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Wieder einmal
für
Zelda
Dann trage den Goldhut, falls sie das rührt;
Kannst du hoch springen, so spring auch für sie,
Bis dass sie ruft: »Geliebter, goldbehuteter,
hoch springender Geliebter,
Dich muss ich haben!«
THOMAS PARKE D’INVILLIERS
In meinen jüngeren und verletzlicheren Jahren hat mir mein Vater einen Rat erteilt, den ich seitdem immer wieder in meinem Herzen bewege.
»Wann immer dir danach ist, jemanden zu kritisieren«, sagte er mir, »bedenke, dass nicht alle Menschen auf dieser Welt dieselben Vorteile genossen haben wie du.«
Mehr sagte er nicht, aber auf unsere zurückhaltende Art hatten wir uns schon immer außerordentlich gut verstanden, und ich begriff, dass er erheblich mehr damit sagen wollte. Infolgedessen neige ich dazu, mich jeden Urteils zu enthalten, eine Gewohnheit, die mir viele eigenartige Naturen erschlossen hat, die mich aber auch zum Opfer nicht weniger altgedienter Langweiler werden ließ. Zeigt sich diese Eigenschaft in einem durchschnittlichen Menschen, spüren ungewöhnliche Geister sie rasch auf und halten sich daran fest, und so kam es, dass man mich auf dem College zu Unrecht beschuldigte, ein kluger Taktierer zu sein, da ich in den geheimen Kummer unbekannter ausschweifender Männer eingeweiht war. Die meisten dieser vertraulichen Bemerkungen fielen unaufgefordert – oft täuschte ich Schlaf, Fahrigkeit oder ablehnende Ungezwungenheit vor, sobald ich einem untrüglichen Zeichen entnahm, dass mir eine intime Enthüllung bevorstand; denn die intimen Enthüllungen junger Männer oder zumindest die Worte, mit denen sie diese zum Ausdruck bringen, sind gewöhnlich nur nachgeahmt und durch offensichtliche Verdrängung entstellt. Sich jeden Urteils zu enthalten ist eine Sache unendlicher Hoffnung. Ich fürchte noch immer, etwas zu übersehen, wenn ich mir nicht vor Augen führe, dass das Gespür für die Grundregeln des Anstands, wie mein Vater einst überheblich behauptete und wie ich es hier überheblich wiederhole, von Geburt an ungleich verteilt ist.
Und nachdem ich mich so mit meiner Toleranz gebrüstet habe, erfolgt nunmehr das Geständnis, dass diese Toleranz auch ihre Grenzen hat. Das Betragen eines Menschen mag auf hartem Felsen gebaut sein oder auf feuchten Sümpfen, doch von einem gewissen Punkt an ist es mir gleichgültig, worauf es gebaut ist. Als ich letzten Herbst von der Ostküste zurückkam, hätte ich die Welt am liebsten für immer in Uniform und in einer Art moralischer Hab-achtstellung gesehen; ich wollte keine turbulenten Streifzüge mehr, die mir vertrauliche Einblicke in das menschliche Herz verschaffen. Einzig und allein Gatsby, dem dieses Buch seinen Namen verdankt, blieb von meiner Reaktion verschont – Gatsby, der für alles stand, was ich aus tiefster Seele verachte. Wenn die Persönlichkeit eine ununterbrochene Folge geglückter Gesten ist, dann hatte er etwas Blendendes, eine erhöhte Empfindsamkeit für die Verheißungen, die das Leben bereithält, so als sei er mit einer jener komplizierten Apparaturen verwandt, die ein Erdbeben auf zehntausend Meilen registrieren. Diese Sensibilität hatte nichts mit der passiven Empfänglichkeit zu tun, die man mit der Bezeichnung »schöpferisches Temperament« adelt – es war ein außergewöhnliches Talent zur Hoffnung, eine Bereitschaft zur Romantik, wie ich sie noch bei keinem anderen Menschen gefunden habe und wohl auch nie wieder finden werde. Nein – letztendlich war Gatsby in Ordnung; was mein Interesse an den kümmerlichen Sorgen und kurzlebigen Freuden der Menschen vorübergehend lähmte, waren die Nachstellungen, denen er sich ausgesetzt sah, die schmutzige Staubwolke, die seine Träume aufwirbelten.
Meine Familie – bedeutende, wohlhabende Leute – lebt seit drei Generationen in dieser Stadt im Mittleren Westen. Die Carraways sind eine Art Clan, und es gibt da eine Überlieferung, der zufolge wir von den Herzogen von Buccleuch abstammen, doch eigentlicher Begründer meiner Linie war der Bruder meines Großvaters, der im Jahre einundfünfzig hierherkam, einen Stellvertreter in den Bürgerkrieg entsandte und den Eisenwarengroßhandel aufbaute, den mein Vater noch heute fortführt.
Ich habe diesen Großonkel nie kennengelernt, doch man sagt, ich sähe ihm ähnlich – mit besonderem Verweis auf das recht nüchterne Gemälde, das in Vaters Kontor hängt. 1915, nur ein Vierteljahrhundert nach meinem Vater, schloss ich mein Studium in New Haven ab, und bald darauf nahm ich an jener verspäteten germanischen Völkerwanderung teil, die als der »Große Krieg« bekannt ist. Ich genoss den Gegenschlag so gründlich, dass ich als ruheloser Mensch zurückkehrte. Der Mittlere Westen, statt wärmender Mittelpunkt der Welt zu sein, erschien mir jetzt wie der zerklüftete Rand des Universums – also beschloss ich, an die Ostküste zu gehen und den Wertpapierhandel zu erlernen. Jeder, den ich kannte, war im Wertpapierhandel tätig, deshalb nahm ich an, dass dieser auch noch einen weiteren alleinstehenden Mann ernähren könne. Alle meine Tanten und Onkel erörterten die Angelegenheit, als ginge es darum, eine Privatschule zur Vorbereitung meiner höheren Bildung auszuwählen, und sagten schließlich mit sehr ernster, zögerlicher Miene: »Nun ja – äh.« Vater erklärte sich bereit, mich ein Jahr lang zu unterstützen, und nach mehrfachem Aufschub kam ich im Frühjahr zweiundzwanzig an der Ostküste an – wie ich glaubte, für immer.
Zweckmäßig wäre es gewesen, mir eine Wohnung in der Stadt zu nehmen, aber es war warm für die Jahreszeit, und ich hatte eben erst eine ländliche Gegend mit ausgedehnten Rasenflächen und freundlichen Bäumen zurückgelassen; als mir daher ein junger Mann im Büro vorschlug, gemeinsam ein Haus in einem Außenbezirk zu mieten, hörte sich das wie eine großartige Idee an. Er fand auch das Haus, einen verwitterten, windschiefen Bungalow für achtzig Dollar im Monat, doch in letzter Minute beorderte die Firma ihn nach Washington, und ich zog allein aufs Land. Ich besaß einen Hund – wenigstens besaß ich ihn für ein paar Tage, ehe er mir davonlief –, einen alten Dodge und eine finnische Haushälterin, die mein Bett machte, mir das Frühstück zubereitete und am Elektroherd finnische Spruchweisheiten vor sich hin murmelte.
Ein, zwei Tage lang war es einsam, bis mich eines Morgens ein Mann auf der Straße anhielt, der noch später eingetroffen war als ich.
»Wie kommt man nach West Egg?«, fragte er hilflos.
Ich gab ihm Auskunft. Und als ich weiterging, war ich schon nicht mehr einsam. Ich war Fremdenführer, Pfadfinder, erster Siedler. Denn ganz nebenbei hatte er mir das Bürgerrecht unseres Viertels verliehen.
Und so überkam mich angesichts des Sonnenscheins und der Blätter, die wie im Zeitraffer aus den Bäumen hervorbrachen, das vertraute Gefühl, mit diesem Sommer beginne das Leben noch einmal von vorn.
Zum einen gab es so viel zu lesen und so viel frische Gesundheit, die man mit der jungen, atemspendenden Luft einsaugen konnte. Ich kaufte mir ein Dutzend Bücher zum Bank- und Kreditwesen sowie zu Anlagepapieren; gleichsam frisch gemünzt standen sie in Rot und Gold auf meinem Regal und versprachen, mir jene strahlenden Geheimnisse zu enthüllen, von denen nur ein Midas, ein Morgan und ein Maecenas wussten. Und ich hegte die feste Absicht, außer diesen auch noch viele andere Bücher zu lesen. Schon auf dem College hatte ich mich schriftstellerisch betätigt – ein Jahr lang schrieb ich für die Yale News schwülstige und einfallslose Leitartikel –, und jetzt würde ich all diesen Dingen mehr Platz in meinem Leben einräumen und wieder der beschränkteste aller Spezialisten werden: ein »vielseitig gebildeter Mann«. Dies ist mehr als nur ein Epigramm – von einem einzigen Fenster aus lässt sich das Leben schließlich sehr viel erfolgreicher betrachten.
Es war reiner Zufall, dass ich mich in einer der seltsamsten Gemeinden Nordamerikas eingemietet hatte. Das Haus lag auf jener schmalen, turbulenten Insel, die sich von New York genau nach Osten erstreckt und neben anderen natürlichen Kuriositäten zwei ungewöhnliche Landformationen aufweist. Zwanzig Meilen vor der Stadt ragen, aus Anstand von einer Bucht getrennt, zwei riesige eiförmige Gebilde von gleichem Umriss in die gezähmtesten Salzgewässer der westlichen Hemisphäre, den großen nassen Scheunenhof des Long-Island-Sunds. Sie sind nicht vollkommen oval, sondern wie das Ei des Kolumbus unten flachgedrückt, doch für die Möwen, die über sie hinweggleiten, dürfte ihre äußere Ähnlichkeit eine Quelle ständiger Verwunderung sein. Für ungeflügelte Wesen ist ein anderes Phänomen interessanter: dass sie sich, von Form und Größe einmal abgesehen, in jeder Hinsicht unterscheiden.
Ich wohnte in West Egg, dem – nun ja, weniger eleganten der beiden, obwohl der bizarre und geradezu unheimliche Kontrast zwischen ihnen damit nur oberflächlich bezeichnet ist. Mein Haus lag genau auf der Spitze des Eies, nur fünfzig Meter vom Sund entfernt, eingezwängt zwischen zwei imposanten Villen, die für zwölf- oder fünfzehntausend Dollar pro Saison vermietet wurden. Die zu meiner Rechten war in jeder Beziehung eine kolossale Anlegenheit – der exakte Nachbau eines Hôtel de Ville in der Normandie, mit einem funkelnagelneuen Turm auf einer Seite, an dem ein dünner Bart aus frischem Efeu spross, einem marmornen Swimmingpool und einer mehr als vierzig Morgen großen Gartenanlage. Das war Gatsbys Villa. Oder besser gesagt, da ich Mr. Gatsby ja noch nicht kannte, eine Villa, die von einem Gentleman dieses Namens bewohnt wurde. Mein eigenes Haus war ein Schandfleck, aber ein kleiner Schandfleck, der übersehen worden war, so dass ich mich der Aussicht aufs Wasser, eines Teilblicks auf den Rasen meines Nachbarn und der tröstlichen Nähe von Millionären erfreuen konnte – und all das für achtzig Dollar im Monat.
Auf der anderen Seite der Bucht glitzerten längs der Küste die weißen Paläste des eleganten East Egg, und die Geschichte jenes Sommers beginnt so richtig erst mit dem Abend, als ich hinüberfuhr, um bei den Buchanans zu dinieren. Daisy war meine Großcousine zweiten Grades, und Tom kannte ich vom College. Und kurz nach dem Krieg hatte ich zwei Tage mit ihnen in Chicago verbracht.
Daisys Mann war, neben verschiedenen anderen sportlichen Leistungen, einer der eindrucksvollsten Ends gewesen, die je in New Haven Football gespielt hatten – gewissermaßen eine nationale Berühmtheit, einer von jenen Männern, die es mit einundzwanzig zu so großer, wenn auch begrenzter Vollendung bringen, dass alles, was darauf folgt, nach Enttäuschung schmeckt. Seine Familie war unermesslich reich – schon im College wurde ihm sein leichtfertiger Umgang mit Geld zum Vorwurf gemacht –, doch nun hatte er Chicago verlassen und war an die Ostküste übergesiedelt, und zwar in einem Stil, der einem den Atem verschlug. So hatte er zum Beispiel aus Lake Forest eine ganze Koppel Polo-Ponys mitgebracht. Es war schwer zu glauben, dass ein Mann aus meiner Generation reich genug war, um sich so etwas zu leisten.
Weshalb sie an die Ostküste gezogen waren, weiß ich nicht. Ohne ersichtlichen Grund hatten sie ein Jahr in Frankreich verbracht und sich dann rastlos von Ort zu Ort treiben lassen, wo immer man Polo spielte und gemeinsam seinen Reichtum genoss. Dieser Umzug sei von Dauer, hatte Daisy am Telefon gesagt, aber ich glaubte ihr nicht – zwar konnte ich ihr nicht ins Herz sehen, doch mir schien, Tom werde sich für immer weitertreiben lassen auf der leicht wehmütigen Suche nach dem dramatischen Getümmel eines unwiederbringlich verlorenen Footballspiels.
Und so kam es, dass ich an einem warmen, windigen Abend nach East Egg hinüberfuhr, um zwei alte Freunde zu besuchen, die ich kaum kannte. Ihr Haus war noch prunkvoller, als ich erwartet hatte: ein fröhlicher rot-weißer Herrensitz im georgianischen Kolonialstil mit Blick auf die Bucht. Der Rasen begann gleich am Strand und lief, Sonnenuhren, Ziegelwege und leuch-tende Rabatten überspringend, eine Viertelmeile lang auf das Hauptportal zu – und als er schließlich das Haus erreichte, schob er sich wie vom Schwung seines Laufes angetrieben in hellen Ranken an der Wand empor. Die Fassade gliederte sich in mehrere Fenstertüren, die an dem warmen, windigen Abend weit offenstanden und jetzt in seinem goldenen Widerschein erglänzten, und auf der Eingangsveranda stand breitbeinig und in Reitkleidung Tom Buchanan.
Seit seiner Zeit in New Haven hatte er sich verändert. Inzwischen war er ein stämmiger Dreißigjähriger mit strohigem Haar, recht hartem Mund und herablassendem Auftreten. Zwei arrogant blitzende Augen beherrschten sein Gesicht und verliehen ihm ein Aussehen, als beuge er sich stets angriffslustig vor. Nicht einmal der affektierte Pomp seiner Reitkleidung konnte die gewaltige Kraft seines Körpers verbergen – die glänzenden Stiefel schien er so weit auszufüllen, dass die Schnürsenkel zu zerreißen drohten, und bei jeder Bewegung seiner Schulter zeichneten sich unter seiner dünnen Reitjacke riesige Muskelpakete ab. Es war ein zu ungeheuren Kraftakten fähiger Körper – ein grausamer Körper.
Seine Sprechstimme, ein schroffer, heiserer Tenor, trug zu dem Eindruck von Streitsucht, den er vermittelte, noch bei. Es schwang darin ein Hauch väterlicher Verachtung mit, selbst Menschen gegenüber, die er mochte – und in New Haven hatte es Männer gegeben, die ihn auf den Tod nicht ausstehen konnten.
»Glaub bloß nicht, dass das mein letztes Wort in dieser Angelegenheit ist«, schien er zu sagen, »nur weil ich stärker und männlicher bin als du.« Auf dem College hatten wir derselben Senior Society angehört, und obwohl wir einander nie nähergekommen waren, hatte ich doch stets den Eindruck, dass er mich schätzte und sich auf seine unwirsche, trotzige und doch wehmütige Art wünschte, dass ich ihn mochte.
Wir unterhielten uns ein paar Minuten auf der sonnigen Veranda.
»Ich hab’s schön hier«, sagte er, und seine Augen huschten unstet umher.
Er drehte mich am Arm herum und vollführte mit der breiten, flachen Hand eine ausladende Geste zur vorderen Aussicht hin: ein italienischer Senkgarten, ein halber Morgen satter, stark duftender Rosen und ein stumpfnasiges Motorboot, das vor der Küste auf den Wellen schaukelte.
»Das hat Demaine gehört, dem Ölmagnaten.« Wieder drehte er mich herum, höflich, aber unvermittelt. »Gehen wir hinein.«
Durch einen hohen Hausflur gelangten wir in einen hellen, rosenfarbenen Raum, der durch die Fenstertüren an beiden Enden gerade noch ins Haus eingefügt wirkte. Die Fenster waren geöffnet und hoben sich strahlend weiß von dem frischen Gras ab, das ein Stück weit ins Haus hereinzuwachsen schien. Durch das Zimmer wehte eine Brise, wehte die Vorhänge wie bleiche Fahnen an einem Ende herein und am anderen hinaus, bauschte sie zum Zuckergussstuck der Zimmerdecke auf und kräuselte sie auf dem weinroten Teppich, wo sie Schatten warfen wie ein Wind auf dem Meer.
Der einzig vollkommen unbewegliche Gegenstand im Raum war eine riesige Couch, auf der zwei junge Frauen schwebten wie in einem am Boden verankerten Fesselballon. Beide waren ganz in Weiß, und ihre Kleider bauschten und blähten sich, als seien sie nach einem kurzen Flug ums Haus eben erst wieder hereingeweht worden. Ich muss ein paar Augenblicke lang dagestanden, dem Knattern und Flattern der Vorhänge und dem Ächzen eines Bildes an der Wand gelauscht haben. Da schloss Tom Buchanan mit einem Knall die hinteren Fenster, der im Zimmer gefangene Wind erstarb, und die Vorhänge, die Teppiche und die beiden jungen Frauen sanken langsam zu Boden.
Die jüngere der beiden war mir unbekannt. Der Länge nach ausgestreckt und völlig regungslos lag sie an ihrem Ende des Diwans. Das Kinn hatte sie leicht angehoben, als balanciere sie darauf etwas, das jeden Moment herunterfallen mochte. Falls sie mich aus dem Augenwinkel gesehen hatte, so ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken – tatsächlich hätte ich zu meiner Überraschung beinahe eine Entschuldigung gemurmelt, weil ich sie durch mein Eintreten gestört hatte.
Das andere Mädchen, Daisy, unternahm einen Versuch, sich zu erheben – mit pflichtbewusster Miene beugte sie sich ein wenig vor –, dann gab sie ein albernes, aber charmantes kleines Lachen von sich, und auch ich lachte und trat weiter ins Zimmer.
»Ich b-bin wie gelähmt vor Glück.«
Wieder lachte sie, als habe sie etwas sehr Geistreiches gesagt, und hielt einen Augenblick lang meine Hand. Dabei sah sie mich von unten herauf an mit einem Blick, der mir verhieß, dass sie niemanden auf der Welt lieber sehen wollte als mich. Das war so ihre Art. Mit einem Murmeln deutete sie an, der Nachname des balancierenden Mädchens sei Baker. (Ich habe sagen hören, mit ihrem Gemurmel wolle Daisy die Leute nur dazu bringen, sich zu ihr zu neigen; ein unerheblicher Einwand, der ihr Gemurmel nicht weniger charmant machte.)
Jedenfalls zuckten Miss Bakers Lippen, sie nickte mir fast unmerklich zu und warf den Kopf dann rasch wieder zurück – offenbar war der Gegenstand, den sie balancierte, ins Wanken geraten und hatte ihr einen Schrecken eingejagt. Wieder lag mir eine Art Entschuldigung auf der Zunge. Fast jede Zurschaustellung uneingeschränkter Selbstgenügsamkeit nötigt mir sprachlose Anerkennung ab.
Ich blickte wieder zu meiner Cousine, die mir mit ihrer leise prickelnden Stimme Fragen zu stellen begann. Es war die Sorte Stimme, deren Auf und Ab man allein mit dem Gehör folgt, als bestünde jede Rede aus einem Arrangement von Noten, die so nie wieder erklingen werden. Ihr Gesicht war traurig und hübsch und hatte etwas Leuchtendes an sich: leuchtende Augen und einen leuchtenden, leidenschaftlichen Mund, doch in ihrer Stimme lag etwas Erregtes, das Männer, die sich etwas aus ihr gemacht hatten, nur schwer vergessen konnten: ein bezwingender Singsang, ein geflüstertes »Hören Sie«, eine Verlockung, als habe sie eben noch fröhliche, aufregende Dinge erlebt und als winkten in der kommenden Stunde ebenso fröhliche, aufregende Dinge.
Ich erzählte ihr, dass ich auf meiner Reise an die Ostküste einen Tag in Chicago haltgemacht hätte und ein Dutzend Leute mir Grüße an sie aufgetragen hätten.
»Vermissen sie mich?«, rief sie verzückt.
»Die Stadt ist untröstlich. Alle Autos haben das linke Hinterrad schwarz angestrichen, wie ein Trauerkranz, und am Nordufer herrscht die ganze Nacht hindurch anhaltendes Wehklagen.«
»Wie herrlich! Lass uns zurückgehen, Tom. Gleich morgen!« Dann setzte sie belanglos hinzu: »Du solltest die Kleine sehen.«
»Gern.«
»Sie schläft. Sie ist zwei Jahre alt. Hast du sie noch nicht gesehen?«
»Nein, noch nie.«
»Nun, du solltest sie sehen. Sie ist –«
Tom Buchanan, der rastlos im Zimmer umhergewandert war, blieb stehen und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Was machst du so, Nick?«
»Ich bin Wertpapierhändler.«
»Bei wem?«
Ich sagte es ihm.
»Nie gehört«, äußerte er entschieden.
Das ärgerte mich.
»Wirst du schon noch«, antwortete ich knapp. »Falls du an der Ostküste bleibst.«
»Ach, ich bleibe an der Ostküste, keine Sorge«, sagte er, blickte zu Daisy und dann wieder zu mir, als sei er auf mehr gefasst. »Ich wäre ein gottverdammter Narr, wollte ich irgendwo anders leben.«
In diesem Augenblick sagte Miss Baker: »Allerdings!«, und zwar so plötzlich, dass ich erschrak – es war das erste Wort, das sie gesprochen hatte, seit ich ins Zimmer gekommen war. Offenbar überraschte es sie genauso wie mich, denn sie gähnte und erhob sich mit einer Reihe flinker, gewandter Bewegungen von der Couch.
»Ich bin ganz steif«, klagte sie, »ich liege schon seit einer Ewigkeit auf diesem Sofa.«
»Sieh mich nicht so an«, konterte Daisy, »ich versuche schon den ganzen Nachmittag, dich nach New York zu lotsen.«
»Nein, danke«, sagte Miss Baker zu den vier Cocktails, die eben aus dem Anrichteraum gekommen waren. »Ich bin doch im Training.«
Der Hausherr sah sie ungläubig an.
»Ach ja?« Er stürzte seinen Drink hinunter, als sei dieser nur ein Tropfen am Boden des Glases. »Wie du jemals was gebacken kriegst, ist mir ein Rätsel.«
Ich schaute Miss Baker an und fragte mich, was sie wohl »gebacken kriegen« sollte. Es machte mir Spaß, sie anzuschauen. Sie war ein schlankes Mädchen mit kleinen Brüsten und einer aufrechten Haltung, die sie noch betonte, indem sie ihren Körper an den Schultern zurückwarf wie ein junger Kadett. Ihre grauen, sonnengeblendeten Augen in dem blassen, charmanten, unzufriedenen Gesicht erwiderten meinen Blick mit höflicher Neugier. Jetzt fiel mir ein, dass ich sie, oder ein Bild von ihr, schon einmal irgendwo gesehen hatte.
»Sie wohnen in West Egg«, bemerkte sie verächtlich. »Da kenne ich jemanden.«
»Ich kenne keinen einzigen –«
»Sie müssen doch wohl Gatsby kennen.«
»Gatsby?«, wollte Daisy wissen. »Welchen Gatsby?«
Bevor ich antworten konnte, dass er mein Nachbar sei, wurde das Essen angekündigt; Tom Buchanan hakte sich mit straff gespanntem Arm herrisch bei mir unter und schob mich aus dem Zimmer, als rücke er eine Damefigur von einem Feld aufs nächste.
Schlank, träge, die Hände locker in die Hüften gestützt, schritten die beiden Frauen uns voran auf eine in Rosarot getauchte Veranda, die sich zum Sonnenuntergang hin öffnete. Auf dem Tisch flackerten vier Kerzen im Wind, der nachgelassen hatte.
»Wozu denn Kerzen?«, protestierte Daisy mit gerunzelter Stirn. Sie löschte sie mit den Fingern. »In zwei Wochen ist der längste Tag im Jahr.« Sie blickte uns strahlend an. »Sehnt ihr auch immer den längsten Tag im Jahr herbei und verpasst ihn dann? Ich sehne immer den längsten Tag im Jahr herbei und verpasse ihn dann.«
»Wir sollten etwas unternehmen«, gähnte Miss Baker und setzte sich an den Tisch, als wolle sie sich ins Bett legen.
»Na schön«, sagte Daisy. »Was wollen wir denn unternehmen?« Hilflos wandte sie sich an mich: »Was unternimmt man denn so?«
Noch bevor ich antworten konnte, heftete sie ihren Blick mit einem ehrfurchtsvollen Ausdruck auf ihren kleinen Finger.
»Seht nur!«, beschwerte sie sich. »Ich habe mich verletzt.«
Wir alle sahen hin – der Knöchel war grün und blau.
»Das warst du, Tom«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich weiß, du hast es nicht mit Absicht getan, aber getan hast du’s. Das habe ich nun davon, dass ich einen Rohling geheiratet habe, ein großes, massiges, bulliges Exemplar von –«
»Ich hasse das Wort ›bullig‹«, protestierte Tom verärgert, »auch wenn es scherzhaft gemeint ist.«
»Bullig«, beharrte Daisy.
Manchmal sprachen sie und Miss Baker gleichzeitig, doch ihr unaufdringliches, neckisches Geplänkel war nie geschwätzig; es war so kühl wie ihre weißen Kleider und ihre teilnahmslosen Blicke, denen jedes Verlangen fehlte. Sie waren einfach da, und sie duldeten Tom und mich und bemühten sich nur der Höflichkeit und Freundlichkeit halber, uns zu unterhalten oder von uns unterhalten zu werden. Sie wussten, das Essen würde bald vorbei sein, und etwas später würde auch der Abend vorbei sein, achtlos abgelegt. Ganz anders als im Westen, wo man einen solchen Abend bis zum Schluss von einem Abschnitt zum nächsten trieb, in ständiger Erwartung, enttäuscht zu werden, oder aber in bloßem nervösem Grauen vor dem Augenblick selbst.
»Bei dir fühle ich mich so unzivilisiert, Daisy«, gestand ich bei meinem zweiten Glas korkigen, aber ziemlich beeindruckenden roten Bordeauxweins. »Kannst du nicht mal über Nutzpflanzen oder so was in der Art reden?«
Meine Bemerkung zielte auf nichts Besonderes, wurde aber auf unerwartete Weise aufgegriffen.
»Die Zivilisation geht in die Brüche«, stieß Tom heftig hervor. »Mittlerweile bin ich in diesen Dingen ein schrecklicher Pessimist geworden. Hast du den Aufstieg der farbigen Völker von diesem Goddard gelesen?«
»Nein. Wieso?«, antwortete ich, ziemlich überrascht von seinem Ton.
»Nun, es ist ein gutes Buch, und jeder sollte es lesen. Es geht darum, dass die weiße Rasse, wenn wir uns nicht vorsehen, völlig unterjocht werden wird. Alles ganz wissenschaftlich belegt und bewiesen.«
»Tom wird immer tiefsinniger«, sagte Daisy mit einer Miene gedankenloser Traurigkeit. »Er liest tiefgründige Bücher mit schwierigen Wörtern. Wie hieß doch gleich das Wort, das wir –«
»Diese Bücher sind eben alle ganz wissenschaftlich«, beharrte Tom und warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. »Der Kerl hat alles ausgetüftelt. Wir, die herrschende Rasse, müssen auf der Hut sein, sonst werden die anderen Rassen die Führung übernehmen.«
»Wir müssen sie niederwerfen«, flüsterte Daisy und zwinkerte grimmig in die glühende Sonne.
»Ihr solltet in Kalifornien leben –«, begann Miss Baker, aber Tom unterbrach sie, indem er heftig auf seinem Stuhl hin und her rutschte.
»Es geht darum, dass wir der nordischen Rasse angehören. Ich und du, und du und –« Nach einem winzigen Zögern bezog er mit einem leichten Kopfnicken auch Daisy ein, und wieder zwinkerte sie mir zu. »Und wir haben alles hervorgebracht, was die Zivilisation ausmacht – oh, Wissenschaft und Kunst und all das. Versteht ihr?«
Seine Konzentration hatte etwas Rührendes, wie wenn seine Selbstzufriedenheit, die schriller klang als früher, ihm nicht mehr genüge. Als gleich darauf im Haus das Telefon klingelte und der Butler die Veranda verließ, nutzte Daisy die vorübergehende Unterbrechung und neigte sich zu mir.
»Ich will dir ein Familiengeheimnis verraten«, flüsterte sie begeistert. »Es betrifft die Nase des Butlers. Möchtest du von der Nase des Butlers hören?«
»Deshalb bin ich heute abend doch gekommen.«
»Nun, er war nicht immer Butler; früher war er Silberputzer bei Leuten in New York, die ein Silberservice für zweihundert Personen besaßen. Das musste er von morgens bis abends putzen, bis schließlich seine Nase davon in Mitleidenschaft gezogen wurde –«
»Die Sache wurde immer schlimmer«, soufflierte Miss Baker.
»Ja. Die Sache wurde immer schlimmer, bis er seine Stellung am Ende aufgeben musste.«
Einen Moment lang fielen mit romantischer Zuneigung die letzten Sonnenstrahlen auf ihr glühendes Gesicht; ihre Stimme fesselte mich an sie, während ich atemlos lauschte – dann verblasste das Glühen, und mit zögerndem Bedauern ließ ein Lichtstrahl nach dem anderen von ihr ab wie Kinder, die bei Einbruch der Dämmerung eine freundliche Straße verlassen.
Der Butler kam zurück und flüsterte Tom etwas ins Ohr, worauf dieser stirnrunzelnd seinen Stuhl zurückschob und wortlos ins Haus ging. Als ob seine Abwesenheit etwas in ihr zum Leben erweckt hätte, beugte Daisy sich abermals vor; ihre Stimme glühte und sang.
»Es ist so schön, dich an meinem Tisch zu haben, Nick. Du erinnerst mich an eine – an eine Rose, eine vollkommene Rose. Nicht wahr?« Zustimmung heischend wandte sie sich an Miss Baker: »Eine vollkommene Rose?«
Das war nicht richtig. Ich habe nicht das geringste mit einer Rose gemein. Daisy improvisierte nur, aber dabei verströmte sie eine so mitreißende Wärme, als versuche ihr Herz, das sich in einem dieser atemlosen, beschwörenden Wörter verbarg, zu mir durchzudringen. Dann warf sie plötzlich ihre Serviette auf den Tisch, entschuldigte sich und ging ebenfalls hinein.
Miss Baker und ich tauschten einen kurzen, absichtlich nichtssagenden Blick. Als ich eben sprechen wollte, richtete sie sich wachsam auf und zischte in warnendem Ton: »Pst!« Aus dem Zimmer hinter uns war gedämpftes, aber leidenschaftliches Gemurmel zu vernehmen, und schamlos beugte Miss Baker sich vor, um besser zu hören. Das zitternde Gemurmel war jetzt beinahe zu verstehen, sank ab, schwoll aufgeregt wieder an und verstummte schließlich ganz.
»Dieser Mr. Gatsby, von dem Sie gesprochen haben, ist mein Nachbar –«, setzte ich an.
»Reden Sie nicht. Ich möchte hören, was vorgeht.«
»Geht denn etwas vor?«, fragte ich unschuldig.
»Wollen Sie etwa sagen, Sie wissen es noch nicht?«, fragte Miss Baker ehrlich überrascht. »Ich dachte, alle wüssten es.«
»Ich nicht.«
»Nun –«, sagte sie zögernd. »Tom hat da so eine Frau in New York.«
»Hat da so eine Frau?«, wiederholte ich verblüfft.
Miss Baker nickte.
»Sie sollte wenigstens den Anstand haben, nicht während des Abendessens anzurufen. Finden Sie nicht?«
Noch ehe ich den Sinn ihrer Bemerkung begriffen hatte, rauschte ein Kleid, knirschten Lederstiefel, und Tom und Daisy kamen wieder an den Tisch.
»Es ließ sich nicht ändern!«, rief Daisy mit verkrampfter Fröhlichkeit.
Sie setzte sich, warf erst Miss Baker, dann mir einen prüfenden Blick zu und fuhr fort: »Ich habe kurz nach draußen geschaut, draußen ist es sehr romantisch. Auf dem Rasen sitzt ein Vogel, ich glaube, eine Nachtigall, die auf einem Dampfer der Cunard oder der White Star Line gekommen ist. Sie singt vor sich hin –« Und Daisy sang: »Romantisch, nicht wahr, Tom?«
»Sehr romantisch«, sagte er, und dann kläglich zu mir: »Wenn es nach dem Abendessen noch hell genug ist, möchte ich dir die Stallungen zeigen.«
Wieder läutete drinnen aufrüttelnd das Telefon, und als Daisy Tom ansah und entschlossen den Kopf schüttelte, verflüchtigte sich das Gesprächsthema Stallungen und jedes andere Gesprächsthema gleich mit. Zu den Bruchstücken der letzten fünf Minuten bei Tisch gehört die Erinnerung, dass die Kerzen unsinnigerweise wieder angezündet wurden und ich mir des Wunsches bewusst war, allen direkt ins Gesicht zu sehen und doch aller Augen zu meiden. Was in Daisy und Tom vorging, konnte ich nicht erraten, aber ich bezweifle, dass selbst Miss Baker, die eine gewisse gesunde Skepsis beibehalten zu haben schien, das schrille metallische Drängen dieses fünften Gastes völlig überhören konnte. Gewisse Temperamente hätten die Situation wohl faszinierend gefunden – mein eigener Instinkt sagte mir, ich solle unverzüglich die Polizei herbeirufen.
Von den Pferden war natürlich keine Rede mehr. Tom und Miss Baker schlenderten – ein, zwei Meter Dämmerlicht zwischen sich – zurück in die Bibliothek wie zu einer Nachtwache bei einem ganz konkreten Leichnam, während ich, freundliches Interesse und leichte Taubheit vortäuschend, Daisy über eine Reihe miteinander verbundener Terrassen zur Veranda vor dem Haus folgte. In tiefer Dunkelheit nahmen wir nebeneinander auf einem Korbsofa Platz.
Daisy legte die Hände vors Gesicht, als wolle sie dessen hübsche Form betasten, dann richtete sie allmählich den Blick in den samtenen Dämmer. Ich sah, dass stürmische Empfindungen sie quälten, und so stellte ich ihr ein paar Fragen zu ihrer kleinen Tochter, mit denen ich sie zu beruhigen hoffte.
»Wir kennen einander nicht sehr gut, Nick«, sagte sie plötzlich. »Obwohl du mein Cousin bist. Zu meiner Hochzeit bist du nicht gekommen.«
»Ich war noch nicht aus dem Krieg zurück.«
»Richtig.« Sie zögerte. »Nun, mir ist es sehr schlecht ergangen, Nick, und ich bin ziemlich zynisch geworden – in allem.«
Offenbar hatte sie guten Grund dazu. Ich wartete, aber sie redete nicht weiter, und nach einem kurzen Moment wandte ich mich etwas zaghaft wieder dem Thema ihrer Tochter zu.
»Ich nehme an, sie kann schon sprechen und – essen und so.«
»O ja.« Sie sah mich abwesend an. »Hör zu, Nick, ich will dir erzählen, was ich bei ihrer Geburt gesagt habe. Möchtest du es wissen?«
»Sehr gern.«
»Das wird dir zeigen, was ich inzwischen empfinde – über die Dinge. Nun, sie war nicht einmal eine Stunde alt, und Tom trieb sich Gott weiß wo herum. Ich erwachte aus dem Ätherrausch mit einem Gefühl völliger Verlassenheit und fragte die Schwester gleich, ob es ein Junge oder ein Mädchen sei. Sie antwortete, es sei ein Mädchen, und ich wandte den Kopf ab und weinte. ›Nun gut‹, sagte ich, ›ich bin froh, dass es ein Mädchen ist. Und ich hoffe, sie wird ein Dummchen werden – das ist noch das Beste, was ein Mädchen auf dieser Welt sein kann, ein hübsches, kleines Dummchen.‹
Du siehst, ich finde sowieso alles grässlich«, fuhr sie überzeugt fort. »So denken alle – die fortschrittlichsten Leute. Und ich weiß es. Ich bin überall gewesen, habe alles gesehen und alles getan.« Ihre Augen huschten trotzig umher, fast so wie Toms, und sie brach in durchdringendes Hohngelächter aus. »Blasiert – Gott, bin ich blasiert!«
Sobald sie verstummt war und ihre Stimme nicht länger meine Aufmerksamkeit, meine Gläubigkeit erzwang, verspürte ich das grundlegende Unaufrichtige all dessen, was sie gesagt hatte. Mir wurde unbehaglich zumute, als sei der ganze Abend nur ein Trick gewesen, um mir ein Gefühl der Anteilnahme zu entlocken. Ich wartete ab, und tatsächlich sah sie mich gleich darauf mit einem völlig gezierten Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht an, so als habe sie ihre Mitgliedschaft in einem ziemlich exklusiven Geheimbund beteuert, dem sie und Tom angehörten.
Das karmesinrote Zimmer drinnen war in Licht getaucht. Tom und Miss Baker saßen jeder an einem Ende der langen Couch, und sie las ihm aus der Saturday Evening Post vor – die eintönig dahinplätschernden Worte flossen zu einer besänftigenden Melodie zusammen. Das Lampenlicht lag hell auf seinen Stiefeln und matt auf ihrem herbstlaubgelben Haar, und wenn sie mit dem Spiel ihrer schlanken Armmuskeln eine Seite umblätterte, schimmerte das Papier auf.
Als wir eintraten, gebot sie uns mit erhobener Hand, einen Augenblick zu schweigen.
»Fortsetzung folgt«, sagte sie dann und schleuderte die Zeitschrift auf den Tisch, »in unserer nächsten Ausgabe.«
Ihr Körper brachte sich mit einer unruhigen Bewegung des Knies zur Geltung, und sie stand auf.
»Zehn Uhr«, bemerkte sie; offenbar las sie die Zeit von der Zimmerdecke ab. »Dieses brave Mädchen gehört jetzt ins Bett.«
»Jordan spielt morgen im Turnier«, erklärte Daisy, »drüben in Westchester.«
»Ach – Sie sind Jordan Baker.«
Jetzt wusste ich, warum ihr Gesicht mir bekannt vorkam – diese reizend geringschätzige Miene hatte mich schon aus vielen Kupfertiefdruckbildern von Sportereignissen in Asheville, Hot Springs und Palm Beach angeblickt. Ich hatte auch schon eine Geschichte über sie gehört, eine bedenkliche, unerfreuliche Geschichte, aber längst vergessen, worum es dabei ging.
»Gute Nacht«, sagte sie leise. »Weckt mich doch bitte um acht.«
»Wenn du dann aufstehst.«
»Das werde ich. Gute Nacht, Mr. Carraway. Ich sehe Sie bald wieder.«
»Natürlich wirst du das«, bekräftigte Daisy. »Im Ernst, ich glaube, ich werde eine Ehe stiften. Komm oft herüber, Nick, dann werde ich euch – ach – irgendwie verkuppeln. Du weißt schon – euch versehentlich in Wäscheschränke sperren oder in einem Boot auf dem Meer aussetzen, etwas in der Art –«
»Gute Nacht«, rief Miss Baker von der Treppe. »Ich habe kein Wort gehört.«
»Sie ist ein nettes Mädchen«, sagte Tom kurz darauf. »Man sollte sie nur nicht so im Land herumstreunen lassen.«
»Wer sollte das nicht?«, erkundigte sich Daisy kühl.
»Ihre Familie.«
»Ihre Familie besteht aus einer Tante, die ungefähr tausend Jahre alt ist. Außerdem wird Nick sich um sie kümmern, nicht wahr, Nick? Diesen Sommer wird sie viele Wochenenden hier verbringen. Ich glaube, der häusliche Einfluss wird ihr sehr guttun.«
Daisy und Tom sahen sich einen Moment lang schweigend an.
»Ist sie aus New York?«, fragte ich rasch.
»Aus Louisville. Dort haben wir unsere unschuldigen weißen Mädchenjahre miteinander verbracht. Unsere wunderschönen unschuldigen weißen –«
»Hast du Nick auf der Veranda dein Herz ausgeschüttet?«, wollte Tom plötzlich wissen.