Hans Herlin
Der letzte Mann von der ›Doggerbank‹
Authentischer Bericht eines Dramas im Atlantik
FISCHER Digital
Hans Herlin, geboren 1925 in Stadlohn/Westfalen, wurde im Zweiten Weltkrieg zur Luftwaffe eingezogen und zum Piloten ausgebildet. Er flüchtete in die Schweiz, kehrte nach Kriegsende jedoch nach Deutschland zurück. Nach Studium, Buchhandels- und Verlagslehre war er Lektor und Redakteur beim Stern. 1971 wurde er Verlagsleiter im Verlag Fritz Molden. Von 1977 an lebte Herlin in Frankreich. Er war Autor überaus erfolgreicher, zum Teil verfilmter Romane (u.a. ›Ernst Udet‹, ›Freunde‹, ›Feuer im Gras‹, ›Sibirien-Transfer‹). Hans Herlin starb 1994 in Autun/Frankreich.
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Als am 3. März 1943 der Hilfskreuzer Doggerbank torpediert wurde, konnten sich 13 Mann in eine Jolle retten. Wochenlang trieben sie im Atlantik, einer nach dem andern starb. Nur einer überlebte: der Bootsmann Fritz Kuert. Und der wollte wissen, weshalb 364 Seeleute hatten sterben müssen.
Was er herausfand, war ungeheuerlich: Die Doggerbank war von U 43, einem deutschen Unterseeboot, versenkt worden.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Copyright © 2017 by Florian Euringer, Baldham
© der deutschen Erstausgabe 1979 by Heyne
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561989-6
Der Zeuge möchte ungenannt bleiben.
Widmung
Für Fritz Kuert, Bootsmann,
stellvertretend für
die 364 Toten
der Doggerbank
Am 16. Januar 1944 liegen die Stadt Genf und der See unter einer weißen, dunstigen Nebeldecke.
Gegen Mittag hat es zu schneien begonnen. In dichten Flocken treibt der Schnee über die Gleise des Gare du Cornavin. Auf dem Stationsschild sind nur noch die Buchstaben … êve zu lesen. Die Zeiger der Bahnhofsuhr verschwinden unter einem dicken Überzug von Schnee und Eis.
Männer und Frauen mit Rotkreuzbinden warten fröstelnd an zwei Holztischen. In hohen Aluminiumkannen dampft Kaffee. Schweizer Soldaten stampfen sich auf dem verharschten Schnee die Füße warm. Um 15 Uhr sollen die beiden Sonderzüge mit den Kriegsgefangenen eintreffen.
Wie bei jedem Austausch hat das Rote Kreuz die Schweizer Miliz, das deutsche und amerikanische Generalkonsulat verständigt: Die amerikanischen Kriegsgefangenen sind aus den verschiedenen deutschen Lagern nach Konstanz gebracht worden. Die in den USA gefangengehaltenen deutschen POWs sind an Bord der Charles A. Stafford über den Atlantik nach Marseille gebracht worden und dort in einen Sonderzug gestiegen.
Aus der Ferne kommt der Pfiff einer Lokomotive, hell und durchdringend; der Zug aus Konstanz. Durch den wirbelnden Schnee sieht man die dunkle Wagenreihe vor der Einfahrt stehen. Die Drähte entlang den Gleisen schütteln den Schnee ab, als das Haltesignal hochgezogen wird.
Zwei Männer in schwarzen, pelzbesetzten Ulstern reichen den Posten ihre Legimitation. Die Schweizer prüfen die Papiere der beiden deutschen Diplomaten mit kühler Höflichkeit. Als sie die Papiere zurückgeben, tun sie es mit einem Ausdruck von Neugier und Herablassung; sie können kaum verheimlichen, daß sie die beiden für Angehörige einer geschlagenen Nation halten. Die Amerikaner vorhin haben sie sehr viel freundlicher behandelt.
Der Bahnsteig erdröhnt, als der Zug aus Konstanz einläuft. An der Seitenwand des Tenders hat man den Schriftzug ›Räder müssen rollen für den Sieg‹ übermalt. Der größere der beiden Männer, ein Mann mit geröteter Haut und Schmissen im Gesicht, sagt: »Der Gegenzug muß jeden Augenblick kommen.«
Überall werden Türen aufgerissen. Amerikaner springen auf den Bahnsteig. Ihre Stimmen sind laut und ausgelassen. Sie bücken sich, formen den Schnee, bewerfen sich. Die Schweizer Posten treiben sie zurück, schließen die Türen. Frauen mit Rotkreuzbinden gehen mit ihren Aluminiumkannen und Pappbechern von Wagen zu Wagen.
Der Mann mit den Schmissen, die jetzt weiß sind in dem geröteten Gesicht, holt die Liste mit den Namen der deutschen Austauschgefangenen aus dem Ärmelumschlag seines Ulsters. Die Liste hat viele Seiten. Sie enthält 417 Namen. Auf der dritten Seite ist ein Name rot angekreuzt:
Fritz, Louis, August, Otto Kuert, geb. 7. Aug. 1918, Lünen, Westf. Staatsangehörigkeit: Deutsch. Bootsmann. Letzter bekannter Aufenthaltsort: Gefangenenlager Valley Forge, USA. POW2000NA.
»Das ist unser Mann. Wir haben keine nähere Personenbeschreibung, aber sie werden namentlich aufgerufen. Was wir brauchen, ist eine gute Aufnahme von ihm. Also halten Sie Ihre Leica bereit.«
»Was wollen Sie eigentlich in Deutschland von dem Mann?« fragt der Kleinere. Seine Kamera hängt auf seiner Brust. »Hat er drüben was ausgeplaudert?«
Aus dem Schornstein der Lok steigt dunkler Qualm. Eine Kupplung fällt mit einem harten Geräusch herunter. Die Lok fährt an. Auf den Trittbrettern stehen zwei bewaffnete Posten. »Er ist der einzige Überlebende eines Schiffes«, sagt der Mann mit den Schmissen zurückhaltend.
»Was für ein Schiff?«
»Die Doggerbank.«
Die Lokomotive verschwindet im Schneegestöber; man hört sie rangieren.
»Doggerbank? Gab es darüber nicht einmal eine Geschichte im Bum-Bum-Sender?« Was er meint, sind die deutschsprachigen Sendungen der BBC. »War das nicht dieser Blockadebrecher, der von unseren eigenen Leuten versenkt worden ist?«
Der Mann mit den Schmissen schlägt den Pelzkragen seines Mantels hoch. Er schweigt. Er geht den Zug entlang, dessen Scheiben sich zu beschlagen beginnen. Der Wind fegt den Schnee von den Wagendächern über den Bahnsteig.
Auf dem Parallelgleis ist der schneeüberkrustete Zug aus Marseille eingefahren. Zuerst werden die Schwerverwundeten aus dem Zug getragen, auf Bahren, tief in Decken gehüllt. Über ihren Mündern stehen kleine Atemwölkchen, als die Rotkreuzhelfer sie zu dem Zug mit den beschlagenen Scheiben tragen. Die amerikanischen Kriegsgefangenen haben den Zug verlassen, warten hinter einem über den Perron gespannten Seil. Schweigend verlassen die deutschen POWs den Marseiller Zug. Sie treten an den Tisch, an dem Vertreter des Roten Kreuzes ihre Namen auf einer Liste abhaken.
Zwei Gefangene nähern sich dem Tisch. Der eine ist schmal und blaß. Er hat eine tiefe, vernarbte Wunde an der Schläfe, den starren Blick eines Blinden. »Kürzinger«, sagt er, »Josef.«
Der andere, der ihn führt, trägt eine seltsame Fantasieuniform: Einen langen U-Boot-Mantel, einen dicken weißen Wollschal, die Mütze eines Kapitäns der Handelsmarine. Sein Gesicht ist eingerahmt von einem dichten Bart. Als er spricht, zeigt er fünf goldene Zähne: »Kuert, Fritz, Bootsmann.« Die ganze Art, wie er sich gibt und bewegt, ist trotz der seltsamen Uniform die eines Zivilisten.
»Weiter, der nächste!«
Der Mann namens Kuert führt den Blinden zum Zug zurück. Er hilft ihm das Trittbrett hinauf, reicht ihm seinen Koffer in den Gang. Als er selbst in der Tür ist, wendet er sich noch einmal um … Er blickt erstaunt auf die beiden Männer in ihren dunklen Ulstern. Der eine hat die Kamera gehoben, eine Leica, drückt ab, transportiert den Film, macht eine zweite Aufnahme … Kuert lächelt automatisch, so als finde er nichts seltsam an der Szene, an der Aufmerksamkeit, die man ihm schenkt. Er lächelt in die Kamera, sagt: »Kriege ich auch einen Abzug?« – Viele Jahre später wird ein Brief bei ihm eintreffen, anonym, ohne Absender. Der Brief wird einen Abzug der Fotografie enthalten, nichts weiter, nur das Bild von ihm und auf der Rückseite der Vermerk: Gare du Cornavin, 16. Januar 1944 …
Die beiden Männer in den dunklen, pelzbesetzten Ulstern gehen dem Ausgang zu. Hinter ihnen werden noch immer Namen aufgerufen. Ein Arbeiter geht den Zug entlang, schlägt mit einem langstieligen Hammer die Bremsen los.
»Und?« fragt der Hüne mit den Schmissen.
»Er schien es ganz in Ordnung zu finden, fotografiert zu werden. Er lächelte in die Kamera.«
Der Fahrer wartet draußen auf der Place du Cornavin bei dem Wagen mit dem CD-Zeichen. Zeitungsverkäufer rufen die Schlagzeilen der Abendausgaben aus. Die Gesichter der beiden Männer im Ulster versteinern:
»Durchbruch der Roten Armee im Weichselbogen!«
»Fortdauer der Ardennen-Abwehrschlacht …«
Die beiden Diplomaten sitzen steif im Fond des Wagens. Sie sehen sich nicht an. Sie sehen hinaus auf die breiten, kandelabergesäumten Straßen der Stadt.
Als der Wagen in die Rue de Mont Blanc einbiegt, fährt die lange Wagenkette des Zuges aus der Halle und verschwindet in der grauen, dunstigen Luft …
Die beiden Männer sitzen am Fenster des Zuges, jeder in seiner Ecke. Für einen Augenblick erscheint der See, verhangen im grauen Dunst.
»Links ist der See«, erklärt Kuert, der Mann in dem U-Boot-Mantel. »Grau in grau. Man sieht kaum etwas.« Er hat es sich angewöhnt, zu dem Blinden so zu sprechen, ihm alles zu erkären. »Hier müßte man ein Boot haben, im Sommer, das wäre eine Sache.« In den Abteilen des Wagens ist es ruhig. Selbst die unentwegten Kartenspieler – elf Tage hat die Fahrt über den Atlantik gedauert – haben aufgehört.
Manchmal kommt jemand durch den Gang. Sonst ist es still, bis auf das Geräusch des fahrenden Zuges. Auf der anderen Seite sieht man die dunklen Schatten der Berge.
»Stell dir vor! Heute abend bist du schon zu Hause«, sagt der Bootsmann Kuert.
»Möglich.« Josef Kürzinger stammt aus Radolfzell. Er ist dort Lehrer gewesen, vor dem Krieg. In Afrika hat ihn ein Granatsplitter getroffen; ein Wunder, daß er lebend in Gefangenschaft geriet; aber er wird für immer blind bleiben. »Willst du nicht mitkommen?«
»Ich muß erst diese Sache hinter mich bringen«, sagt Kuert. »Dann komme ich bestimmt. Vielleicht können wir ein Boot auftreiben. Ich werde dir das Segeln beibringen …«
Man merkt, daß es wenig gibt, was der eine nicht vom anderen weiß. Sie haben lange zusammen in Philadelphia im Hospital gelegen, in einem Saal, Bett an Bett. Kuerts Hände tasten nach dem Brotbeutel, den er um den Hals trägt. Es ist sein einziges Gepäck. Seine Hände haben tiefe Narben. Er beugt sich vor, als könne der andere ihn sehen. »Ich muß erst wissen, wie das passiert ist! Ich muß wissen, wer das war, der uns abgeschlachtet hat.«
»Du redest dich um Kopf und Kragen!« sagt der Blinde.
»Ich bin der einzige, der überlebte. Der einzige von dreihundertfünfundsechzig!«
»Das, was du vorhast, macht keinen von ihnen wieder lebendig.«
»Ich hab’ es geschworen! Mir und den anderen habe ich es geschworen! Ich muß für sie reden. Ich bin der einzige, der es kann …«
Die Schatten werden länger. Langsam senkt sich die Dunkelheit in das Abteil. Um sie ist nur das monotone Rattern des Zuges. »Gib mir wenigstens das Tagebuch«, sagt der Blinde schließlich. »Bei mir ist es sicher.«
Sie hatten es zusammen geschrieben. Damals, als sie Kuert ins Hospital einlieferten, hatte er Josef seine Geschichte erzählt; der Lehrer hatte ihm den Rat gegeben, sie niederzuschreiben, alles, vom ersten Tag an.
»Sei vernünftig, Fritz! Die machen dich fertig.«
»So leicht macht mich keiner fertig.« Er kann sich nicht vorstellen, daß er je wieder Angst haben wird, nicht nach dem, was er erlebt hat. Dem Tod so nahe, hat dieser eine andere Bedeutung für ihn bekommen. Und da ist immer noch die Frage: Warum ich? Warum bin ich es, der überlebte, als einziger? Warum? Er holt die in eine Ölhaut eingeschlagene Kladde heraus. Er hält sie zögernd in den zernarbten Händen. »Versprich mir …«
»Ich gebe sie nicht aus der Hand. Ich hebe sie auf, bis du sie brauchst …«
Kuert legt die Kladde in den Koffer. Dann setzt er sich in seine Ecke. Es ist jetzt fast dunkel draußen. Die Deckenbeleuchtung brennt. Sie sprechen nicht mehr. Von Zeit zu Zeit zieht ein glühender Funkenregen am schwarzen Fenster vorbei …
Er erwacht erst aus seinem Halbschlaf, als der Lehrer ihn anstößt. Er fährt auf, trotz seines Mantels fröstelnd. »Wir sind doch noch nicht da?«
»Hör doch!« Auf dem Gesicht des Blinden erscheint ein Lächeln. Es liegt in den Augenhöhlen, um die toten Augen, die dadurch etwas von ihrer Starrheit verlieren.
Er hört Stimmen. Sie haben einen Ton, den er vergessen zu haben glaubte. Er öffnet das Fenster. Konstanz. Auf dem dunklen Bahnsteig wippen ein paar Lichter auf und ab. Er erkennt Feldgendarmerie an den Blechschildern auf der Brust.
Plötzlich steht einer von den ›Kettenhunden‹ vor ihrem Fenster. »Sie! Sie! Wahnsinnsheini! Mach das Licht aus!« Kuert zieht das Rollo herunter. Draußen sagt die bellende Stimme: »Von Verdunkelung haben die wohl noch nie was gehört.«
Eine andere Stimme antwortet: »Wird Zeit, daß wir die Jungs wieder auf Vordermann bringen.«
Kuert holt schweigend den Koffer aus dem Netz. In den Augenhöhlen des Blinden liegt noch immer das Lächeln.
»Wir sind wieder zu Hause«, sagt er.
Vierzehn Tage später führen zwei Marinesoldaten den Bootsmann Fritz Kuert in das Dienstzimmer des Admirals.
Es ist ein grauer Tag. Uber den Hof der Kaserne in Buxtehude geht ein dichter Schneeregen nieder, verwandelt sich in dunkle Nässe, sobald er den Boden berührt. Hier ist die Seekriegsleitung der Oberkommandos der Marine untergebracht.
Kuert wartet auf dem Gang vor dem Dienstzimmer, während einer der Marinesoldaten meldet: »Bootsmann Kuert von der Doggerbank, Herr Admiral!«
»Herein mit ihm.«
Kuert tritt in den Raum, meldet sich.
Der Admiral weist auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Er nimmt dem Adjutanten den Ordner aus der Hand. »Ich rede allein mit ihm.« Er hat ungewöhnliche helle, wasserblaue Augen. Sein Haar ist weiß mit gelblichem Schimmer. Der Adjutant und der Posten verlassen den Raum.
Der Admiral beugt sich vor. »Wir wollen ganz offen miteinander reden«, er versucht, seiner Stimme einen jovialen väterlichen Klang zu geben, »und was hier gesprochen wird, das bleibt unter uns, klar?« Er schlägt den Ordner auf, glättet die Seiten. »Unangenehme Sache. Mir liegt daran, sie schnellstens aus der Welt zu schaffen …«
Kuert sagt nichts. Er blickt auf die Karte an der Wand im Rücken des Admirals, aber seine Gedanken sind woanders. Die Säue haben uns abgeknallt! denkt er, und dabei fällt ihm ein, daß es die ersten Worte waren, die Stachnovski hervorgestoßen hatte, als er ihn nach der Torpedierung aus dem Wasser fischte. – Aber Kuert spricht den Gedanken nicht aus. Hinter sich spürt er die Hitze des Kanonenofens. Seine Kehle ist trocken, wie zugeschnürt. Er sieht vor sich die breiten Ordensbänder auf der Brust des Admirals. Kuert hat das Verlangen zu schreien, hinauszuschreien, was er sich zurechtgelegt hat. Aber er kann seine Zunge nicht zum Sprechen bringen, er, ein kleiner, unwichtiger Bootsmann der Handelsmarine. »Es ist nur wegen meiner Kameraden, Herr Admiral …« Das ist alles, was er in seiner Aufregung hervorbringt.
»Wie alt sind Sie, Kuert?«
»Sechsundzwanzig.«
»Da laufen Sie in der Weltgeschichte herum, erzählen wilde Geschichten! Stellen dumme Fragen. Mann, Sie sind doch Soldat …«
»Ich war nie Soldat.«
»Wieso?«
»Ich bin bei der Handelsmarine. Wir sind unser eigener Verein, dienstverpflichtet für die Kriegsmarine.«
Der Admiral schüttelt den Kopf. In seiner Stimme ist zum erstenmal Ungeduld spürbar. »Wir sind alle Soldaten in dieser Stunde …« Er nimmt seine Brille, aber er setzt sie nicht auf, als er den Akt auf seinem Schreibtisch umblättert. »Wir haben den Fall damals genau untersucht.« Er sieht auf. »Wir haben den Verlust der Doggerbank zuerst nicht aufklären können. Dann kam die Nachricht, daß es einen Überlebenden gab – der spanische Tanker, der Sie aufgefischt und nach Aruba gebracht hatte. So erfuhren wir zum erstenmal von dem Verlust der Doggerbank.«
Kuert sitzt steif in seinem Stuhl. Er wartet. Er vergißt immer mehr, wo er ist. Er ist nicht mehr der Bootsmann Kuert, der Mann ihm gegenüber nicht mehr der allmächtige Admiral. Mehr als je zuvor ist er sich der Gegenwart seiner Kameraden bewußt, vor allem derjenigen, mit denen er zuletzt in dem Boot gewesen ist. Er fühlt, daß er an ihrer Stelle hier sitzt, als ihr Sprecher, als ihr Zeuge, als letzter und einziger Zeuge: für Schneidewind, den Kapitän, für Boywitt, den Fischer von der Kurischen Nehrung, für Stachnovski, der so stolz auf seine Reitstiefel gewesen war, für Jan Bahrend, den geschaßten Koch und großen Geschichtenerzähler, für Waldemar, den Schiffsjungen, sechzehn erst und verliebt in eine japanische Prostituierte, für …
»Wir haben das Datum überprüft«, hört er den Admiral sagen. »Am 3. März 1943 hat nur eines unserer U-Boote eine Versenkung gemeldet, U 43. Wir haben uns den Kommandanten nach Berlin kommen lassen. Bei einem Verhör haben wir feststellen müssen …« Er unterbricht sich. »Was haben Sie?«
»Es stimmt also!« Kuerts Hände umklammern die Kante des Schreibtisches. »Es war also ein deutsches U-Boot! Sagen Sie mir den Namen. Wer war der Kommandant? Wer hat uns abgeschlachtet? Wie hieß der Kerl?«
Der Admiral ist grau geworden. Seine Stimme ist schneidend. »Ich denke, das wissen Sie! Das erzählen Sie doch in der ganzen Weltgeschichte herum!«
»Wir haben es geahnt, mehr oder weniger. Aber keiner von uns war sicher.« Kuert spürt, wie Zorn und Empörung und die Verzweiflung über den Tod der anderen ihm die Zunge lösen. »Wer war das Schwein? Wer hat uns drei Torpedos verpaßt und ist dann sang- und klanglos verduftet, hat uns abkratzen lassen, hat nicht einen von uns aufgefischt …«
»Mann, reißen Sie sich zusammen!« Das Gesicht des Admirals erstarrt vollends. »Was nehmen Sie sich heraus! Sich hier aufzuspielen! Die Sache ist erledigt. Die Untersuchung hat ergeben, daß den Kommandanten des U-Bootes keine Schuld trifft. Es war ein Versehen. Bedauerlich, aber nicht zu ändern. Hören Sie, Kuert, ich gebe Ihnen einen guten Rat …«
Während er dem Admiral zuhört, kommt ihm der Gedanke, daß sie beide von ganz verschiedenen Dingen reden. 364 Seeleute waren gestorben, elend zugrunde gegangen; erstickt, verbrannt, ertrunken; andere hatten, in aussichtsloser Lage, sich selbst getötet … Ein Versehen … war das alles? Ein Bericht, ein paar Seiten; eine Zahl, 364, eine Zahl in der großen Statistik. Und er soll schweigen?
Die Worte kommen über seine Lippen, ohne daß er weiß, daß er sie spricht, ohne sich der Ungeheuerlichkeit der Situation bewußt zu sein: er, ein kleiner, unwichtiger Bootsmann, der von einem Admiral der Obersten Seekriegsleitung Rechenschaft fordert. »Deswegen sind also die Männer der Doggerbank krepiert. Aus Versehen! Reden Sie nicht um den heißen Brei herum. Rücken Sie heraus mit dem Namen …«
Der Admiral fährt mit einem Ruck in seinem Sessel auf. »Jetzt ist es genug!« Seine Stimme überschlägt sich. Er macht eine vage Handbewegung zu der Karte im Hintergrund. »Herrgott im Himmel! Das Schicksal unseres Volkes steht auf dem Spiel, und Sie besitzen die Unverschämtheit, an Ihren eigenen persönlichen Kram zu denken …«
Er redet weiter. Es wird eine lange Ansprache. Sie scheint nicht an den Bootsmann Kuert gerichtet, sondern an Hunderte von imaginären Zuhörern. Endlich setzt er sich, mit unbewegtem Gesicht. Er schlägt den Ordner zu. »Ich hätte gedacht, daß wir die Sache unter uns ins reine bringen könnten. Daß Sie für Ihre Kameraden eintreten, kann ich verstehen. Aber …« Er vollendet den Satz nicht. Er drückt auf den Klingelknopf. »Tut mir leid, Kuert, aber die Folgen haben Sie sich selbst zuzuschreiben …«
Sie führen ihn nach einer halben Stunde ab; keine Marine diesmal, sondern zwei in graugrünen Uniformen, zwei vom Sicherheitsdienst. Der Schnee fällt dichter über den Kasernenhof, aber er vergeht noch immer auf dem Boden. Ein paar Marinesoldaten bleiben stehen, sehen ihnen nach. »Nervös, Kumpel?« fragt einer der beiden.
Ihm ist nicht zum Reden. Das Gespräch mit dem Admiral erscheint ihm jetzt unwirklich, als habe es nicht stattgefunden. Vor allen Dingen: Es ist unwichtig; jetzt, das spürt er, jetzt geht es um Kopf und Kragen, das macht ihn hellwach. Und immerhin: eines wenigstens weiß er jetzt, die Nummer des Bootes. U 43. Es wird nicht schwer sein, den Namen des Kommandanten zu erfahren …
Das Büro, in das sie ihn führen, ist nüchtern, kühl und fast leer. Der Mann hinter dem Schreibtisch weist schweigend auf den Stuhl. Der Kragen seiner Uniform steht offen, das Schweißband hängt heraus. Ein Koppel mit Pistole hängt über der Lehne des Stuhles. Auch er hat die zwei Buchstaben – SD – auf dem Uniformärmel, zwei Sterne auf den Schulterklappen.
Kuert kennt den Rang nicht; kein sehr hoher Rang. Aber der Rang spielt keine Rolle – es ist das Gesicht, das den Mann genügend ausweist. Der Ausdruck des glatten Gesichtes ist weder feindlich noch freundlich. Er scheint ein fast klinisches Interesse an dem Fall zu haben. Er sitzt einfach da und sieht Kuert an. Vor ihm auf dem Tisch liegt der Aktenordner, der vorher auf dem Tisch des Admirals gelegen hat.
Aus dem Nebenraum klingt das Geräusch einer Schreibmaschine. Es hört sich an, als tippe jemand mit zwei Fingern. Der mit den zwei Sternen steht auf und geht zur Tür. »Wie weit sind Sie?«
»Gleich fertig, Scharführer.«
»Bringen Sie es rüber. Er ist hier zum Unterschreiben …« Er kommt zurück und bleibt hinter seinem Stuhl stehen, sieht Kuert an. »Ich habe den Bericht studiert … sechsundzwanzig Tage in einem Boot auf dem Atlantik, ohne Proviant, ohne Trinkwasser – da muß einer schon zäh sein.« Seine Stimme ist wie sein Gesicht, glatt und ohne Gemütsbewegung. »Ich habe was übrig für zähe Leute.«
»Es war eine Jolle. Ohne Ruder, ohne Segel.«
»Soso. Und wann haben die Amerikaner Sie zum erstenmal verhört?«
»In Aruba.«
»Später nicht mehr?«
»Doch.«
»Was haben Sie ihnen erzählt?«
»Was ich erzählen konnte war nicht viel.«
»Aber es reichte aus, daß die Engländer in ihrem Bum-Bum-Sender von der Doggerbank berichten konnten, sie sei von einem deutschen U-Boot versenkt worden.«
Es ist das erstemal, daß Kuert davon hört. Er zuckt zusammen wie einer, der plötzlich sieht, daß er am Rande eines Abgrundes steht. Er antwortet nicht. Er ist auf der Hut, angespannt. Sein Selbsterhaltungstrieb funktioniert wieder; er hat ihm mehr als einmal das Leben gerettet.
»Zu Herzen gehend. Böses deutsches Nazi-U-Boot schießt die eigenen Landsleute in Grund und Boden. – Woher die Engländer die Geschichte wohl haben?« Er spricht, als erkläre er sich selber etwas. »Es gibt nur einen einzigen Überlebenden. Nur einen Zeugen. Also …«
Die Frage hängt vor ihm wie eine Schlinge; er braucht nur den Kopf hineinzustecken. »Sie werden sich die Geschichte zusammengereimt haben. So schwer kann das nicht gewesen sein. Vielleicht haben sie Funksprüche aufgefangen … Ich konnte es nicht erzählen.«
»Und wieso nicht?«
»Weil keiner von uns gewußt hat, daß es ein deutsches U-Boot war! Ich habe es erst hier erfahren – vor einer halben Stunde. Wir haben so was vermutet, ja, aber mehr war es nicht.«
»Und darüber haben Sie gesprochen.«
»Nein. Wer gibt schon gerne zu, daß einem die eigenen Leute drei Torpedos verpassen? So freundlich wurden wir nun auch wieder nicht von den Amerikanern behandelt.«
»Zäh – und schlau, wie? Aber der Bericht im Bum-Bum-Sender, der bleibt. Dem Feind Informationen geben, die er gegen uns verwenden kann – so kann man es auch auslegen. Das hieße Beihilfe zur Wehrkraftzersetzung … Es sind schon Leute für weniger gehenkt worden.«
Er hat die Stimme nicht gehoben. Sein Mund steht ein wenig offen, auf den Lippen liegt ein eingefrorenes Lächeln. Im Nebenraum ist das Geräusch der Schreibmaschine verstummt. Der Schreiber kommt herein und reicht dem Mann hinter dem Schreibtisch einige Bogen. Der SD-Mann legt sie fast achtlos auf den Schreibtisch. Er klappt den Deckel eines Tintenfasses auf, deutet auf den Federhalter. »Vielleicht unterschreiben Sie … so klug, wie Sie sind.«
Die Erklärung ist nicht lang. Er, Fritz, Louis, August, Otto Kuert, verpflichtet sich, hiermit über die Vorfälle bei der Versenkung der Doggerbank zu schweigen. Datum, Ort, ein paar Punkte für die Unterschrift.
Der Mann hinter dem Schreibtisch tut, als gehe ihn das alles nichts mehr an. Er knöpft sein Jackett zu, schnallt das Koppel um.
Kuert nimmt den Halter und unterschreibt.
»Den Durchschlag noch.« Der SD-Mann sagt es ohne jeden Triumph.
Kuert setzt seinen Namen auf das zweite Dokument. Ein Fetzen Papier, denkt er. Ich habe sechsundzwanzig Tage in dem Boot überlebt, ich werde auch das überleben.
Der SD-Mann löscht die beiden Unterschriften ab.
»Krieg’ ich einen Urlaubsschein?« fragt Kuert.
»Wir brauchen Sie noch etwas, Kuert. Wir haben noch ein paar Fragen.«
»Das heißt …«
»Sagen wir Hausarrest«, kommt ihm der andere zuvor. »Sie sind mir ein bißchen zu schlau, Kuert, und Papier ist geduldig. Man hat uns Ihren Fall übertragen – und wir wollen sichergehen.«
Nach acht Tagen bringen ihn zwei Mann nach Wilhelmshaven, in die Jachmann-Kaserne. Er steht weiter unter Hausarrest; innerhalb der Kaserne kann er sich frei bewegen.
Auch hier die Verhöre durch den SD. Es geht wieder um die Sendung des Londoner Rundfunks. Immer die gleichen Fragen: Was haben Sie bei den Amerikanern ausgesagt? Wie konnten Sie wissen, daß es ein deutsches U-Boot war, das die Doggerbank versenkt hat? Mit wem haben Sie alles darüber gesprochen? – Es ist, als wollen sie ihm vor Augen halten, daß sie ihn in der Hand haben, wenn er nicht schweigt.
Kuert sinnt nur noch auf Flucht, und nach drei Wochen ergibt sich ganz überraschend eine Gelegenheit.
Am Abend hat es, wie so oft, Fliegeralarm gegeben. Kuert ist nicht zu bewegen, in den Bunker zu gehen. Das ist für Landratten. Er ist durch und durch Seemann, und seine Erfahrung hat ihn gelehrt, daß man unter Deck eines Schiffes kaum Chancen hat: Die paar Sekunden extra, die man braucht, um bei Alarm an Deck zu kommen, sind meist der schmale Grat zwischen Überleben oder Sterben.
So hält Kuert sich bei Fliegeralarm immer in der Nähe der Tür auf. Dort spricht ihn ein Maat an:
»Sag’ mal, Kumpel, ich wollte dich schon lange mal alleine sprechen. Du kanntest doch den Gernhöfer? Der war doch mit dir auf der Doggerbank.«
Der Maat ist ein Mann von über vierzig. Ein breites, wettergegerbtes Gesicht, vertrauenerweckend – aber Kuert schweigt. Genauso einen würden sie ihm auf den Hals hetzen, um ihm eine Falle zu stellen.
»Gernhöfer war ein Freund von mir«, fährt der Maat fort. »Wir kommen aus derselben Ecke.«
Kuert sagt nichts, überlegt noch. An diesem Morgen ist in den Nachrichten gekommen, daß die Amerikaner bei Remagen den Rhein überschritten haben. Er rechnet sich aus: Bald geht das große Türmen los! Die Straßen werden voller Streifen sein! Wenn, dann muß er seine Chance jetzt nutzen.
»Woher weißt du das – von der Doggerbank?« fragt Kuert vorsichtig.
»Ich habe Wind davon bekommen«, sagt der Maat. »Ich will gar nichts hören, verstehst du. Es ist nur – sieh mal, Kumpel, Gernhöfers Frau und seine Eltern, die leben hier in Wilhelmshaven.«
Kuerts Gedanke: Sie werden Zivilzeug haben. In der Uniform, in die man ihn gesteckt hat, hat er keine Chance. In Zivil, mit dem alten Seefahrtsbuch, das man ihm nicht abgenommen hat, kann sein Plan gelingen …
»Die haben nur ’ne kurze Nachricht bekommen«, sagt der Maat, »stand nur drin, daß es bei der Versenkung des Schiffes keine Überlebenden gab. Ich hab’ dem alten Herrn von dir erzählt. Er möchte dich treffen.«
Das alte Mißtrauen ist wieder da.
»Deine Eltern – würden die nicht auch mehr wissen wollen, als in so ’ner Nachricht drinsteht?« sagt der Maat.
»Er war ein Freund von dir?« fragt Kuert.
»Wir sind zusammen gefahren!«
»Wo?«
»Auf der Uckermark.«
Uckermark – das stimmte, Gernhöfer war auf dem Schiff gefahren, aber auch das würden sie beim SD wissen.
»Ich stehe unter Hausarrest.«
»Hat sich herumgesprochen«, sagt der Maat, »aber das laß nur meine Sorge sein.«
»Also gut.«
»Halt dich morgen abend bereit.«
Die Zweifel kommen Kuert erst, als der Maat gegangen ist. Sie weichen den ganzen nächsten Tag nicht. Er bleibt allein, wird nicht zum Verhör geholt. Er liegt auf seinem Strohsack, fertig angezogen, horcht auf die Schritte auf dem Gang. Gegen acht Uhr abends kommt der Maat. Kuert folgt ihm schweigend. Es sind nur hundert Schritte über den Kasernenhof bis zur Hauptwache. Der Maat nickt den Wachen zu, dann sind sie draußen …
Das Einfamilienhaus liegt in einer Nebenstraße. Gernhöfers Frau und die Eltern sitzen im Wohnzimmer. Auf dem Tisch alle Bilder, die sie besitzen, die letzten Briefe, die er geschrieben hat. Sie zeigen Kuert stolz das Sofakissen, auf dem die Namen jener Schiffe, auf denen Werner je gefahren ist, mit bunten Fäden aufgestickt sind …
Kuert muß erzählen von der letzten Fahrt der Doggerbank. Er berichtet ihnen: von der Äquatortaufe, von der Ankunft in Japan. Von dem Aufenthalt in Yokohama, während das Schiff beladen wird. Von den Judostunden, die sie genommen haben. Von der Goldzahnplage: Fast die ganze Besatzung der Doggerbank hat sich in Yokohama Goldkronen machen lassen – als Kapitalanlage. Er zeigt ihnen seine fünf goldenen Zähne mit den eingravierten Drachenköpfen auf dem Gold.
Er redet von Ereignissen, die er schon fast vergessen hat. Er schmückt sie aus, alles nur, um nicht die Wahrheit sagen zu müssen …
Die Frauen sitzen da, gefaßt scheinbar; doch die Beherrschung ist nur ein dünner Firnis über ihrer Verzweiflung; ein falsches Wort, und sie werden in Tränen ausbrechen.
Der Maat erlöst ihn endlich. Sie müssen gehen, sie müssen zurück sein, ehe die Wachen wechseln!
Gernhöfers Vater bringt sie hinaus. Er schließt die Tür hinter sich. »Und wie ist Werner gestorben?« Er steht da, weißhaarig, auf einen Stock gestützt. »Sagen Sie mir die Wahrheit, bitte.«
Er berichtet, nur das wichtigste, verschönt auch hier. »Werner war nach der Versenkung noch in dem Rettungsboot?«
»Ja, er war in unserer Jolle. Er war einer der ersten, die dann starben; vor Erschöpfung, Durst. Die ersten starben noch am leichtesten.« Kuert weiß, daß er nicht die Wahrheit sagt. Und er denkt die ganze Zeit: Du mußt ihn nach den Kleidern fragen.
»Ich wollte Sie um etwas bitten«, sagt er schließlich. »Ich bräuchte Zivil, Jacke und Hose. Ich werde Ihnen beides zurückschicken.«
Der Weißhaarige geht, auf seinen Stock gestützt, zu dem Wandschrank. »Nehmen Sie sich, was Sie brauchen. Sie haben fast Werners Figur. Die Sachen müßten Ihnen passen.«