Federico Varese
MAFIA-LEBEN
Liebe, Geld und Tod
im Herzen
des organisierten
Verbrechens
Aus dem Englischen übersetzt von
Ruth Keen und Erhard Stölting
C.H.Beck
Die Mafia ist eine verschlossene Welt voller Gewalt und Härte, in die kein Außenstehender je Einblick bekommt. Hinter den Mauern des Schweigens aber gibt es eine Gemeinschaft mit eigenen Regeln und Werten. Federico Varese, Professor für Kriminologie an der Universität Oxford, hat sich tief ins Herz des organisierten Verbrechens gewagt und kennt Gangster in Italien, Russland, Hongkong und Japan. Sein Buch gibt einen intimen Einblick in die Lebensweise der Mafiosi: die bizarren Rituale und schmutzigen Geschäfte, das Familienleben und den beruflichen Stress, das Sexualleben und die unerfreulichen Todesarten jener Männer, die zu den gefährlichsten Menschen der Welt gehören.
«Federico Varese ist zwei Schriftsteller in einem: der furchtlose Fakten-Jäger, der seine Spur mit dem Fieber des Vollblutjournalisten verfolgt, und der unbestechliche Wissenschaftler, der seine Beute mit schonungsloser Objektivität analysiert.»
John Le Carré
Federico Varese ist Professor für Kriminologie an der Universität Oxford und ein international angesehener Experte für das organisierte Verbrechen. Seine Arbeiten über die russische Mafia und über die Erschließung neuer krimineller «Märkte» im Zeitalter der Globalisierung sind Standardwerke. Varese ist Herausgeber der vier Bände «Organized Crime» und wissenschaftlicher Berater von John Le Carré.
VORBEMERKUNG DES AUTORS
HINWEIS DER ÜBERSETZER
EINLEITUNG
KAPITEL 1: GEBURT
Nikolaj Sykow in Perm, Russland 1993
Nino Calderone schließt sich der Cosa Nostra an, Catania, Sizilien 1962
Sakai wird Mitglied der Yakuza, südliches Japan, 1978
George Cheung tritt den Triaden bei, Fulham, London 1992
Perm-Oxford, 1998
KAPITEL 2: ARBEIT
Via Michelangelo 450, Palermo, 2003–2008: Antonino Rotolo und die Nachbarschaftssteuer
Gianni Nicchi und Nicola Mandalà planen die Rückkehr der
sizilianischen Mafia in den Drogenhandel
KAPITEL 3: GESCHÄFTSFÜHRUNG
Griechenland-Mailand-Bari 2010–2012:
Ein Kampf zwischen zwei postsowjetischen Mafiaclans und ein Boss, der versucht, seine
Organisation zu retten
Salvatore Lo Piccolo wird mit der Verfassung der sizilianischen Mafia verhaftet, Giardinello, Provinz Palermo, November 2007
Kommissionen
Epilog: Maka packt aus, Merab wird verhaftet.
Bari 2014–2016.
KAPITEL 4: GELD
Moskau – Italien, 1996
Die Dienstleister
Die Banken
KAPITEL 5: LIEBE
Via Meli, Palermo 2004:
Nicola, Amalia, Liebe und Ritual
Die italo-amerikanische Mafia
Die wory-w-sakone
Die Yakuza
KAPITEL 6: SELBSTBILDER
Macao 1999–2014:
Der Boss der Bande 14K in Macao produziert
einen Film über sein Leben
Yakuza-Filme, die vom Publikum, nicht aber von den Yakuza geliebt werden
Yakuza-Filme, die von den Yakuza,
aber nicht vom Publikum geliebt werden
Der Pate: Ein Film, der sowohl vom Mob
als auch vom allgemeinen Publikum geliebt wird
Giuseppe Greco (1953–2015),
der schlechteste Regisseur von Mafia-Filmen
Macao, November 2012–2014
KAPITEL 7: POLITIK
Das Mongkok-Viertel in Hongkong, 3. Oktober 2014:
Die Mafia führt einen Angriff gegen die Demokratiebewegung
Wenn Mafia und Staat eins sind
Muse-Ruili, chinesisch-birmanische Grenze, Juli 2011
Hongkong 2015–2016: Das Ende der Besetzung:
Yvonne kehrt in den Seminarraum zurück
KAPITEL 8: TOD
Via Michelangelo, 24. September 2005, 10:23 Uhr
Mordmethoden bei anderen Mafiaorganisationen
Der Tod der Mafia
KAPITEL 9: POST MORTEM
ANHANG
GLOSSAR
SYNOPTISCHE TAFEL
DER MAFIAREGELN
SYNOPTISCHE TAFEL DER MAFIASTRUKTUR
DANKSAGUNG
ANMERKUNGEN
EINLEITUNG
KAPITEL 1: GEBURT
Nikolaj Sykow in Perm, Russland 1993
Nino Calderone schließt sich der Cosa Nostra an, Catania, Sizilien 1962
Sakai wird Mitglied der Yakuza, Südliches Japan, 1978
George Cheung tritt den Triaden bei, Fulham, London 1992
KAPITEL 2: ARBEIT
Via Michelangelo 450, Palermo, 2003–2008: Antonino Rotolo und die Nachbarschaftssteuer
Gianni Nicchi und Nicola Mandalà planen die Rückkehr der
sizilianischen Mafia ins Drogengeschäft
KAPITEL 3: GESCHÄFTSFÜHRUNG
Griechenland – Mailand – Bari, 2010–2012
Salvatore Lo Piccolo wird mit der Verfassung der sizilianischen Mafia verhaftet, Giardinello, Provinz Palermo, November 2007
KAPITEL 4: GELD
Moskau – Italien, 1996
Die Dienstleister
Die Banken
KAPITEL 5: LIEBE
Via Meli, Palermo, 2004
Die italo-amerikanische Mafia
Die wory-w-sakone
Die Yakuza
KAPITEL 6: SELBSTBILDER
Macao, 1999–2014
Yakuza-Filme
Der Pate (1972)
Giuseppe Greco (1953–2015), der schlechteste Regisseur von Mafia-Filmen
Macao, November 2012–2014
KAPITEL 7: POLITIK
Das Mongkok-Viertel in Hongkong, 3. Oktober 2014
Wenn Mafia und Staat eins sind
Muse-Ruili, chinesisch-birmanische Grenze, Juli 2011
Hongkong, 2015–2016
KAPITEL 8: TOD
Via Michelangelo, 24. September 2005, 10:23 Uhr
KAPITEL 9: POST-MORTEM
ANHANG: MAFIAREGELN
ANHANG: MAFIA-STRUKTUR
BILDNACHWEIS
PERSONENREGISTER
Fußnoten
LIFE IS HARD.
AND THEN YOU DIE.
Die Ereignisse, die in diesem Buch wiedergegeben werden, entsprechen den Tatsachen, ebenso die Dialoge. Aus rechtlichen Gründen und zum Schutz der Privatsphäre wurden einige Namen und kleine Details geändert. Bei kursiv gesetzten Namen handelt es sich um Pseudonyme. Im allgemeinen beziehe ich mich auf die sizilianische Mafia mit dem Namen, den sie selbst verwendet, Cosa Nostra. Die Transliteration einiger russischer Namen wurde im Text vereinfacht. Teile dieses Buchs basieren auf Forschungsarbeiten, die ich bereits veröffentlicht habe. In den Anmerkungen am Ende sind alle Quellen aufgeführt.
Im Gegensatz zum englischen Original, wo der Unterschied zwischen der (Verwandtschafts-)«family» und der (Mafia-)«Family» durch Klein- bzw. Großschreibung leicht erkennbar ist, ergibt sich in der deutschen Übersetzung fast immer aus dem Zusammenhang, ob eine leibliche Familie oder die Grund-Organisationseinheit «Familie» bei der Mafia gemeint ist. In Zweifelsfällen, und um Missverständnisse auszuschließen, hat die Übersetzung bisweilen leicht akzentuiert.
An einem verschneiten Novembermorgen 2016 stehe ich vor einer sorgsam gepflegten Grabstätte inmitten einer sich weitläufig ausdehnenden russischen Nekropole. Das Monument gehört nicht einmal zu den prunkvollsten hier, aber die Figur von Nikolaj Sykow ist lebensgroß und blickt mich ernst an. Sein Abbild ist in kostbaren schwarzen Marmor gemeißelt; davor befinden sich ein kleiner Tisch, ein schlichtes weißes, russisch-orthodoxes Kreuz und eine Blumenvase. Einige seiner toten Mitstreiter liegen ebenfalls in der Nähe. Ich habe Sykow zuletzt Mitte der neunziger Jahre gesehen und bin jetzt zum ersten Mal wieder in die Stadt zurückgekehrt, in der er einst der örtliche Mafiaboss war: Perm in der russischen Region Ural. Obgleich ich über meine Zeit in Russland während der neunziger Jahre vieles veröffentlicht habe, hielt ich es nie für angemessen, eingehend über unsere Begegnungen zu berichten. Dieses Buch wird Sykow wieder lebendig werden lassen. Er gehörte einer geheimen kriminellen Bruderschaft an, die in Europas Unterwelt eine bedeutende Rolle spielt. Ihre Mitglieder tragen eindrucksvolle Tätowierungen, unterwerfen sich einem eigenen Ehrenkodex und sind in den meisten europäischen Ländern aktiv. In Mafia-Leben werden wir Individuen aus Sizilien, Hongkong und Japan begegnen, die nicht weniger exotisch sind; unsere Forschungsreise in die kriminellen Regionen unserer Zeit wird uns weiter bis nach Macao, Birma und Dubai und wieder zurück nach Griechenland und über den Atlantik führen. Aber glauben Sie ja nicht, ein Mafioso sei eine große Nummer, der irgendwo, weit von hier entfernt, lebt. Er kann sich direkt in unserer Mitte eingenistet haben, in einer englischen Vorstadt ebenso wie in Palermo. Dafür nur ein Beispiel:
Kürzlich wurde in Salford, im Großraum Manchester, ein Mann mit einer Machete angegriffen, einem anderen warf man eine Granate ans Haus. Ein neunjähriger Junge wurde erschossen, als er die Haustür aufmachte: Der Mörder wollte zu seinem Vater. In dieser Stadt von 234.000 Einwohnern leben dreißig Kinder in der ständigen Angst, ermordet zu werden; fünfundzwanzig kriminelle Banden gibt es hier, und die Anzahl der Schießereien innerhalb eines Jahres betrug neunzehn. «Die Polizei hat keine Kontrolle über die Straßen mehr», erzählte ein Bandenmitglied 2016 der BBC.
Stellen Sie sich vor, Sie wären einer der Fans gewesen, die im Dezember 2011, am zweiten Weihnachtsfeiertag, das Heimspiel von Manchester United gegen Wigan Athletic besuchten. Falls ja, wüssten Sie vielleicht noch, dass Man United Wigan mit 5:0 vernichtend geschlagen hat. Aber außerhalb des Spielfeldes geschahen noch andere Dinge. Professionell gekleidetes «Personal» wies den Fans in der Nähe des Fußballstadions Old Trafford Plätze zum Parken zu. Tausende konnten hier für fünf Pfund ihr Auto abstellen; ein Schnäppchen. Unbebautes Gelände, Autosalons und Lücken zwischen den Bürogebäuden waren für die gesamte Spielzeit zu Parkplätzen umfunktioniert worden. Der Haken an der Sache war nur, dass diese Parkplatzwächter für das örtliche organisierte Verbrechen arbeiteten und die öffentlichen Flächen illegal nutzten. Hin und wieder kam es zwischen den Banden zu Revierkämpfen um die Kontrolle der besten Plätze. Am 26. Dezember 2011 rückte die Polizei in voller Mannschaftsstärke an und verhaftete dreizehn Leute im Alter zwischen fünfzehn und fünfzig Jahren. Es war der Versuch, einem Geschäft ein Ende zu machen, in dem es pro Saison um Millionen ging.
Das Stadion Old Trafford liegt bei Salford, etwa fünf Kilometer von Manchesters Stadtkern entfernt. Im Haçienda, dem kultigsten europäischen Nachtklub der achtziger und neunziger Jahre, nahmen Acid House und Techno ihren Anfang, hier wurden auch die Platten von Joy Division produziert. Die Türsteher des Klubs managte ein gewisser Damien Noonan, der aus der Gegend stammte und einer berüchtigten Verbrecherfamilie in Salford angehörte. Die Noonans waren so bedrohlich, dass die Polizei sie gleich wieder weiterfahren ließ, wenn man sie versehentlich anhielt, unabhängig davon, welche Tat begangen zu haben man ihnen unterstellte. Damien führte eine gewisse Ordnung im Haçienda ein. Man ließ die Banden herein, aber jede hatte in ihrer eigenen Ecke zu sitzen, um blutige Auseinandersetzungen möglichst zu vermeiden. Sie bekamen ihre Getränke zum Einkaufspreis, damit sie sie nicht offen klauten und nebenbei die Bedienung schikanierten. Peter Hook, ein Gründungsmitglied von Joy Division und Mitbesitzer des Haçienda, erinnert sich, dass die Bewirtung der Gangster auch Vorteile mit sich brachte: Einige seiner Mitarbeiter konnten bei ihnen zinslose Kredite aufnehmen, anstatt zur Bank gehen zu müssen. Zudem bedeutete die Verbindung zu einer starken Bande zusätzliches Prestige: «Unsere Rausschmeißer waren so stark und so verdammt gewalttätig, dass wir, wo immer wir hinkamen, den Bonus hatten, mit ihnen verbündet zu sein», schreibt Peter Hook in seinem Buch über das Haçienda. Es brachte allerdings auch Nachteile, die Überwachung der Klubeingänge Gangstern zu überlassen: Sie kontrollierten den Zustrom von Drogen; die Türsteher wurden in Bandenkriege hineingezogen und mussten sich für die Geschehnisse der vergangenen Nacht rächen, um ihr Gesicht zu wahren. Ein legales Unternehmen, das viele von uns mochten und in dem wir ein und aus gingen, leistete ungezügelter Gewalt Vorschub.
Etwa zwanzig Jahre sind seitdem vergangen, und die meisten Leser werden meinen, dass die wilden Tage des Haçienda vorbei seien. Schließlich hat der Klub im Juni 1997 dichtgemacht. Das Stadtviertel Salford Quays beherbergt inzwischen Teile der BBC und von ITV und ist entsprechend gentrifiziert. Dennoch kam während der Zeit, als ich dieses Buch schrieb, der einflussreichste Gangster in Salford bei einem sorgfältig geplanten Mordanschlag ums Leben. Paul Massey wurde am 26. Juli 2015 erschossen, als er vor seinem Haus aus einem silberfarbenen BMW stieg. Kurz darauf ließ ich die Arbeit an dem Buch vorübergehend ruhen und fuhr zum Ort des Geschehens, um mich mit Don Brown zu treffen, einem Polizeibeamten, der dort 1983 seinen Streifendienst aufgenommen hatte.
«Ich habe Massey dreimal verhaftet. Beim ersten Mal war er siebzehn. Er war ein kleiner Typ, sah nicht besonders aus, aber er hatte den Mumm, aufs Ganze zu gehen. Er hat sogar mal vor den Augen eines Aufnahmeteams der BBC, die einen Film über ihn drehte, mit dem Messer auf einen Mann eingestochen. Und er hat seine Strafe dafür abgesessen.»
Gewalt ist ein unabdingbarer Bestandteil dieses Gewerbes. Massey und alle anderen Mafiosi müssen ein skeptisches Publikum davon überzeugen können, dass sie das Zeug haben, den Abzug zu betätigen. Haben sie diesen Ruf erst einmal erworben, werden andere eher bereit sein, sich ihren Wünschen zu fügen; daraus folgt, dass Mafiosi bei ihren alltäglichen Geschäften weniger Gewalt anwenden müssen.
Diese Gangster beschränken sich nicht einfach darauf, illegale Waren zu kaufen und weiterzuverkaufen. Sie organisieren Märkte. Sie beherrschen öffentliche Räume. Es geht ihnen nicht darum, an der Straßenecke Drogen feilzubieten, sie wollen entscheiden, wer dealen darf. In kurzer Zeit erweitern sie ihr Geschäftsfeld von einer einzigen Branche der örtlichen Wirtschaft auf mehrere andere – von den Drogen bis zur Prostitution, von kleinen Läden bis zu Taxifahrern und Friseuren, von Parkplätzen und Pflegeheimen zu Baufirmen –, bis sie ganze Sektoren in der Hand haben. Sie treten als Verwaltungseinrichtungen auf, die letztlich mit dem legitimen Staat konkurrieren. Masseys Geschäftsinteressen gingen über das Vertreiben von Drogen hinaus. Er gründete eine Firma mit dem offiziellen Namen Personal Management Security, kurz PMS. Jeder wusste, dass PMS eine Abkürzung für Paul Massey Security war. Binnen weniger Jahre hatte sich die Firma lukrative Kontakte in Salford, Manchester und darüber hinaus verschafft. Zu ihren Kunden gehörten Metrolink, Manchesters Straßenbahnnetz, und das Bauunternehmen, das die neue Polizeizentrale in Manchester errichtete (beide Aufträge wurden nach einem öffentlichen Aufschrei wieder storniert). «Diese Sicherheitsfirmen sind nichts anderes als Schutzgeldeintreiber», sagt Don Brown. Selbst Massey, der allem Anschein nach nur ein kleiner Ganove war, hat in der Welt der legalen Wirtschaft kräftig mitgemischt.
Personen wie Massey und die anderen, die wir in diesem Buch kennenlernen werden, leben in sozialen Zusammenhängen. Massey wuchs unter Menschen auf, die der Polizei und staatlichen Institutionen nicht vertrauen. So stellten die Unruhen von Salford 1992 einen einwöchigen Angriff auf Polizei und Feuerwehr dar. Wer seine Kumpel bei der Justiz verpfeift, wird an den Wänden des Einkaufszentrums seinen aufgesprühten Namen lesen können. Vor einigen Jahren wurde ein Mann dort in einer Kneipe erschossen, in Gegenwart von dreißig Menschen. Nachdem er den Mord verübt hatte, richtete der Täter seine Pistole auf die Zeugen und ermahnte sie, den Mund zu halten. Wie bei anderen ähnlichen Vorkommnissen verschwanden die Bänder der Videoüberwachung. Niemand wollte aussagen. Die britische Polizei bezeichnet dieses Verhalten, das der sizilianischen Schweigepflicht «omertà» entspricht, als «Mauer des Schweigens». Der ehemalige Oberstaatsanwalt für Greater Manchester schlussfolgerte 2016 in einem Interview der BBC, «so entsteht der Eindruck, dass bestimmte Leute über dem Gesetz stehen … einige meinen dann, ungestraft die schlimmsten Straftaten begehen zu können.» Er gab zu, dass es «an Vertrauen in die Polizei fehlt».
Mit der Zeit ersetzt die Gangsterjustiz die offizielle Rechtsordnung. Niemand wurde wegen des Mordes an Massey verhaftet, aber ein 33-jähriger Mann, ein Einwohner der Stadt, wurde von Schützen auf einem Motorrad umgebracht, ein Mord, der die Handschrift der Salforder Unterwelt trägt. Wie gemunkelt wird, soll das Opfer an der Ermordung Masseys beteiligt gewesen sein. Die Schattenjustiz in Salford legt sogar die Höhe des Schadensersatzes fest, die jemand zahlen muss, der mit einem gestohlenen Fahrzeug einen Passanten anfährt. Mitglieder der «Salford-Firma» – auch als «die Firma» bekannt (zwei Namen, unter denen Masseys Gang bekannt war) – sind Ersatzautoritäten, die nach ihrem eigenen Standrecht Urteile gegen alle verhängen, die gegen ihre Gesetze verstoßen. Der nächste Schritt besteht darin, dass auch der Gangster Führungsaufgaben in einer Gemeinde übernimmt. 2015 berichtete der Guardian über Gerüchte, denen zufolge Massey von der Polizei gebeten wurde, nach gewalttätigen Zwischenfällen in der Stadt, darunter einem Granatenangriff und einer Machetenattacke, als Schlichter einzuschreiten.[1] Er war auch Vermittler in den Auseinandersetzungen zwischen Banden in ganz Großbritannien. 2010 kandidierte er sogar als Bürgermeister von Salford, um seine Rolle als führende Persönlichkeit in der Gemeinde zu festigen; er wurde Siebter. Wäre die Wahl – anders als dort üblich – einem Verhältniswahlrecht gefolgt, hätte er einen Sitz im Gemeinderat errungen, zusammen mit einigen seiner Kumpane.
Solche Leute plündern ihre Gemeinden aus und werden doch als örtliche Autoritäten angesehen, als Respektspersonen, und sei es nur aus Angst. Da Bandenmitglieder und Mafiosi unter Bedingungen handeln, in denen offizielle Institutionen existieren, versuchen sie, die demokratischen Verfahren zu beeinflussen, indem sie ihre bevorzugten Kandidaten unterstützen oder sich sogar selbst zur Wahl stellen. Manche Bürger der Gemeinde profitieren von der Anwesenheit des organisierten Verbrechens, aber das ist eine Minderheit. Leider erwecken richtige Politiker oft noch weniger Vertrauen als die einheimischen Gangster. Tatsächlich sind Mafiaorganisationen rudimentäre staatsähnliche Gebilde, und wenn man sie lässt, gelingt es ihnen immer wieder, legitime Institutionen zu ersetzen.
In einigen wichtigen Merkmalen aber unterscheiden sich die Mafiaorganisationen, die in diesem Buch behandelt werden – die Cosa Nostra, die italo-amerikanische Mafia, die russische Mafia, die japanischen Yakuza und die Hongkonger Triaden –, von Massey und seinesgleichen. Während gewöhnliche Verbrecherbanden tendenziell voneinander unabhängig sind, haben sich Mafiaorganisationen typischerweise bemüht, gemeinsame Verhaltensregeln zu entwickeln, an denen sich alle zugehörigen Banden bzw. «Familien» orientieren, so dass sie vieles verbindet, das sie von anderen Typen des organisierten Verbrechens abhebt. Sie alle entstanden in turbulenten Umbruchzeiten, als kein Vertrauen in die staatlichen Institutionen bestand, weil diese unfähig waren, das Wirtschaftsleben (das legale wie das illegale) zu ordnen; sie pflegen denkwürdige Initiationszeremonien und neigen dazu, ähnliche hierarchische Strukturen und nach innen hin gültige Normen auszubilden, darunter auch solche zu Sex und Familienleben; und sie alle sind in den gleichen wichtigen legalen und illegalen Märkten wie der Immobilienwirtschaft, öffentlichen Aufträgen, Drogen und Prostitution aktiv. Eine Mafia ist faktisch eine Ansammlung von «Banden», die jeweils ein Territorium kontrollieren und den gleichen Verhaltensregeln folgen. Auch wenn sie sich gegenseitig bekämpfen, gehören sie doch zu derselben Struktur. Vor allem haben sich Mafiaorganisationen über längere Zeiträume halten können, viel länger als gewöhnliche Banden.
Wer sind die Mafiosi? Man neigt dazu, sie als Supermänner zu beschreiben, als dämonische Soziopathen, die eine Organisation à la S.P.E.C.T.R.E aus den Bond-Filmen betreiben. Das aber entspricht nicht dem Eindruck, den ich von meinen Begegnungen mitnahm. Ich werde oft gefragt, ob ich Angst hatte, als ich mich mit Mafiosi traf, und warum sie überhaupt mit mir sprechen wollten. Ich glaube, dass auch Leute, die jenseits des Gesetzes leben, mit uns anderen das höchst menschliche Bedürfnis teilen, zu kommunizieren, über sich zu erzählen und ihr Handeln zu rechtfertigen. Tatsächlich konnte ich deutlich erkennen, wie eine andere Wendung des Schicksals, wie andere Voraussetzungen oder eine anders getroffene persönliche Entscheidung sie in eine völlig andere Lebensbahn gelenkt hätten.
Diese Leute können Gewalt ausüben, aber sie gehen nicht umher und töten jeden, der ihnen über den Weg läuft. Mein bester Schutz bestand darin, sie ernst zu nehmen und meine Fragen ohne irgendwelche Hintergedanken zu stellen, mit Ausnahme eines tiefempfundenen Bedürfnisses, verstehen zu wollen, wie sie die Welt sehen, worin sie den Sinn ihres Lebens sehen, und ob es die Sache wert sei. Ich begab mich für etwa eine Stunde in ihre Obhut, und sie stellten sich der Herausforderung. Ich gab den heiligen Narr, den akademischen Simpel, und wurde so zum winzigen Beobachter eines ganzen Kosmos.
Natürlich muss man bei derartigen Interviews einige Grundregeln beachten. Ich habe mich nie nach spezifischen Details erkundigt, etwa «Wer hat wen getötet?», wie es investigative Journalisten oder Polizisten tun würden. Wenn solche Gespräche einträglich sein sollen, darf man keine Abscheu zeigen oder sich moralisch über seinen Interviewpartner erheben. Um kein Gefühl einer Bedrohung aufkommen zu lassen, sollte es bei den Fragen um «Leute im selben Geschäft» gehen und nicht um das spezielle Gegenüber. In meinem Fall erwies sich dies als erfolgreiche Vorgehensweise. Nach ein paar allgemeinen Bemerkungen kam mein Interviewpartner normalerweise auf einen bestimmten Fall zu sprechen, entweder auf einen eigenen oder auf den von jemandem, der «ihm bekannt» war. Ich verwende selten ein Tonbandgerät. Meiner Erfahrung nach weckt es bei meinen Gesprächspartnern Unbehagen und führt zu ausweichenden Antworten. Ich ziehe es vor, mir Notizen zu machen: Es erinnert mein Gegenüber an den Zweck unseres Gesprächs (nämlich Recherchearbeiten für einen zur Veröffentlichung bestimmten Text), während es gleichzeitig die Gefahr reduziert, dass der Interviewer die Information missbrauchen könnte.
Mafia-Leben basiert nicht vollständig auf den Interviews, die ich geführt habe. Nicht einmal im entferntesten. Als wichtige Quellen diente mir auch Beweismaterial der Strafverfolgung, d.h. biographische Daten und Gespräche, die die Polizei im Rahmen ihrer Ermittlungen aufgezeichnet hat. Ich bin mir dabei durchaus bewusst, dass solche Materialien für Zwecke gesammelt wurden, die sich von den meinen erheblich unterscheiden. Es wäre jedoch töricht, eine solche Informationsfülle komplett zu ignorieren. In den Gerichtsakten verbergen sich unschätzbar wertvolle Einblicke in das Leben jener Personen, über die ich hier schreibe. Mitschnitte der Polizei, deren Objekte nicht ahnen, dass ihnen jemand zuhört, erlauben uns, Mäuschen zu spielen und so einen Zugang zu den Führungsebenen wie auch zum Fußvolk einer kriminellen Bande zu finden und vieles über deren Alltag und Arbeit zu erfahren. Kein Ethnologe könnte sich je solche Einblicke erhoffen. Ich stütze mich außerdem auf Ermittlungsakten und veröffentlichte Geständnisse. Im Bewusstsein der Begrenztheit jeder Datenart habe ich mich bemüht, eine plausible Geschichte zu rekonstruieren, die mit den meisten Quellen übereinstimmt. Ob mir das gelungen ist, müssen die Leser beurteilen.
Mit diesem Buch möchte ich den menschlichen Aspekt krimineller Verschwörungen in den Vordergrund rücken. Es beschreibt die Mafiosi als Menschen, die nicht schlauer sind als wir, die Fehler machen und mitunter übertölpelt werden, die getötet werden oder hinter Gittern landen. Ausgehend von den Bedingungen ihres Alltags berichte ich über die komplexen Herausforderungen, denen Mafiosi bei der Führung ihrer Organisationen ausgesetzt sind. Genau wie wir werden Mafiosi geboren und wachsen heran, heiraten vielleicht, finden einen Job oder leiten eine Firma, sparen und investieren Geld, beteiligen sich am politischen Leben, werden krank und sterben eines Tages. Acht Schwerpunkte bestimmen die Kapitel dieses Buchs: Geburt, Arbeit, Geschäftsführung, Geld, Liebe, Selbstbilder, Politik und Tod. Jedes Kapitel beginnt mit einer ausführlichen Einzelgeschichte. Dann widme ich mich dem, was wir aus den Geschichten lernen können.
Der Protagonist im Kapitel «Geburt» ist Nikolaj Sykow, ein russischer Mafiaboss. Ganz ähnlich wie Massey in Salford erpresste Sykow Schutzgelder und versuchte sich als Führer seiner Gemeinde zu positionieren. Er gehörte einer geheimen Bruderschaft an, die im sowjetischen Haftsystem entstanden war und ideologisch alles Sowjetische ablehnte. Es gab bei der Bruderschaft ein Aufnahmeritual – die Wiedergeburt des zukünftigen Mitglieds repräsentierend –, das dem anderer Mafiaorganisationen sehr ähnelt (aber bei den Banden in Salford nicht existiert). Mit dem Ende der Sowjetunion wurde diese Bruderschaft zu einem wichtigen Akteur in der kriminellen Unterwelt mehrerer Länder und strebte, wie andere Mafiaorganisationen auch, die Herrschaft über Märkte und Gebiete an.
Im Kapitel «Arbeit» stelle ich Antonino Rotolo in den Mittelpunkt, den brillentragenden Boss der Mafiafamilie Pagliarelli in Palermo. Auf der Grundlage umfangreicher Telefonmitschnitte der Polizei rekonstruiere ich, wie er in seinem Stadtgebiet Schutzgelderpressung betrieb und wie sein Stellvertreter, mittels eines Bündnisses mit der italo-amerikanischen Mafia, den Wiedereinstieg der Cosa Nostra in den großräumigen Drogenhandel orchestrierte. Ich berichte im einzelnen auch über die Situation, der sich Antonino und andere Bosse seit 2008 stellen mussten, darunter die globale Finanzkrise, der energische Verfolgungsdruck seitens der Polizei, die Verhaftungen sowie eine über das Mittelmeer eintreffende Migrantenbevölkerung, die nicht bereit ist, die Herrschaft der Cosa Nostra einfach hinzunehmen. Der Ruf der sizilianischen Cosa Nostra ist nicht mehr so bedrohlich wie ehedem.
Im Kapitel «Geschäftsführung» spielt Merab, der Boss des postsowjetischen Mafiaclans von Kutaissi, die Hauptrolle. Wir erleben, wie er einer Herausforderung des gegnerischen Tiflis-Clans zu begegnen weiß, der in ganz Europa immer wieder seine Männer ermordete. Wie soll er reagieren? Indem er einen offenem Krieg entfesselt oder indem er eine langfristige Strategie entwickelt, seinen Feind isoliert und erst dann zurückschlägt? Lesen Sie es nach. Dabei werden Sie wichtige Hinweise auf Methoden der Geschäftsführung mitnehmen können.
Mafiaorganisationen müssen das Geld, das sie akkumulieren, irgendwo unterbringen. Im Kapitel «Geld» folge ich der Spur mafiöser russischer Anlagevermögen, die von Moskau aus nach New York, London und Rom transferiert werden. Drei Hauptakteure kann ich dabei identifizieren: die Mafiosi selbst, die Dienstleister ihres Vertrauens, die das schmutzige Kapital verschieben und investieren, und die Bankiers, die ihre Augen vor diesen Machenschaften verschließen. Wir entdecken, dass Mafiosi mitunter von Bankiers und Dienstleistern übervorteilt werden.
Im Kapitel «Liebe» gebe ich ein intimes Gespräch zwischen einem Mafioso und seiner Partnerin wieder. Obwohl ihr nicht erlaubt ist, Mitglied der rein männlichen Bruderschaft der Cosa Nostra zu werden, veranstaltet er für sie ein kleines privates Beitrittsritual. Die Macht der Liebe bringt ihn dazu, eherne Mafiagesetze zu brechen und sich ihr anzuvertrauen. Tiefe Zuneigung für eine Partnerin untergräbt die Integrität der Organisation, die daher versucht, starke Gefühle und verwandtschaftliche Bindungen kleinzuhalten.
Im Kapitel «Selbstbilder» ist Macaos Spielhöllenkönig «Broken Tooth» Wan die Hauptperson, der einen Film über seine Person finanzierte. Das Ergebnis war nicht unbedingt das, was er sich erhofft hatte. Filme können wirkungsvolle Werbemittel sein. Aber obgleich Mafiaorganisationen gern kontrollieren, wie sie öffentlich dargestellt werden, kommen Filme, an deren Herstellung sie unmittelbar beteiligt sind, beim anspruchsvollen Publikum nicht sonderlich gut an. Die beste Werbung, so schlussfolgere ich, erfolgt indirekt, wie Der Pate und seine Fortsetzungen zeigten.
Im Kapitel «Politik» folge ich zwei Triaden-Mitgliedern in Hongkong, die enthüllen, was hinter dem Angriff auf demonstrierende Studenten am 3. Oktober 2014 steckte. Offenbar untergräbt die große Nähe der Hongkonger Triaden zur Volksrepublik China deren Autonomie und macht sie zum verlängerten Arm einer sehr einflussreichen geopolitischen Macht. Auf einer allgemeineren Ebene erörtere ich, wie eine Mafiaorganisation zum Staat werden kann und wie Staaten oft einer Mafia ähneln.
Im Kapitel «Tod» beschreibe ich einige der bevorzugten Tötungstechniken der Mafia und schließe dann mit Überlegungen zu Strategien und politischen Maßnahmen, mit denen sich Mafiaorganisationen ihrerseits schwächen und letztlich vernichten ließen. In «Post mortem» reise ich dann noch einmal zurück nach Perm und zum Grab von Sykow und stelle Gedanken über die Zukunft an. Am Ende des Buches habe ich die Quellen aufgeführt, auf die ich mich beziehe, außerdem Informationen über weiterführende Lektüre.
Ein letztes Wort zu Massey stammt von einer Person, die ich in Salford kennenlernte und die ihn gut kannte: «Als Massey ermordet wurde, war ich traurig. Ich habe mein Büro verlassen und mich einfach auf eine Bank gesetzt. Warum war ich traurig? Ja, er war ein Verbrecher, aber er war auch in der Lage, die Dinge in den Griff zu kriegen, sie unter Kontrolle zu halten, und jetzt wird es wieder mehr Gewalt geben.» Selbst der furchterregendste Mafioso beginnt sein Leben als kleiner Gauner in seinem Viertel, so wie Massey. Wir sollten diesen Leuten zwar keine übermenschlichen Kräfte andichten, aber wir dürfen sie auch nicht unterschätzen. Was mich an diesen Organisationen fasziniert und erschreckt, ist ihre Fähigkeit, mittels Angst und Unrecht eine Art soziale Ordnung zu schaffen. Diese Realität können wir nur auf eigene Gefahr ignorieren.
KAPITEL 1
Während der allerletzten Tage der sterbenden Sowjetunion begab ich mich auf eine Entdeckungsreise. Ich war auf der Suche nach einem Phänomen, das mir damals noch rätselhaft erschien, der «russischen Mafia». Seit 1989 war ich regelmäßig nach Moskau und Sankt Petersburg gefahren und hatte den jähen Zusammenbruch der Planwirtschaft miterlebt. Gewöhnliche Leute standen in Moskau entlang der Gorkistraße (die alsbald in Twerskaja umbenannt wurde) und verkauften Antibabypillen, Kondome, Wodka, englischsprachige Zeitschriften und Kinderspielzeug. Wer geschäftstüchtiger war, zimmerte sich einen wackeligen, kiosk genannten Holzverschlag. Russen durften jetzt Läden aller Art eröffnen und Geld verdienen, womit sie wollten. Unterdessen wurde das Staatseigentum verhökert. Die Marktwirtschaft hatte in Russland Einzug gehalten und mit ihr Chaos und Gewalt. Der russische Kapitalismus kannte praktisch keinerlei einschränkende Regulierungen. Überall berichtete man von Schutzgelderpressungen. Auf dem größten Moskauer Markt mussten Händler für einen Verkaufsstand 100 Rubel am Tag bezahlen. Aber nicht nur die Widersprüche in der staatlichen Kontrolle und bei der Regulierung des Handels oder ein aufblühendes Schutzgeldwesen prägten das Moskau der frühen neunziger Jahre. Die Menschen stellten darüber hinaus den Staat so umfassend in Frage, dass keine Gesetze mehr zu gelten schienen. Niemand wusste mehr, was legal und was kriminell war.
Hinter jeder nicht völlig planlos begangenen kriminellen Tat, über die in der Presse berichtet wurde, vermutete man sofort die «Mafia». Begriffe wie «Mafia» und «organisiertes Verbrechen» wurden austauschbar verwendet. Laut Arkadij Waksberg beispielsweise, dem russischen Journalisten und Autor des Buches Die sowjetische Mafia, bezeichnete «Mafia» den «gesamten sowjetischen Machtzusammenhang in all seinen ideologischen, politischen, ökonomischen und administrativen Ausformungen», der gerade dabei war, die Kronjuwelen des militärisch-industriellen Komplexes der UdSSR privat zu verscherbeln. Andere bezogen den Begriff auf einen neuen Menschenschlag, die «Oligarchen», jene ehemals unscheinbaren Wissenschaftler und Studenten, die nun innerhalb weniger Monate ein Vermögen zusammengerafft hatten. Sie kauften die Medien auf, lenkten den desorientierten Präsidenten und verfügten über Privatarmeen, die sie für ihre Zwecke auch ohne zu zögern einsetzten. Für mich als angehenden Erforscher der Unterwelt war es frustrierend, dass die meisten Beobachter jede kriminelle Absprache eine «Mafia» nannten. In ähnlicher Weise erschien bei unzähligen Schriftstellern und Politikern, aber auch in offiziellen Dokumenten – einschließlich jenen der EU – bereits eine Gruppe von mehr als zwei Personen, die sich zusammengetan hatte, um das Gesetz zu brechen, als «organisiertes Verbrechen», eine Definition, die fast jede Form von Gesetzesbruch umfasst.
Nur wenige wussten damals noch, dass es im vorrevolutionären Russland und in der Sowjetunion eine verzweigte kriminelle Unterwelt gegeben hatte, an deren Spitze eine Bruderschaft von Bossen stand, die wory-w-sakone, wörtlich «Diebe im Gesetz», womit eigentlich «Männer, die sich an die Regeln der Unterwelt halten», gemeint war. Ihre Ursprünge lassen sich bis zu den «Gilden»[2] gewöhnlicher Diebe im 19. Jahrhundert zurückverfolgen, analog zu den Zusammenschlüssen russischer Handwerker. Dissidenten, die während der Sowjetzeit im Gulag gefangen waren, kamen mit einigen von ihnen in Berührung und beschrieben ihre Verhaltensweisen. Maximilien de Santerre, der 1924 geborene und 1946 für zwölf Jahre im Gulag einsitzende französisch-russische Spion, schildert in seinen Memoiren, wie einige Kriminelle im Lager sich in besonderer Weise kleideten und seltsame Eigenarten pflegten. Sie trugen «Halsketten mit selbstgemachten Kreuzen aus Aluminium und oft einen Vollbart; das Hemd ließen sie fast immer aus der Hose hängen und darüber zogen sie eine oder mehrere Westen an.» Ihre Körper waren über und über tätowiert: vor allem zierte ihre Brust «ein Bild mit betenden Engeln zu beiden Seiten eines Kruzifix; darunter stehen die Worte ‹O Herr, rette Deinen Sklaven!› oder ‹Ich glaube an Gott›», was auf eine tiefe Religiosität hindeutete. Sie sprachen ihre eigene Sprache, deren Grammatik russisch war, die aber einen eigenen Wortschatz hatte.[3]
Warlam Schalamow, der zwischen 1937 und 1953 insgesamt fünfzehn Jahre im Lager verbrachte und im Westen als Autor der Erzählungen von Kolyma bekannt wurde, verfasste Ende der fünfziger Jahre acht Essays über das organisierte Verbrechen, in denen er die wory-w-sakone beschrieb. Seiner Beobachtung nach lehnten die wory die Sowjetmacht kompromisslos ab und hielten sich an ihren eigenen abwegigen Moralkodex. Diese Gesetzesbrecher organisierten sich in Gruppen mit eigenen Gesetzen, eigenen Gebräuchen, einer eigenen Sprache und dem Ansatz zu einer eigenen Arbeitsteilung, die sich über mehrere Bezirke, ja sogar Provinzen hin erstrecken konnten. Infolge eines erbitterten Kampfes zwischen den «ehrenhaften» wory, die sich auch während des Zweiten Weltkriegs weigerten, dem Vaterland zu dienen, und jenen, die sich einer aus Gulag-Sträflingen bestehenden Spezialeinheit der Armee anschlossen, wurde die Bruderschaft in den fünfziger Jahren fast vollständig aufgerieben. Nur ein paar wory überlebten und hielten die Fahne hoch.
Aber diese Überlebenden fanden sich in den sechziger und siebziger Jahren wieder zusammen, expandierten und brachten alle Voraussetzungen mit, das Chaos der unregulierten Marktwirtschaft der neunziger Jahre zu nutzen. Die wory begannen in den Medien wieder als nationale Bruderschaft aufzutauchen, die es darauf anlegte, im neuen Russland und anderswo eine tragende Rolle einzunehmen. In jenen Jahren wurde ein georgischer wor Minister in der Regierung seines Landes, der 1992 entscheidend am Aufstieg Eduard Schewardnadses zum georgischen Präsidenten beteiligt war. Zu guter Letzt schafften es die wory sogar in die westliche Unterhaltungskultur. Der Film Tödliche Versprechen – Eastern Promises (2007) von David Cronenberg erzählt die Geschichte einer wory-Zelle in London. Nikolaj, gespielt von Viggo Mortensen, gewinnt das Vertrauen des alten Anführers und wird schließlich für die Mitgliedschaft vorgeschlagen; dabei gelingt es ihm, seine wahre Identität als Geheimdienstermittler zu verbergen. Der 2010 erschienene Roman Verräter wie wir von John le Carré handelt von Dima, dem «größten Geldwäscher der Welt», geboren in der russischen Stadt Perm und Mitglied der wory-Bruderschaft, der jetzt versucht, sich abzusetzen, um seine Familie zu retten.[4]
Die wory waren Anfang der neunziger Jahre im Westen noch unbekannt, als ich beschloss, in die russische Provinz zu fahren. Ich hoffte, eher dort als im Moskauer Tohuwabohu eine klare Antwort auf die Frage zu finden, die mich bewegte: Können die wory als postsowjetische Variante der Mafia angesehen werden, oder sind sie lediglich ein Abklatsch der alten kriminellen Folklore? Da meine britische Universität damals ein Austauschprogramm mit Perm unterhielt, einer Großstadt im Vorland des Ural und damit unweit der Grenze zu Sibirien, sollte dies mein Ziel sein. Damals wusste ich von Perm nur sehr wenig. Kurz bevor meine Feldforschung begann, nahm ich Doktor Schiwago zur Hand, den 1957 erschienenen Roman von Boris Pasternak, in dem der fiktive Ort Jurjatin für die Stadt Perm steht. Während des Bürgerkriegs war das echte Perm, wie auch das fiktive Jurjatin, von der Roten und der Weißen Armee heftig umkämpft; die Weißen kapitulierten erst 1919. Als Stalin ab 1941 Rüstungsfabriken in Richtung Ural verlegte, wurde Perm zum Zentrum des Baus von Motoren für Düsenflugzeuge, und bis zu den letzten Tagen der Perestrojka war die Stadt für Ausländer gesperrt. Ich traf dort ein, als die Sowjetunion gerade ihren letzten Atemzug tat. Damals erreichte man die Stadt am besten mit dem Zug, in einer etwas modernisierten Version genau jenes Waggons, den Pasternak so ausführlich beschrieben hatte. Der Kama – benannt nach jenem Fluss, der die Stadt durchquert – fuhr jeden Nachmittag vom Jaroslawler Bahnhof in Moskau los und kam etwa 22 Stunden später an.
In seinem äußeren Erscheinungsbild hatte Perm die Überreste der jüngsten Vergangenheit noch nicht entsorgt: die Statuen sowjetischer Staatsmänner und Helden und Plakatwände mit den Fotos von Bestarbeitern standen alle noch. Das Wohnheim, in dem ich unterkam, lag an der Leninstraße. Oberflächlich gesehen schien das Leben in dieser Provinzstadt stehengeblieben und noch verschont zu sein von der «Wildheit der Hauptstadt» (wie Boris Pasternak es nannte). Ich begann meinen Aufenthalt in Perm damit, erst einmal Kioskbesitzer und Kleingewerbetreibende zu interviewen. Dabei erfuhr ich eine Menge über die Schwierigkeiten, in dieser Stadt geschäftlich tätig zu sein, und über die willkürlichen Überprüfungen seitens der Finanzinspektion und der korrupten Polizei, während ich gleichzeitig den Leuten, die ich kennenlernen wollte, näher kam. Die Kioskbesitzer standen in der Hierarchie der neuen Klasse von Kapitalisten ganz unten. Alle zahlten Schutzgeld an eine Bande, die das Viertel kontrollierte, auf das ich mich bei meinen Nachforschungen konzentrierte. Einmal wartete ich fast die ganze Nacht mit Stepan, einem Kleinhändler, mit dem ich mich angefreundet hatte, um bei einem Treffen zwischen ihm und dem «Eintreiber» der örtlichen Bande dabei zu sein. Gegen zwei Uhr morgens kreuzte endlich der Bote auf, den der Boss des Viertels geschickt hatte. Ein stiernackiger, pockennarbiger Ex-Boxer fuhr im Wagen vor und forderte meinen neuen Freund auf, einzusteigen. Ich durfte mitkommen. Mein Kontaktmann stellte mich vor und erläuterte mein Anliegen. Ich saß auf dem Rücksitz und starrte auf ihre Hinterköpfe; dennoch gelang es mir, eine Unterhaltung mit dem Kleingangster zu führen. Er war nicht gerade gesprächig, aber er bestätigte mir, was ich bereits aus der Lokalpresse erfahren hatte. Der Mann, der weithin als der Mafiaboss von Perm galt, hieß Nikolaj Stepanowitsch Sykow, genannt das Jakutchen (der kleine Jakute).
Meine Chance erhielt ich ein paar Wochen später durch ein Interview mit einem städtischen Funktionär. Dank seiner Vermittlung (und der Bemühungen anderer, die hier ungenannt bleiben sollen) erklärte sich Sykow bereit, mich im Restaurant Gornyj Chrustal’ («Bergkristall») in einem Vorort zu treffen. Ich fuhr in ein Industriegebiet von Perm und fand es schließlich. Damals war das Gornyj Chrustal’ eines der größten Restaurants der Stadt, untergebracht in einer ehemaligen Fabrik, in der zu Sowjetzeiten Küchengeräte hergestellt wurden. Es war ein Schnellrestaurant sowjetischen Stils, ein langer, düsterer Saal, stickig und fensterlos, mit unsystematisch aufgestellten Tischen. Ich wurde von Leibwächtern durchsucht, bevor ich eintreten durfte, wie in einem Nachtlokal. Schließlich gelangte ich ans Ende des rauchgeschwängerten Saals, wo eine frisch errichtete Bühne stand. Sykow hielt Hof, und andere Gäste konnten von ihren Plätzen aus ein paar Meter Entfernung einen Blick auf seine Welt erhaschen. Er saß am Kopfende des Tischs mit dem Rücken zur Außenwand. Sykow, ethnisch Russe, wurde am 8. Juni 1953 geboren und war klein und schlank und sprach mit sanfter Stimme. Er trug einen weißen Anzug, schaute aus ruhigen, mandelförmigen Augen und bewegte sich wie ein Mann, der sich seiner Macht bewusst ist. Als ich ihn kennenlernte, hatte er bereits acht Vorstrafen für die unterschiedlichsten Verbrechen auf dem Buckel, darunter Vergewaltigung, Alkohol am Steuer und illegaler Waffenbesitz. Mir fielen die kleinen tätowierten Punkte auf seinen Fingerknöcheln auf, mittels derer Kriminelle traditionell die Zahl ihrer abgesessenen Strafen mitteilen. Mehrere geschmacklos angezogene Frauen wuselten um den Tisch herum. Die laute Musik übertönte und störte unser Gespräch.
Man hätte erwarten können, dass ich diesen Mann nun zu einigen der ungeklärten jüngsten Vorkommnisse im Zusammenhang mit den Handelskriegen in Perm oder zur ungezügelten Korruption der Stadtverwaltung befragen würde. Weit gefehlt und viel zu gefährlich. Zunächst wollte ich von Sykow wissen, was er von dem moralischen Chaos hielt, in dem Russland jetzt zu versinken schien, und was dagegen getan werden könne. Er musste nicht lange überlegen: «Die einzigen moralischen Instanzen in Russland sind heute die Orthodoxe Kirche und die wory-w-sakone. Sowohl die Kirche als auch die wory hatten sich gegen das Sowjetregime gestellt. Als die Kommunisten die Macht an sich rissen, haben sich die wory geweigert, sich den Grundsätzen der sowjetischen Gesellschaft anzupassen: Sie trugen niemals Uniform und waren eingeschworene Feinde des Regimes. Geld oder materielle Dinge haben ihnen nichts bedeutet. In den Lagern respektierten die wory nur religiöse Häftlinge», fuhr er fort. Weniger glaubhaft fügte er hinzu, dass die wory stets auch Respekt für Frauen gezeigt hätten, insbesondere für ihre Mütter (oft lassen sich wory das Wort «Mutter» eintätowieren). Seiner Meinung nach waren die wory die Hüter der moralischen Werte, die das Land verloren hatte.
Nach einigem Nachhaken erklärte sich Sykow bereit, mir jene «Taufe» oder auch «Krönung» genannte Zeremonie zu beschreiben, durch die man zum worworyworworywory[5]worworworyworywory