Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-13511-8
ISBN E-Book 978-3-688-10820-6
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-10820-6
Die Geschichte von dem Schatz, den der Urgroßvater vor mehr als hundert Jahren im Gebirge versteckt hatte, ist wahr. Von allen kleinen Mädchen des Stammes war sie es, auf die der ausgestreckte Finger des Alten gezeigt hatte. Niemand wußte, warum. Sie war wie alle anderen Mädchen in ihrem Alter, weder zu brav noch zu wild, aber sie hatte riesig große Augen, die von einem sanften, schillernden Licht beseelt waren. «Mit diesen großen Augen», hatte der Großvater zu ihr gesagt, «wirst du Dinge sehen, die dir nicht gefallen, Dinge, die deine Seele von sich weisen wird, doch du wirst so klug und willensstark sein, nichts zu sagen und die Menschen dem Unglück, der Lüge und dem Verrat zu überlassen; du wirst zulassen, daß die Erde sie verschlingt, und du wirst die einzige sein, die weiß, warum die Menschen sich selbst ihr Grab schaufeln. Du wirst auch Wunderbares sehen: Wiesen, auf denen jeder Baum ein Spiegel ist, der der Sonne zugewandt ist und der Licht, Blumen und Früchte schenkt. Du wirst sehen, wie der Tag zuerst in deinen Augen anbricht und sich dann über Berge und Flüsse ausbreitet. Deine Augen werden der Ort sein, in dem jede Nacht, die du durchschreitest, ein Stück deiner Träume zurückläßt, in dem eine Geschichte in eine andere überleitet, in dem das Morgenlicht das Alphabet des Geheimnisses niederlegt. Das ist kein Privileg, es ist einfach so. Mein Gewissen und das Schicksal haben dich erwählt. Meine Hand hat sich auf deinen Blick gerichtet, und ich habe in der Ferne ein Aufleuchten wie ein Auflachen, wie einen wohltuenden Blitz erblickt, der vom Himmel niederfuhr und meine Geste guthieß. Du wirst lange leben und den Vorzug haben, den Tod nicht durch Krankheit und Schmerzen kommen zu sehen, sondern durch die ersten Worte des Geheimnisses, die auf der Zunge zusammenströmen. Du wirst sie aussprechen können, ohne etwas zu befürchten, denn sie sind nicht das Geheimnis, sondern seine Hülle, das, was es im Innern deiner Seele aufrechterhält. Einer Zwiebel gleich hat es mehrere Schalen, die langsam fallen. Wenn du zum Wesentlichen gelangst, wirst du den Satz aussprechen, der dich gemacht hat; die Worte werden wie Glutstücke in einen von zwei offenen Händen gehaltenen Haufen Asche fallen; der Atem der schwangeren Frau wird sie wiederanfachen, und das Geheimnis wird in dem Augenblick weitergegeben, in dem du den Geist aufgibst. So ist es. Dein Alter wird von dem Willen zum Schweigen bestimmt sein.
Nun richte deine Augen auf meine Hände; lege deine Hände auf meine Brust; schau diese von roter Glut durchzogene Asche an; hier ist das Geheimnis; wie du siehst, geht es um einen Schatz, den andere Hände unter dem vierzigsten Olivenbaum östlich vom Grab des Heiligen unseres Stammes vergraben haben; dieser Schatz soll der Enkelin der Enkelin unseres Ahnen zukommen.
All diese Steine liegen auf einer sehr braunen Erdscholle, dem Urstoff unseres Lebens, der Erde unserer Erde, dem schwarzen Sand unserer Leidenschaften, dem tiefen Bett, in dem unsere Vorfahren ruhen; diese Erde ist vom Geist unserer Eltern und der Eltern unserer Eltern beseelt; sie ist wie Asche; wenn eine fremde Hand sie berührt, wird sie Glut und verbrennt die unberechtigt eingedrungenen Finger. Nur deine Hand hat die Macht, dieses letzte Hindernis zu überwinden, ehe sie auf das feine, von der Spinne der Tiefen gewebte Netz trifft, es öffnet, ohne es zu zerreißen, und die Handfläche auf das weiße Gewebe legt, das die sieben hundertjährigen Frauen unseres Stammes gestickt haben, und an dem Goldfaden zu ziehen, der den Sack aufknüpfen wird, in dem einige Wunder dieser Welt enthalten sind.»
Nach einem Augenblick des Schweigens, in dem der alte Mann nachdenklich dalag, nahm er die Hände des kleinen Mädchens in seine, legte den Kopf oben auf das Kissen und tat seine letzten Worte mit der Langsamkeit desjenigen kund, der sich aufmacht in die Lieblichkeit der Dämmerung. «Es gibt Schätze, die auf Inseln versteckt sind. Der unsere liegt im Gebirge. Wir sind Leute der Erde, und wir kehren dem Meer den Rücken. Ich weiß nicht, was eine Insel ist. Was macht es! Ich habe die Erde gelernt, wie man lesen und schreiben lernt … und ich weiß nicht viel. Du weißt nun nicht nur, daß wir einen Schatz haben, sondern kennst auch die Stelle, wo er vergraben ist. Du wirst im zweiten Jahr deines heiratsfähigen Alters eine Ehe eingehen. Du wirst zuerst einen Sohn, dann zwei Töchter bekommen. Du wirst viele Enkelkinder haben; unter ihnen wird jene sein, deren glückliche Hand den Schatz ausgraben wird. Du wirst sie erkennen. Dein Tod wird dir Zeit lassen, das Geheimnis an sie weiterzugeben. Dann wirst du endlich den Frieden der ewigen Nacht erleben.»
Kurz darauf starb der Großvater und hielt dabei die Hände seiner kaum zehnjährigen Enkelin. Sie dachte, der Tod sei, als ob man das Licht abschaltet, sie schlief einen Teil der Nacht in den Armen des Toten, und als man den alten Mann kalt und fahl entdeckte, glaubte man einen Augenblick, auch die Kleine wäre vom Tod dahingerafft worden. Sie sprang auf und warf sich weinend über den Großvater, klammerte sich an seine Gandura und bat ihn aufzuwachen. Als sie sein erloschenes Gesicht ansah, wurde ihr klar, daß alles vorbei war; sie wich zurück, trocknete sich die Tränen und verschränkte ihre Hände vor der Brust, als hielten sie einen kostbaren Gegenstand fest. In eben diesem Augenblick wurde sie zur neuen Verwahrerin des Geheimnisses, zur Hüterin der Worte und Wege, die Beschützerin dieses nie genannten Erbes: des gegebenen und gehaltenen Wortes, in der Stille der Beichte kundgetan und weitergegeben.
Heute ist die Hüterin des Geheimnisses, eine Großmutter. Sie wartet auf die Rückkehr ihrer Enkelin, die als einzige den Schlüssel zum Schatz besitzt. Doch weiß sie es selbst?
Der Horizont ist nicht sehr fern; mit den Wolken rückt er näher, kommt bis an unser Dorf. Bei schönem Wetter entfernt er sich, wandert anderswohin. Es kommt vor, daß ich den Arm ausstrecke und den Eindruck habe, ihn zu berühren. Er ist eine gebrochene Linie aus gedrungenen Büschen und kahlen Hügeln. Wie die Ziegen, die ich hüte, klettere auch ich auf einen Baum, setze mich fest eingekeilt auf einen Hauptast und versuche zu sehen, ob etwas hinter dieser beweglichen Linie ist: Bäume und dann Hügel, über denen eine leichte Dunstschicht schwebt wie ein Segel oder ein Moskitonetz. Auf dem Baum vergesse ich alles, die Herde, den Hund und die Zeit. Ich kann einen ganzen Tag so in luftiger Höhe verbringen, ohne mich zu langweilen. Ich trällere ein Lied, ich schlummere ein wenig; die übrige Zeit träume ich. Tatsächlich hecke ich eine ganze Welt aus, von Figuren ausgehend, die mir vor dem Hintergrund des Himmels oder zwischen den Ästen des Baumes erscheinen: wilde Tiere, die ich abrichte, Menschen, die ich in einer Reihe oben auf eine Klippe stelle und beobachte, wie sie vor Angst vergehen; ich nehme sie nur aufs Korn; ich stoße sie nicht; Raubvögel, deren Merkmale ich abschwäche; Wolken, die verrückt spielen, Bäume, die umstürzen, andere wachsen in den Himmel; von dort rufe ich das unschöne Gesicht Slimas herbei. Sie ist meine Tante. Sie mag mich nicht; ich verabscheue sie. Mein Vater hat mich bei ihr gelassen, als er in die Fremde arbeiten ging. Er hat mir versprochen, mich abholen zu kommen. Ich warte auf ihn. Deshalb klettere ich auch auf die Bäume. Ich suche den Horizont und den Weg ab, in der Hoffnung, ihn eines Tages kommen zu sehen. Meine Mutter ist oft bei ihren Eltern. Sie wohnt jenseits des Hügels. Sie ist schwanger und kann sich nicht um mich kümmern. Als meine Tante sich anbot, mich aufzunehmen, wollte ich nicht mit ihr gehen. Ich wußte, daß sie mich schlecht behandeln würde. Also lasse ich, gemütlich auf dem Hauptast des Baumes sitzend, Slimas scheußliches Gesicht zu mir kommen, genauer gesagt auf die Himmelsleinwand, die ich zwischen den Blättern sehe. Ich entscheide, daß es häßlich ist. Es ist knetbarer Ton. Ich mache zwei Löcher anstelle der Augen und einen großen waagerechten Riß anstelle des Mundes. Die Nase ist gespalten. Mit meinen Füßen trete ich so lange, bis alles sich vermengt und man keine menschliche Form mehr erkennt.
Warum entweicht die Häßlichkeit der Seele aus dem inneren Gehäuse und legt sich über das Gesicht? Körperliche Häßlichkeit beängstigt mich nicht. Es ist die andere, die ich fürchte, weil sie tief ist und von so weither kommt. Sie tritt auf dem Gesicht zutage und bringt Unglück. Sie gräbt sich ihr Bett auf dem Körper und in der Zeit. Alles ist in den Augen. Wenn sie in gelbem Wasser schwimmen, bedeutet dies, daß sie von der Häßlichkeit der Seele angesteckt sind. Meiner Tante steht der Haß in den Augen. Sie sind bisweilen gelb, rot, wenn sie in Wut gerät. Obwohl klein, verschlingen ihre Augen das Gesicht. Sie sind klein und tiefliegend wie enge Löcher, durch die der Haß dringt. Er ist eine Flüssigkeit, die im Körper kreist. Es ist an uns, sie umzuwandeln, ihr ein wenig Menschlichkeit zu verleihen. Mir gelingt es nicht, den Haß meiner Tante nicht zu erwidern. Tatsächlich gebe ich den Schmerz an den Verursacher zurück. Ich weigere mich, ihr die Tür zu öffnen. Ich bin nicht töricht. Sie denkt, ein Kind sei unfähig zu verstehen, was um es herum vorgeht. Ich verstand nicht nur alles, sondern ich blieb obendrein nicht stumm und passiv. Mein erster Zusammenstoß mit meiner Tante geschah nachts. Ich schlief nicht. Ich war aufgestanden, um auf dem Hof herumzulaufen. Der Mond war voll, oder jedenfalls beinahe. Es war hell. Ich ging lautlos. Als ich den Stall betrat, bemerkte ich, daß die Kühe einen sehr leichten Schlaf hatten. Sie waren alle aufgestanden, glaubten wohl, es sei Zeit, herausgelassen zu werden. Panik ergriff mich. Meine Tante, vom Lärm der Tiere alarmiert, kam mit einem Stock bewaffnet in den Stall. Sie meinte, es mit einem Dieb zu tun zu haben. Sie schlug mich. Sie hatte mich natürlich erkannt, aber sie schlug weiter, als wäre ich ein Sack Heu. Ich zählte die Schläge. Zehn, zwanzig, vielleicht dreißig. Mein Körper war unempfindlich. Jeder Schlag war wuchtig vor Haß und Groll. Ich würde ihr nicht verzeihen. Nicht vergessen. Ganz im Gegenteil. Ich dachte schon an die Zukunft. Sie, alt, gebrechlich, ich, jung und stark, würde sie nicht schlagen. Sondern sie nur ansehen, sie beobachten, ihren Schmerz ermessen und lachen, ohne mich zu regen, ohne etwas zu tun, nicht einmal lachen, gerade eben lächeln. Nur ihre Augen würden einige letzte haßerfüllte Flammen schleudern. Ich würde den Haß nie mit Bösem vergelten, sondern ihn, ohne etwas hinzuzufügen, erwidern, ihn zurückgeben, ihn zurückverweisen an diesen müden, prallen und verbrauchten Körper. Er würde Löcher hineinmachen können, und ich würde dem beiwohnen, ohne zu reagieren. Ich dachte mir, daß ich nicht denselben Weg einschlagen durfte wie sie. Sie sagte, ich sei eine Tochter des Dämons. Ich war wild, aber nicht böse. Ich liebte dieses Dorf, seine Hügel, seine Bäume, seinen Schlamm und seine Bewohner. Es war mein Dorf. Ich trug es in mir, auch wenn es nicht dem wirklichen Dorf glich. Doch ich hatte nicht vorgesehen, meine Tante darin wohnen zu lassen. Wenn ich an das Dorf dachte, sah ich sie nicht in seinen Gassen auftauchen. Manchmal hörte ich ihre Stimme, heiser und brutal. Eine Stimme wie geschaffen zum Schreien, zum Brüllen, zum Schimpfen und Herrschen. Sogar die Tiere hatten Angst vor ihrer Stimme. Sie sollte sie davon abhalten, wiederzukäuen oder sich auf dem Heu niederzulassen. Sie sahen sie von der Seite an, als wagten sie nicht, ihr gegenüberzutreten. Von Zeit zu Zeit wagte meine Tante einige Gebärden, die Liebkosungen sein sollten. Die Kühe stießen sie zurück, die Schafe entzogen sich ihrer Hand. Alle Welt wies sie ab. Sogar die Steine glitten hinweg, wenn sie vorbeikam. Die Bäume regten sich nicht. Sie waren stumme Zeugen eines Dramas, das sich täglich abspielte. Die Nachbarn mischten sich nicht in unsere Angelegenheiten ein. Manchmal murmelten sie einige Gebete, damit es zwischen ihnen und uns keinerlei Berührung gebe. Darauf legte übrigens niemand Wert. Ich hätte gern Freundinnen gehabt, gern gewußt, daß ich nicht allein und verlassen war, wäre gern beschützt worden und hätte gern gewußt, daß ich mich zu den einen oder anderen flüchten konnte. Ich durfte nicht einmal sagen, daß ich ohne Familie war, daß meine Eltern weit weg, jenseits der Meere waren, daß zwischen ihnen und mir gleichsam ein hohes, unüberwindliches Gebirge stand. Ich wartete ungeduldig auf den Sommer, um meinen Vater zu sehen. Meine Mutter traf sich mit ihm. Sie kamen für zwei oder drei Wochen ins Dorf. Sie waren hier, um sich zu erholen, und ich hatte weder Zeit noch Gelegenheit, mit ihnen zu sprechen, allein mit ihnen zu sein und ihnen von meinen Qualen zu erzählen. Meine Tante wurde nett, wenn der Sommer herannahte. Sie kaufte mir ein Kleid, Sandalen, gab mir regelmäßigere Mahlzeiten und zwang mich, Körner zu essen, die dick machen. Sie sagte: «Hier, iß helba, das wird dich ein bißchen kräftigen!» Tatsächlich blähte es mich auf. Meine Formen wandelten sich ein wenig, aber da ich schmächtig war, sah man sogar die winzigsten Veränderungen. Ich wollte den Aufenthalt meiner Eltern nicht verderben. Ich vermied es, ihnen Probleme zu bereiten.
In einem Sommer wurde mein jüngerer Bruder krank. Er wurde bleich und erbrach alles, was er aß. Meine Eltern beschlossen, ihn im Dorf zu lassen. Meine Tante war entzückt. So wurde ihr ein weiteres Opfer geboten. Sie ahnten nichts von dem Unheil, das diese Frau vorbereitete. Ich wußte es. Gleichzeitig sagte ich mir, daß wir es zu zweit vielleicht schaffen würden, das Drama abzuwenden.
Es ging schnell und stürmisch. Er verlor die Sprache, dann die Stimme. Er sah uns mit seinen großen Augen erschrocken an. Er bat uns auf diese Weise, etwas zu tun, uns bei Gott oder beim Dorfheiligen dafür einzusetzen, daß die Schmerzen im Bauch aufhörten und ihm die Fähigkeit zu sprechen zurückgegeben würde. Auf seinem Gesicht lag eine überraschende Heiterkeit, wie ein natürliches, ständiges Lächeln. Seine Augen vergrößerten sich, um alle Tränen der Kindheit aufzunehmen. Er weinte nicht, sondern starrte in den Himmel, als befrage er irgendeinen Stern über den Ursprung dieses Leidens. Sein Bauch war aufgebläht. Er hatte seine kleinen Hände darauf gelegt. Die Leute, die ihn besuchen kamen, machten ihm angst. Er hielt sie wohl für Riesen, für zudringliche Geister. Er wandte den Kopf ab, um sie nicht zu sehen. Wenn meine Tante sich ihm mit einer Schale heißer Milch näherte, stieß er sie zurück und verschüttete die Milch über ihre Hände. Sie heulte auf und stammelte etwas Böses. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich ein Gesicht grün werden. Einige Sekunden lang erblickte ich flüchtig den Tod. Er hatte die Züge meiner Tante mit ihrer blaßgrünen Haut. Dieselbe Farbe griff auf die Wangen, dann auf die Stirn meines Bruders über. Seine Augen blieben offen. Es war nichts mehr darin. Keine Tränen mehr. Kein Bild mehr. Seine verkrampften Hände stellten den Schmerz endgültig ab. Er war emporgehoben auf ein Laubdach. Sein durchsichtig gewordener kleiner Körper schwebte zwischen den Wolken. Ein Vogel, vielleicht eine Taube, flog über das Haus. Eine heiße Windbö fegte durch den Hof. Sie trug das Strohlager davon, nachdem sie umhergewirbelt war, als suche sie die Sachen des Kleinen. Das war das gelbe Lachen der Wüste. Dieses Lachen kommt häufig, um ein Haus reinzuwaschen, in dem der Tod seine Arbeit schlampig verrichtet hat. In unserem Fall war er auf der Seite der Ungerechtigkeit und des Wahnsinns. Er war auf Wunsch einer Hexe gekommen. Der Tod kennt keine Scham: er verbündet sich mit den Räubern und mit der Unordnung. Er ist eine Hand aus Granit, die in den Strohbunden stöbert. Dorthin flüchteten wir uns oft, wenn wir den Tod von jemandem aus dem Dorf erfuhren. Wir versteckten uns, weil wir Angst hatten, daß er im Vorbeigehen einen von uns dahinmähte, einfach so, nur um nicht allein zu sein, um sich von einem Kind begleiten zu lassen, das ihm den Weg zum Himmel zeigen, ihm die magischen, unsichtbaren Pforten öffnen sollte. Denn ein totes Kind ist ein Engel, der geradewegs ins Paradies kommt. Man hatte es uns so oft gesagt und wiederholt, daß wir es schließlich glaubten. Auch wenn er ein Engel im Paradies geworden war, mein Bruder fehlte mir schrecklich. Ich konnte mich nicht in sein plötzliches Verschwinden finden und fuhr fort, ihm Geschichten zu erzählen. Ich war besessen von der Farbe Grün. Jedesmal wenn mein Blick auf meine Tante fiel, überzog diese Farbe ihr Gesicht. Ich sah die Leute nämlich in Farben, und Grün war meiner Tante vorbehalten; ich fügte noch etwas Gelb für die Augen hinzu, tat Blau auf die Lippen und stellte, wie es mir paßte, ihr von Mißgunst und Haß verzehrtes Hexenhaupt zusammen. Der Wille, meinen Bruder zu rächen und meiner Familie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, verlieh meiner Phantasie eine ungeahnte Kraft. Ich war stärker und intelligenter geworden als diese für das Böse begabte Frau.
Unser Dorf war weit weg von der Stadt. Der Tod konnte nur von Gott kommen. Ein krankes Kind starb, weil es keinen Arzt gab und weil die Heiler alle Scharlatane waren. Der Tod ist das letzte Wort des Schicksals. Wer würde wagen, daran zu zweifeln? Mein Bruder war vergiftet worden. Ich wußte es. Ich habe es immer gewußt. Ich konnte es nicht beweisen. Ich war alt genug zum Trauern. Das durch seine Abwesenheit verursachte Schluchzen durfte ich nicht öffentlich zeigen. Ich behielt es für mich, ich hielt es lange zurück, und ich schluchzte weit weg vom Haus, wenn ich allein bei meiner Herde von Kühen und Ziegen war, ich weinte Stunden, im Schatten eines Baumes sitzend und mit meinem Hirtenstab spielend. Das erleichterte mich. Ich dämmerte in einem angenehmen Frieden dahin, während ich aus den Augenwinkeln die Tiere überwachte. Früher war mein Bruder dazugekommen, und wir schmiedeten angenehme Zukunftspläne. Wir sprachen gern laut von unseren Träumen: das Dorf verlassen, die ganze Familie um meinen Vater vereint sehen, kiloweise Bonbons kaufen und sie an die anderen Kinder verteilen, nagelneue Kleider tragen, Coca-Cola trinken, Kaugummi kauen, in einem Auto fahren, auf den Jahrmarkt gehen, Schuhe tragen … So machten wir Listen von unseren Träumen. Er war schüchterner und wagte mir nicht alles zu sagen. Wenn er mir von dem erzählte, was er gern haben oder tun wollte, wurde er ernst, als hätte er eine Vorahnung seines Todes. Seine Stimme veränderte sich. Sein Blick wanderte in die Ferne, dann senkte er sich, so als sähe er nichts kommen. Er war ein trauriges Kind, weil er nie begriffen hatte, warum sein Vater nicht da war, bei uns. Alle seine Träume kreisten um den abwesenden Vater. Er sagte: «Mein Traum ist mein Vater. Wo ist Lafrance? Es ist weit weg! Wenn ich bis zu dem Hügel dahinten laufe, sehe ich dann das Lafrance von meinem Vater? Weil ich immerzu an ihn denke, habe ich sein Gesicht vergessen. Kannst du mir sagen, wie sein Gesicht aussieht? Neulich habe ich es meiner Mutter gesagt, sie hat angefangen zu weinen. Es stimmt, manchmal sehe ich es genau, es ist ganz nah bei mir, ich brauche nur die Arme auszustrecken, um es anzufassen. Dann wieder ist alles verschwommen. Sein Gesicht sieht aus wie eine Wolke. Wenn er nicht zurückkommt, gehe ich ihn suchen. Ich nehme den Freitagsbus, und in der Stadt wird es schon jemanden geben, der mir zeigt, wo Lafrance liegt. Ich erinnere mich sehr gut an seinen Geruch. Das riecht nach Benzin, Schweiß und einem Gewürz, das Mama in den Tajine tut. Kennst du seinen Geruch?»
«Ja, natürlich, aber es ist kein Benzin dabei …»
«Nein, ich meine, es riecht nach dem Benzin vom Bus, wenn er im Dorf ankommt. Er riecht nach Reisen …»
Sein Blick verlor sich eine Weile in einer Träumerei, dann murmelte er: «Mein Vater ist wegen meiner Tante weggegangen. Sie haben sich gestritten. Er hat sich ihrer geschämt. Ich erinnere mich, daß sie geschrien hat; er hat Angst bekommen, und ein paar Tage danach hat er uns verlassen.»
«Nein. Er hat uns nicht verlassen. Er ist in die Fremde gegangen, um zu arbeiten, wie der Mann meiner Tante. Er ist für uns weggegangen. Um uns Geschenke mitzubringen. Erinnerst du dich an das Auto mit Batterie, das ganz von allein fuhr und unserer Großmutter angst machte?»
«Ja, aber er wird nicht zurückkommen. Ich weiß es.»
Genau in diesem Augenblick flog ein Nachtvogel über uns hinweg, und ich wußte, daß eine Tragödie hereinbrechen würde. Es war Zeit, die Tiere nach Haus zu bringen. Mein Bruder betrachtete weiter reglos den Horizont, während ich auf der einen Seite die Kühe und auf der anderen Seite die Schafe zusammentrieb, um sie zum Stall zu führen. Ich war nervös. Mit meinem Stock peitschte ich die Luft. Es pfiff. Das war ein Zeichen für Unglück.
Das Abendessen war quälend. Meine Mutter aß nichts. Sie hatte keinen Hunger. Auf ihrem Gesicht lag der Ausdruck einer stummen Besorgnis. Abergläubisch wie der ganze Stamm ahnte sie etwas Tragisches voraus. Meine Tante machte einen schlechten Scherz, dann warf sie meiner Mutter vor, faul zu sein. Sie wollte sie provozieren; meine Mutter sagte nichts, stand auf und murmelte im Hinausgehen so etwas wie ein Gebet: «Möge Allah uns vor dem Übel beschützen, und möge der Abwesende bei guter Gesundheit sein.» Sie dachte an meinen Vater. Davon war sie regelrecht besessen. Sie ertrug es sehr schlecht, von ihm getrennt zu sein, und fürchtete wie alle Frauen von Emigranten einen Arbeitsunfall oder einen Überfall auf der Straße. Es kam ihr nicht in den Sinn, daß das Unheil ihren Sohn treffen würde. Das Gift war in eine Boulette aus Hackfleisch geknetet. Als er nach Hause kam, hatte er Hunger. Meine Mutter war noch auf dem Feld. In diesem Augenblick ließ meine Tante ihn die tödliche Boulette essen.
Nach diesem schaurigen Abendessen wurde meinem Bruder speiübel, er hatte Angst, allein nach draußen zu gehen. Ich begleitete ihn; aber es gelang ihm nicht zu erbrechen, was ihn drückte. Wir blieben bis spät in die Nacht auf dem Hof. Alles schlief. Wir betrachteten den Sternenhimmel, als er mich bat, ihm das Gesicht unseres Vaters zu beschreiben. Ich war erstaunt und hielt es für ein Spiel:
«Er ist groß, er ist schön; er ist zärtlich und so nett; seine Augen sind voller Sanftmut, seine breiten Hände sind wie ein Bett; ich lege gern meinen Kopf zum Schlafen und Träumen hinein; mein Vater ist der schönste Mann des Stammes, er ist gut, er könnte niemandem etwas Böses antun; ich habe ihn nie zornig gesehen; ich habe ihn nie schreien hören; er verrichtet alle Gebete und bittet Gott, uns das Beste zu geben …»
Er unterbrach mich und verlangte eine genaue Beschreibung seines Gesichts:
«Seine Augen sind schwarz; seine Brauen wachsen zusammen; seine Nase ist klein; sein Kinn ist rund, und seine Wangen sind schön voll. Er hat eine breite Stirn mit einigen Falten. Seine Haare sind dicht und seine Ohrläppchen fleischig … Anscheinend ist das ein Zeichen für Güte und Reichtum …»
Er schlief mit halboffenen Augen. Ich legte meine Hand auf seine Stirn. Er hatte hohes Fieber. Ich versuchte ihn zu wecken. Es gelang mir nicht. Sein Schlaf war tief, als wäre er ohnmächtig. Ich lief meine Mutter holen. Wir trugen ihn ins Haus und blieben bis zum frühen Morgen bei ihm. Er fuhr aus dem Schlaf auf, erbrach in einem Strahl eine grünliche, mit Blut vermischte Flüssigkeit. Bei Tagesanbruch war er tot.
Die ganze Nacht ruhten meine Augen auf ihm. Ich sah zu, wie er das Leben verlor, oder genauer gesagt, ich beobachtete, wie das Leben langsam aus diesem kleinen Körper wich, der nicht einmal Zeit gehabt hatte, krank zu werden. Es verließ ihn in anfallartigen Stößen. Es hatte eine eigentümliche Form: es war Luft, die nach Schimmel roch. Die letzten Stöße waren ekelerregend. Und ich atmete diese übelriechende Luft tief ein, um das Leben dieses Bruders in mir zu bewahren, dessen Unschuld wie eine Wunde in mir brannte. Mir drehte sich der Kopf: eine Mischung aus Migräne und Schwindel trug mich beinahe weit fort aus diesem Zimmer, wo ich alle Gegenstände zu hassen begann, weil sie gleichmütige Zeugen eines ungerechten Todes waren. Ich sah sie an, starrte sie an, bis meine Lider zitterten. Es war im Hauptraum, in dem gegessen und geschlafen wurde. Nur meine Tante hatte ein Zimmer, nicht sehr groß, aber recht behaglich. Das mußte der geheime Ort sein, wo sie die tödlichen Zusammenstellungen und Mischungen zubereitete. Sie schloß sich darin ein und erlaubte niemandem, die Schwelle zu übertreten, nicht einmal (vor allem nicht) meiner Mutter. Es war der einzige Raum des Gehöfts, der eine Holztür mit Schloß und Schlüssel hatte. Nachts, bei Kerzenlicht, heckte sie ihre Pläne aus. Leute kamen zu ihr. Sie schloß sich mit ihnen ein, und wir durften ihr keine Fragen stellen. Erst viel später erfuhr ich, daß sie in den Nachbardörfern dafür bekannt war, daß sie Hexerei betrieb und regelmäßige Verbindung mit den Dämonen unterhielt.
Wir schliefen auf mit Stroh und Heu gefüllten Matratzen. Sie waren dünn und schmiegten sich der Form des Bodens an. In der Raummitte ein niedriger Tisch, am Eingang ein Wasserkessel, eine große Teekanne auf einem Tablett. An der Wand ein blasses Bild der Kaaba, eine an einem Nagel hängende Gebetskette. Wir hatten keine Uhr. Die Uhrzeit brauchten wir nicht. Auf diese erdfarbene Wand projizierte ich nächtelang die Bilder meiner Träume. Ich verlieh jeder natürlichen Form Gestalt; ich spielte mit ihr. Meine Träume waren die einer Hirtin, die alle Tiere, die sie betreute, zum Schlachthaus schicken wollte; ich wollte sie loswerden, um diesen Ort verlassen zu können, der seit dem Weggang meines Vaters verflucht war. Irgendwohin aufbrechen, diesen Hof verlassen, der Hexe entrinnen, in die Stadt gehen, die Schule besuchen.
Unser Dorf mußte ein Irrtum sein. Weit entfernt von allem, war es nur mit dem Maultier zu erreichen. Die Männer waren alle entweder in die Stadt oder ins Ausland gegangen. Hier waren nur Frauen, Kinder und ein paar Alte. Es war ein Dorf, das vom Leben kaum gestreift wurde. Die Zeit war darin stehengeblieben, und die Leute hatten geglaubt, alles würde sich verändern, die Elektrizität würde ihren Einzug in diese Ansammlung leerer, schwankender Häuser halten. Wir hatten weder Elektrizität noch eine Straße; Wasser hing von den Regenfällen ab. Krankenhaus, Schule, Propangas, Papier, Farbstifte – das war das Ende der Welt, die andere Seite der Nacht, unerreichbar.
In der einzigen kleinen Moschee war eine Koranschule untergebracht. Aber Mädchen hatten keinen Zugang. Mein Bruder besuchte sie; ich begleitete ihn ab und zu, schlich dann wie eine Irre um sie herum und nahm das Echo der Suren auf, die von der ganzen Klasse vorgetragen wurden. Ich wiederholte sie ungeschickt, ohne etwas zu verstehen. Ich tobte, ich trampelte auf den Boden und verfluchte die Schule und den blinden alten fqih. Eines Tages zog ich die Djellaba meines Bruders über, verhüllte den Kopf mit der Kapuze und ging an seiner Stelle. Er war froh, daß er an dem Tag nicht in die Schule mußte. Er führte die Tiere hinaus, und ich nahm seine Schiefertafel und schlich mich mit gesenktem Kopf mit den anderen Jungen ein. Die Kinder fingen an zu lachen. Der fqih gebot Schweigen und suchte mit einem langen Stock, ohne sich von der Stelle zu bewegen, nach dem Eindringling. Er tastete einen Augenblick, dann traf die Stockspitze meinen verhüllten Kopf; mit einer präzisen Bewegung schob er die Kapuze herunter. Ich war wie nackt. Die Kinder schrien. Der fqih gab mir einen harten Schlag auf den Kopf. Ich stieß einen Schrei aus und rannte davon. Ich hörte den Alten sagen: «Blind, ja, aber nicht dumm … Die Weibchen erkenne ich, sie riechen schlecht … Fahren wir fort …» Seit dem Tag wurde die Schule mein einziger Traum. Nicht diese hier, die keine Mädchen mochte, sondern die andere, die Ingenieure, Professoren, Piloten hervorbringt …
Ich war also zehn Jahre alt und konnte weder lesen noch schreiben. Wenn mein Vater uns einen Brief schickte, wollte ich ihn unbedingt aufmachen und tat so, als läse ich ihn. Ich erfand alles. Meine Mutter lachte, blieb aber unsicher. Sie wartete auf die Rückkehr des Briefträgers oder das Kommen des fahrenden Lebensmittelhändlers, der kaum lesen konnte. Mein Lesen gefiel ihr … Sie glaubte, ich sei hochbegabt und habe ganz allein bei den Kühen oder allenfalls bei meinem Bruder lesen gelernt. Ihm fiel es schwer, die Schrift meines Vaters zu entziffern. Er bemühte sich, dann gab er mit der Behauptung auf: «Er schreibt, daß alles in Ordnung ist und daß er bald kommt.»
Danach nahm ich den Brief und sagte, wobei ich die Wörter wie jemand buchstabierte, der zum erstenmal das Alphabet entdeckt:
Im Namen Gottes des Barmherzigen (alle Briefe begannen so, ich konnte mich also nicht irren),
Flins, Sonntag, April 19.., na ja, in diesem Jahr …
Meine Lieben, meine Allerliebsten!
Ich denke alle Tage an Euch. Ich bin bei guter Gesundheit.
Mir fehlt nichts als der Anblick Eurer Gesichter. Es ist kalt.
Ich ziehe mich warm an. Wie geht es Dir, meine Frau, und Dir, Driss, und Dir, Fathma? Ich habe Geld geschickt. Ich habe El Hadj ein Geschenk für jeden mitgegeben. Er fährt bald nach Hause. Möge Allah Euch vor dem bösen Blick schützen. Hier ist alles in Ordnung. Alle Cousins grüßen Euch, Omar, Brahim, Mohamed, Kaddour. Grüßt die ganze Familie …
Meine Mutter wunderte sich immer über die Kürze der Briefe. Die Tante wurde jedesmal wütend, weil ich sie nicht erwähnte. Mein Vater konnte seine Schwester nicht übergehen, aber mein Lesen gehörte mir, und ich sagte, was ich hören wollte. Sie riß mir den Brief aus der Hand und brüllte: «Ich werde dieses Stück Papier zum Sprechen bringen; ich werde die Wahrheit erfahren; und du, schändliche Nichte, ich weiß, daß du nicht lesen kannst, du bist eine Schauspielerin, du machst dich über Ältere lustig, aber Gott wird dich auf den geraden Weg zurückführen. Ich überlasse dich Gott und seinen Propheten … Du hast vor niemandem Achtung …»
Meine Mutter sagte nichts. Sie vermied Auseinandersetzungen mit dieser Megäre. Sie blieb dem Stamm fremd und zog es vor, zu schweigen und nicht zu reagieren, da sie wußte, wozu ihre Schwägerin imstande war. Diese war unfruchtbar und beschuldigte ihren Mann, er sei unfähig, ihr Kinder zu machen. Sie schämte sich überhaupt nicht, diese intimen Probleme vor der Familie zu erwähnen. Sie sagte, ihr Mann hätte am Tag vor ihrer Hochzeitsnacht bestimmt etwas Verdorbenes gegessen. Sie war sich dessen völlig sicher und lehnte es sogar ab, einen Heiler aufzusuchen. Einmal, als das Ärzteauto da war – es kam alle vierzehn Tage –, verlangte ihre Mutter von ihr, zum Arzt zu gehen. Sie weigerte sich unter dem Vorwand, meine Großmutter dränge sie, einem Mann ihren Körper zu zeigen; sie fiel zu Boden und täuschte einen epileptischen Anfall vor. Seit dem Tag sprach meine Großmutter kein Wort mehr mit ihr. Die Achtung vor den Eltern ist eine der Vorschriften Allahs. Auch wenn sie unrecht haben, ist es die Pflicht des Muslims, ihnen zu gehorchen. Mein Vater hatte mir das erklärt, als ich noch ganz klein war; ich hatte etwas Dummes angestellt und dann meine Mutter als Lügnerin bezeichnet. Das war ein schwarzer Tag für mich. Mein Vater sperrte mich im Stall ein und gab mir den ganzen Tag nichts zu essen. Ich erinnere mich, daß ich das schmutzige Wasser aus einem der Tröge trank. Die ganze Nacht hatte ich Schmerzen, aber nicht wegen des Wassers. Ich war verletzt – ich schämte mich –, und seit dem Tag weiß ich, daß man den Eltern nie die Achtung versagen darf.
Am nächsten Tag blieb ich für einen großen Teil des Nachmittags verschwunden, um meinen Zorn verrauchen zu lassen. Ich hatte im Gebirge ein ideales Versteck gefunden, eine Spalte im Fels, die einer kleinen Grotte glich. Es war mein Nebenhaus, Zufluchtsort und Gruft. Sobald ich darin war, versperrte ich den Eingang mit einem dicken Stein und etwas Laub. Im Sommer war es sehr angenehm. Ich sah dort die Figuren aus meinen Träumen wieder. Jede wurde von einem größeren oder kleineren Kieselstein dargestellt. Da waren der König und die Königin, der Bettler und der Narr, da war der verschleierte Kavalier und außerdem meine Familie. Mein Vater war ein glatter Kieselstein, der sich gut anfühlte; ich legte ihn rechts neben den König, einen schönen, von Kristallen durchwachsenen Felsstein, den ich der Gerechtigkeit verpflichtete. Wenn ich eine Klage vorzubringen hatte, wandte ich mich an diesen herrlichen, mit allen Fähigkeiten ausgestatteten Stein. Die Königin trat nie in Erscheinung. Sie war ein schöner Stein, mit einem Goldfaden umwickelt, den ich meiner Tante gestohlen hatte. Mein Kavalier war kein Stein, sondern ein Stück Holz, das ich geschnitzt und mit Blütenblättern farbig geschmückt hatte. Ich ließ ihn nicht in meine Geschichten eingreifen. Ich hob ihn für später auf, für den Tag, an dem ich gezwungen sein würde, das Dorf zu verlassen. Der Bettler war ein wenig feuchter Sand. Wenn ich ihn anpustete, fiel er um und wurde der Narr des Königs. Mit Speichel vermischt, bewegte sich der Sand, und eben das war die Narrheit. Denn ich wußte, daß niemand sich vor dem König bewegen durfte.
Meine Mutter war die Hälfte des glatten Steins, der meinen Vater darstellte. Mit einem Stück Kreide hatte ich in der Mitte einen Strich gezogen, und ich wußte, daß diese beiden Menschen «für das Leben bis in den Tod» unzertrennlich waren. Mein Bruder war ein zarter kleiner Kieselstein, der zerbröckelte, sobald man ihn anfaßte. Nun, und meine Tante, die war kein Stein, sondern ein toter Skorpion, den ich aufgehoben und hinten in meiner Grotte untergebracht hatte.
Das war mein geheimer Garten, meine Koranschule, mein festlich erleuchtetes Haus. Ich häufte dort eine Menge Gegenstände an, die, einmal darin, ihre Funktion einbüßten und Figuren eines Traumes wurden, deren Leben ich bis ins kleinste gestaltete: das Messer diente nicht mehr zum Schneiden, sondern stützte das Dach des Palastes; die Tonschale war das Tal, in dem sich die Soldaten ausruhten, der kleine Holzlöffel eine Barke für mich und meinen Bruder …
Ich verbrachte Stunden damit, in diese Wiese aus Sand und Kieselsteinen Ordnung zu bringen. Wenn ich etwas Zeit hatte, stellte ich mein Alphabet auf. Ich hatte eine natürlich gestohlene Korantafel, auf die ich Buchstaben schrieb, die weder berberisch noch arabisch, noch ausländisch waren. Es waren Zeichen, die mir gehörten; nur ich kannte ihren Schlüssel, ihren Sinn und ihre Bestimmung.
Ich sprach nur Berberisch und wußte nicht, ob es geschrieben wurde. Die Briefe, die mein Vater uns schickte, waren von einem öffentlichen Schreiber in arabisch verfaßt. Wenn der Briefträger uns den Brief vorlas, verstand ich nicht viel, aber ich erriet den Sinn.
Mein Alphabet waren kleine Zeichnungen und Farben, Punkte, Kommas, Striche, Sterne … Eines Tages folgte mir mein Bruder und überraschte mich, als ich gerade den dicken Stein beiseite schob, der als Tür diente. Ich fuhr zusammen und hatte keine andere Wahl, als ihn hineinzulassen, und er mußte schwören, es nie irgend jemandem zu erzählen. Unsere beiden Körper schlüpften in die Grotte, und während ich meinen Bruder um die Schulter gefaßt hielt, stellte ich ihm meine Figuren und Freunde vor. Das löste bei ihm einen Lachanfall aus. Er hatte nicht geahnt, daß seine Schwester so verstiegen und unverfroren war, ein anderes Haus zu besitzen und eine andere Welt zu regieren. Er fragte mich, ob er an diesem Traum teilnehmen könne, denn er hatte auch Figuren, die er aus Wolkenstücken ausschnitt und in seinem Köpfchen spazierenführte.
Ich machte eine kleine Ecke frei und bot sie ihm an:
«Hier ist dein Haus. Du darfst einladen, wen du willst; aber Vorsicht, kein Streit zwischen meinen und deinen. Vorläufig bleibt jeder bei sich zu Hause. Nach und nach öffnen wir die Grenzen und bringen sie zusammen.»
Er war glücklich. Er trampelte vor Freude. Seine Figuren waren Zeichnungen aus einem Heft. Er hatte sie ausgeschnitten und mit angefeuchtetem Mehl auf Holzbretter geklebt; es waren lauter Tiere: ein Dromedar mit zwei Köpfen, eine Schlange mit Strohhut, ein einbeiniger Hahn, ein geflügeltes Pferd, ein Stier mit Menschenkopf, ein Eselchen … Er sagte mir, daß er der Esel sei, wegen dessen Freundlichkeit. Die anderen Tiere stellten wahrscheinlich nur sich selbst dar. Er empfand für die Mitglieder der Familie keinerlei Bitterkeit. Nur mein Vater hatte das Recht, von einer strahlenden Sonne dargestellt zu werden. Diese Zeichnung trug er immer bei sich und zeigte sie niemandem.
Hier hatten wir unsere Geheimnisse verwahrt und verschlossen, fernab von jeder Neugier. Es kam vor, daß er allein zur Grotte ging, wo er Schlachten zwischen allen seinen Tieren veranstaltete. Eines Tages kam er weinend zurück: die Schlange hatte den Esel gebissen!
«Er ist unter großen Schmerzen gestorben», sagte er mir. «Die Schlange war giftig, und ich wußte es nicht. Ich habe ihn außerhalb der Grotte beerdigt. Es tat mir weh, und ich habe geweint.»
Ich versuchte ihn zu trösten, daß es ein Papieresel gewesen wäre und er andere zeichnen könnte.
«Nein! Der hier war nicht aus Papier.»
So erfuhr ich, daß das, was an unserem geheimen Ort geschah, kein Spiel war. Es war Ernst. Von dem Tag an ging ich immer seltener in die Grotte und gab auf die Stimmung meines Bruders acht. Ich wahrte das Geheimnis bis zu dem Tag, an dem Halifa, ein Nachbarskind, mit dem ich Spatzen vertrieb, vorschlug, mir etwas Kostbares zu zeigen. Sie bat mich, wir sollten unsere Geheimnisse austauschen. Ich versprach es und schwor, nichts zu verraten. Sie verband mir die Augen und führte mich auf einem Umweg in den Wald. Ich ging, ihre Hand haltend, hinter ihr her. Sie blieb stehen. Ich hörte das Knarren einer Tür. Sie nahm mir die Binde ab, und ich befand mich im Innern eines Baumstamms. Er war viel größer als meine Grotte, und außerdem fiel strahlendes Licht durch einige Risse in der Borke. Diese kaum beleuchtete Höhle diente ihr als Lager und als Speisekammer. Sie aß sich wohl nicht satt; sie stahl Nahrung und hortete sie: Sardinendosen, ein Paket Zwieback, ein Tütchen Trockenobst, einen Bindfaden, zwei oder drei angeschlagene Teller, einen rostigen Dosenöffner, Nägel, Wäscheklammern, ein halbvolles Päckchen Troupes-Zigaretten, eine Kerze, eine Schachtel Streichhölzer …
Man konnte im Innern stehen. Wir waren nicht sehr groß. Sie stand auf und sagte:
«Das hier ist mein Schatz, mein Geheimnis und mein Traum.»
Ich sah die wohlgeordneten Gegenstände an, doch sie zeigte mir ihre kleinen Brustwarzen, ihren Mund und dann ihren Bauch.
Wir waren im gleichen Alter, gerade zehn. Sie wollte, daß ich ihr meine Brüste zeige.
«Ich habe aber keine … noch nicht.»
«Macht nichts, zeig sie trotzdem.»
Ich knöpfte mein Kleid auf. Sie trat näher und legte den Zeigefinger auf jede Brustwarze, dann hob sie ihn an die Lippen. Ich sollte dasselbe tun. Ihre Brustwarzen waren sichtbarer, dicker als meine. Ich berührte sie und fand sie sehr weich. Ich hatte Lust, sie zu streicheln, dann errötete ich vor Scham.
Verstört durch diese Berührung, die ein fremdes, gutes und ganz neues Gefühl in mir weckte, lief ich fort.
Nachts träumte ich davon. Die Brüste waren größer, und mein Kopf lag zwischen ihnen. Ich drehte ihn von der einen Brust zur anderen und trank, nicht etwa Milch, sondern Zuckerwasser. Ich preßte die Hände zwischen die Schenkel und empfand keine Scham. Erst als ich aufwachte, verspürte ich die Last einer ungeheuren Sünde. Mir war unbehaglich, und ich begann, Halifa zu verabscheuen und von mir selbst angewidert zu sein. Ich entdeckte, daß mein Körper noch etwas anderes als Kälte und Hunger, Hitze und Müdigkeit empfinden konnte.
An den Baum gelehnt, zählte ich die Kühe und schlief darüber ein. Eine leichte Brise streichelte mein Gesicht. Ich ließ mich in diesen Zustand sehr sanfter Passivität fallen, der manchen Kindern eigen ist. Ich war kein sanftes Kind. Meine Füße waren über so viele scharfkantige Kieselsteine gelaufen, daß mein ganzer Körper und sogar meine Seele anfingen, alles Sanfte und Zarte zu hassen. Doch ich gestehe, daß der Schlaf an jenem Nachmittag wunderbar war und daß ich nie wieder einen ähnlichen gefunden habe. Vielleicht erinnere ich mich deshalb noch daran.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich drehte mich um und sah einen großgewachsenen, schlanken Mann mit einem hinreißenden roten Schnurrbart. Es war ein Fremder, noch jung, vermutlich ein Franzose. Aber wie war er bis in unser Kaff gelangt? Niemand im Dorf hatte ihn eingeladen. Er trug einen Rucksack und sah verloren aus. Er sprach kein Wort Berberisch und ich kein Wort Französisch. Ich bedeutete ihm, sich zu setzen. Er lächelte, legte seinen Rucksack auf die Erde und holte eine Flöte aus Metall heraus. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Er reichte sie mir und forderte mich auf, darauf zu spielen. Ich untersuchte sie, blies hinein. Ein merkwürdiges Quietschen kam heraus. Er lächelte, dann nahm er meine Finger und legte sie auf die Löcher. Ich begriff, daß man Luft hineinblasen und die Finger nacheinander heben mußte, um Töne hervorzubringen, die eine Melodie bildeten. Am Ende des Tages spielte ich mit erstaunlicher Leichtigkeit. Als es Zeit wurde, die Kühe nach Hause zu führen, schlief er fest. Ich versuchte ihn zu wecken, aber ich sah, daß er im Schlaf glücklich war, und ließ es sein. Ich versteckte die Flöte in meiner Grotte und ging nach Hause. Ich dachte den ganzen Abend und die ganze Nacht an diesen Mann. Ich war überwältigt von seinem Bild und von seinem Lächeln.
Beim Abendessen sprach meine Tante von einem Fremden, einem Kinderräuber, der von der Gendarmerie gesucht würde. Er locke Kinder in den Wald, um sie anschließend in Frankreich an kinderlose Familien zu verkaufen.