_Es war nicht leicht gewesen, sich wieder auf den Weg zu Arthurs Wohnung zu machen. Bis zur Weihnachtszeit hatte man nur wenig miteinander gesprochen, sich nicht viel mehr als der guten Ankunft in Deutschland versichert und später ein frohes Fest gewünscht. Lediglich Lance hatte es vorgezogen, in Amerika zu bleiben. Allerdings war er nach Kalifornien zurückgekehrt. Es gäbe nichts, was ihn derzeit nach Deutschland zöge. Jannifer war im Grunde nur hierhergeflogen, um die Feiertage mit ihrer Mutter zu verbringen und um sich ihre Magisterarbeit abzuholen. Ihre Zukunft wartete in New York. Obwohl unausgesprochen, war den anderen klar, daß Lance in dieser Zukunft vermutlich nur noch sehr bedingt vorkommen würde.
Auch für Falk war der Aufenthalt in der Domstadt nur ein kurzer Zwischenstopp, sein Kopf war im Grunde in Kanada. Einen Kurzbesuch bei den Eltern hatte er zwar geplant, auch wenn ihm der Sinn nicht wirklich danach stand. Es galt das ein oder andere noch zu regeln, insbesondere die Mitnahme von Bernhard. Der Hund war ihm gleich von seinem Vertrauten Hans übergeben worden, der Sohn von Spätaussiedlern war schon auf dem Sprung in seine alte Heimat gewesen. Seine Schwester und er hatten ein Visum bekommen, und nun wollten sie es ein paar Wochen ‚so richtig in Kasachstan krachen lassen‘, wenigstens bis zum Ende der Weihnachtszeit nach dem julianischen Kalender.
Erics Reisepläne waren von seinen Ärzten durchkreuzt worden, er durfte nicht einmal die Stadt verlassen. In der Tat dauerte die Genesung, die ja bei einem fehlenden Auge sowieso nie vollständig sein konnte, länger als erwartet. An die Narbe, die der Schwerthieb quer durch sein Gesicht hinterlassen hatte, hätte er sich vielleicht irgendwann gewöhnen können. Der Verlust des Auges jedoch traf ihn empfindlich, da war es kaum ein Trost, daß der unbekannte Gegner den Angriff auf ihn mit dem Leben bezahlt hatte. Er kämpfte mit Schmerzen und Desorientierung, und mit seiner Sehnsucht nach Åsta.
Sigune blieb an ihrem neuen Wohnort Köln. Die gemeinsame Freundin, die während der zurückliegenden Reisen etwas wie eine Relaisstation für sie gewesen war, zog sich noch mehr zurück als ohnehin schon. Laut Jannifer, die ihr besonders nahe stand, verbrachte sie offensichtlich viel Zeit mit einem gewissen Ze Ren, dem Bruder ihres auf so tragische Weise ums Leben gekommenen Freundes Xian.
Die Weihnachtsmärkte waren abgebaut, die Dekoration in den Kaufhäusern schon ausgetauscht gegen Partyartikel für den Silvesterabend. Gleichwohl herrschte eine Kehraus-Stimmung in der Stadt. Ein leichter Nieselregen fiel, durchsetzt mit flüssigem Schnee. Dadurch schien es für die Zeit des frühen Nachmittags, zu der Falk, Jannifer und Eric vor Arthurs Haus zusammenkamen, noch dunkler. Sie standen einen Moment unschlüssig vor der Eingangstür. „Da waren’s nur noch drei!“, entfuhr es Falk. Jannifer zuckte kaum merklich zusammen, befürchtend, sie solle für Lance’ Abwesenheit verantwortlich gemacht werden. Sie ließ den Blick die Peterstraße hinabschweifen, unbewußt zunächst, dann wurde ihr klar, daß sie Ausschau hielt nach dem Mädchen mit dem roten Röckchen und den fliegenden Zöpfen, welches ihr zuerst am Tag von Arthurs Entführung auf der Straße begegnet war. Es war nicht zu sehen. Jannifer ballte ihre Hände in den Taschen zur Faust. Falk bemerkte dies, schlug den Kragen hoch, Eric zog darauf seine Wollmütze in die Stirn. Sie sahen sich gegenseitig prüfend an, dann wieder zur Seite, schließlich fanden sich ihre Blicke erneut.
Die Entführung Arthurs hatte ihrer aller Leben schon jetzt für immer geändert, sie fürchteten sich vor einer weiteren Beeinflussung ihrer Schicksale, die in seiner Wohnung auf sie warten mochte. „Es ist kalt. Laß uns reingehen“, meinte Eric schließlich. Die Haustür war zu, jedoch nicht verschlossen. Falk drehte am Griff und schob sie mühelos auf. Die Luft, die ihnen in Flur und Treppenaufgang entgegenströmte, schien kälter als die Außentemperatur.
Der unterschwellige Widerwillen, der sie alle erfüllte, war sicher auch einer Ermüdung bei der immer noch vergeblichen Suche geschuldet. Mehr aber noch spielten die jetzt schon zwei Monate zurückliegenden Ereignisse an den Cloisters in New York eine Rolle. Die Freunde glaubten, von den Entführern Arthurs zur musealen Klosteranlage im Norden Manhattans und dort in eine Falle gelockt worden zu sein. Der martialische Fechtkampf hätte sie leicht das Leben kosten können, ohne die Intervention der überraschend erscheinenden Sicherheitsleute wäre es zumindest um Eric geschehen gewesen. Doch ging ihnen allen die Stimme Arthurs nicht aus dem Kopf, die ihnen selbstherrlich, wenn nicht spöttisch vorgekommen war. Klang so jemand, der von seinen Entführern mit dem Tode bedroht wurde? Mochte es auch sein, daß er selbst gar nicht zugegen gewesen war und die Stimme von einem Tonband stammte, so änderte auch die Zeit nichts an der Wahrnehmung seiner Worte.
Die Wohnungstür wurde durch ein kleines Metallstück auf der Schwelle einen Spalt offengehalten, jemand hatte also ihr Zufallen bewußt verhindern wollen. Falk schob sie langsam gegen einen leichten Luftdruck auf, der durch das auf Kipp gestellte Fenster entstand. Die Wohnung war völlig ausgekühlt, die Zugluft verdünnte einen leicht modrigen Geruch. Unterhalb des Fensters war in einem größeren Umkreis alles feucht, der Schreibtisch und die auf ihm befindlichen Unterlagen, aber auch der Teppichboden. „Man soll ja das Fenster immer ein bißchen auflassen, um Schimmelbildung zu vermeiden“, meinte Jannifer, während sie den Rahmen schloß. Die Männer grinsten. „Fast noch kälter als draußen.“ Sofort hatten sie festgestellt, daß auf dem runden Tisch diesmal kein Umschlag oder Zettel lag. Unter den aufgeweichten Papieren auf dem Schreibtisch hatte Jannifer auch nichts entdecken können. „Scheinbar war niemand mehr hier seit unserem letzten Besuch.“ „Na, mit Ausnahme der Person, die Fenster und Tür offengelassen hat.“ „Die Entführer?“ Jannifer zog eine Augenbraue hoch. „Vielleicht auch eine Art Hausmeister, der später vergessen hat, wieder alles dicht zu machen“, spekulierte Falk. Er setzte sich auf einen Drehstuhl, der so weit vom Schreibtisch weg stand, daß ihn das Wasser nicht erreicht hatte. Eric zog sich einen Hocker heran, neben Arthurs geschnitztem Holzstuhl die einzige weitere Sitzmöglichkeit, bei der man sich nicht halb legen mußte. Und da Jannifer dazu auch keine Lust hatte, setzte sie sich, wenn auch mit sichtlichem Unbehagen, in den Stammsitz des Entführten. Sie saßen eine Weile schweigend, verfolgten die dünnen Wolken, die sie beim Ausatmen produzierten. Eric legte die Hand quer über das Gesicht auf die schmerzende Narbe. Hoffentlich war diese starke Wetterfühligkeit kein Dauerzustand! Falk sah ihn kurz mitleidig an, schaute dann zum Fenster, gegen das der stärker werdende Regen prasselte. Jannifer beobachtete Falk und fand, daß sein Blick bald eindeutig weiter als bis zum nächsten Haus oder selbst in den Himmel darüber reichte. Er schien sich in endlos weiter Ferne zu verlieren. Vermutlich in Kanada.
Über seine aufs Gesicht gepreßte Hand hinweg ließ Eric seinen Blick über Jannifer schweifen, von den coolen Fell-Imitat-Stiefeln hinauf bis zum von durch Wind und Regen strähnig gewordenen blonden Haaren umrahmten Gesicht, weich und doch ausdrucksstark. Früher war ihm gar nicht aufgefallen, welche Entschlossenheit in ihren Zügen lag. Der rötliche Farbton, den sie sich in New York vor dem Auftritt auf der Party von Allan Backwater zugelegt hatte, war wieder verschwunden, ausgewaschen oder zum Original zurückgetönt. Jetzt merkte sie, wie sie beobachtet wurde, und drehte den Kopf zu Eric, der allerdings sein Auge gleich weiter über sie hinweg nach oben zur dort hängenden Uhr gleiten ließ, so als habe sein Blick sie nur zufällig und gedankenverloren überstreift. Sie rutschte in eine andere Position und schaute zu ihm herüber. Eric tat, als bemerke er sie gar nicht, und konzentrierte sich auf die Wand über ihr. „Was gibt’s denn so Interessantes an der Wand zu sehen?“ „Ja, die Uhr doch …“ Jannifer lachte: „Die Uhr doch … – die Uhr steht seit Jahren auf zwanzig vor fünf, und Arthur hat sie nicht mehr aufgezogen, weil sie kaputt ist.“ Falk kam langsam wieder aus Kanada zurück. „Er hat sie nie aufgezogen. Muß schon seit Jahrzehnten kaputt sein. Ein Familienerbstück, das nur aus nostalgischen Gründen da hängt.“ Er schaute auf seine Armbanduhr. „Das gibt’s doch nicht – es ist tatsächlich gerade zwanzig vor fünf.“ Nun schaute auch Jannifer zur wenig spektakulären Uhr. Mit ihrem glatten dunkelbraunen Holz und der aufklappbaren Scheibe über dem Zifferblatt, mit einem vergoldeten Rand umfaßt, entsprach sie dem Stil der 30er Jahre. Man lauschte. Es tickte nicht, also schlicht Zufall. „Irgend etwas ist hier merkwürdig“, ließ sich Eric vernehmen, der die Uhr unentwegt angestarrt hatte. „Was denn?“ Die anderen waren gespannt. „Dort, wo man normalerweise den Schlüssel zum Aufziehen hineinsteckt, befindet sich so etwas wie eine kleine Glaskuppel.“ Jannifer stellte sich in den Stuhl und klappte die Scheibe auf. „Tatsächlich. Hey! Ich glaub’, ich werd’ nicht mehr. Sieht ja aus wie ’ne Linse.“ „Nimm das Ding mal ab!“ Falk bewegte sich auf Jannifer zu, um sie gegebenenfalls zu unterstützen. Sie nahm die Uhr vom Haken, verspürte aber sogleich einen Ruck. „Die hängt an was fest!“ „Vielleicht so ein Sicherungsdraht“, meinte Falk. „Mmh, mmh – schau dir das mal an!“ Sie drehte die Rückseite der Uhr so weit es ging zu ihm. Die Uhr war durch ein Kabel mit der Wand verbunden, viel auffälliger aber war ein kleines rotes Licht. Auch Eric erhob sich, und zu dritt stellten sie ungläubig fest, daß ein kleiner Metallblock in das Gehäuse eingelassen war. Dieser war mit einer Leuchtdiode versehen, außerdem ging ein feiner antennenartiger Draht von ihm ab. „Das gibt’s ja nicht! Sieht aus wie ein Sender!“ Eric wich zurück. „Vielleicht sendet der ja jetzt noch.“ „Oje. Du meinst, alles was in diesem Raum gesagt und gemacht wurde, ist aufgezeichnet worden?“ In Jannifer stieg leichte Panik auf. „Ja, seit die Entführer das eingebaut haben.“ Eric pfiff durch die Zähne. „Sehr wahrscheinlich jedenfalls“, schloß Falk an. „Soll ich das Kabel durchschneiden?“ Eric schüttelte den Kopf. „Wenn das Ding immer noch sendet, wissen die sowieso jetzt, daß wir es entdeckt haben.“ „Ich dreh’ sie aber um“, sagte Jannifer trotzig und ließ die Uhr kopfüber am Kabel baumeln, mit dem Zifferblatt zur Wand. Man fiel wieder auf die zuvor eingenommenen Sitze. „Uff!“, entfuhr es Eric. Falk schüttelte langsam den Kopf, wie in Zeitlupe. Jannifer hatte die Arme auf die Lehnen gelegt, schloß kurz die Augen, drückte Rücken und Kopf in das Lederpolster und atmete dann mit einem Seufzer aus. Sie nickten sich zu, erhoben sich und verließen schweigend den Raum.
Als sie vor die Haustür traten, hatte der Regen nachgelassen, es nieselte nur mehr leicht. Von links hörte man das regelmäßige Klatschen von Sohlen auf dem Asphalt. Tatsächlich sprang da dasselbe Mädchen durch sein Seil, das sie damals gesehen hatten. Es trug wieder einen roten Rock, darüber einen ebenfalls roten Anorak mit Kapuze. Als es die kleine Gruppe hörte, hielt es inne und wandte sich um. „Ach, ihr seid’s!“ Jannifer löste sich von den anderen und bewegte sich auf das Kind zu. „Annemarie! Wie geht es dir?“ „Hast Du meinen bescheuerten Namen etwa behalten?“ „Ich finde deinen Namen immer noch schön.“ „Na, weiß nicht. – Wart ihr im Zauberland Matur?“ „Nein, das haben wir noch nicht gefunden.“ „Der Arthur war jedenfalls nicht mehr hier. Wenn Du das wissen willst. Hoffentlich war der Riese wirklich so freundlich, wie er tat!“ „Ist dir denn noch irgend etwas aufgefallen?“ „Nein, gar nichts. Also, ich wäre auch lieber im Zauberland Matur. Da regnet’s bestimmt nicht soviel wie hier.“ „Ganz sicher nicht. Sag’, läßt dich denn deine Mutter hier so einfach im Regen spielen?“ Annemarie warf trotzig die Lippen vor. „Geht dich gar nichts an. Oder bist Du doch von der Polizei?“ Sie senkte den Kopf. „Ich muß jetzt gehen. Tschüs!“ Damit rollte sie das Springseil zusammen, steckte es in die Tasche und ging in langsamen Schritten die Peterstraße hinunter, an deren Ende sie nach links verschwand. „Seltsam, daß ein Kind in einer Straße hüpft, in der es scheinbar gar nicht wohnt!“ Falk runzelte die Stirn.
Wie von selbst fanden sie zum ‚Roten Sofa‘, ihrer früheren Stammkneipe. Die Männer bestellten ein Bier, Jannifer einen heißen Tee. In einer Ecke debattierten einige Studenten, dem Engagement nach vermutlich Erstsemester. Jannifer blickte über den Rand ihrer Tasse zu ihnen hinüber, leicht mitleidig, leicht abschätzig, schlürfte dann hörbar. Ansonsten waren nur der Wirt und ein in seine Zeitung vertiefter Herr in der Kneipe. „Soso, dann wissen wir also, daß unsere Besuche in Arthurs Haus live in das Wohnzimmer seiner Entführer übertragen wurden.“ Er machte sich kaum Mühe, leise zu sprechen. Der Mann mit der Zeitung senkte diese kurz, sah prüfend zu ihnen herüber, nahm sie dann aber wieder hoch und las weiter. „So hätten sie gleich gewußt, wenn wir zur Polizei gegangen wären, und dann entsprechende Maßnahmen getroffen“, räsonierte Eric. „Sie haben, zusammen mit Arthur vielleicht, gleich verfolgt, wie jeder außer Falk an seinem Reise-Los festhalten wollte.“ „Und an seinen Schecks“, ergänzte Falk. „Egal, wir haben ja letztendlich alle akzeptiert, und die Kidnapper wußten gleich, wer wohin gehen würde.“ „Ich werde meine Wohnung jedenfalls auch absuchen. Vielleicht ist da auch so ein Sender versteckt.“ Jannifer konnte ihre Empörung kaum unterdrücken. „Vielleicht hat man auch die Telefone abgehört. Dann hätten sie ziemlich genau gewußt, wer wann wo war.“
Der Mann mit der Zeitung schaute wieder herüber, tat aber so, als höre er nicht zu. Eric sah ihn streng an. „Was glotzen Sie denn so? Wir gehören zur Theatergruppe ‚Real-Sozial‘ und studieren ein Stück über die STASI ein.“ Der Mann verschwand wieder hinter seiner Zeitung, faltete sie aber bald zusammen, murmelte etwas wie „unverschämt“, warf Geld auf seinen Tisch und verließ die Gaststätte.
„Irgendwie fühle ich mich immer seltsamer mit der ganzen Geschichte“, meinte Falk. „Ich habe jedenfalls keine Lust mehr, ein Spiel mit mir spielen zu lassen.“ „Willst Du aufgeben?“, fragte Jannifer tonlos. Dabei schien sie das gleiche zu denken. „Frag’ mich mal!“ Eric hielt sich die Hand vor das fehlende Auge und bemühte sich um ein schelmisches Grinsen. „Natürlich geben wir nicht auf. Aber sagen wir mal, es gibt einen gewissen Motivationsverlust.“ Immer noch hatte niemand gewagt, den furchtbaren Verdacht auszusprechen. Auch jetzt passierte es nicht. „Sie haben ihm ein Stück seines Fingers abgeschnitten. Das zeigt das Video, und auch, daß er Gefangener irgendwelcher Leute ist.“ Jannifer vermied das Wort ‚Extremisten‘, und erst recht religiöse oder politische Adjektive.
„Es gibt ja auch keine Hinweise mehr. An den Cloisters werde ich jedenfalls nicht mehr nach Indizien suchen.“ Eric nahm ein neues Bier entgegen und trank ein paar kräftige Schlucke. „Alles ist ja bis jetzt irgendwie von selbst auf uns zugekommen. Die Orte, die Reisen, die Begegnungen, die vermeintlichen oder tatsächlichen Sichtungen Arthurs. Das geht vielleicht auch weiter so. Ich glaube, daß wir gar nichts machen können. Wenn es neue Signale gibt, eine Möglichkeit, den … Gefangenen zu befreien, wird sich dies von selbst ergeben.“ „Oder auch nicht“, meinte Jannifer. „Richtig. Oder auch nicht.“
„Apropos Cloisters …“, schob Falk nach, „…weiß eigentlich jemand, was aus unseren Schwertern geworden ist?“ „Sind die nicht von Hans’ Sicherheitskumpels eingesammelt worden?“, meinte Jannifer. „Keine Ahnung. Interessiert mich aber auch nicht!“, kommentierte Eric. „Ich werde jedenfalls nie wieder ein Schwert in die Hand nehmen.“ „Wohl wahr, wohl wahr“, nickte Falk. „Gegen eine Kanone hat man ja eh’ keine Chance. Und ich bin überzeugt, daß wir uns anders aufstellen müssen, falls wir noch einmal in eine solche Situation geraten sollten.“
Als hätten sie es vorher vereinbart, wechselten sie das Thema, fragten einander nach den weiteren Plänen. Falk umriß kurz seine Vorhaben, verzichtete dabei aber bewußt auf ausführliche Darstellungen. Jannifer wollte noch einmal nach Köln, um sich von ihrer Mutter zu verabschieden, eventuell mit Sigune dann ins neue Jahr zu feiern. Schon Ende der darauffolgenden Woche ginge es wieder nach New York. Eric meinte, zu seiner Mutter wolle er eigentlich auch, er traue sich aber nicht. Sie wisse noch nichts von dem Auge, und er brächte es nichts übers Herz, sie damit zu schockieren. Bislang sei es ihm mehr schlecht als recht gelungen, immer andere Gründe für den Aufschub des längst überfälligen Besuchs vorzugeben. Wenn sich nichts anderes ergebe, könnten sie beide ja gemeinsam die Silvesternacht verbringen, meinte Falk. Sie gingen auseinander mit dem Versprechen, auf jeden Fall in Kontakt zu bleiben. Jannifer solle in Köln herausfinden, ob Sigune weiterhin bereit wäre, Anlaufstelle in Deutschland zu sein. Allerdings kaum zu vermuten.
Als sie das ‚Rote Sofa‘ verließen, war es stockdunkel. Aber es hatte aufgehört zu regnen. Die frische Luft befreite ihre Köpfe von Belanglosigkeiten. „Ich suche nur Åsta. Bis ich sie gefunden habe, ist mir eigentlich alles andere herzlich egal. Sowie es gerade eben geht, breche ich auf.“ Eric legte sich wieder die Hand quer über das Gesicht, die Narbe schien stark zu schmerzen. „Und ich muß herausfinden, ob ich Musik und Kunst unter einen Hut bringen kann, oder mich für eins zu entscheiden habe. Und das ist nicht die einzige Sache, die vor mir liegt …“, sagte Jannifer und sog tief Luft in ihre Lunge, um sie in einer großen Wolke auszustoßen. „Ich mach’ das jetzt erst mal mit Kanada, und dann sehen wir weiter. Es bleibt jedenfalls spannend.“ Konkreter wurde Falk nicht. Man wünschte sich gegenseitig viel Glück, drückte sich und schied herzlich voneinander.
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_Schon lag jener Nachmittag im späten Dezember mehr als ein halbes Jahr zurück. Jannifer war die Sache mit der Kamera in der Uhr näher gegangen als Falk und Eric. Und das aus gutem Grund. Im Gegensatz zu den beiden Männern hatte sie sich nämlich gefragt, ob statt der Entführer nicht vielleicht Arthur selbst das Gerät installiert haben konnte. Und wenn, vor allem wann er das dann getan hatte. Ab welchem Zeitpunkt unter Umständen schon heimlich Aufnahmen gemacht wurden, und wo sie hingesandt worden waren. Ihr war bei dem Gedanken ganz mulmig geworden, sie hoffte inständig, daß Montage und Inbetriebnahme tatsächlich erst durch die Kidnapper erfolgt waren.
Ihre Entscheidung, noch einmal nach Köln zu fahren, hatte sie fast ein wenig bereut. Noch einmal bei der Mutter aufzutauchen, war nicht sehr sinnvoll gewesen, man fiel wieder hinter einen bereits gut gemachten Abschied zurück, die Atmosphäre war merkwürdig, das zweite ‚Auf Wiedersehen‘ wirkte seltsam hohl. Mit Sigune hatte sie letztendlich zwar tatsächlich die Silvesternacht verbracht, doch sie hatte sich der ‚fernen Freundin‘, wie sie sie bei sich selbst nannte, fast schon aufdrängen müssen. Vor dem Panoramablick ihres Erkerfensters hatte diese zwar ohne Begeisterung, allerdings auch wiederum nicht in abweisender Art zugestimmt, in Zukunft weiterhin Verbindungsglied für die Freunde im Ausland zu sein. Man prostete sich mit dem Sekt zu, den Jannifer mitgebracht hatte. „Weißt Du, wie man an eine Pistole kommt?“, fragte Sigune unvermittelt. „Ich bin nämlich schon besorgt, daß ich hier von ähnlich Wahnsinnigen aufgesucht werde, wie wir ihnen an den Cloisters begegnet sind.“ Darauf beschloß Jannifer, die Sache mit der Kamera-Uhr lieber für sich zu behalten. Wenigstens hatte sie so Ze Ren kennengelernt, den Bruder Xians. ‚Ganz sympathischer, ruhiger Mann‘, wie sie fand. Der Chinese hielt sich sehr zurück. Er hörte wohl lieber zu als er sprach, allerdings waren seine Deutschkenntnisse auch recht begrenzt. Als die ersten Böller krachten und die Raketen über dem Rhein aufstiegen, lächelte Ze Ren: „Das Feuerwerk haben wir Chinesen erfunden!“ Fast klang dieser Satz in seiner grammatikalischen Richtigkeit so, als habe der Bruder Xians ihn eigens für den Abend einstudiert. Jannifer hatte wissen wollen, wie man Neujahr in China feiere. Dies sei wie in Deutschland, Feiern habe immer irgendwie mit Trinken zu tun. Kurzum, man sei lustig, manchmal würde es ernst, man sinniere über das Vergangene und das Kommende, gedächte wie an allen zentralen Festtagen natürlich auch der Ahnen. Allerdings läge das neue Jahr in China auf einem anderen Datum. Also alles eine Sache der Festlegung. Jannifer hatte langsam genickt.
Der Flug zurück nach New York war ereignislos, sie las etwas, döste vor sich hin. Ihre Magisterarbeit war nur mit befriedigend bewertet worden. Die wissenschaftliche Leistung sei zwar einwandfrei, aber inhaltlich habe sie sich mit der Bedeutung Disneys wohl vergriffen. Ihr war es gleich. Für sich dachte sie: lieber mit Disney im Metropolitan als mit Kandinsky im Café – hinter dem Tresen, wohlgemerkt. Dabei verdrängte sie ein wenig, daß sicher auch das Metropolitan Museum wegen Disney die Nase gerümpft hätte. Wie sie dorthin gekommen war, spielte keine Rolle mehr. Sie hatte ihre Vorgesetzten von ihrer Persönlichkeit und ihrer Leistung überzeugen können, und blieb erst einmal da, jetzt sogar mit Arbeitsvisum.
Nach der Landung stand Jannifer nicht der Sinn nach einer unter Umständen wieder mehr als zweistündigen unfreiwilligen Stadtrundfahrt mit dem Airport-Shuttle. Von den ihr per Los zugefallenen Mitteln für die Suche nach Arthur hatte sie vergleichsweise nur wenig verbraucht, so daß die Kosten einer Taxifahrt ihr kein Kopfzerbrechen bereiten mußten. Zielstrebig ging sie zur Reihe der wartenden Yellow Cabs, ließ sich in das vom Dispatcher zugewiesene fallen, nachdem der Fahrer ihr leichtes Gepäck im Kofferraum verstaut hatte. Sie nannte ihm die Adresse des Hotel Excellent, wies darauf hin, daß es in Höhe des Hayden Planetariums hinter dem Museum of Natural History lag, wiederholte angesichts des unsicheren Blicks des Fahrers das Gesagte zweimal, und lehnte sich erst zurück, nachdem dieser durch heftiges Nicken sein schließliches Verständnis der Ziellage signalisiert hatte. Sie schloß die Augen und atmete tief durch.
Dieses Mal ging es über die Queensboro Bridge auf Manhattan zu, an der Zollstation öffnete sie die Lider und sah die einzigartige Silhouette der Skyline Manhattans so, wie sie es sich für ihre erste Ankunft in der Stadt gewünscht hatte. Kaum am anderen Ufer, konnte sie die Augen vor Müdigkeit jedoch kaum aufhalten. Sie gähnte und sank in einen Halbschlaf zurück, in den wie von ferne die Verkehrsgeräusche, insbesondere das Heulen der Sirenen von Polizei- und Feuerwehrfahrzeugen, drang. Sie glaubte, daß dieses Klangbild einzigartig sei und man New York daran von allen anderen Städten der Welt unterscheiden könne. Das Taxi hielt abrupt, und fast ein wenig verwundert stellte sie fest, daß sie tatsächlich direkt vor dem Hotel Excellent gestoppt hatten. Der Cabbie drehte sich mit triumphierendem Grinsen zu ihr um. „Hab’ ich Ihnen doch gesagt, daß ich weiß, wo das ist!“ Dankbar für den perfekten Service gab Jannifer ein vergleichsweise hohes Trinkgeld und schritt mit ihrem Koffer in die Lobby des ‚Excellent‘.
Am liebsten wäre sie direkt zu den Fahrstühlen gegangen, die Höflichkeit gebot ihr jedoch, sich an der Rezeption zurückzumelden. Statt ihren freundlichen Gruß zu erwidern, reagierte man reserviert und rief nach Vince. Als der Bekannte ihres Vaters, der ihr die Unterkunft bisher ermöglicht hatte, aus einer Seitentür kam, starrte er sie an, als habe er einen Geist gesehen. Er schluckte drei Mal und versuchte sich zu fangen. „Äh, Jannifer, wir haben da ein Problem. – Über die Weihnachtszeit konnten wir aufgrund günstiger Bedingungen auch die Renovation des letzten Teils des Hotels, in dem auch Ihr Zimmer liegt, in Angriff nehmen.“ „Und was heißt das jetzt?“ Jannifer schaute ein wenig entsetzt. „Das heißt, daß Ihr Zimmer nicht mehr zur Verfügung steht. Ihre Sachen, da können Sie unbesorgt sein, haben wir ausgeräumt und im Keller gelagert.“ „Ja haben Sie denn ein anderes Zimmer für mich, Vince? Ich wäre mit allem zufrieden!“ Vince schaute verlegen drein. „Wissen Sie, das ganze Hotel ist ja modernisiert und auf einen höheren Standard gebracht worden. Ich bin auch dem Management gegenüber verantwortlich. Leider kann ich Sie nicht mehr verstecken.“ Jannifer war völlig schockiert. „Ja, was mache ich denn jetzt nur?“ Vince sah sie mitleidig an. „Na, jetzt mal keine Panik. Für ein paar Tage bringe ich Sie noch irgendwo unter. Sie sollten sich aber sofort auf Zimmersuche begeben. Besorgen Sie sich eins der Kleinanzeigenmagazine, suchen Sie im Internet, oder laufen Sie einfach herum. Oft sieht man ja Angebote in den Fenstern oder auf Schildern vor Häusern.“ Jannifer bemühte sich um Fassung und nickte dankend. Vince flüsterte einer der Rezeptionistinnen ins Ohr und verabschiedete sich dann mit einem angedeuteten Nicken. Die Empfangsdame sah angestrengt in den Computer, so als müsse sie eine schwierige mathematische Aufgabe lösen. Dazu klapperte sie auf der Tastatur, unterbrach sich immer wieder selbst und schaute schließlich mit gespielter Freundlichkeit auf. „Da haben Sie aber Glück. Ihre Sachen können wir Ihnen aber nicht mehr bringen lassen. Also nur mit dem Koffer hoch, wenn das so okay ist!“ Jannifer war zu schwach zu einer Gegenwehr, sie hatte ja auch keinen Hebel für ein Argument. Sie konnte dankbar sein, daß man sie überhaupt noch beherbergte.
Wie geprügelt ging sie in den Lift und fuhr auf das Stockwerk ihres Zimmers, das zwar modernisiert, aber nach hinten raus gelegen war. Statt auf den Park hinter dem Museum of Natural History schaute sie auf eine verbaute Hinterhausstruktur, auf Wassertürme und Klimaanlagen, die hundert Jahre alt zu sein schienen. In der Nacht schlief sie unruhig. Sie träumte von Arthur, mit dem sie sich zunächst im ‚Ultra Violet Velvet‘ sah. Er lächelte sie freundlich an und machte keinerlei Anstalten, ihr auszuweichen oder den Ort gar fluchtartig zu verlassen. Dann gab es einen plötzlichen Szenenwechsel. Sie waren jetzt in Arthurs Wohnung, und er stand ganz dicht bei ihr. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut. Er ergriff ihren Arm und streichelte ihn zärtlich. Da bemerkte sie, daß sie beide nackt waren. Als Arthur sie an sich drückte, legte sie ihr Kinn auf seine Schulter und lehnte ihren Kopf gegen seinen, der von wilden Locken umrahmt war. Dabei fiel ihr Blick auf die an der Wand hängende Uhr. Mit einem Aufschrei wachte sie auf.
Am nächsten Morgen duschte sie ausgiebig und machte sich dann auf den Weg zu ihrem Stamm-Coffeeshop auf der Columbus Avenue. Gestärkt durch einen heißen Kaffee und einen getoasteten Zimt-Rosinen-Bagel kehrten ihre Lebensgeister zurück. Am nächsten Kiosk nahm sie sich gleich ein Kleinanzeigenblatt mit, ging aber gar nicht direkt zurück auf ihr Zimmer, sondern folgte dem Rat von Vince und lief gleich darauf los, um im Viertel um das Hotel herum nach einer freien Unterkunft Ausschau zu halten. Sie ging zunächst von der Columbus durch die 82ste bis zum Central Park West, dann einen Block hoch und durch die 83ste wieder zurück zur Columbus, dann in die 84ste. Sie beschloß, auf diese Weise erst einmal zehn Straßen zu durchlaufen. Jannifer glaubte ihren Augen kaum zu trauen, als sie bereits in der 85sten Straße an einem der typischen Upper-Westside-Mehrfamilienhäuser von der letzten Jahrhundertwende vorbeikam, in dessen Fenster ein Schild hing ‚Einzimmer-Appartement zu vermieten‘. Sie klemmte sich das Kleinanzeigenblatt unter den Arm und klingelte beherzt. Eine Gardine in einem der erkerartigen Fenster wurde kurz beiseite geschoben, bald darauf öffnete sich die Tür. Eine grauhaarige ältere Lady von vielleicht 75 Jahren, die sich aber den Anschein einer Sechzigjährigen geben wollte, schaute sie mit einem durchdringend prüfenden Blick an. „Ja bitte?“ Jannifer bemühte sich um einen frisch-fröhlichen, aber gleichzeitig verbindlichen Auftritt. „Hallo, ich bin die Jannifer aus Deutschland, und arbeite drüben im Metropolitan Museum.“ Sie nickte in Richtung des von hier aus nicht sichtbaren Gebäudes. Die Züge der älteren Dame entspannten sich. Sie nickte Jannifer freundlich an. „Deutschland … da kam meine Familie eigentlich her. Kommen Sie doch bitte herein! Sie interessieren sich für das Zimmer?“ Die alte Dame schloß die gitterbewehrte Eichentür und legte einen Riegel vor.
„Meine Eltern stammen aus Düsseldorf. Sie konnten grade noch rechtzeitig aus Deutschland flüchten. Wir haben relatives Glück gehabt. Eine Tante und zwei Onkel haben es auch noch geschafft. Also, relativ: Eine ganze Reihe weiterer Verwandter ist umgekommen.“ Die Frau sprach mit freundlicher Stimme, Jannifer schaute sie anteilnehmend an. Die ältere Dame schwieg eine Weile, und während dieser Zeit wurde Jannifer klar, daß sie nicht anteilnehmend, sondern schuldbewußt dreinschaute. Die Dame schien dies zu bemerken. „Sie können ja nichts dazu, was in Deutschland passiert ist. Und ich gehe einmal davon aus, daß Ihre Eltern bei Kriegsende noch nicht einmal geboren waren.“ Jannifer nickte und schaute dennoch beschämt zur Seite. Eigentlich war sie stolz auf Deutschland, wobei sie sich fragte, ob sie das Wort ‚Stolz‘ überhaupt verwenden durfte. Sie fand, es war ein schönes, spannendes und abwechslungsreiches Land. Es hatte bedeutende Dichter, Denker und Erfinder hervorgebracht. Der immer wieder gleiche Zorn stieg in ihr auf darüber, wie Hitler, seine verbrecherische Nazibande und all die, die sie trugen, es in nur zwölf Jahren geschafft hatten, den Ruf der Deutschen in der Welt dauerhaft zu beschädigen. „Wie war noch Ihr Name?“ Die alte Dame lächelte. „Jannifer.“ „Und ich bin die Hermine. Hermine Lehrer. Schauen wir uns das Zimmer an. Es ist allerdings möbliert. Hoffe, daß das kein Problem ist.“
Natürlich war es kein Problem, im Gegenteil, Jannifer war dankbar, keine Einrichtungsgegenstände kaufen zu müssen. Das Zimmer im dritten Stock hatte ein großes Fenster zur Straße hin, erkerartig vorgebaut. Tisch, Stuhl und Bett waren alt und strahlten eine gewisse muffige Gemütlichkeit aus. Das Bad schien auf den ersten Blick schlicht, wies aber eine mindestens 100 Jahre alte Badewanne auf. „Was hatten Sie sich denn als Miete vorgestellt?“ „Wir werden uns schon einig, mein Kind!“ Und so geschah es. Hermine verlangte einen Mietzins weit unter den üblichen New Yorker Marktbedingungen. Eigentlich bräuchte sie das Geld überhaupt nicht, meinte sie. Aber es gefiele ihr auch nicht so recht, in einem so großen Haus allein zu leben. Die anderen beiden Etagen bewohnte sie im Grunde allein, abgesehen von gelegentlichen Besuchen ihrer Söhne. Einer sei Anwalt, einer Arzt, und der dritte versuche sich als Künstler, der Reihe nach in verschiedenen Kunstgattungen. So habe er als Musiker begonnen, sich dann als Dichter versucht, würde aber inzwischen malen. Aufgrund der Erbschaft ihres Mannes habe sie keinerlei finanzielle Sorgen. Selbst wenn, würden ihr der Arzt und der Anwalt aushelfen. Vom Künstler bekäme sie den ebenso wichtigen moralischen Support.
Am nächsten Tag schaffte Jannifer ihre Sachen vom Hotel in ihr neues Zuhause, Vince half ihr sogar beim Tragen, immer noch sichtlich betreten. „Ich weiß, was ich deinem Vater schuldig bin.“ Jannifer wiegelte ab. „Mach’ dir mal bloß keine Gedanken! Es ist ein gewaltiges Entgegenkommen, daß ich so lange zu Null-Konditionen im ‚Excellent‘ wohnen durfte. Ich werde meinem Vater berichten, wie sehr Du mir geholfen hast.“ Dann kaufte sie ein und freute sich, Hermine einige Sachen vom Corner Store mitbringen zu können. Zurück empfing sie die alte Dame mit einem Glas Sekt und stieß auf ein gedeihliches Miteinanderauskommen an. Nach dem zweiten Glas traute sich Jannifer zu erwähnen, daß sie auch Musikerin sei. „Neben meiner Arbeit für das Metropolitan Museum bin ich noch Gitarristin.“ „Klassische oder Western-Gitarre?“ wollte Hermine wissen. „Mmh, eigentlich elektrische!“ Die alte Dame lächelte. „Das ist überhaupt kein Problem, Du kannst ungestört im Keller üben. Da ist sogar ein entsprechender Raum von meinem Künstler-Sohn noch halbwegs eingerichtet, sogar beheizt.
Fast fand Jannifer, daß sich dies alles zu gut anhörte, um wahr zu sein. Sie beschloß, sich noch ein bis zwei Tage inkognito in der Stadt wieder einzurichten, bevor sie mit den Akteuren ihrer musikalischen Zukunft in Kontakt treten würde, insbesondere mit dem Produzenten Erkan Etiz. Beim Metropolitan Museum mußte sie indes bereits am übernächsten Tag antreten. Ihre ehemalige Praktikumsleiterin und jetzige Kollegin, wenngleich auch in vorgesetzter Form, begrüßte sie stürmisch. „Mensch, Jannifer, wir haben schon sehr auf dich gewartet! Laß uns einen Kaffee trinken, und dabei erzähle ich dir schon mal, was auf dich zukommt.“ Nachdem sie an einem Tisch im Dachcafé Platz genommen und die Getränke serviert worden waren, ergriff ihre Chefin begeistert das Wort. „Ich habe ja schon vor meinem Aufbruch angedeutet, worum es im wesentlichen geht. Nun steht auch der Titel der Sonderausstellung fest: ‚Neue alte Meister‘! Die Idee ist eben, große Kracher von Dürer bis Friedrich in einer Ausstellung mit den aktuellen Stars der Leipziger Schule, vor allem jedenfalls von dort, zusammenzubringen. Als kuratorische Assistentin hättest Du sogar einen Einfluß, einzelne Werke und Künstler zu identifizieren, beziehungsweise identifizieren zu helfen.“ Ihre Augen leuchteten, suchten die eigene Begeisterung in denen Jannifers widergespiegelt zu sehen. Sie fuhr fort. „Dann kommt natürlich ein Mega-Aufwand im Hinblick auf die Logistik der Werkbeschaffung und des Transports auf uns alle zu.“ Jannifer runzelte die Stirn. „Ich muss zugeben, dass ich mich in diesem Bereich noch gar nicht auskenne.“ Die vorgesetzte Kollegin wiegelte ab. „Dafür gibt es natürlich entsprechende Expertenabteilungen im Hause, aber ein gutes Stück der Arbeit fällt auch auf dich herab. Insbesondere was die Kommunikation mit den deutschen Stellen angeht. Es ist gut möglich, daß Du die Chefkuratorin Ellen Fissler-Walpole bei einigen Reisen nach Deutschland beziehungsweise zu Museen, in denen die identifizierten Werke hängen, begleiten darfst.“ „Was, Ellen Fissler-Walpole?“ Der Name ließ Jannifer einen Seufzer der Hochachtung entfahren. Die Kuratorin, die durch die Leitung einer Documenta sowie einer Sao Paulo-Biennale internationalen Ruhm erfahren hatte, hatte ihr auch mit den von ihr herausgegebenen Schriften und Katalogen stets imponiert. „Du kannst mich gern Eva nennen, wollte ich dir sowieso schon lange angeboten haben.“ Glatte Lüge, dachte Jannifer, lächelte aber freundlich. Sie streckte ihr die Hand hin. „Hallo Eva, Jannifer heiße ich!“ Beide mußten lachen. „Jetzt aber an die Arbeit!“, befahl Eva scherzend.
Als sich Jannifer endlich wieder bei Erkan Etiz, dem berühmten Produzenten, meldete, vermittelten ihr seine Mitarbeiter, daß dies längst überfällig sei. „Beim Chef sind schon Anzeichen von Ungeduld auszumachen, und diese sollte man nicht riskieren.“ Man verhalf ihr zu einem baldigen Gesprächstermin, und mit ihrer charmanten Art gelang es Jannifer bald, den großen Mann der Musikindustrie wieder versöhnlich zu stimmen. „Meine Leute haben sich schon ernste Gedanken zur Konzeption zur Tour und zur Produktion der geplanten CD gemacht. Ich sehe dich jetzt einmal als Ansprechpartnerin und Direktkontakt für die Band. Wie ist denn der Stand der Dinge?“ Jannifer berichtete, daß ihre Kolleginnen, die Sängerin Squid, eigentliche Bandleaderin, Angela an den Keyboards, The Rip am Baß und Sophie am Schlagzeug, erfolgreiche Arrangements mit ihren jeweiligen Arbeitgebern über die notwendigen Auszeiten getroffen hätten. „Tja, dann können wir also mit euch in allernächster Zeit ins Studio gehen und das erste professionelle Album der ‚Männer, die zum Frühstück bleiben‘ produzieren. Schön!“ Der große Produzent strich sich beruhigt über den Bauch.
In der Tat saß man zwei Wochen später im Studio, alle waren erstaunt, wie schnell Erkan Etiz ihnen die Visa hatte beschaffen können. Normalsterbliche hätten dafür erheblich länger gebraucht. Mit großem Vergnügen stürzte man sich in die Arbeit und spielte einen Track nach dem anderen ein. Die Sessions begannen immer am frühen Nachmittag, Jannifer stieß in der Regel erst hinzu, nachdem sie im Museum fertig war. Die anderen jungen Frauen hatten ohnehin genug damit zu tun, die Nummern auf das erwartete musikalisch-technische Niveau zu bringen, das von Erkans Leuten erwartet wurde. Jede von ihnen mußte mit der Enttäuschung leben, daß an bestimmten Punkten Studiomusiker ihren Teil übernahmen und sie in der Zeit ins Café geschickt wurden. „Das ist keine Schande“, hatte der berühmte Produzent gesagt. „Ihr glaubt gar nicht, für welch illustre Stars wir hier auch schon Studiomusiker eingesetzt haben. Studiozeit ist einfach zu teuer, um sich auch nur mit kleineren menschlichen Unzulänglichkeiten aufhalten zu können. Immerhin ist es ja eure Idee, die da produziert wird. Wenn ihr später live spielt, ist das alles kein Drama. Da fallen technische Unebenheiten eh nicht auf. „Und wenn es einmal ein Live-Album geben sollte?“, fragte Squid etwas zaghaft. „Mädchen, das wird genauso im Studio nachproduziert wie ein normales Album. Wir nehmen die besten Teile, schmeißen sie in den Computer, und dann gibt’s jede Menge Overdubs von unserer Crew.“ Zwei Studiomusiker, die gerade eine Kaffeepause machten, nickten gutmütig, wenn nicht leicht belustigt.
Für Jannifer wurde der Spagat zwischen der Arbeit für das Museum und für die Band indes immer größer. Sie war froh, daß sie bei Hermine wohnte, die nicht nur sehr verständnisvoll war, sondern sie gelegentlich auch noch mit Leckereien verwöhnte und niemals Fragen stellte wie woher, warum und wieso. Ihre Freizeit ging gegen null, und so war es nicht verwunderlich, daß Männer derzeit keine Rolle in ihrem Leben spielten. Bei Curtis, ihrer Ex-Affäre, meldete sie sich nicht. Mit zunehmendem Abstand von den Ereignissen wollte sie dem Rockmusiker immer weniger glauben, daß mit der Japanerin nichts gewesen sei. Umgekehrt hörte sie auch nichts von ihm. In bezug auf Lance spürte sie einen gewissen Schmerz, oder eher eine Wehmut. Die gewesene Tiefe ihrer Beziehung ging ihr nach, eine Fortsetzung schien ihr derzeit unmöglich. Insgeheim war sie froh, daß Lance nach Los Angeles zurückgekehrt war. So groß New York, allein Manhattan, auch immer war, es wäre bedrückend gewesen, ihn in der gleichen Stadt zu wissen. Die permanente Beschäftigung mit der Ausstellung einerseits, der Band andererseits, brachte sie oft an den Rand der Erschöpfung, half ihr aber auch hervorragend bei der Verdrängung.
Es war erstaunlich, wie schnell das erste richtige Album der ‚Männer, die zum Frühstück bleiben‘ fertiggestellt und die Promomaschine angelaufen war. Erkan Etiz hatte sich nicht lumpen lassen und sogar einen Videoclip produziert. Einige Radiostationen waren auf Anhieb angetan von den ‚German Chicks‘ und spielten regelmäßig den zuerst ausgekoppelten Song. Es gab erste Presseinterviews, und dann forderte das gesamte Momentum einen baldigen Tourbeginn. Immer wieder war es Jannifer gelungen, mit Unterstützung des Produzenten Pressetermine und andere Verpflichtungen so zu legen, daß sie ohne Konflikt mit der Tätigkeit im Museum daran teilnehmen konnte. Für das Video hatte sie zwei Tage Krankheit vorgetäuscht. Das Verständnis von Erkan Etiz für ihr Dilemma war jedoch begrenzt, und er rief sie zu sich. „Jannifer, bei allem was recht ist, Du mußt dich jetzt entscheiden. Spätestens mit Beginn der Tour ist es nicht mehr möglich, parallel für das Museum zu arbeiten. Wir wollen, daß das Projekt funktioniert, und investieren hier sehr viel …“
Es half alles nichts. Jannifer mußte Eva, ihrer ehemaligen Praktikumsleiterin, und Ellen Fissler-Walpole, der von ihr so verehrten Kuratorin, für die sie arbeiten durfte, reinen Wein einschenken. Bei strahlendem Sonnenschein hatte sie die beiden auf einen Drink ins Dachcafé eingeladen. Sie hoffte, daß sich die dortige Atmosphäre positiv auf die Reaktion der beiden auswirken würde. „Ich bin völlig zerrissen“, hob sie an. „Wie noch nie zuvor in meinem Leben.“ Ihre Gäste schauten sie erwartungsvoll an. „Dann schieß mal los!“ Jannifer stockte einen Moment, bevor sie begann. „Über Wochen und Monate habe ich mich gestreckt, sowohl den musealen als auch den musikalischen Anforderungen auf höchstem Niveau zu entsprechen. Nun aber gehen mir ein wenig die Kräfte aus – was noch das kleinere Problem wäre –, vor allem aber steht die Tour an. Das macht natürlich unmöglich, daß ich sowohl hier arbeite als auch an anderen Orten Konzerte gebe.“ An den Gesichtern ihrer Gegenüber war für eine gewisse Zeit Hochachtung vor der kräftemäßigen Leistung Jannifers abzulesen. Zu den hochgezogenen Augenbrauen gesellten sich jedoch bald nach unten hängende Mundwinkel. Ellen Fissler-Walpole seufzte. „Ausgerechnet jetzt. Wie sollen wir dich in dieser wichtigen Phase der Ausstellungsvorbereitung ersetzen?“ Jannifer zuckte beim Wort ‚ersetzen‘ zusammen. Wollte sie ersetzt werden? Welch großartige Zukunft konnte vor ihr liegen, mit einer erfolgreichen Involvierung in einer der großen Sonderausstellungen des Metropolitan Museums, neben der weltberühmten Kuratorin! Was konnte sich aber andererseits entwickeln, wenn das Bandprojekt hier in den USA richtig abheben würde? Ihr seit vielen Jahren gehegter Wunsch, ein weiblicher Rockstar zu werden, schien zum Greifen nahe. Jedenfalls würde sie auch diese Chance nie wieder in ihrem Leben bekommen. Sie verfluchte es, so sehr zwischen den Stühlen zu stehen. Zwei gleich starken und gegenläufigen Interessen, nein, Leidenschaften, unterworfen zu sein, die sie nicht vereinen konnte. Schnell bemühte Jannifer sich, Eva und Ellen zu erklären, daß sie nur auf die Situation habe verweisen wollen. „Ich habe ja noch gar keine Entscheidung getroffen. Natürlich bin ich überglücklich, an den ‚Neuen alten Meistern‘ mitwirken zu können. Das Gespräch war wirklich notwendig, damit ich mir selbst Klarheit verschaffe. Jetzt weiß ich aber, wo es hingeht.“
Sie log, denn sie wußte gar nichts. Allenfalls, daß sie die ganze Nacht wachliegen würde, mit der Qual, tatsächlich die Weichen stellen zu müssen. Sie war am Scheideweg angekommen. Und es konnte nur noch in die eine oder die andere Richtung gehen. Ein wirkliches Zurück gab es danach nicht mehr, jedenfalls nicht auf absehbare Zeit. Eva und Ellen sahen sie mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Vorwurf an. Offenbar glaubten sie ihr kein Wort mehr. Sie wandten das Thema nun fachlichen Aspekten der Ausstellung zu und erhoben sich dabei mit aufgesetzter Freundlichkeit. Jannifer fühlte sich von einem Moment zum anderen wie ausgeschlossen. „In zehn Tagen wollte ich nach Amsterdam fliegen“, sagte Ellen, „eigentlich hatte ich dich dahin mitnehmen wollen. Na, vermutlich muß ich ja jetzt allein fliegen!“ Ihr bemühtes Lächeln wirkte alles andere als neutral. „Ach, ich hab’ da noch was“, sagte Eva zu Ellen und zog sie am Arm zur Seite. Die beiden schoben den Gang hinunter, blieben zwischendurch mehrfach stehen und steckten die Köpfe zusammen. Jannifer blieb einen Moment wie angewurzelt stehen. Sie kam sich vor wie ein begossener Pudel. Es war ihr, als würde sie wie durch eine langsame, aber stetige Kamerafahrt weggeführt von den beiden, von der Ausstellung, und vom Metropolitan Museum. Schließlich begann sie loszulaufen, unbewußt auf das Südende zu, und in einem großen Bogen, um nicht wieder auf die beiden zu treffen.
Wenige Minuten später stand sie wieder vor dem Bild der Mrs. Hammersley. Mrs. Hammersley saß entspannt, die Hände über dem Schoß verschränkt, und lächelte sie aufmunternd an. Nur kurz fiel Jannifers Blick auf die schadhafte Stelle am Sofarand. Sie schien kleiner zu sein und weniger durchlässig als zuvor. Jannifer vermied es jedoch, zu nah auf das Gemälde zuzutreten. Sie lächelte zurück, drehte sich dann auf dem Absatz um und verließ das Museum rasch.
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_Der Rückflug von New York war unproblematisch gewesen. Bis zum Passieren der Sicherheit hatte sich Fetan, die wundersame Eidechse, zwar so fest in seinen Bauch gekrallt, daß es schmerzhaft gewesen war. Dafür danach aber so entspannt, daß sie fast abgerutscht wäre und Lance sie nur im letzten Moment noch fangen konnte, bevor es ein Aufsehen gegeben hätte. Das sprechende Reptil aus dem Griffith Park in den Hügeln Hollywoods, mit Hilfe von Dr. Watermans Salbe gesundgepflegt, war ihm treuer Begleiter und Ratgeber geworden.
Am LAX wurden sie bereits von Raymond erwartet, dem es eine Ehre war, seinen Untermieter persönlich abzuholen. Natürlich in dessen Ford Crown Victoria, der ihm wochenlang kostenfrei zur Verfügung gestellt worden war. „Soviel habe ich ihn ja nicht benutzt …“, sagte Raymond, ohne Lance dabei anzusehen. Dieser schaute erst gar nicht auf den Meilenzähler. „Der Wagen hat sich super gemacht“, strahlte Raymond. „Ich habe praktisch nur Benzin und gelegentlich Öl eingefüllt.“ Lance nickte anerkennend. Der Wohnungsgeber wechselte das Thema. „Bei mir läuft übrigens alles bestens. Das Drehbuch ist praktisch fertig und so gut wie verkauft. Man hat mir versichert, daß nur noch ein paar geschäftstechnische Aspekte zu klären sind.“ In der Ivar Street angekommen, half ihm Raymond, das Gepäck in die Wohnung zu tragen, und händigte ihm dann den Wagenschlüssel wieder aus. „Tausend Dank noch mal. Ist mir mehrfach sehr gelegen gekommen. – Wenn der erste Scheck für das Drehbuch eintrifft, lasse ich dir einen Monat mietfrei!“ Raymond legte den Kopf gönnerhaft in den Nacken und erwartete offenbar eine tiefe Dankesbekundung. „Sicher!“ lächelte Lance neutral. Da lehnte sich der Drehbuchautor ja gewaltig aus dem Fenster. Die ganze Zeit hatte er seinen Wagen benutzen dürfen, und außerdem hatte er die Miete für ein leerstehendes Zimmer weiterbezahlt. Nun, das letztere konnte man Raymond wohl nicht zum Vorwurf machen. Denn schließlich hatte er ja auch an niemand anderen vermietet. Aber erst wollte Lance abwarten, bis der Scheck des Produzenten tatsächlich eintraf.