Ein faszinierendes Duett von Neurowissenschaft und Kunst: Der weltbekannte Hirnforscher David Eagleman und sein Freund, der Komponist Anthony Brandt, widmen sich der Frage, wie das Neue entsteht. Dabei blicken sie auf die kreative Software des Gehirns: Wie funktioniert sie? Was machen wir damit? Wohin führt sie uns? Es erweist sich, dass der kreative Prozess vor allem von drei Fähigkeiten des Gehirns abhängt: Biegen, Brechen und Verbinden. An vielen Beispielen, von der Raumfahrt über die Wirtschaft und die Kunst bis zum Sport, zeigen die Autoren, wie unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft.
David Eagleman, geboren 1971, wurde in Neurowissenschaften promoviert und war Schüler des legendären Biologen Francis Crick. Er ist einer der angesehensten und bekanntesten Hirnforscher der Welt. Eagleman forscht und lehrt über das Unbewusste und die menschliche Wahrnehmung an der Stanford University. Mit »Fast im Jenseits«, einer Sammlung von kurzen Geschichten über das Leben nach dem Tod, gelang ihm ein in 20 Sprachen übersetzter Weltbestseller. Zuletzt erschienen bei Pantheon »Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns« (2013) und »The Brain.« (2013)
Anthony Brandt, geboren 1961, ist Professor für Musik an der Rice University und Komponist. Zu seinem Œuvre zählen sinfonische Werke ebenso wie Kammer- und Vokalmusik. Zudem ist er in besonderer Weise bei der Präsentation musikalischer Werke im öffentlichen Raum und in der Musikerziehung engagiert. Seine Konzerte haben bis heute ein Publikum von zehntausenden Schülern und Lehrern erreicht.
DAVID EAGLEMAN
& ANTHONY BRANDT
KREATIVITÄT
Wie unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Siedler
Die Originalausgabe ist 2017 unter dem Titel »The Runaway Species. How Human Creativity Remakes the World« bei Canongate Books, Edinburgh, erschienen.
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Erste Auflage
April 2018
Copyright © Anthony Brandt, 2017
Copyright © David Eagleman, 2017
© 2018 für die deutsche Ausgabe by Siedler Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Rothfos&Gabler, Hamburg
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-22462-2
V002
www.siedler-verlag.de
Für unsere Eltern,
die uns ein Leben der Kreativität geschenkt haben
Nat und Yanna · Cirel und Arthur
Für unsere Frauen,
die unser Leben mit Neuem bereichern
Karol · Sarah
Für unsere Kinder,
die mit ihrer Fantasie die Zukunft gestalten
Sonya, Gabe, Lucian · Ari und Aviva
INHALT
Einleitung
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Teil 2
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Teil 3
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Dank
Literatur
Personenregister
Bildnachweis
Anmerkungen
EINLEITUNG
WAS DIE NASA UND PICASSO GEMEINSAM HABEN
Einige Hundert Menschen drängen sich in ein Kontrollzentrum in Houston, um drei Männer zu retten, die im Weltall festsitzen. Wir schreiben das Jahr 1970, und Apollo 13 ist seit zwei Tagen zum Mond unterwegs, als plötzlich ein Sauerstofftank explodiert und die Raumkapsel beschädigt. Mit dem Understatement eines Soldaten meldet Astronaut Jack Swigert an die Bodenstation: »Houston, wir haben ein Problem.«
Die Astronauten sind über 300 000 Kilometer von der Erde entfernt. Treibstoff, Wasser, Strom und Sauerstoff werden knapp. Die Hoffnung auf eine Lösung geht gegen Null. Doch Einsatzleiter Gene Kranz im NASA-Kontrollzentrum lässt sich nicht beirren. Seiner versammelten Mannschaft erklärt er:
Wenn ihr diesen Raum verlasst, dann müsst ihr fest daran glauben, dass diese Besatzung nach Hause kommt. Es ist mir scheißegal, wie wahrscheinlich das ist und dass wir so etwas noch nie gemacht haben … Ihr müsst daran glauben, und eure Leute müssen daran glauben, dass diese Besatzung nach Hause kommt.1
Aber wie konnte das Kontrollzentrum diese Zusage einhalten? Die Ingenieure hatten den Flug auf die Minute genau durchgeplant: Wann Apollo 13 in die Mondumlaufbahn einschwenkt, wann die Mondlandefähre startet, wie lange die Astronauten auf dem Mond spazieren gehen. Nun können sie ihr Drehbuch auf den Müll werfen und ganz von vorn anfangen. Natürlich hat das Kontrollzentrum auch Notfallpläne erarbeitet, doch die gehen davon aus, dass die Kapsel intakt ist.2 Das ist jedoch nicht der Fall: Das Servicemodul ist zerstört, und in der Kommandokapsel bricht die Versorgung mit Sauerstoff und Elektrizität zusammen. Das Einzige, was noch funktioniert, ist die Mondlandefähre. Die NASA hat eine ganze Reihe von Szenarien durchgespielt, aber dieses nicht.
Die Ingenieure wissen, dass sie vor einer nahezu unmöglichen Aufgabe stehen: Sie müssen drei Menschen retten, die in einer defekten Metallkapsel stecken und mit 4500 Kilometern pro Stunde durch den luftleeren Raum rasen. Moderne Satellitenkommunikationssysteme und PCs sind noch viele Jahre entfernt. Mit Rechenschieber und Bleistift müssen die Ingenieure eine Möglichkeit finden, wie die Astronauten die Kommandokapsel verlassen und die Mondlandefähre in ein Rettungsboot verwandeln können.
Die Ingenieure gehen ein Problem nach dem anderen an: die Planung einer Rückflugroute, die Steuerung der Kapsel, die Stromerzeugung. An Bord spitzt sich die Lage währenddessen weiter zu. Anderthalb Tage nach Beginn der Krise erreicht das Kohlendioxid in der engen Kapsel eine gefährliche Konzentration. Wenn nichts passiert, werden die Astronauten binnen weniger Stunden ersticken. Die Mondlandefähre hat ein Luftreinigungssystem, doch dessen runde Filter sind aufgebraucht. Die einzige Rettung sind die frischen Filter der Kommandokapsel – doch die sind leider eckig. Wie soll man einen eckigen Filter auf eine runde Öffnung setzen?
Da die Ingenieure im Kontrollzentrum eine genaue Liste aller Gegenstände haben, die sich an Bord befinden, improvisieren sie einen Adapter aus einer Plastiktüte, einer Socke, Pappe, Klebeband und dem Schlauch eines Druckanzugs. Sie erklären der Mannschaft, wie sie aus der Plastikhülle ihres Flugplans einen Trichter basteln können, um Luft in den Filter zu leiten. Auf Anweisungen vom Boden packen die Astronauten ihre Thermounterwäsche aus, die sie eigentlich während des Mondspaziergangs tragen sollten; allerdings brauchen sie jetzt nicht die Unterwäsche, sondern die Plastikfolie, in die sie eingepackt ist. Schritt für Schritt setzen die Astronauten ihren Filter zusammen und installieren ihn.
Zur allgemeinen Erleichterung kehrt das Kohlendioxid zum normalen Niveau zurück. Aber auf diese Hürde folgen weitere. Kurz vor dem Wiedereintritt in die Atmosphäre wird der Strom knapp. Beim Bau des Fluggeräts war es niemandem in den Sinn gekommen, dass die Batterien der Kommandokapsel von der Mondlandefähre aufgeladen werden würden – es war genau andersherum gedacht. Befeuert von Koffein und Adrenalin, finden die Ingenieure im Kontrollzentrum im letzten Moment eine Möglichkeit, aus dem Heizungskabel der Mondlandefähre ein Ladekabel zu basteln.
Nachdem die Batterien aufgeladen sind, weisen die Ingenieure Jack Swigert an, die Kommandokapsel zu starten. Der Astronaut verbindet Kabel, schaltet Wechselrichter, hantiert mit Antennen, legt Schalter um, aktiviert Fernmessung – eine Startprozedur, die nichts mit dem zu tun hat, was er in seiner Ausbildung gelernt hat. Angesichts der vielen unvorhergesehenen Probleme müssen die Ingenieure ganz neue Abläufe improvisieren.
In den frühen Morgenstunden des 17. April 1970 – achtzig Stunden nach Beginn der Krise – bereiten die Astronauten die Landung vor. In der Kommandozentrale werden letzte Einzelheiten überprüft. Als die Astronauten in die Erdatmosphäre eintreten, schaltet sich das Funksystem ab. Später schilderte Kranz, wie sich die Mitarbeiter in der Zentrale in diesem Moment fühlten:
Jetzt gab es nichts mehr, was wir noch tun konnten … Es war totenstill im Raum. Das einzige Geräusch war das Surren der Geräte, das Brummen der Klimaanlage und hin und wieder das Klicken eines Feuerzeugs … Niemand rührte sich, so als wären alle an ihre Konsolen gekettet.
Anderthalb Minuten später erreicht die Meldung das Kontrollzentrum: Apollo 13 ist sicher gelandet.
Die Mitarbeiter jubeln. Der ansonsten so stoische Kranz bricht in Tränen aus.
*
Etwa 63 Jahre früher stellt ein junger Maler namens Pablo Picasso in seinem kleinen Studio in Paris seine Staffelei auf. Von einem unverhofften Geldsegen hat sich der notorisch klamme Maler eine große Leinwand geleistet. Nun beginnt er ein provokantes Projekt: das Porträt von Prostituierten in einem Bordell. Es soll ein ungeschminkter Blick auf das Laster werden.
Aber zuerst fertigt Picasso mit Kohle Skizzen von Köpfen, Körpern, Früchten an. In seiner ersten Version sind ein Matrose und ein Medizinstudent Teil der Szenerie. Schließlich beschließt er, ohne sie auszukommen und sich auf die fünf Frauen zu konzentrieren. Er experimentiert mit verschiedenen Posen und Anordnungen und verwirft die meisten wieder. Nach Hunderten Skizzen setzt er sich an die Leinwand. Später lädt er seine Geliebte und einige Freunde ein, um ihnen den Entwurf zu zeigen; ihre Reaktion ist derart ernüchternd, dass er das Gemälde ein paar Monate lang zur Seite legt. Aber irgendwann macht er sich wieder an die Arbeit und malt im Stillen weiter.
Picasso sieht das Porträt der Prostituierten als eine Art »Exorzismus« seines eigenen Stils: Je länger er daran arbeitet, umso weiter entfernt er sich von seinen früheren Bildern. Als er ein weiteres Mal Freunde einlädt, um ihnen das Bild zu zeigen, fällt das Urteil noch ablehnender aus. Er bietet es seinem treuesten Kunden zum Kauf an, doch der lacht nur.3 Die Freunde des Malers meiden ihn und sorgen sich um seinen Geisteszustand. Enttäuscht rollt Picasso die Leinwand ein und versteckt sie im Schrank.
Erst neun Jahre später, mitten im Ersten Weltkrieg, zeigt er das Gemälde zum ersten Mal in der Öffentlichkeit. Um das Publikum nicht aufzubringen, ändert der Organisator der Ausstellung den Titel von Le Bordel d’Avignon (Das Bordell von Avignon) zu Les Demoiselles d’Avignon (Die Damen von Avignon). Die Reaktionen der Ausstellungsbesucher sind gemischt; ein Journalist schreibt: »Die Kubisten warten nicht bis Kriegsende, um ihren Kampf gegen den guten Geschmack aufzunehmen …«4
Doch der Einfluss des Gemäldes wächst. Als Les Demoiselles einige Jahrzehnte später im Museum of Modern Art in New York ausgestellt wird, schreibt ein Kritiker der New York Times:
Wenige Gemälde haben derart weitreichenden Einfluss gehabt wie diese Komposition von fünf entstellten nackten Gestalten. Mit einem Pinselstrich stellte es die Kunst der Vergangenheit infrage und gab der Kunst der Gegenwart eine neue Richtung.5
Später bezeichnete der Kunsthistoriker John Richardson Les Demoiselles als das originellste Gemälde der vergangenen sieben Jahrhunderte. Das Gemälde
erlaubte den Menschen, die Dinge mit neuen Augen und neuem Bewusstsein zu sehen. Es ist das erste Kunstwerk, das eindeutig dem 20. Jahrhundert zuzuordnen ist, einer der wichtigsten Zünder der Moderne und ein Grundstein der Kunst des 20. Jahrhunderts.6
Was machte die Originalität dieses Gemäldes aus? Pablo Picasso stellte den Anspruch infrage, mit dem europäische Maler seit Jahrhunderten zu Werke gingen: die realitätsgetreue Abbildung des Lebens. Unter Picassos Pinsel verformten sich die Körper, zwei Frauen haben maskenhafte Gesichter, und jede der fünf Gestalten scheint in einem anderen Stil gemalt zu sein. Menschen sehen nicht mehr ganz menschlich aus. Picassos Gemälde verstieß gegen die westlichen Vorstellungen von Schönheit, Darstellung und Anstand. Les Demoiselles gilt heute als der schwerste Schlag, der je gegen die Tradition der Kunst geführt wurde.
Kontrollzentrum der NASA und Picassos Les Demoiselles d’Avignon.
Was haben diese beiden Geschichten gemein? Auf den ersten Blick nicht viel. Die Rettung von Apollo 13 war eine kollektive Tat, während Picasso allein arbeitete. Die Ingenieure der NASA kämpften gegen die Uhr, während Picasso monatelang an seiner Staffelei saß und sich mit der Ausstellung fast ein Jahrzehnt lang Zeit ließ. Die Ingenieure suchten nach einer funktionierenden Lösung, während »Funktion« das Allerletzte war, für das sich Picasso interessierte: Er wollte etwas noch nie Dagewesenes schaffen.
Trotzdem stehen hinter der Kreativität der Ingenieure und des Künstlers die gleichen kognitiven Abläufe. Und nicht nur hinter der Kreativität von Technikern und Malern – auch hinter der von Friseuren, Buchhaltern, Architekten, Bauern, Schmetterlingsforschern und allen möglichen Menschen, die Neues in die Welt bringen. Wenn wir die Gussformen des Bekannten zerbrechen und etwas Neues schaffen, dann verwenden wir dazu alle dieselbe Software des Gehirns. Das menschliche Gehirn nimmt Erfahrung nicht passiv auf wie ein Diktiergerät, sondern es verarbeitet die von den Sinnesorganen gelieferten Daten unentwegt und erschafft damit neue Versionen der Welt. Die grundlegende Denksoftware unseres Gehirns, die unsere Umwelt registriert und neue Versionen erzeugt, bringt all das hervor, was uns umgibt: Straßenlaternen, Nationen, Sinfonien, Gesetze, Gedichte, Armprothesen, Handys, Deckenventilatoren, Wolkenkratzer, Boote, Drachen, Laptops, Ketchupflaschen und fahrerlose Autos. Außerdem bringt diese mentale Software Zukunftsvisionen hervor in Form von selbst heilendem Beton, beweglichen Gebäuden, Geigen aus Kohlefaser, biologisch abbaubaren Autos oder Nanoraumschiffen. Aber wie ein Computerprogramm, das still auf der Platine eines Laptops seine Arbeit verrichtet, läuft unsere Kreativität meist im Hintergrund ab und entzieht sich unserem Bewusstsein.
Die Programme, die unbemerkt in unserem Kopf ablaufen, sind etwas ganz Besonderes. Wir sind Teil eines großen Stammbaums von Arten. Aber warum choreografieren Kühe kein Ballett? Warum erfinden Eichhörnchen keine Aufzüge, um in die Baumwipfel zu kommen? Warum bauen Krokodile keine Schnellboote? Die Evolution hat die Programme in unserem Gehirn so aufgepeppt, dass wir die Welt nicht nur so wahrnehmen, wie sie ist, sondern dass wir uns auch alternative Szenarien vorstellen können. Genau um diese kreative Software geht es in diesem Buch: Wie funktioniert sie? Warum haben wir sie? Was machen wir damit? Und wohin führt sie uns? Wir sehen uns an, warum der Wunsch nach Neuem die Kreativität des Menschen beflügelt. Bei Ausflügen in Kunst, Wissenschaft und Technik werden wir den roten Faden der Innovation aufspüren, der diese unterschiedlichen Disziplinen miteinander verbindet.
So wichtig die Kreativität in der Vergangenheit der Menschheit war, so wichtig wird sie auf dem Weg in die Zukunft. Ob im Alltag, in der Schule oder in Unternehmen – überall gehen wir gemeinsam in eine Zukunft, die uns dazu zwingt, unser Bild von der Welt ständig zu überdenken. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir den Wechsel von der Industrie- zur Informationsgesellschaft erlebt. Doch damit sind wir längst nicht am Ende angekommen. Wenn Computer immer mehr Aufgaben übernehmen, dann können wir Menschen uns anderen Tätigkeiten zuwenden. Schon jetzt sehen wir die Anfänge von etwas Neuem: der Kreativitätsgesellschaft. Synthetische Biologen, App-Entwickler, Multimediaingenieure, Entwickler von fahrerlosen Autos – das alles sind Tätigkeiten, an die in der Schule noch kaum jemand dachte, und heute sind sie nur die Speerspitze dessen, was auf uns zukommt. Wenn Sie in zehn Jahren ins Büro gehen, dann könnte Ihre Arbeit ganz anders aussehen als das, was Sie heute dort machen. Deshalb versucht man überall in den Vorstandsetagen hastig Schritt zu halten, denn die unternehmerischen Techniken und Verfahren verändern sich ständig.
Nur eines kann uns helfen, diese rasanten Veränderungen erfolgreich zu meistern: unsere kognitive Flexibilität. Wir nehmen das Rohmaterial unserer Erfahrung und stellen daraus etwas ganz Neues her. Mit unserer Fähigkeit, über Gelerntes hinauszugreifen, nehmen wir die Welt um uns her wahr und stellen uns gleichzeitig andere Welten vor. Wir beobachten Fakten und schaffen Fiktionen. Wir lernen das, was ist, und stellen uns vor, was sein könnte.
Wenn wir in einer sich ständig wandelnden Welt erfolgreich sein wollen, müssen wir verstehen, was in unseren Köpfen passiert, wenn wir etwas Neues erschaffen. Wenn wir uns die Werkzeuge und Strategien aneignen, mit denen wir neue Ideen generieren, können wir in die Zukunft blicken statt in die Vergangenheit.
Leider tun unsere Schulen nichts, um Innovation zu unterrichten. Kreativität beflügelt die Neugierde und Ausdrucksfähigkeit junger Menschen, doch sie wird unterdrückt, weil sich andere Fähigkeiten leichter in Prüfungen abfragen lassen. Die Unterdrückung der Kreativität spiegelt gesellschaftliche Befindlichkeiten wider. Lehrer unterrichten lieber brave Schüler, denn kreative Kinder und Jugendliche halten sich oft nicht an die Regeln. Eine Umfrage unter amerikanischen Eltern ergab, dass ihnen in ihren Kindern Respekt gegenüber Erwachsenen wichtiger ist als eigenständiges Denken, Anstand wichtiger als Neugierde und Benimm wichtiger als Kreativität.7
Wenn wir uns eine leuchtende Zukunft für unsere Kinder wünschen, dann sollten wir diese Prioritäten überdenken. Angesichts der rasanten Geschwindigkeit, mit der sich die Welt heute verändert, wird das alte Drehbuch für Leben und Arbeit seine Gültigkeit verlieren, und wir müssen unsere Kinder darauf vorbereiten, neue und eigene Drehbücher zu schreiben. Die kognitive Software, die in den Köpfen von Picasso und NASA-Ingenieuren läuft, ist auch in den Köpfen unserer Kinder installiert – aber sie will geschult sein. Eine ausgewogene Bildung fördert Wissen und Fantasie. Eine solche Bildung zahlt sich in einigen Jahrzehnten aus, wenn die Kinder die Schule längst hinter sich gelassen haben und eine Welt betreten, von der wir, die Eltern, nicht einmal die Konturen erahnen.
Einer von uns beiden (Anthony) ist Komponist, der andere (David) ist Hirnforscher. Wir sind seit vielen Jahren befreundet. Vor einiger Zeit komponierte Anthony sein Oratorium Maternity, basierend auf Davids Geschichte »The Founding Mothers«, die eine mütterliche Linie durch die Geschichte zurückverfolgt. Während unserer Zusammenarbeit kam unser Gespräch immer wieder auf die Kreativität. Wir hatten uns beide schon länger aus unserer jeweils eigenen Sicht mit diesem Thema beschäftigt. Seit Jahrtausenden eröffnen die Künste einen direkten Zugang zu unserem Innersten und zeigen uns nicht nur, was wir denken, sondern auch wie. Jede Kultur der Menschheitsgeschichte hatte ihre eigene Musik, Kunst und Geschichten. Die Hirnforschung wiederum hat in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte erzielt beim Verständnis der oftmals unbewussten Kräfte, die hinter dem menschlichen Verhalten stehen. In unseren Gesprächen stellten wir fest, dass unsere unterschiedlichen Perspektiven ein neues Verständnis der Kreativität ermöglichen – und genau darum geht es in diesem Buch. Wir durchforsten die Erfindungen der Menschheit wie Paläontologen auf der Suche nach Knochen. In der Kombination mit den neuesten Erkenntnissen aus der Hirnforschung entdecken wir neue Facetten dieses so wesentlichen Aspekts unseres Selbst. In Teil 1 sehen wir uns an, welche Bedeutung die menschliche Kreativität hat, wie wir auf neue Ideen kommen und wie unsere Innovationen durch unsere Zeit und unsere Umwelt geprägt werden. In Teil 2 gehen wir den wesentlichen Eigenschaften des kreativen Denkens nach, von der Vervielfältigung von Möglichkeiten bis zur Risikobereitschaft. In Teil 3 wenden wir uns schließlich Schulen und Unternehmen zu und zeigen, wie wir in diesen Brutstätten der Zukunft die Kreativität fördern können. Dieses Buch ist ein Sprung ins kreative Denken, eine Feier des menschlichen Geistes und eine Vision, wie wir unsere Welt verändern können.
TEIL 1
NEUES UNTER DER SONNE