeit an diesem langsamen, schwierigen Vormittag totzuschlagen? Doch sie sieht noch Giacomos Körper auf dem Gras ausgestreckt, wie er sich schlafend stellte, neben sich einen Korb voll Pilze und eine Flasche Landwein. Es mußte ein Sonntag gewesen sein. Sie waren bei den Eltern zum Essen eingeladen, hatten aber den Waldspaziergang vorgezogen. Giacomo mochte die endlosen Sonntagsessen nicht, bei denen der Vater während des ganzen Essens die Fußballübertragung hörte, die immer schwarzgekleidete Großmutter das Essen kochte und sich weigerte, mit am Tisch zu sitzen. Sie war glücklich, wenn sie ihren Kindern und Enkelkindern dabei zusehen konnte, wie sie die von ihr zubereitete Nahrung aßen. An jenem Sonntag war sie verärgert. Ihr kleiner Giacomo war mit seiner Verlobten abgehauen! Maria Rosa hört noch die Klagen der Großmutter am Abend. Sie lächelt schwach und setzt sich wieder auf die Bank. Einer der Berater des Bürgermeisters geht vorbei und dreht sich dann zu ihr um:

«Sie sind doch Maria Rosa?»

«Ja, mein Herr. Ich warte auf den Bürgermeister.»

«Kann ich etwas für Sie tun?»

«Nein, nichts. Danke schön.»

«Wissen Sie, ich habe Ihren Fall verfolgt. Was Ihnen widerfährt, kann nicht geduldet werden. Ich bin mit Ihrem Anwalt befreundet. Wir empfinden die Ergebnisse der Untersuchung und des Prozesses als einen Skandal.»

«Sie kennen den Anwalt Pietro Serchio?»

«Ja, er ist ein langjähriger Freund. Möchten Sie einen Kaffee, einen Tee oder etwas anderes?»

«Nein. Danke. Sie sind sehr liebenswürdig. Ich werde bis Büroschluß warten und dann am Nachmittag wiederkommen.»

«In jedem Fall werde ich ihm Bescheid sagen, sobald er kommt.»

Der Berater geht in ein Bürozimmer. Der Gang ist leer. Der Pförtner hat seine Sachen zusammengesucht und döst auf seinem Stuhl. Das Telefon klingelt. Er schreckt hoch und hebt ab.

«Ja, Herr Bürgermeister, geht in Ordnung, Herr Bürgermeister …»

Maria Rosa springt auf. Sie will ihn sprechen. Doch der Pförtner hat schon aufgelegt.

«Er kommt heute vormittag nicht mehr.»

2

Pferde mögen kein Blut. Noch weniger Menschenblut.

Der Anblick bringt sie aus der Fassung. Letzte Nacht ist im Stall an der Piazza Scaffa in Palermo viel Blut geflossen. Junges, schnell strömendes Blut. Anfangs sind die Tiere durchgedreht. Die Kugeln haben nicht viel Lärm gemacht. Es waren die Männer, die beim Fallen bis zum letzten Atemzug gestöhnt haben. Die Pferde konnten nicht schlafen. Sie haben bei den Toten gewacht. Acht Leiber zwischen den Pferdehufen. Sieben mit jeweils einem einzigen Loch im Herzen oder zwischen den Augen. Der achte hat zwei Kugeln abbekommen, davon eine in den Rücken. Er muß sich nach der ersten Kugel noch einmal bewegt haben. Einige Blutspritzer auf den Schenkeln und Hufen der Tiere. Mit weit aufgerissenen Augen, die von einer weißlichen, glänzenden Flüssigkeit benetzt werden, haben die Pferde alles gesehen und gehört. Sie bewegen sich nicht. Zwei Körper wurden von den Pferden weggezogen, etwa zwei Meter weit. Man sieht die geradlinigen Blutspuren. Wer hat sie bewegt? Die Meuchelmörder kennen diese Art Mitgefühl nicht. Man muß davon ausgehen, daß es Verwandte waren, die informiert wurden und zur Identifizierung der Opfer herkamen. Sie haben die Leichen den Pferdehufen entzogen, die sie hätten zertrampeln können.

Im Stall ist es stockfinster. Die Nacht ist lang. Eine Herbstnacht, in der das Licht auf sich warten läßt. Ein großes Schweigen liegt über diesem Ort. Ein tiefes Schweigen, in dem die Zeit stehengeblieben ist, erstarrt wie die Tieraugen.

Auf dem Boden ist das Blut nach einem einfachen geometrischen Schema verlaufen. Vertikale Linien wie Gitterstäbe. Die Leiber liegen aufgereiht nebeneinander, wohlgeordnet. Es sieht aus, als seien sie nur in tiefen Schlaf verfallen. Manche haben die Augen noch offen. Keine Hand hat sie geschlossen. Die beiden zur Seite gezogenen Körper haben die Augen geschlossen und die Arme über der Brust gekreuzt. Ihr Blut hat eine Lache gebildet, einen unbeholfen gezeichneten Kreis.

Am Boden die Geschosse. Neun Geschosse. Sieben sind Kaliber zwölf. Zwei Kaliber neun.

Die Nacht legt sich über die Stadt wie ein Unglücksmantel. Man erwartet den Tagesanbruch, um die Leichen zu entdecken. Der Platz ist grau. Niemand kommt dort um diese Stunde vorbei. Autos parken rund um den Platz. Nicht weit davon die «Frühlingsmetzgerei». Am Vorhang ein halb zerrissenes Plakat für ein Kammermusikkonzert. Ein anderes, neueres Plakat kündigt ein internationales Kolloquium zur Architektur im Mittelmeerraum an. Eine sanfte Brise läßt den losgelösten Teil des Plakats erzittern. Auf dem Bürgersteig liegt ein auseinandergenommenes Fahrrad. Die «Frühlingsmetzgerei» hat ein schönes Aushängeschild: einen in Gips gegossenen, knallrot bemalten Pferdekopf. Darunter steht klein: Maria Rosa und Giacomo. Zwei Fahnen, die der Stadt Palermo und die Italiens, hängen an den beiden Seiten des Geschäfts.

Die Straße ist wie leergefegt. Ein Lastwagen überquert den Platz. Er kommt aus Catania oder Messina. Die Luft ist frisch. Der Himmel ist grau. Wenige oder fast gar keine Sterne.

Der Morgen wird grauen über acht Männern, die bei Anbruch der Nacht niedergeschossen wurden. Eine geräuschlose Nacht. Eine ruhige, fast banale Nacht.

Maria Rosa ist früh zu Bett gegangen. Sie weiß, daß Giacomo in Bari ist und daß er erst gegen neun Uhr morgens zurückkommt. Sie hat den Laden gegen acht Uhr abends geschlossen. Sie hat die Einnahmen abgerechnet, die Angestellten ausgezahlt, einige Haushaltsrechnungen beglichen und ist nach Hause gegangen. Heute abend sind die Jungen ausgegangen. Die Mädchen sind zu jung, den Abend außerhalb zu verbringen. Vor dem Einschlafen hat sie das Hotel Malta in Bari angerufen, in dem ihr Mann normalerweise absteigt. Beim ersten Mal war besetzt; beim zweiten Mal hat niemand geantwortet. Sie ist ziemlich schnell eingeschlafen. Hat nicht geträumt. Sie hat an Giacomo gedacht und sich gefragt, was er wohl um diese Zeit abends in Bari macht. «Wahrscheinlich spielt er mit Pancho Villa Karten.» Das ist der Spitzname des Pferdebesitzers. Er wird wegen seines Aussehens so genannt. Sie hat geschlafen und dabei ferngesehen. Die Mädchen haben sich um Kinkerlitzchen gestritten. Manchmal machen sie Theater, bloß um sich zu amüsieren. Es ist etwas kalt. Sie zieht sich die Bettdecke über den Kopf. Das erinnert sie an ihre Kindheit, als sie bei ihrer Tante in den Bergen schlief, wo es keine Heizung gab. Eine bewundernswerte Frau. Man sagt, ihr Mann sei einer von Salvatore Giulianos Statthaltern gewesen. Er soll getötet worden sein, als er einem Freund zur Hilfe kam. Er muß ein Ehrenmann gewesen sein. Kein Bandit. Maria Rosa denkt an ihre schwarzgekleidete Tante. Eine Frau, die ihren Mann kaum kannte. Sie hat schon sehr früh Trauer getragen.

Das Telefon klingelt. Sie hört es nicht. Als sie endlich die Hand ausstreckt, um den Hörer abzunehmen, verstummt die Klingel. Sie geht wieder ins Bett, erschöpft und ein wenig beunruhigt. Es ist fünf Uhr früh. Die Sonne geht gegen sieben auf. Erneut das Telefon. Sie stürzt mit klopfendem Herzen hin. Sie zittert. Am anderen Ende der Leitung eine rauhe, langsame Stimme:

«Maria Rosa, es tut mir leid, Sie mitten in der Nacht zu wecken. Gehen Sie in den Stall. Jetzt gleich, vor Tagesanbruch. Jemand erwartet sie dort. Tut mir leid, Sie gestört zu haben. Auf Wiedersehen, Maria Rosa …»

Sie hat keine Zeit, Fragen zu stellen. Der Mann hat aufgelegt. Sie hat diese Stimme noch nie vorher gehört. Warum so viele Vorsichtsmaßnahmen? Sie zieht sich schnell an. «Giacomo!» Ohne Unterlaß wiederholt sie diese drei Silben. Je öfter sie sie ausspricht, desto sicherer wird sie: es ist etwas Schlimmes passiert. In der menschenleeren Straße rennt sie. Von Zeit zu Zeit dreht sie sich um. Niemand folgt ihr. Sie sagt sich, daß es sich vielleicht um einen schlechten Scherz handelt. Nein. Sie weiß es. Sie ist sich jetzt sicher. Sie erinnert sich an die wiederholten Telefonanrufe der letzten Tage, an Tito, der wissen wollte, wo man Giacomo erreichen kann. Sie hat ihm gesagt, daß er nach Bari zu Pancho Villa gefahren ist. Tito ist ihr Lieferant. Er ist in Catania. Warum denkt sie gerade in diesem Augenblick an diesen Mann? Sie rennt, ist außer Atem. Sie sieht Giacomos Lieferwagen vor dem Stall geparkt. Da sind auch andere Autos, alle schlecht geparkt. Einige Autoscheinwerfer sind aufgeblendet. Die Tür zum Stall steht sperrangelweit offen. Drinnen stehen die Pferde reglos. Sie sieht Leute von hinten. Vor allem Frauen. Sie stürzt hinein, schreit: «Giacomo!» Andere, vorher eingetroffene Frauen weinen über den am Boden liegenden Körpern. Man hört die Sirenen der Ambulanzen und dann der Polizeiwagen. Der Stall ist von allen Seiten beleuchtet. Das Fernsehen ist vor der Polizei eingetroffen. Ein Kameramann zwängt sich zwischen die Hufe eines Pferdes, um einen guten Blickwinkel zum Filmen zu haben. Seine Weste ist blutbefleckt. Er filmt die von Schmerz zerrütteten, von Unglück verwüsteten Gesichter. Er schreit, damit ihm der Beleuchter folgt. Hände versuchen, einen Körper wegzuziehen. Die Polizei schreitet ein und pocht darauf, daß nichts angerührt wird. Der Polizeichef macht sich Notizen in einem kleinen Heft. Er schreibt Namen von Personen und Orten auf, stellt den tränenüberströmten Frauen ein oder zwei Fragen. Sie antworten nicht. Eine Frau spuckt auf die Erde, als er sich ihr nähert. Die Sanitäter beginnen, die Körper zwischen den Tierhufen herauszuziehen. Zwei Schafe rennen in Panik herum. Der Tag bricht an. Ein sanftes Licht liegt über Palermo. Der Himmel ist weiß. Die Straße erwacht zum Leben. Immer mehr Autos halten vor dem Stall. Maria Rosa geht allein auf der Straße, die Hände an den Kopf gepreßt. Sie weiß nicht, wohin sie geht. Bilder spulen sich in ihrem Kopf ab: das verkrampfte Gesicht ihres von den Meuchelmördern überraschten Mannes. Die Kugel mitten ins Herz. Die blutgetränkte Weste. Bevor er nach Bari fuhr, hatte er sie vor den Kindern geküßt. Das hatte er noch nie getan. Sie bleibt an einer Ecke stehen und weint still. Sie versteckt ihr Gesicht. Bilder des Grauens vermischen sich mit glücklichen Erinnerungen. Sie kommt zur Metzgerei. Schon drängt sich eine durch den Rundfunk informierte Menge von Schaulustigen vor dem Geschäft. Sobald sie diesen Volksauflauf sieht, kehrt sie um. Journalisten erkennen sie und laufen ihr nach. Sie stellen Fragen. Maria Rosa stößt die Journalisten mit der Hand zurück.

«Wer hat das Ihrer Meinung nach getan?» – «Wer steckt hinter diesem Blutbad?» – «Eine nahe oder ferne Hand?» – «Hatte Ihr Mann Feinde?» – «Wer hat Ihnen Bescheid gesagt?» – «Werden Sie Klage erheben?» – «Haben Sie einen Rechtsanwalt?» – «Was hat er um Mitternacht im Stall gemacht?» – «Wer sind die sieben anderen Opfer? Sind es Familienmitglieder?» – «Haben Sie Drohungen erhalten?» – «Werden Sie die Metzgerei schließen?» – «Wie alt sind Ihre Kinder?» – «Werden Sie sich rächen?»

Sie hält sich die Ohren zu und rennt davon. Die Journalisten geben auf. Maria Rosa geht nach Hause und schließt die Fensterläden.

3

Maria Rosa geht nicht mehr aus dem Haus. Sie trägt Schwarz und verbringt ihre Tage denkend und dösend in einem Sessel. Die Metzgerei ist geschlossen. Sie hat ein Schild gemalt und am Vorhang festmachen lassen. «Geschlossen wegen trostlosen Unglücks». Die Passanten lesen es kommentarlos. Sie sind es nicht gewohnt, diese Art Sätze als Mitteilung eines Todesfalls zu lesen. Maria Rosa hat sich geweigert, Todesanzeigen drucken zu lassen, die man als Plakate an die Mauern klebt. Giacomo ist tot. Das hat nichts mit Jesus am Kreuz zu tun. Also kein Plakat mit einem Kreuz. Ohnehin hat die Presse das Notwendige erledigt, und einiges mehr. Die Fotos der Opfer wurden in jeder italienischen Zeitung veröffentlicht. Eine Schlagzeile lautete sogar: «Neun Kugeln für acht Männer: welche Großtat!» Es hat zuviel Lärm um diesen Fall gegeben. Da die Journalisten die Wahrheit nicht kennen, arbeiten sie mit Mutmaßungen, erwähnen die Mafia aufgrund der Hinrichtungsart. Keine Stümperei. Oder doch: drei Männer waren rein zufällig im Stall; sie wollten nur über Nacht Schafe bei Giacomo unterstellen. Es waren Viehzüchter aus Trapani, die Metzgern in Palermo Vieh abliefern sollten. Durch eine Panne an ihrem Lieferwagen waren sie verspätet. Sonst hätten sie die Nacht gar nicht in Palermo verbracht. Die Autopanne ist die Ursache ihres Todes. Ihre Familien können Fiat einen Prozeß anhängen wegen eines Produktionsfehlers an dem noch neuen Lieferwagen. Das ist alles. Die Täter kennt niemand. So ist es immer. Die Ausführenden haben ihre Aufgabe gut erfüllt. Schnelle, saubere Arbeit. Sie sind verschwunden. Vielleicht sind sie woanders, in einer anderen Gegend dabei, eine andere Hinrichtung in die Wege zu leiten. Maria Rosa denkt nicht an sie. Sie weiß, kann schlußfolgern, daß es nicht mehr als drei waren. Sie denkt an die unsichtbare Hand dahinter. Sie sagt nichts, läßt das Telefon klingeln. Sie brütet über ihren Gedanken. Ihre beiden Söhne Paolo und Rocco reden auch nicht. Sie gehen abends nicht mehr aus und besuchen auch nicht mehr das Gymnasium. Die Schule interessiert sie nicht weiter. Die Polizei ist mehrmals gekommen, um Maria Rosa Fragen zu stellen. Sie sagt und wiederholt, daß sie nichts weiß und nichts zu sagen, nichts zu gestehen hat. Sie bewahrt Schweigen, wie es in dieser Gegend üblich ist. Man vertraut sich der Polizei nicht an. Man hilft ihr auch nicht. Wenn die Polizei kommt, stellen die beiden Söhne sich vor ihre Mutter. Man weiß nicht, ob sie sie beschützen oder überwachen. Die Beziehungen sind gespannt. Maria Rosa fühlt sich allein, isoliert und schutzlos. Sie weiß, wer das Verbrechen in Auftrag gegeben hat. Sie weiß es intuitiv. Sie hat einige Fakten zusammengefügt während der letzten sechs Monate, seit Giacomo sich entschlossen hatte, Pferde in Bari und nicht mehr in Catania zu kaufen. Sie erinnert sich an Titos drängende Anrufe. Er rief mehrmals wöchentlich an. Sie erinnert sich auch an den Tag, an dem Tito mit zwei jungen Männern in der Metzgerei erschien. Er sprach im Hinterzimmer mit Giacomo. Als er herauskam, war er verstimmt, warf einen Bottich voll Innereien und Blut um. Er entschuldigte sich und war weg. Giacomo wollte seiner Frau nichts sagen.

Maria Rosa kann dieses Schweigen nicht mehr ertragen. Sie nutzt die Abwesenheit ihrer Söhne und ruft ihre alte Freundin Carla an:

«Dir kann ich alles sagen. Ich habe keine Beweise. Aber ich weiß, die Hand kommt aus Catania. Es ist eine banale Geschichte. Mein Mann wollte auf die Dienste eines Zwischenträgers verzichten; er hat sich direkt an Titos Lieferanten gewandt. Tito war darüber nicht erbaut. Er ist mehrmals gekommen, um Giacomo daran zu hindern, nach Bari zu Pancho Villa zu fahren. Ich weiß nicht, ob er ihn bedroht hat. Vielleicht nicht. Jedenfalls hat mein Mann mich nicht eingeweiht. Für Tito bedeutete die Sache einen erheblichen finanziellen Verlust; wir besitzen die größte Pferdemetzgerei der Stadt. Als wir den Lieferanten wechselten, kamen wir Tito in die Quere, der auch befürchtete, daß die anderen Metzger unserem Beispiel folgen würden. Anfangs hat mein Mann ihm gesagt, er sei aufgrund der veterinärmedizinischen Kontrollen gezwungen, in Bari zu kaufen. Das Fleisch, das über Catania kam, war nicht behördlich anerkannt, da Tito es nicht anmeldete.

Es ist meine Schuld! Giacomo hatte mir doch gesagt, daß ich, wenn Tito oder einer seiner Mitarbeiter anrufen sollte, nicht sagen sollte, er sei in Bari. Ich hatte das aber vergessen, oder vielmehr hat mich Tito überrumpelt. Er sagte: ‹Giacomo ist doch in Bari, oder?›, und ohne nachzudenken, habe ich ja gesagt. Er hat aufgelegt, und da ist mir klargeworden, daß ich einen Fehler begangen hatte.

Ach meine liebe Carla, es tut so weh. Ich kann nicht mehr. Man hat meinem Mann eine Falle gestellt. Tito kannte den Stall gut. Er ist ein Mörder. Er soll das verdiente Schicksal eines Mörders erleiden. Die Justiz! Welche Justiz? Siehst du nicht, daß man sie ständig aus Mangel an Beweisen freispricht, als ob sie Beweise bräuchten, um zu töten und zu morden.

Welch ein Elend! Dazu muß man noch schweigen, nichts sagen, nichts tun. Meine Söhne haben mich schon gewarnt: wenn ich rede, gehen sie weg; lassen mich fallen. Denn in dieser Familie muß Schweigen bewahrt werden. Und ich bin am Ende. Das Schweigen lastet schwer. Es bohrt Löcher in den Körper. Meine Nächte sind umzingelt von diesem Schweigen, das mich am Schlafen hindert. Glücklicherweise kann ich mich bei dir aussprechen. Ich muß die Arbeit wieder aufnehmen. Alle raten mir, die Metzgerei wieder zu eröffnen. Ich tue das schon morgen. Ich werde den Lieferanten in Bari anrufen und Fleisch bei ihm bestellen.»

Wie nach einem Donnerschlag sah sie die ganze Wahrheit, sicher und überzeugt, wie einen Blitz, den nichts widerrufen kann. Doch außer Carla gab es niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Dem Richter schon gar nicht. Er hatte es schon versucht. Beinahe hatte sie ausgepackt, aber der Druck ihrer Söhne hatte sie davon abgehalten.

Einige Tage später lädt Richter Bertucelli sie vor.

4

Sie wartet auf einem Stuhl, in einem Vorzimmer. Für neun Uhr vorgeladen. Sie ist rechtzeitig dagewesen. Als sie hineinging, fühlte sie sich enteignet, ein wenig nackt. Ihr Foto ist auf allen Titelseiten, eingerahmt neben dem Foto des Massakers, auf dem man die Pferde besser erkennen kann als die am Boden liegenden Körper. Die fette Schlagzeile einer Zeitung heißt: «Dank dieser Frau werden wir erfahren, wer das Massaker verursacht hat.» Damit ist der Ton vorgegeben. Maria Rosa soll aussagen oder zumindest bei den Ermittlungen helfen. Sie wartet und denkt an ihre Aussage. Sie bildet und verschluckt dann Sätze wie: «Ich vertraue auf die Justiz meines Landes …» Dann sagt sie sich: Das ist nicht mein Ernst! Wer soll mir so etwas glauben?

Ein Pförtner bringt ihr einen Kaffee und ein Glas Wasser. Sie murmelt einige Dankesworte. Normalerweise trinkt sie ihren Kaffee bitter, heute nimmt sie Zucker. Der gleiche Pförtner bringt ihr einen Stapel Zeitungen. Sie weigert sich, sie zu lesen. Der Mann drängt. Es sei von Herrn Bertucelli. Er bestehe darauf. Sie sieht die Zeitungen durch. Übelkeit überkommt sie. Es muß der Zucker im Kaffee sein. Sie ist nicht daran gewöhnt. Sie wirft einen Blick auf die Lokalnachrichten: Tote in Marsala, in Mazara del Vallo, in Neapel … Sie zählt das Alter der Opfer im Kopf zusammen und rechnet den Durchschnitt aus: einunddreißig Jahre und drei Monate. Giacomo war zweiundfünfzig Jahre, vier Monate und drei Tage alt. Bei ihrer Hochzeit war sie zweiundzwanzig und er dreißig. Sie faltet die Zeitungen so, daß sie die Schlagzeilen der Titelseiten nicht mehr sieht.

Eine Tür geht auf. Ein Sekretär ruft sie und bittet sie in das Büro des Richters. Sie ist zum erstenmal an einem solchen Ort. Sie sieht sich das Porträt des Präsidenten der Republik an. Es flößt ihr nichts ein. Auf jeden Fall keinen Respekt. Ein wenig Gleichgültigkeit. Doch sie fragt sich, wozu es da hängt. Sie ist nicht hier, um sich diese Art Fragen zu stellen. Auch der Richter sieht das Bild an und sagt:

«Es ist ein Symbol. Das ist alles.»

Sie setzt sich dem Richter gegenüber. Daneben öffnet ein Sekretär eine Akte und setzt zum Mitschreiben an.

Der Richter:

«Haben Sie nachgedacht, gnädige Frau? Sind Sie bereit, der Justiz dabei zu helfen, die Wahrheit in dieser Angelegenheit aufzudecken?»

«Herr Richter, die Wahrheit, die kenne ich nicht. Oder besser, in diesem Land kennt jeder die Wahrheit, doch niemand ist in der Lage, sie zu beweisen. Also nützt es alles nichts.»

«Sehen Sie das nicht so schwarz. Wir wissen, daß Sie in der Lage sind, uns bei unseren Ermittlungen zu helfen. Sie müssen sich also entscheiden zu reden.»

«Nein. Ich habe nichts zu sagen.»

«Sie erheben keine Anklage, anders gesagt, Sie sind nicht Zivilklägerin im Prozeß gegen die Mörder Ihres Ehemannes Giacomo B.?»

«Es nützt doch nichts.»

«Da Sie auf Ihrer Weigerung beharren, werde ich Ihnen eine Aufnahme vorspielen, die Ihre Meinung ändern wird.»

Der Sekretär drückt auf den Knopf eines Magnetophons, dann hört man Maria Rosas Stimme: «Ich weiß, die Hand kommt aus Catania …»

Maria Rosa hört ihre ganze Beichte an ihre Freundin Carla. Die Polizei hat mitgehört.

Merkwürdigerweise wird sie nicht wütend. Sie wirft dem Richter einen Blick zu, fragt, ob sie noch einen Kaffee haben kann, und sagt:

«Da Sie wissen, woher die Täter kamen, worauf warten Sie noch, um sie zu verhaften und anzuklagen?»

«Deshalb habe ich Sie vorgeladen, gnädige Frau. Ich möchte Ihnen zuallererst sagen, wie sehr mich erschüttert, was Ihnen passiert ist. Glauben Sie mir, gnädige Frau, ich spreche zu Ihnen als Mensch und Bürger dieses Landes. Außerdem, wenn wir jedesmal die Augen verschließen, wird ihnen alles, absolut alles erlaubt sein. Diese Angelegenheit ist in mehr als einer Hinsicht ein Skandal. Vielleicht werden wir es nicht bis zum Ende schaffen, aber wir müssen reagieren. Wir sind rechtsgläubige Menschen, und wir wollen, daß unser Staat ein Rechtsstaat bleibt, das heißt ein Staat der Gesetze und der Justiz. Danke für Ihr Verständnis. Gehen wir nun zu Ihrer Stellungnahme über.»

«Ich bestätige, was ich am Telefon meiner Freundin anvertraut habe.»

«Das heißt … Können Sie es für uns wiederholen?»