WILLKOMMEN, SPURENSUCHER!
Ich, Garrison Griswold, freue mich, euch in der wunderbaren Welt von Mr Griswolds Bücherjagd willkommen zu heißen. Wir sind eine Gemeinschaft von leidenschaftlichen Lesern, Bücherfreunden, Rätselfans und Schatzsuchern. Fühlst du dich angesprochen? Dann komm zu uns und mach mit!
Hier sind die Spielregeln von Mr Griswolds Bücherjagd:
VERSTECKE EIN BUCH
1. Wähle ein Buch aus, das du auf eine abenteuerliche Reise schicken möchtest.
2. Suche dir einen öffentlichen Ort als Versteck. Das kann der Stadtpark sein, ein Café, die Bücherei oder eine Bushaltestelle.* In unserem Online Shop kannst du Buch-Kostüme und Buch-Camouflage kaufen (um dein Buch zu verstecken), du kannst aber auch eigene Buch-Kostüme entwerfen. Oder verstecke dein Buch, so wie es ist – manchmal ist gar keine Verkleidung die beste Verkleidung.
3. Gib anderen Spurensuchern auf der Website von Mr Griswolds Bücherjagd einen Hinweis, wie dein Buch zu finden ist. Beispiel: Der niedrigste Ast des höchsten Baums. Um den Schwierigkeitsgrad (und den Spaß!) zu erhöhen, benutzen viele Mitspieler eine Geheimschrift oder einen Code für ihren Hinweis. Oder sie machen ihren Hinweis zur Lösung eines Rätsels. Wenn du das tun möchtest, aber die Geheimschrift/den Code/das Rätsel nicht selbst erfinden willst, kannst du die »Zufalls-Funktion« auf unserer Website nutzen. Dann verschlüsselt ein Computer deinen Hinweis, oder vielleicht möchtest du lieber den Rätselpedia-Bereich besuchen, um dir deinen eigenen Code auszudenken.
4. Registriere das Buch, das du verstecken möchtest. Jedem registrierten Buch wird eine unverwechselbare Verfolgungsnummer zugeteilt. Lade die Verfolgungs- Plakette von deinem Profil herunter und drucke sie aus. Jetzt kannst du sie auf der Innenseite des Umschlags in das Buch kleben.
5. Verstecke dein Buch und verfolge seine Reise über den »Versteckte-Bücher«-Button auf deinem Profil. Hier kannst du sehen, wie andere Spurensucher dein Buch finden, loggen und wieder verstecken.
(* Denke dabei auch an die Umwelt und beherzige die Gesetze und Regeln der Gegend, in der du das Buch versteckst.)
FINDE EIN BUCH
Suche nach Büchern, die in deiner Nähe versteckt sind. Du kannst deine Büchersuche nach Titel, Ort oder nach zufälliger Auswahl gestalten – das bleibt dir überlassen! Natürlich kannst du auch einen konkreten Titel eingeben. Wenn User das Buch versteckt haben, wirst du eine Liste verschiedener Orte sehen.
Lade den Buch-Hinweis herunter. Wenn du das Buch kennzeichnest, bevor du den Hinweis herunterlädst, bekommst du die doppelte Punktzahl – allerdings nur, wenn du dann auch als Erster zum Buch gelangst. Das nennt man: ein Buch deklarieren.
Weitere Informationen dazu findest du unter »Punkte«.
Entschlüssle den Hinweis.
Geh auf Bücherschnitzeljagd.
PUNKTE
Für jedes Buch, das du versteckst oder findest, oder wenn jemand eins deiner Bücher findet, bekommst du einen Punkt. Je mehr Punkte du sammelst, desto besser wirst du im Ranking gelistet und kannst dir dadurch spezielle Privilegien verdienen – zum Beispiel die Möglichkeit, geheime Seiten zu besuchen oder Online-Spiele und Rätsel freizuschalten. Du kannst deine Punkte auch im Bücherjagd-Shop gegen Zubehör für die Büchersuche eintauschen – oder gegen Bücher natürlich.
Um mehr Punkte zu verdienen und die Suche noch spannender zu gestalten, kann man als Bücherjäger ein Buch deklarieren. Dafür musst du »Deklariere dieses Buch« auswählen, bevor du den entsprechenden Hinweis herunterlädst. Ein Buch, das du selbst versteckt hast, kannst du nicht deklarieren, genauso wenig wie ein Buch eines Bücherjagd-Freundes. Ein Buch zu deklarieren verdoppelt den Punktewert. Aber pass auf! Deklarierte Bücher sind gekennzeichnet und zeigen so jedem Bücher-Detektiv, dass das Buch jetzt doppelte Punkte wert ist. Da kommt Spannung auf! Wirst du das Buch zuerst finden oder wird dir ein Wilderer zuvorkommen? Wilderer sind Bücherjäger, die gezielt deklarierte Bücher suchen, um sie sich vor dem ursprünglichen Sucher zu schnappen.
RANGLISTE
Encyclopedia Brown (0-25) Dies ist das Einstiegslevel für alle, die an Mr Griswolds Bücherjagd teilnehmen.
Encyclopedia Brown war ein aufgeweckter und schlauer junger Detektiv, an den sich seine Nachbarschaft immer vertraulich gewandt hat und der seine Dienste zum Schnäppchenpreis von 25 Cent pro Tag zuzüglich Spesen angeboten hat.
Nancy Drew (26-50) Deine Neugier und dein scharfes Auge für Hinweise bringen dich in der Welt weiter!
Nancy Drew ist eine schlaue und gewitzte Teenager-Detektivin, die in den 1930er-Jahren begann, Fälle zu lösen und dies bis heute tut.
Sam Spade (51-100) Du bist nun ein furchtloser Bücher-Sucher.
Der Privatdetektiv Sam Spade ist die Erfindung von San Franciscos literarischem Sohn Dashiell Hammett. Er taucht sowohl in seinem Roman Die Spur des Falken wie auch in drei seiner Kurzgeschichten auf.
Miss Marple (101-150) Du bist nun ein Bücherjäger, der nicht unterschätzt werden sollte.
Wie Agatha Christies berühmte Detektivin Miss Marple, die für ihre versteckten Qualitäten bekannt ist.
Monsieur C. Auguste Dupin (151-200) Du bist ein alter Profi in diesem Spiel.
Monsieur Dupin wird oft als Urvater aller Detektive genannt. Seinem Erfinder, Edgar Allen Poe, wird zugeschrieben, das Genre der Detektivgeschichten im Jahr 1841 erfunden zu haben.
Sherlock Holmes (201 +) Das höchste Level für einen Bücherjagd-Spieler. Du bist ein Meister im Rätseln, der Logik und der Schlussfolgerung.
Der letzte, wichtigste und tollste Schritt von allen: LIES das Buch! Neben dem Angebot, an literarischen Schatzsuchen teilzunehmen, ist Mr Griswolds Bücherjagd eine wunderbare Online-Community für Bücherfreunde jeden Alters. Poste Rezensionen auf deinem Profil, tausche dich in den Foren mit anderen Usern aus und genieße die buchige Atmosphäre.
Das sind die Regeln, liebe Spurenleser! Und vergesst nie unser Motto: »Das Leben ist ein Spiel und Bücher sind die Jetons.«
Euer Bücher- und Spielefreund
Garrison Griswold
Erfinder von Mr Griswolds Bücherjagd
Geschäftsführer der Bayside Press
Garrison Griswold lief pfeifend die Market Street hinab. Sein silberner Haarschopf wippte auf seinem Kopf hin und her wie der Flügel einer Taube. Er tippte sein Markenzeichen, einen Spazierstock, der in den Farben der Bayside Press gestreift war, zum Rhythmus der Melodie auf den Boden. Ein Taxifahrer bremste ab und hupte, bevor er sich zum Fenster der Beifahrerseite hinüberbeugte.
»Mr Griswold! Soll ich Sie mitnehmen? Die Fahrt geht auf mich, mein Freund.«
»Sehr nett von Ihnen, aber nein danke!«, rief Mr Griswold ihm zu und hob seinen Stock zum Gruß. Er zog es vor, mit der Straßenbahn oder der U-Bahn zu fahren. Das waren schließlich die Adern dieser Stadt, die er so liebte.
Eine Frau mit einem Handy schloss an Mr Griswolds Seite auf. »Mein Sohn ist ein großer Fan von Griswolds Bücherjagd. Dürfte ich Sie um ein Foto bitten?«
Mr Griswold schaute auf seine Uhr. Es war noch reichlich Zeit, bevor er in der Zentralbibliothek erwartet wurde, wo er seine große Ankündigung machen würde. Er legte eine Hand auf die Schulter der Frau, während sie ihr Smartphone auf Armlänge hielt, um das Bild aufzunehmen.
»Ist es denn wahr? Haben Sie ein neues Spiel in Planung?«
Statt einer Antwort zog Mr Griswold einen imaginären Reißverschluss über seine Lippen und zwinkerte ihr zu. Dann setzte er seinen Weg fort, durch den Strom von Fußgängern hindurch, während er vor sich hin pfiff und seinen Stock auf den gepflasterten Gehweg tippte. Er war sich nicht bewusst, dass zwei Männer ihm folgten.
Einer war groß und schlaksig, mit buschigen schwarzen Augenbrauen, die unter dem Rand seiner falsch herum aufgesetzten Baseballmütze herausschauten. Der andere war ein Bulle von einem Mann, und es schien, als würde er mehr durch seinen Oberkörper vorwärtsbewegt als durch seine Beine. Seine Hände hatte er vorne in die Tasche seines Sweatshirts gesteckt und sein starrer Blick bewegte sich nicht von seinem Zielobjekt weg.
Mr Griswold stieg in die U-Bahn-Station hinunter. Als er vor der Eingangsschranke stehen blieb, um seinen Fahrschein aus dem Portemonnaie zu holen, sprach ihn jemand von hinten mit seinem Namen an. Mr Griswold drehte sich um und stand den beiden Männern gegenüber. Sein Lächeln erstarb. Es war früher Nachmittag, keine Pendlerzeit, weswegen nicht viele Leute in der U-Bahn-Station unterwegs waren. Im Augenblick war niemand zu sehen.
Mr Griswold rückte seine randlose Brille zurecht und sah dem größeren der beiden Männer in die Augen. »Ich komme zu spät zu meinem Termin, meine Herren.« Er wackelte mit seinem grau gesprenkelten Schnurrbart, was er immer tat, wenn er nervös war. So, wie der kleinere Mann seine Knöchel knacksen ließ und ihm einen Blick zuwarf, den man nur als verächtlich bezeichnen konnte, musste sich Mr Griswold wohl in Acht nehmen.
»Wir haben einen gemeinsamen Freund«, sagte der Große.
»Jup, einen Freund.« Der kleine Mann lachte heiser.
»Aha, ich verstehe.« Mr Griswold drehte sich um, um durch die Schranke zu gehen, aber der Große trat ihm in den Weg.
»Ich bin ziemlich in Eile«, sagte Mr Griswold. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann rufen Sie mich doch in meinem Büro an, ich spreche gerne zu einem späteren Zeitpunkt mit Ihnen.«
Mr Griswold steckte seinen Spazierstock zwischen die beiden Männer und versuchte, sich einen Weg zu bahnen, aber der große Mann packte ihn unsanft an der Schulter.
»Wir wollen das Buch«, sagte er.
Mr Griswold widerstand der Versuchung, seine Ledertasche fest an sich zu drücken. In der Tasche befand sich eine Sonderausgabe von Der Goldkäfer von Edgar Allen Poe. Er hatte sie selbst mit seiner Gutenberg 2004 EX-PRO Druckpresse und Bindemaschine hergestellt. Er plante, noch neunundvierzig weitere Exemplare zu machen, aber momentan existierte nur das eine in seiner Tasche. Er hatte es als Requisit für die Enthüllung seines neuen, ausgefeilten Spiels dabei. Es wäre genau das Richtige, um der Öffentlichkeit einen Hinweis, einen kleinen Einblick zu geben, worum es sich handelte. Aber diese Männer konnten nicht von diesem Buch sprechen. Niemand wusste bisher davon – niemand bei Bayside Press und auch niemand aus seinem Privatleben.
Mr Griswold tupfte sich mit dem Ärmel seiner Anzugjacke eine Schweißperle von seiner Schläfe. »Ich leite einen Verlag, meine Herren. Wir haben mit Hunderten von Büchern zu tun. Tausenden. Sie müssen wohl etwas genauer werden.«
»Sie wissen, welches wir wollen«, sagte der kleine Mann. Er beugte sich vor und stellte sich auf Zehenspitzen, als würde er in Mr Griswolds Nase hineinschauen. Dann sagte er zu seinem Partner. »Er weiß doch welches, oder, Barry?«
Der große Mann stampfte mit dem Fuß auf. »Wir haben gesagt falsche Namen, erinnerst du dich?«
»Jaja«, entgegnete der andere. »Der Typ hier ist doch eh alt. Wahrscheinlich hört er sowieso nichts mehr.«
Mr Griswold nutzte diesen kurzen Moment des Unfriedens, schwang seinen Spazierstock und knallte ihn Barry gegen die Wange, dann drängte er sich an ihm vorbei in Richtung Untergeschoss.
»Hilfe!«
Sein Ruf hallte durch die höhlenartige Station. Dann gab es ein leises Krachen, wie ein ferner Donnerhall. Mr Griswold fühlte einen Stoß in seinem Rücken. Er stolperte, fiel und schlug mit dem Kopf auf dem Steinboden auf. Hatte er einen Schuss abbekommen? Das Atmen fiel ihm schwer. Benommen spürte er, wie sich an seinem unteren Rücken Feuchtigkeit ausbreitete und sein Kopf pochte an der Stelle, mit der er auf dem Boden aufgeschlagen war.
Barry kniete fluchend neben Mr Griswold und legte ihm eine Handfläche auf die Stirn, als wolle er fühlen, ob er Fieber habe. »Was hast du getan, Clyde?«
»Was ist mit ›Wir müssen falsche Namen verwenden‹?«, erwiderte Clyde.
»Ich glaub das jetzt nicht!«, rief Barry. »Du hast eine Pistole? Du hast auf ihn geschossen? Das war nicht Teil des Plans.«
Clyde zuckte mit den Schultern. »Ich hab improvisiert.«
»Was, wenn er das Buch gar nicht dabeihat?«
»Natürlich hat er es dabei.« Clyde inspizierte ein Loch in der Tasche seines Sweatshirts, in der er seine Waffe versteckt hatte. »Er braucht es doch für diese Pressekonferenz.«
Vom Bahnsteig des unteren Stockwerks hallte eine Lautsprecherdurchsage herauf. Barry schob seinen Arm unter Mr Griswolds Schulter und schleifte ihn rückwärts zu einer leeren Bank.
Mr Griswold gab ein leises Grunzen von sich, als er an der glatten Granitwand hinter sich zusammensackte. Er rutschte aus seiner Sitzposition, bis er auf der Bank lag, wobei sein Rücken, der an der Wand entlangstreifte, eine verräterische Blutspur hinterließ. Er versuchte, auf seiner Tasche zu landen, um sie vor den Männern zu schützen, aber Clyde zog sie unter ihm weg.
Clyde nahm das Buch aus Mr Griswolds Tasche. »Der Goldkäfer von Edgar Allan Poe.« Er warf es Barry zu. »Das muss es sein.«
Vor Mr Griswolds Augen verschwammen die beiden Männer zu einem, bevor er sie wieder deutlich sah. Er wollte etwas sagen, aber alles, was er rausbekam, waren ein paar ächzende Laute.
Barry blickte nur kurz auf das Buch, bevor er es in die Ecke schleuderte, wo es von der Wand abprallte und hinter einem Mülleimer landete. »Das ist ein nagelneues Buch!«, rief er.
»Es ist trotzdem ein Buch«, sagte Clyde.
»Er ist Verleger! Natürlich hat er Bücher dabei. Man hat uns gesagt, wir sollen nach einem alten Buch Ausschau halten. Nach einem wirklich alten Buch.«
Eine U-Bahn fuhr im Untergeschoss rumpelnd in die Haltestelle ein. Der Lärm der Menschen drang bis nach oben.
»Wir müssen hier raus«, sagte Barry. Die beiden Männer eilten zum Ausgang.
Eine ausgelassene Gruppe in schwarz-orangenen Trikots fuhr die Rolltreppe hoch. Einer von ihnen bemerkte Mr Griswold, der zusammengesackt auf der Bank lag, und rannte zu ihm. Ein anderer Mann wählte auf seinem Handy den Notruf. Eine Frau ging neben ihm in die Hocke und sagte immer wieder: »Halten Sie durch. Alles wird gut.«
Während Garrison Griswold am Rande der Bewusstlosigkeit schwebte, war er nicht besorgt darüber, wann Hilfe kommen würde. Es war die schmale Ausgabe von Der Goldkäfer, die zwischen dem Mülleimer und der Wand klemmte, die seine Gedanken einnahm. All die Arbeit, all seine Pläne. Alles war bereit, aber ohne den Goldkäfer würde sein Spiel nicht starten. Sein beinahe unbezahlbarer Schatz, zu dem der Goldkäfer führen sollte, würde nie gefunden werden. Er hoffte inständig, dass das Buch in die Hände der richtigen Person fallen würde. Jemand, der sich die Zeit nehmen würde, seine Geheimnisse zu verstehen und zu schätzen.
Der Hinweis war eine monoalphabetische Substitution – da war sich Emily sicher. Das herauszufinden war der einfache Teil gewesen. Der schwierigere war, den Schlüssel zu knacken. Sie machte einen neuen Versuch und ordnete die Buchstaben noch einmal anders an:
Prahle heut den Balg nicht.
Das konnte nicht stimmen. Was war ein Balg und warum sollte sie heute nicht prahlen? So würde sie nie das Auguste-Dupin-Level bei Griswolds Bücherjagd erreichen. Ärgerlich riss Emily die Seite aus ihrem Notizbuch, zerknüllte sie und warf sie zu den anderen vergeblichen Versuchen, die bereits das Fahrerhäuschen des Umzugswagens vermüllten.
Auf eine neue Seite schrieb sie oben noch einmal sorgfältig den Code ab, den sie sich vor einigen Tagen von der Bücherjagd-Website ausgedruckt hatte.
»Hey, Sherlöckchen«, unterbrach sie ihr Vater. »Mach mal ’ne Pause und genieße die Landschaft. Du weißt doch, wer mal in San Francisco gelebt hat, oder?«
»Hmmm, lass mich raten …« Emily schrieb weiter in ihr Notizbuch, ohne hochzusehen. Ihr Dad hatte ja nur ungefähr sechzig Millionen Mal erwähnt, dass sie in die Heimatstadt seines literarischen Idols ziehen würden.
»›Es gab nirgends, wo wir hinkonnten, als überall‹. Jack Kerouac schrieb das in …«
»Unterwegs, Dad. Ich weiß.«
Emily seufzte, frustriert von dem Code und genervt von ihrem Vater, weil er ihre Konzentration gestört hatte.
Sie steckte den Bleistift in ihren Pferdeschwanz, um ihn nicht zu verlieren. Sie fuhren durch ein Tal, in dem sich die Häuser in Reihen um Berghänge schlängelten. Emily schätzte, dass es in dieser einen Ecke von Kalifornien mehr Häuser gab als im gesamten Staat New Mexico, in dem sie vor Kurzem noch gewohnt hatten.
Im Seitenspiegel konnte sie den schon etwas mitgenommenen Minivan der Familie sehen, der hinter ihnen herfuhr. Sie hatten den Minivan Sal getauft, eine weitere Hommage an den großen Jack Kerouac. Ihre Mutter hatte Sals Lenkrad fest im Griff und lehnte sich nach vorne, wie sie es immer machte – als wäre sie total aufgeregt, dort hinzukommen, wo sie gerade hinfuhr, ob es nun der Supermarkt war oder Kalifornien. Matthew, Emilys älterer Bruder, wippte zur Musik, die er gerade hörte. Wahrscheinlich Flush, seine Lieblingsband. Emily würde eine Bücherkiste darauf verwetten.
»Es gibt doch nichts Aufregenderes als einen Neuanfang, findest du nicht?«, fragte Emilys Vater.
Emily nickte, obwohl sie sich da nicht so sicher war. Ihre Eltern waren so stolz auf dieses Leben, das sie sich geschaffen hatten, aber ihre Begeisterung für Neuanfänge verstand Emily nicht ganz. Es war, als würde man einen Haufen Bücher anfangen, sie aber nie zu Ende lesen.
Kalifornien würde der neunte Staat für Emily in ihren zwölfdreiviertel Lebensjahren sein. Die häufigen Umzüge waren Teil des Plans ihrer Eltern, einmal in jedem der fünfzig Staaten der USA gewohnt zu haben. Das kam immer gut an, wenn Emily versuchte, Leuten zu erklären, warum sie so oft den Wohnort wechselten.
»Seid ihr beim Militär?«
»Seid ihr in einem Zeugenschutzprogramm?«
»Seid ihr auf der Flucht vor dem FBI?«
»Ihr zieht einfach so aus Spaß um?«
Als Emily fünf war, lebten sie in New York. Nachdem ihr Dad seinen Job bei einem Verlag verloren hatte, begann er als freier Lektor zu arbeiten. Im selben Jahr bekam ihre Mutter die Möglichkeit, ihren Job als Programmiererin von außerhalb der Firma zu machen. So konnte sie überall arbeiten, wo sie Zugang zu einem Computer hatte. Und weil sie durch ihre Arbeit nun nicht mehr an einem Ort festgehalten wurden, entschieden ihre Eltern, ihren Traum zu verwirklichen, einmal in jedem Staat der Vereinigten Staaten zu leben. In einem Blog namens 50 Häuser in 50 Staaten hielten sie ihre Umzugsabenteuer fest. Anfangs war der Blog noch ein Hobby, eine Möglichkeit, Erinnerungen an die verschiedenen Orte, an denen sie lebten, festzuhalten. Aber nach und nach wurde er zu einem Nebengeschäft und zog Unternehmen an, die dafür bezahlten, auf dem Blog Werbung zu schalten. Reise-Websites und Magazine fragten an, ob ihre Eltern Artikel für sie schreiben würden. Seitdem zog die Familie Crane im Durchschnitt einmal im Jahr um.
Eine Zeit lang fand Emily das toll. Es war ein großes Familienabenteuer: neue Orte entdecken, die Spannung, wo es als Nächstes hinging. Und ihre Eltern versuchten immer, Spaß in die Sache zu bringen. So etablierten sie zum Beispiel die Tradition, den nächsten Ort durch ein Überraschungsessen bekannt zu geben, das sie für Emily und ihren großen Bruder Matthew vorbereiteten. Das Essen enthielt dabei immer Hinweise, wo es als Nächstes hingehen würde. Vor drei Wochen kam Emily von der Schule nach Hause und dachte gerade darüber nach, welche besondere Sehenswürdigkeit sie in ihr New-Mexico-Diorama-Projekt einbauen sollte, als sie plötzlich sah, dass der Küchentisch mit Schalen aus Sauerteigbrot voller Schoko-Goldmünzen gedeckt war. Sie erstarrte, als ihr bewusst wurde, dass ein Enthüllungs-Essen bevorstand, was bedeutete, dass sie wohl wieder umziehen würden. Man hätte meinen können, sie hätte sich inzwischen an diese Überraschungen gewöhnt, aber weit gefehlt …
Zuerst dachte sie nur, dass sie nun nicht mehr ihre eigenen Kalkstein-Stalagtiten für ihr Modell der Carlsbad Caverns machen konnte. Dann entdeckte sie noch mehr Hinweise auf ihr nächstes Ziel: ein T-Shirt mit dem Aufdruck ALCATRAZ-PSYCHIATRIE-FREIGÄNGER für Matthew und eine Taschenbuchausgabe von Die Spur des Falken für sie selbst. Ihre Mutter trug eine schwarz-orangene Giants-Mütze und ihr Dad war angezogen wie ein Beatnik mit einem schwarzen Rollkragenpullover, einer Baskenmütze und einer Brille mit schwarzem Gestell.
Als sie daraus geschlossen hatte, dass sie nach San Francisco umziehen würden, hätte Emily eigentlich feierlich die Goldmünzen in die Luft werfen müssen. Die Stadt war nicht nur die Heimat des Literatur-Idols ihres Vaters, sondern auch die von Emilys großem Vorbild: Garrison Griswold, Verleger der Bayside Press und das Genie hinter Griswolds Bücherjagd. Griswolds Bücherjagd war das coolste Bücherschatzsuche-Spiel überhaupt – und wohl auch das einzige. Es bestand aus einer Online-Community von Leuten, die Bücher, Rätsel und Spiele genauso sehr liebten wie Emily, und die sie mitnehmen konnte, egal wo ihre Familie gerade lebte.
Aber anstatt sich zu freuen, gelang Emily nur ein gezwungenes Lächeln. Jetzt wo die Cranes jahrelang von Staat zu Staat gezogen waren, fühlten sich die Familienabenteuer langsam etwas … Emily war sich nicht sicher, welches Wort es am besten beschrieb. Vor ein paar Wochen hatte sie sich mit einem Buch und ihrem Mittagessen, das sie von zu Hause mitgebracht hatte, an ihren üblichen Platz bei der alten Eiche vor ihrer Mittelschule in Albuquerque gesetzt. In ihrer Nähe hatte es sich eine Gruppe von Mädchen, die sie kaum kannte, im Gras bequem gemacht. Sie hörte ihnen zu, wie sie über das kommende Wochenende sprachen und wie langweilig es sei, dass sie schon wieder ins Freibad gehen würden. Danach redeten sie über einen Tanzkurs, den sie alle zusammen machten. Zwei Mädchen sprangen auf und tanzten die Schritte einer Choreografie, die sie vor Jahren einmal aufgeführt hatten, an Ort und Stelle, auf dem Rasen. Emily, die so tat, als würde sie ihr Buch lesen und sie gar nicht beachten, fühlte Sehnsucht und auch ein klein bisschen Neid. Nicht weil sie Tanzstunden nehmen, mit ins Freibad gehen, bis es langweilig war, oder Teil der Gruppe sein wollte. Während sie heimlich diese Mädchen beobachtete, wurde ihr klar, dass sie nie so einen Freundeskreis haben würde, und das beschäftigte sie. Dank des nomadischen Lebensstils ihrer Familie würde sie immer die Außenseiterin sein. Klar könnte sie Tanzstunden nehmen und ins Freibad gehen, aber sie war nie lange genug irgendwo, um richtige Freundschaften zu schließen, geschweige denn Jahre später mit ihren Freunden Erinnerungen auszutauschen.
Während der Umzugswagen die Autobahn verließ und am Baseball-Stadion vorbeiknatterte, versuchte Emily, sich auf das Positive zu konzentrieren: Mr Griswolds Bücherjagd! San Francisco!
Sonnenstrahlen tauchten eine silberne Brücke, die sich vor ihnen wölbte, in einen funkelnden Glanz. Es war nicht die Golden Gate Bridge – Emily wusste, dass sie rot war, nicht silbern. Auf der einen Seite konnte sie seichtes Wasser und den Hafen sehen, auf der anderen eine Gruppe von Hochhäusern. Es erinnerte sie ein wenig an den Lake Michigan, als sie noch in Chicago wohnten. Auch dort hatten sie in der einen Richtung den Blick auf die Stadt und in der anderen Richtung lag das ruhige Wasser. Obwohl die San Francisco Bay im Vergleich zum Lake Michigan natürlich wie ein Swimmingpool wirkte, mit Hügeln auf der anderen Seite des Wassers, die so nah wirkten, als könne man hinüberschwimmen.
Sie fuhren vom Wasser weg und eine geschäftige Straße entlang. Bald ragten an den Seiten Bürohäuser auf, die so hoch waren, dass Emily von ihrem Sitz aus nicht einmal erkennen konnte, wo sie aufhörten. Sie prüfte noch einmal, ob sie den Radiosender eingestellt hatte – 104,5 –, den sie sich in ihrem Notizbuch aufgeschrieben hatte. Im Bücherjagd-Forum hatte sie gelesen, dass der Sender nun jede Minute Mr Griswolds Ankündigung zu seinem neuen Spiel übertragen würde.
Garrison Griswold organisierte neben seiner Tätigkeit als Verleger noch ausgefallene Veranstaltungen, so wie das jährliche Quidditch-Turnier im Golden Gate Park und ein Literatur-Bingo, an dem so viele Menschen teilnahmen, dass sie ein ganzes Baseball-Stadion füllten, was ihm einen Eintrag im Guinness Buch der Rekorde beschert hatte. Das war der Grund, warum die Leute ihn den Willy Wonka der Verlagslandschaft nannten. Die Leute reisten extra nach San Francisco, um an seinen Spielen teilzunehmen, und nun würde Emily sogar hier wohnen. Aber zu dem Zeitpunkt, als sie davon erfahren hatte, dass sie nach San Francisco ziehen würden, waren bereits alle Tickets weg.
»Stau.« Ihr Vater seufzte.
Sie waren zum Halten gekommen und standen mit laufendem Motor in einer Schlange von Autos. Ihre Mutter und ihr Bruder saßen ein Auto hinter ihnen in Sal, dem Minivan. Eine grüne Straßenbahn ratterte die Schienen in der Mitte der Straße entlang. Sie hingegen kamen nur langsam vorwärts. Die blinkenden Lichter eines Polizeiautos kamen in Sichtweite, dann ein Feuerwehrauto, dann ein Krankenwagen. Gelbes Absperrband war weitläufig um eine Treppe herumgespannt, die in eine U-Bahn-Station führte. Ein Polizeibeamter gab ihnen Anweisungen, wie sie um die Notfallfahrzeuge herumfahren sollten. Emily reckte ihren Hals, um besser sehen zu können.
»Ist da was passiert?«, fragte sie.
»Sieht so aus«, sagte ihr Dad.
Emily suchte nach einem Hinweis darauf, was geschehen war, aber es gab außer den blinkenden Lichtern und den Notfallfahrzeugen nichts zu sehen. Sie beugte sich über ihr Notizbuch und nahm die Arbeit an ihrem Code wieder auf.
Der Umzugswagen schnaufte einen Hügel hinauf und ließ die Innenstadt von San Francisco hinter sich. Der Gehweg war gesäumt von Bäumen, statt Gittern an den Fenstern gab es hier Blumenkästen. Ihr Dad bog in eine Straße ein, die so steil bergab führte, dass Emily erstaunt war, dass nicht alles einfach umkippte und bergab raste, über Kreuzungen hinweg, um am Fuß des Hügels als Haufen Schrott zu enden.
Vor einem Gebäude, das Emily von der Immobilien-Website wiedererkannte, hielt ihr Dad den Umzugswagen an. Das neue Haus war höher als breit, als würde es die Luft anhalten, um sich zwischen die Häuser daneben quetschen zu können.
»Auf dieser Straße brauchen wir auf jeden Fall die Handbremse«, sagte ihr Dad und zog sie fest an. »Bist du bereit?«
Emily warf einen Blick auf die Uhr. Noch eine Minute bis zu Mr Griswolds Ankündigung. Ihr Dad tippte an seine Schläfe, sein Zeichen für ›Ich kann deine Gedanken lesen‹.
»Ich lasse das Radio an. Ich weiß, dass du nichts verpassen willst«, sagte er.
Mit einem Quietschen öffnete er die Tür und sprang auf den Gehweg hinab, um sich dort zum Rest der Familie zu gesellen. Emilys Mum durchwühlte ihre Tasche, während der Saum ihres Sommerkleids in dem leichten Wind um ihre Knöchel wehte. Matthew schlurfte ihm Kreis herum und schützte mit der Hand seine Augen vor der Sonne, während er seine neue Umgebung betrachtete. Wegen seines einseitigen Mohawks sah es immer so aus, als würde er den Kopf zur Seite legen, aber das wirkte nur durch diese seltsame Frisur so. Ihrem Bruder hatten die dauernden Umzüge der Familie nie etwas ausgemacht. Matthew zog Freunde an wie ein Magnet. Und es störte ihn auch nicht, sie zurückzulassen. Er sah es als Aufbau einer Fanbase für seine zukünftige Karriere als weltberühmter Rockstar.
Das Wort »Griswold« lenkte Emilys Aufmerksamkeit wieder zurück auf das Radio. »Eine unserer Zuhörerinnen hat uns gerade vom Veranstaltungsort aus angerufen und sagte, bis jetzt sei Griswold noch nicht aufgetaucht«, sagte der Moderator gerade.
»Noch nicht aufgetaucht?«, fragte Emily das Radio.
»Ist unsere Anruferin noch in der Leitung?«, fragte der Moderator.
Eine Frauenstimme sagte: »Ja, ich bin hier in der Bibliothek, aber wir haben noch nichts von ihm gesehen. Die Leute werden langsam unruhig, ein Typ neben mir schimpft die ganze Zeit, was für eine Zeitverschwendung das sei. Aber ich weiß nicht. Ich mache mir allmählich Sorgen. Garrison Griswold macht eigentlich keinen unzuverlässigen Eindruck, weißt du?«
Und plötzlich wusste Emily mit Sicherheit, warum Mr Griswold nicht aufgetaucht war. Es war Teil des neuen Spiels! Er gab sein Verschwinden vor und die Herausforderung würde sein, ihn zu finden, so ähnlich wie bei dem Online- Krimispiel, das er an Halloween vor zwei Jahren auf die Beine gestellt hatte. Genial!
Ihre Mum klopfte an die Beifahrertür.
»Die Umzugskisten rufen schon nach dir«, hörte Emily ihre Stimme dumpf durch das Glas.
Als Emily aus dem Van kletterte, wehte eine salzige, steife Brise, die einen kaum hörbaren Chor aus Kreischen und Bellen mit sich brachte. Sie fragte sich, ob das die Seelöwen am Pier 39 sein konnten, von denen sie gelesen hatte. Von ihrem Aussichtspunkt auf diesem steilen Hügel konnte sie über die Stadt, die unter ihr lag, blicken und einen Streifen der Küste jenseits der Stadt sehen. Nicht dass sie aus dieser Entfernung die Seelöwen hätte erkennen können – das einsame Segelschiff, das sie sah, war nicht größer als ihr Fingernagel, also wäre ein Seelöwe wohl ungefähr so groß wie eine Sommersprosse.
Während sie ihrer Familie dabei half, den Umzugswagen auszuladen, spukten die Gedanken in Emilys Kopf herum, auf welche Weise das Verschwinden von Mr Griswold wohl der Auftakt eines neuen Spiels sein konnte. Vielleicht musste man etwas in der Bibliothek finden, wo er seine Ankündigung hätte machen sollen, oder vielleicht war auch eine Nachricht auf der Bücherjagd-Website versteckt.
Knarzend wurde im zweiten Stock ein Fenster aufgeschoben. Obwohl ihr neues Haus von außen aussah wie ein normales, wenn auch superschmales, zweistöckiges Gebäude, wusste Emily von der Immobilien-Website, dass jedes Stockwerk eine einzelne Wohnung war. Eine asiatische Frau, die älter als ihre Eltern aussah, lehnte sich aus dem offenen Fenster.
»Sie versperren die Einfahrt«, rief die Frau.
»Hallo!« Emilys Dad nahm seine Baseballmütze ab und winkte der Frau damit zu. »Miss Lee, nicht wahr? Wir sind die Cranes – die neuen Mieter! Wir laden nur noch unsere Sachen aus, dann geben wir den Umzugswagen zurück und er ist aus dem Weg.«
»Fahren Sie den Laster weg oder ich rufe die Polizei«, sagte ihre Vermieterin und knallte das Fenster zu.
»Merke: Legt euch nicht mit ihrer Einfahrt an«, sagte Matthew. Er saß mit gegrätschten Beinen auf dem Boden, den einen Fuß am Garagentor und den anderen fast im Rinnstein. »Man kann das allerdings nicht wirklich eine Einfahrt nennen, oder?«
»Das geht nicht mal als Parkplatz durch«, sagte Emily.
Matthew überkreuzte die Beine. »Sitzplatz könnte funktionieren.«
Emily grinste. Manchmal vergaß sie, wie lustig ihr Bruder sein konnte, wenn sie nicht das Objekt seiner Witze war.
Das Haus hatte drei Eingangstüren zur Veranda hinaus, eine für jede der drei Wohnungen. Während ihre Mum die Tür zu ihrer neuen Wohnung aufschloss, sah Emily, dass die Tür rechts davon weit offen stand. Im Inneren führte eine Treppe nach oben, zu Miss Lees Etage. Auf einer der oberen Treppenstufen saß ein Junge, ungefähr in Emilys Alter, der wohl Miss Lees Enkel war. Er schrieb gerade sorgfältig etwas in ein Rätsel-Power-Magazin.
Emilys Mum stieß ihre Eingangstür auf und ihre eigene Treppe kam zum Vorschein. Während der Rest der Familie hineinging, blieb Emily zurück. Der Junge hatte glänzende schwarze Haare, die am Hinterkopf hochstanden, als hätte er komisch darauf gelegen. Er sah Emily an.
»Einzug?«
Emily erschrak ein wenig und wurde rot. Hatte sie ihn lange angestarrt?
Sie hob eine Plastikwanne hoch, die voller Klamotten war. »Ich bringe die Pizza.«
Der Junge blinzelte sie zweimal an. Sie hatte lustig sein wollen, aber vielleicht hatte es überheblich geklungen. Sie drehte sich um, sah aber davor noch, dass der Junge seine Mundwinkel zu einem Lächeln hochgezogen hatte.
Oben im Wohnzimmer ließ Emilys Dad seine Umzugskiste fallen. Er breitete seine Arme weit aus und drehte sich im Kreis. »Trautes Heim, Glück allein, nicht wahr?«
»Fühlt sich eher an wie eine sparsam möblierte Wohnung«, sagte Emily und stellte ihre Wanne neben seiner Kiste ab.
»Ich nehme das Zimmer hier«, rief Matthew von jenseits des Flurs.
»Hey, das ist unfair!« Emily rannte an dem Zimmer, das Matthew beansprucht hatte, vorbei, um das noch übrige Zimmer zu besichtigen. Es war schmal, wie das Haus. Eine Schranktür schnitt eine der Ecken ab und Emily war überrascht, dass das Innere des Schranks dreieckig war anstatt rechteckig. Sie hatte noch nie einen dreieckigen Schrank gehabt. Es gab auch ein Fenster, das auf das Gebäude nebenan zeigte. Emily schob das Fenster hoch und streckte den Arm hinaus. Ihre Fingerspitzen berührten fast das Haus nebenan.
Das Fenster direkt über ihrem wurde geöffnet. Emily zog sich erschrocken in ihr Zimmer zurück, sie hatte Angst, dass Miss Lee ihren Kopf herausstrecken und sie anschreien würde, weil sie das Nachbarhaus berührt hatte. Stattdessen hörte sie ein gleichmäßiges Quietschen.
Sie war so auf das Nachbarhaus konzentriert gewesen, dass Emily das Seil an ihrem Fensterrahmen nicht bemerkt hatte. Das Seil schlängelte sich um einen Flaschenzug, der außen am Gebäude befestigt war, und lief nach oben zu einem weiteren Flaschenzug, der neben dem Fenster direkt über ihrem hing. Ein rostiger Sandeimer aus Blech wurde heruntergelassen, und sobald er sie erreicht hatte, schloss sich das Fenster oben wieder. Verblüfft zog Emily den Eimer zu sich, um zu sehen, was darin war. Sie nahm einen Zettel heraus, auf dem ein Gittermuster aus drei mal drei Feldern gezeichnet war. Daneben stand die Nachricht »Flieg über nächtliche Flamingos, zum Ende hin nichts«.
Emily las die Nachricht noch einmal. Sie ergab keinen Sinn. Sie lehnte sich aus dem Fenster und schaute nach oben, aber sie konnte niemanden sehen.
Das musste der Junge von der Treppe geschickt haben. Aber was in aller Welt waren nächtliche Flamingos und wie sollte sie darüberfliegen? Und was hatte es mit diesem Gitter auf sich? »Drei-gewinnt« hatte neun Kästchen, aber warum hatte er dann kein X gemalt, um das Spiel zu beginnen?
Emily zog den Bleistift aus ihrem Pferdeschwanz und setzte sich auf den Boden, um sich das Stück Papier genauer anzusehen. Der Satz schien ihr kein Code zu sein, da er aus richtigen Wörtern bestand und nicht aus einer unkenntlichen Ansammlung von Buchstaben. Emily dachte, es könne sich um ein Anagramm handeln und begann, die Buchstaben neu anzuordnen.
Ihre Mum schaute zur Tür herein. »Später hast du noch genug Zeit für deine Detektivspiele, Em.«
»Das hier ist nicht für Griswolds Bücherjagd«, murmelte Emily. Aber manchmal half ihr eine Pause, ein Rätsel in neuem Licht zu sehen, also steckte sie ihren Bleistift zurück in ihre Haare und ging nach unten.
Der Junge saß am selben Platz wie vorher, ganz versunken in sein Rätsel-Power-Heft. Er ließ sich nicht anmerken, dass er gerade ein Rätsel via Sandeimer geliefert hatte, aber jetzt trug er komischerweise einen gewaltigen lila Schal. Seltsam, denn es war warm genug, dass Emily ein Tank Top tragen konnte.
Am Umzugswagen angekommen, trödelte Emily ein wenig, denn sie rang mit sich, ob sie den Jungen wegen des Eimers und der Nachricht fragen sollte. Aber was sollte sie sagen? »Hast du mir das geschickt?« Hallo?? Von wem sollte es sonst sein? Miss Lee? »Was soll ich damit anfangen?« Wenn sie das sagte, dann könnte sie genauso gut sagen »Ich gebe auf«, und Emily war niemand, der aufgab.
»Was machst du da?«, fragte Matthew, der plötzlich hinter ihr stand.
Emily wurde rot, als ihr bewusst wurde, dass sie herumgestikuliert hatte, während sie das Gespräch in ihrem Kopf durchgegangen war. Sie schnappte sich ihren Koffer, der voller Bücher war.
»Ich habe den hier gesucht«, sagte sie und zerrte das Gepäckstück auf den Boden.
»Oh-kayyyyy.«
Der Koffer war so schwer, dass Emily ihn Stufe für Stufe auf die Veranda hinaufziehen musste.
»Geht’s vielleicht noch etwas langsamer?«, fragte Matthew genervt.
»Wenn du es so eilig hast, dann geh halt um mich herum«, ächzte Emily. Sie sah durch die Tür hinein zu der endlos langen Treppe.
Matthew schlüpfte an ihr vorbei und stapfte mit seinem Skateboard und seinem Rucksack hoch. Emily setzte sich auf den Rand ihres Koffers, um zu Atem zu kommen. Sie wagte einen verstohlenen Blick durch Miss Lees Tür. Der Junge trug nun eine Schwimmbrille zu seinem Schal. Emily prustete vor Überraschung, dann schlug sie sich die Hand vor den Mund. Er schrieb weiterhin etwas in sein Heft und tat so, als bemerke er sie nicht.
Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis sie den Koffer die Treppe hinaufgezerrt hatte. Währenddessen gingen alle drei Familienmitglieder an ihr die Treppe hoch und runter, ohne ihr Hilfe anzubieten. »Ich hab dir ja gesagt, du sollst nicht alle deine Bücher in einen Koffer packen, Em«, sagte ihre Mutter nur schnippisch im Vorbeigehen.
Während sie die Treppe erklomm, dachte sie über den Zettel nach und ging im Kopf ihre Sammlung an Rätseln durch, die sie für Griswolds Bücherjagd bereits gelöst hatte. Das Gitter musste der Schlüssel sein. Warum hätte er es sonst eingefügt? Logik-Rätsel benutzten Gitter, aber sie kam nicht dahinter, wie dieser Papierschnipsel ein Logik-Rätsel darstellen konnte.
Emily rollte den Koffer in eine Ecke ihres Zimmers und zog wieder den Zettel und ihren Bleistift heraus. Als sie versuchte, es rückwärts zu lesen, ergab der Satz nur Kauderwelsch. Und wenn sie den ersten Buchstaben jedes Worts nahm?
»Fünfzehn«, las sie laut. Der erste Buchstabe jedes Worts zusammen gelesen ergab das Wort fünfzehn.
Das konnte kein Zufall sein. Aber fünfzehn was? War das die Lösung, und wenn ja, was bedeutete das? Und das erklärte noch immer nicht das Gitter.
»Ein magisches Quadrat!« Triumphierend warf Emily ihren Bleistift in die Luft.
In einem magischen Quadrat wurde ein Gitter mit einer fortlaufenden Reihe an Ziffern gefüllt, sodass jede Reihe, Spalte und Diagonale die gleiche Summe ergab. Wenn man ein Gitter aus drei mal drei Feldern und die Ziffern eins bis neun hatte, dann war die Lösung immer fünfzehn. Sie hatte viel über magische Quadrate gelernt, als sie in Colorado auf der Jagd nach Shakespeares Geheimnis gewesen war.
Als Emily das magische Quadrat des Jungen ausgefüllt hatte, sah es so aus:
Sie warf den Zettel wieder in den Eimer und zog am Seil, um ihn zum Zimmer des Jungen hinaufzuschicken. Dann rannte sie nach unten und sprang die letzten Stufen hinunter auf den Treppenabsatz. Dieses Mal hatte der Junge seinem Outfit noch ein Rentier-Geweih hinzugefügt. Emily kicherte.
»Ist schon Halloween?«, murmelte ihr Dad auf dem Weg nach oben.
Miss Lees Stimme drang die Treppe hinunter. »James!«, rief sie. »Komm bitte rauf und hilf mir.« Ohne Emily auch nur einen Blick zuzuwerfen, sprang James auf und rannte die Treppe hinauf. Die Glöckchen an seinem Geweih klingelten bei jedem Schritt.
»Schau in deinen Eimer«, rief Emily ihm hinterher, in der Hoffnung, dass er sie gehört hatte.
Am späten Nachmittag ging Emily noch einmal zum Umzugswagen, um ihr Bücherjagd-Notizbuch zu holen. Als sie im Führerhäuschen nichts mehr vorfand, erinnerte sie sich daran, dass sie den Stapel Bücher und Papier bereits ins Haus gebracht hatte. Sie schaute in ihrem neuen Zimmer nach, aber das Notizbuch war nirgends zu sehen. Auch im Rest der Wohnung war das Notizbuch nicht auffindbar und langsam stieg Panik in ihr auf.
Es war nicht nur irgendein Notizbuch. Es war das neunte ihrer Bücherjagd-Notizbücher. Dorthinein schrieb sie die Rohfassungen ihrer Buchrezensionen, die sie auf der Bücherjagd-Website veröffentlichte. Dorthinein schrieb sie Tagebucheinträge über Bücherschnitzeljagden, an die sie sich erinnern wollte. Es war der Ort, wo all ihre Ideen für Rätsel und Chiffren und versteckte Bücher die Seiten füllten, und wo sie die Hinweise auf die Bücher, die sie jagte, zu entschlüsseln versuchte. Zusammen mit ihrem Online-Profil dokumentierte es eigentlich ihr ganzes Leben.
Sie rannte nach draußen und riss noch einmal die Tür des Umzugswagens auf. Sie fischte die Verpackung eines Müsliriegels und einen Stift unter dem Sitz hervor, aber kein Notizbuch weit und breit. Die Panik war bereits auf dem Siedepunkt angelangt, als jemand sagte: »Du hast einen neuen Rekord aufgestellt.«
Emily drehte sich um. Dieser Junge – James – stand auf der Veranda. Der Schal und die Taucherbrille von vorhin waren weg, aber seltsamerweise trug er noch immer das Rentier-Geweih.
»Otis hätte das nie so schnell gelöst wie du. Allerdings hat er auch immer gesagt, dass er allergisch gegen Zahlen ist.«
»Sprichst du rentierisch?«, fragte Emily. Dieser Typ gab nur Unsinn von sich und sie wurde ungeduldig, weil sie weitersuchen wollte.
»Otis. Er hat vor dir in eurer Wohnung gewohnt. Er war mehr der Typ für Worträtsel als für Zahlenrätsel. Er ist an die Ostküste gezogen, um näher bei seinen Enkeln zu sein. Otis war super, ehrlich, aber ich bin froh, dass jetzt jemand in meinem Alter eingezogen ist. Zumindest siehst du so aus, als wärst du in meinem Alter – bist du auch in der siebten? Ich bin übrigens James.«
James verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, als Emily ein wichtiges Detail bemerkte, das ihr vorher entgangen war: ihr Notizbuch in seinen Händen.
»Wo hast du das gefunden?« Sie rannte die Betonstufen hoch, riss ihm das Notizbuch aus der Hand und drückte es an sich.
Die Glöckchen am Geweih läuteten leise, als James einen Schritt zurücktrat. »Es lag auf dem Boden vor eurer Tür«, verteidigte er sich. »Ich habe vorhin geklopft, aber es hat niemand aufgemacht. Dann wollte ich es im Eimer runterschicken, aber dann habe ich aus dem Fenster geschaut und du sahst so aus, als hättest du etwas verloren, und …«
Emily wusste nicht, was sie von diesem Typen halten sollte. Er trug ein Rentier-Geweih und schickte Rätsel-Aufgaben in einem rostigen alten Sandeimer. Er schien echt beleidigt zu sein, dass sie geglaubt hatte, er habe ihr Buch gestohlen, aber er wirkte trotzdem freundlich. Sogar der Haarwirbel an seinem Hinterkopf stand hoch wie ein Flügel, der zur Begrüßung winkte.
»Bist du fasziniert von meinen Haaren?«, fragte James.
Emily spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde.
»Ist schon okay. Er mag Aufmerksamkeit.«
»Er?«
»Er heißt Steve.«
»Dein Wirbel heißt Steve?«
»Ich wollte ihn erst Geronimo nennen, aber das klang irgendwie lächerlich«, sagte James.
Emily musste lachen und ihre Skepsis löste sich in Luft auf. »Niemand würde dich mit einem Haarwirbel namens Geronimo ernst nehmen.«
»Genau«, sagte James. Dann fügte er hinzu: »Das Rätsel, an dem du arbeitest, hat mich darauf gebracht, dir auch eins zu schicken. Hat es dir gefallen?«
»Das magische Quadrat? Mit den nächtlichen Flamingos hast du mich ganz schön zum Grübeln gebracht. Ich dachte, was um alles in der Welt …« Emilys Gehirn holte jetzt erst ihr Geplapper ein. »Warte. Woher wusstest du, dass ich an einem Rätsel arbeite?«
Die Spiralbindung ihres Notizbuchs bohrte sich in ihre Finger. Sie schlug es auf und mit jeder Seite stieg ihr Ärger. Unter der »Prahle-heut-den-Balg-nicht«-Chiffre stand etwas in einer unbekannten Druckschrift:
DRITTE BANK DEN PIER HINAB.
Emily schnappte nach Luft. »Du hast es gelöst?«
»Du hattest es fast schon. Du hast nur einen Buchstaben übersehen.«
Sie hatte den Buchstaben nicht übersehen. Emily betrachtete die ursprüngliche Chiffre und ihre Notizen dazu. Sie sog hörbar Luft ein, als sie beinahe sofort erkannte, dass James recht hatte.
Sie hatte einen Buchstaben übersehen.
Der chiffrierte Text hatte zwei N und sie hatte jedem einen anderen Buchstaben zugeordnet. Ein Anfängerfehler.
»So etwas übersieht man schnell mal«, sagte James besänftigend. »Zwei Augen sehen eben mehr als eins. – Nichts für ungut, Zyklopen.«
Emilys Wangen brannten vor Scham. »Meine Augen sind okay. Ich habe nur zwei Tage in einem Auto verbracht – das ist alles.«
Sie sah sich die akkuraten Striche von James’ Handschrift an, die beinah höhnisch den Satz ergaben: DRITTE BANK DEN PIER HINAB! Der hatte Nerven. Ein Rätsel zu lösen, das ihn offensichtlich nichts anging. Wenn sie Hilfe gewollt hätte, dann hätte sie das Rätsel in diesem miesen kleinen Eimer raufgeschickt. Was für ein Angeber! Sie hatte gleich gewusst, dass seine Freundlichkeit nur aufgesetzt war.
»Was bist du eigentlich? Ein Wilderer? Ich vermute, du willst jetzt losziehen und das Buch auch noch für mich einkassieren.«
James’ gerade noch lächelnde Augen machten nun einen eher entmutigten Eindruck. »Wovon redest du? Ein Wilderer? Und was meinst du damit, ein Buch einkassieren?« Entschuldigend fuhr er fort: »Das Rätsel hat mich angestarrt und immer wieder gesagt, ›löse mich‹ …«
Sogar sein Geweih schien traurig herabzuhängen und auch Steve stand nicht mehr fröhlich ab.
»›Wilderer‹ und ›ein Buch einkassieren‹ sind Begriffe von Griswolds Bücherjagd. Spielt das nicht jeder hier?«
»Nein, ich habe davon gehört, aber ich spiele es nicht.«
Emily starrte James mit offenem Mund an. In San Francisco zu leben und nicht Griswolds Bücherjagd zu spielen, war wie in einer Schokoladenfabrik zu wohnen, aber keine Süßigkeiten zu essen.
»Du magst doch offensichtlich Rätsel.« Emily beäugte James misstrauisch. »Liest du nicht gerne?«
»Doch, klar«, sagte James.
»Dann musst du es versuchen. Griswolds Bücherjagd ist gerade für Leute gedacht, die Bücher, Rätsel und Spiele lieben. Und Abenteuer und neue Orte entdecken.«
»Was macht man da?«
»Die Leute verstecken ihre Bücher an öffentlichen Plätzen, zum Beispiel in einem Park, dann posten sie ein Rätsel oder einen Hinweis zu dem Ort auf der Website, um andere auf die Spur zu locken. Für jedes Buch, das man versteckt oder findet, bekommt man einen Punkt, auch wenn jemand eins deiner versteckten Bücher findet.«
»Wozu sind die Punkte gut?«
Bayside Press