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E-book 045
Erscheinungstermin: 01.10.2017

Herausgeberinnen

Jutta Ehmke
und
Silke Alagöz

Das Vermächtnis der Astronautengötter

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Ein e-book
aus dem Verlag
Saphir im Stahl

Vorwort zur Anthologie

„Das Vermächtnis der
Astronautengötter“

von Präastronautik-Experte Walter-Jörg Langbein

In der Anthologie „Das Vermächtnis der Astronautengötter“ wurden 20 Texte zu einer ansprechenden Geschichtensammlung zusammengefasst – Kurzgeschichten, die mehr als bloße Unterhaltung zu bieten haben.

Es geht um die Geschichte unseres Planeten, die womöglich sehr viel faszinierender verlaufen ist, als uns gängige Geschichtsbücher vermitteln. Seit Jahrzehnten warten Vertreter der Prä-Astronautik mit Fakten auf, die Besuche Außerirdischer in grauer Vorzeit auf unserem Planeten zu belegen scheinen. Seit Jahrzehnten erkennen wir reale „Science-Fiction“ in Mythen wie „Heiligen Büchern“. Immer vertrauter werden uns vorgeschichtliche Besucher aus dem Kosmos, wenn wir uns nur auf sie einlassen.

Seit Jahrzehnten werden Indizien für die Präsenz von „Astronautengöttern“ gesammelt und wir erfahren von Funden, die so gar nicht in das schulwissenschaftliche Bild der Vergangenheit von „Terra“ passen. So manche Funde und Fakten, das wissen nicht nur eingefleischte Prä-Astronautiker, regen die Fantasie an. Die Grenze zwischen trockener Lehre, wie sie an Schulen und Universitäten gepredigt wird, und dem Reich von Fiktion scheint immer mehr zu verschwimmen. Das ist gut so; wirklicher Fortschritt ist anders nicht möglich.

Vor gar nicht so vielen Jahrzehnten noch waren Überlegungen zu einer bemannten Mission zu Mond und Mars ausschließlich kühnen Fabulierern vorbehalten. Inzwischen haben Menschen mehrfach den Mond besucht, sind gar in einem fahrbaren Untersatz auf dem Gesicht des Erdtrabanten unterwegs gewesen. Eine ständige Präsenz von Menschen auf dem Mond wäre heute schon möglich, die bemannte Mars-Mission ist kaum noch als echte Utopie zu bezeichnen. Es sind leider knappe finanzielle Ressourcen, die heute den Weltraumpionieren Fesseln anlegen.

Ganz ohne störende Fesseln fabulieren die Autoren der Anthologie „Das Vermächtnis der Astronautengötter“. Exakt dort wird angesetzt, wo Fakten zum Fantasieren anregen. Was sich Wissenschaftler wie Sachbuchautoren verkneifen müssen, das dürfen wir, nein müssen wir von der Fantasy erwarten. Besonders faszinierend freilich sind kühne Geschichten, wenn sie einen realen Hintergrund haben. Das gilt in besonderem Maße für die Anthologie „Das Vermächtnis der Astronautengötter“: Wir lassen uns von Alexander Knörr entführen und begleiten lesend „Elias’ Himmelfahrt“. Wir folgen Leif Inselmann zum „Grab des Anunnaki“. Wir lassen uns auf Aikaterini Maria Schlösser ein und lesen die faszinierende Kurzgeschichte von Göttern, Tod und Urknall, „Goldenes Grab“.

Lassen Sie sich auf eine vielseitige Anthologie ein. Lassen Sie sich unterhalten und zum Nachdenken anregen. Lesen Sie in Jutta Ehmkes „Der Untergang der Lor“: „Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, als er in den Gleiter stieg. Wie würden die Akan reagieren, wenn er Vaters Unterstützung und die Techno-Magie nicht länger besaß? Würde man einen verstoßenen Gott mit einem Teufel gleichsetzen?“

Science-Fiction? Vor Jahrtausenden können unsere Vorfahren einen Gleiter, der vom Himmel schwebte, nur als himmlische oder höllische Erscheinung empfunden haben. Vor Jahrtausenden waren Astronautengötter für die Menschen auf Erden Götter, Teufel, Engel oder Geister. Vor Jahrtausenden kann Raumfahrttechnik in den Augen der Menschen nur Magie gewesen sein. Außerirdische, die uns nur einige Jahrtausende voraus wären, sie erschienen uns zu Beginn des dritten Jahrtausends auch als Magier. Dabei halten wir uns doch für so aufgeschlossen und fortschrittlich!

Folgen wir lesend Peter Hoefts „Spuren“. Sie führen uns in eine fantastische Vergangenheit, die sehr viel zu tun hat mit Gegenwart und Zukunft des Menschen. Folgen wir einigen Autoren, die als Verfasser von Sachbüchern die fantastische Vergangenheit erkunden und nun als faszinierende Fabulierer auch wirklich lesenswerte Kurzgeschichten zu bieten haben. Folgen wir Schöpfern von vordergründig fiktiven Kurzgeschichten, in denen aber viel mehr Realität steckt, als man auf Anhieb wahrnimmt. Folgen wir den Beiträgen einer Anthologie, die uns allesamt als Reiseführer dienen können: an die Grenzen dessen, was heute noch als „Wirklichkeit“ zu gelten hat … und darüber hinaus!

Lesen Sie, so wie ich gelesen habe, ohne Scheuklappen, ohne Vorbehalte gegenüber einer Wirklichkeit, die meiner Überzeugung nach schon vor vielen Jahrtausenden fantastischer war, als wir uns das wirklich vorzustellen wagen. Lassen wir unseren Horizont erweitern. Bringen wir doch den Mut auf, Vergangenheit wie Zukunft durch die Brille der Fantasie zu betrachten. Wie das geht? Das zeigt uns die Anthologie „Das Vermächtnis der Astronautengötter“.

Viel Spaß beim Schmökern!

Walter-Jörg Langbein

Vorwort der Herausgeberinnen

„Das Vermächtnis der
Astronautengötter“

von Jutta Ehmke und Silke Alagöz

Astronautengötter und Fantasy – passt das zusammen?

Bis dato war uns der Begriff hauptsächlich aus den Theorien kontrovers denkender Wissenschaftler vertraut. Es geht um außerirdische Intelligenzen, die in der Frühgeschichte der Menschheit die Erde besucht und ihre Spuren hinterlassen haben sollen. Dank überlegener Technologie sollen Aliens die Menschheit vorangebracht haben und für Götter gehalten worden sein.

Staunenswertes entdeckt, wer sich auf das Gebiet der Prä-Astronautik wagt: Gigantische Felszeichnungen, deren Geheimnisse sich nur aus himmlischen Höhen offenbaren. Antike Darstellungen, die moderner Technologie zum Verwechseln ähneln. Uralte Legenden aus aller Welt, in denen von Gottheiten erzählt wird, die von den Sternen kamen.

Was dran ist an den Astronautengöttern, muss jeder für sich entscheiden – dass sie unsere Phantasie beflügeln, steht außer Frage.

So nimmt sich die Science-Fiction-Literatur seit Jahren des Themas an, legt ihren Fokus aber naturgemäß auf technische Visionen oder fragt nach wissenschaftlicher Erreichbarkeit. Fantasy dagegen kann noch mehr: Sie reißt uns in die Tiefen der Sagenwelt, versetzt uns in Trance und bringt uns die Götter mit allen Sinnen nahe. Nun sind sie nicht länger abstrakte Theorien, Abbilder in kaltem Gestein, Namen auf verstaubtem Pergament. Auge in Auge stehen wir ihnen gegenüber, erliegen ihrem Zauber, werden Zeuge ihrer Herrschaft, leiden mit oder unter ihnen.

Unsere Autoren begeistern mit 20 spannenden, lustigen oder nachdenklichen Geschichten und beweisen, dass das Thema Astronautengötter nicht nur den faktenorientierten Wissenschaftlern der Prä-Astronautik, sondern auch den Freunden gepflegter Fantasy fesselnden Stoff zu liefern vermag.

Jutta Ehmke und Silke Alagöz

Das Vermächtnis der
Astronautengötter

Inhaltsverzeichnis

Aikaterini Maria Schlösser

Goldenes Grab

Peter Hoeft

Spuren

Jutta Ehmke

Das Ding hat Zähne

Britta Bendixen

Gipfeltreffen

Torsten Low

Abgestürzt

Silke Alagöz

Der letzte Hybrid

Brigitte Lüdecke

Die Bezeichnung soll Mensch sein

Nadine Buch

Das Band des Anubis

Ulrich Borchers

Atlantis

Alexander Knörr

Elias’ Himmelfahrt

Ganaga Sivanolisingam

Das Pushpaka-Vimana

Rainer Schorm

Ediacara

Frederik Elting

Die weiße Pyramide

Leif Inselmann

Das Grab des Anunnaki

Jutta Ehmke

Der Untergang der Lor

Silke Alagöz

Wie die Tiere auf die T-Pfeiler kamen

Florian Kugel

Der Priester und die Jungfrau

Thomas Williams

Flowerpowergirls gone wild

Andreas Dörr

Das Vermächtnis des Reisenden

Martina Ohler

Weltraummüll

Die Autoren

Goldenes Grab

Aikaterini Maria Schlösser

Celine überblickte staunend den hohen Gewölberaum aus Sandstein. Erst verspätet bemerkte sie, dass ihr die Kinnlade heruntergefallen war, und klappte den Mund schnell wieder zu.

In ihrer Euphorie spürte sie kaum die drückende Hitze und hörte nur dumpf die hallenden Stimmen ihrer Mitschüler aus der Abschlussklasse. Sie wollte gar nicht daran denken, dass sie anfangs nicht auf die Schulreise nach Ägypten hatte mitkommen wollen und damit beinah das größte Abenteuer ihres Lebens verpasst hätte.

Aber jetzt war sie hier, im Museum von Kairo. Drei Stockwerke voller Artefakte, wovon jedes Einzelne sein eigenes Geheimnis barg. Selbst wenn sie für Wochen in diesen Hallen eingesperrt wäre, sie hätte sich noch immer nicht satt gesehen.

Celine beugte sich vor, um die Informationstafel einer Statue zu lesen, als ihr Sichtfeld plötzlich von Weiß eingenommen wurde.

„Die Mumie schlägt zu!“, grölte Dennis hinter ihr und umwickelte ihren Kopf, wie Celine nun erkannte, mit Klopapier.

Sie riss das Papier herunter und rückte ihre Hornbrille zurecht.

„Ha, ha, sehr witzig.“ Nicht genug, dass sie wegen dem Sandstaub in der Luft ihre Kontaktlinsen gegen dieses Monster von Brille hatte eintauschen müssen; sie war auch noch beliebtes Opfer für allerlei Streiche ihrer Mitschüler.

Überhaupt war sie seit der Landung zum Sonderling in der Gruppe geworden. Während ihre Klassenkameraden stets auf Selfies und Spaß aus waren, blieb sie bei den Infotafeln hängen oder fuhr mit der Fingerspitze die eingemeißelten Hieroglyphen nach. Von dieser uralten Kultur, mochte sie auch als untergegangen betitelt sein, strömte eine Magie aus, die Celine noch nirgendwo so gespürt hatte.

Trotz der Hitze stellten sich plötzlich die feinen Härchen in ihrem Nacken auf, als hätte eine Geisterhand über ihre Haut gestrichen. Lauerte ihr etwa schon wieder Dennis auf? Die Stirn zerfurcht, drehte sie sich um. Doch hinter ihr stand niemand.

Da ragte nur dieser Steinsarkophag an der gegenüberliegenden Wand auf, gänzlich aus schwarzem Granit geschlagen. Er war gewaltig, musste an die vier Meter in der Länge und drei in der Höhe messen.

Als würde ein Sog von ihm ausgehen, verlor sich Celines Blick, ihre Gedanken, ihr Geist in ihm. Sie spürte ein Ziehen in jeder Faser ihres Körpers, musste näher, musste zu ihm. Selbstständig setzten sich ihre Füße in Bewegung, doch fühlte sie ihre eigenen Schritte nicht mehr, schwebte durch den Raum.

Keine Abbildungen wie bei den anderen Steinsärgen waren auf dem Sarkophag zu erkennen, nur endlos viele eingravierte Hieroglyphen reihten sich aneinander. Als würde Celine jemand anderen dabei beobachten, sah sie sich ihre Hand ausstrecken und auf den kühlen Stein legen.

Obwohl es unmöglich war, fühlte sie einen Puls. Einen tiefen Herzschlag von unermesslicher Kraft.

Unwillkürlich musste sie daran denken, wie sie gelesen hatte, dass beim Tod des Pharao seine Tiere und Diener getötet und zusammen mit ihm bestattet wurden. Bei der Vorstellung rieselte ihr ein Schauer wie Eiskörner den Rücken herunter.

Sie zog ihre Hand zurück und schüttelte kurz den Kopf. Ich habe bloß zu wenig geschlafen. Die halbe Nacht hatten diese elendigen Mücken sie wachgehalten. Celine horchte nach ihren Klassenkameraden; ihr Gelächter war kaum noch zu hören. Ich muss weiter.

Sie drehte dem Sarkophag den Rücken zu, als Arme sie von hinten umfassten. Voller Schrecken blickte sie an sich hinab und sah, wie Krallenhände, schwärzer als Pech, sich vor ihrer Brust überkreuzten und ihre nackten Oberarme umschlossen.

Dann wurde sie nach hinten gezogen, durch den Stein in die Dunkelheit.

Celine lag bäuchlings auf Sand. Er war so fein, dass sie die einzelnen Körner unter ihren Fingerspitzen nicht erfühlen konnte. Und er war noch warm von der Sonne. Doch nur der Mondschein schimmerte über die Sandwellen.

Wo bin ich?

Sie hob den Kopf. Sand rieselte von ihrer Wange. Unter der nachtblau leuchtenden Himmelskuppel dehnte sich bis zum Horizont endlose Wüste aus. Einzig der Hauch des Windes jagte über das Sandmeer hinweg.

Celine konnte nicht begreifen, wie sie hierhergekommen war, konnte nicht verstehen, was vor sich ging. Das Einzige, was sie erfassen konnte, war diese Stille. Etwas war anders an diesem Schweigen. Es fühlte sich unendlich an. Als gäbe es keine Stimmen mehr auf der Erde, keinen Lärm – keine Menschen.

Celine stand auf und blickte zum Halbmond in der Mitte des Himmels. Ist das … ein Traum?

„Dies ist kein Traum“, antwortete eine Stimme so tief und volltönend, als wohnten alle Klänge dieser Welt in ihr.

Celine fuhr herum und hielt den Atem an. Wenige Schritte von ihr entfernt ragte ein muskulöser Mann auf, einzig bekleidet mit einem Lendenschurz. Er war nicht bloß dunkelhäutig, seine Haut war so tiefschwarz und glänzend, als sei sie aus geschliffenem Onyx gemeißelt.

Obwohl er den Körper eines Mannes besaß, war er eindeutig keiner. Seine Arme endeten in Krallenhänden; jene Krallenhände, die Celine im Museum umschlungen und an sich gezogen hatten. Und sein Kopf mit den spitz zulaufenden, langen Ohren und der schmalen Schnauze war der eines Schakals.

Celine sah ihm entgegen, unfähig sich zu rühren, unfähig zu denken.

Er erwiderte ihren Blick mit Augen wie aus lebendigem Gold. „Weißt du, wer ich bin?“

Sie stieß die angehaltene Luft aus. „Ja“ hauchte sie voller Ehrfurcht. Sie hatte sein Abbild gesehen in Hieroglyphen, auf Papyrus, in gigantischen Statuen. „Anubis.“

Er blieb regungslos, wartete, dass sie zu Ende sprach.

„Gott der Toten“, brachte sie mit schwacher Stimme hervor.

Sein Mähnenhaar wogte weich im Wind. „Ja. Doch nun ist auch für mich die Zeit des Sterbens gekommen.“

Plötzlich stand er unmittelbar vor ihr und neigte die Schnauze zu ihr herab. Celine musste das Kinn heben, um ihm ins Gesicht zu sehen.

„Ich habe dich erwählt.“

Ihr Atem wurde flacher und rauer. Erwählt? Erwählt für was?

„Du sollst meine Braut sein. Meine Braut im Tode.“

Celines Herz setzte einen Schlag aus, wurde eins mit der Stille rings um sie herum. Dann begann es wieder zu pochen, lauter und schneller als je zuvor. Für einen Moment war sie vor Grauen gelähmt, dann schüttelte sie lächelnd den Kopf. Dass sie hier plötzlich in der Wüste war und dem ägyptischen Gott der Toten, Anubis, gegenüberstand, mochte irgendwie noch einen Sinn ergeben. Aber nicht, dass ausgerechnet sie mit ihrer dicken Hornbrille als seine Totenbraut auserwählt wurde.

Er streckte die Krallenhand nach ihren Augen aus. „Ich sehe nicht nur dein Gesicht.“ Er nahm ihre Hornbrille ab, dennoch konnte sie alles unverändert scharf erkennen. „Ich sehe deine Seele.“

Ihr Blick versank im Gold seiner Augen. Sie spürte seine unerschöpfliche Kraft, die alles erschaffen und alles zerstören konnte. Und es machte ihr entsetzliche Angst.

„Ich will nicht sterben“, wisperte sie mit bebender Stimme.

Anubis nahm sie in seine Arme, schmiegte ihre Wange dicht an seine Brust, die kühl wie der Stein des Sarkophags war. Die Umarmung ließ sie bis in die Seele erschaudern, als hätte der Tod selbst sie umfasst. Er streckte die Schnauze nach oben, und sie sah mit ihm gemeinsam hinauf.

Die Sterne begannen über ihnen zu rasen, wurden zu einem Lichtstrom, als würden sie durch die Zeit fliegen, als flössen Jahrtausende an ihnen vorbei. Celine traten Tränen in die Augen beim Anblick, der zugleich wunderschön und furchterregend war.

Unwillkürlich drückte sie sich enger an Anubis, da er ihr als Einziges Halt bot, als Einziges in diesem Strom beständig war. Auch er umschloss sie fester, als wären sie keine Fremden, sondern Geliebte, die sich nach langer Einsamkeit wiedergefunden hatten.

„Ich komme von weit her. Bin geboren aus der Dunkelheit zwischen den Sternen, noch vor dem Anfang der Zeit.“

Die Sonne stieg über den Horizont und wischte mit ihrem Schein alle Sterne fort. Aus dem Sand brachen Bäume hervor, wuchsen immer höher und verzweigten sich, bis sie mitten in einem Urwald standen. Erschrocken klammerte sich Celine in Anubis’ Rücken.

Unerwartet brach ein Affe durch das Geäst und ließ sich im Blätterregen auf den Ast vor ihnen nieder. Anubis streckte die Krallenhand nach ihm aus. „Vor vielen Sonnenaufgängen bin ich zum ersten Mal auf die Erde gekommen.“

Celine war zu überwältigt von den vielen Eindrücken, um Raum für ihre eigenen Gedanken zu haben, konnte nur beobachten.

Zögernd streckte der Affe seine behaarte Hand nach Anubis’ Krallenhand aus, dann umschlossen sich die ungleichen Finger. Wie ein Vater sein Kind bei den ersten Schritten stützt, so half Anubis dem Affen vom Ast zu steigen, die andere Hand vom Boden zu heben und sich aufzurichten.

Mit einer Gänsehaut verstand Celine, dass dies eine echte Erinnerung oder gar ein Zeitsprung war, in den Anubis sie mitgenommen hatte. Dass er es damals gewesen war, der dem Affen den Mut gegeben hatte, die Bäume zu verlassen, den Rücken zu strecken und seinen ersten Schritt als Mensch zu gehen.

Jäh zersprangen die Bäume ringsumher in unzählige Holzsplitter und trieben wieder im Strom der Zeit. Wasser sprudelte aus dem Sand hervor und streckte sich immer weiter aus, bis es als silberblaue Schlange die Wüste durchlief. Der Nil, wurde sich Celine atemlos bewusst, während die reflektierenden Funken über ihre Haut tanzten.

Ein dunkelhäutiger Mann mit schwarz umrandeten Augen stand vor ihnen am Ufer, an der Hüfte ein Fischernetz. Anubis hob die Hand über das Wasser. Die Oberfläche begann sich zu kräuseln, dann brachen winzige Goldkörner hindurch und fügten sich in seiner Hand zu einem Stab zusammen. Das Was-Zepter, erkannte Celine staunend, das Attribut des Anubis.

„Und auch ich war es, der die Gier nach Gold in den Menschen erweckte.“ Anubis übergab den Stab dem ägyptischen Mann, der demutsvoll auf die Knie fiel und den Kopf senkte.

Celine wurde kalt, als hätte die Sonne jäh all ihre Kraft verloren. Zum ersten Mal wagte sie, selbst das Wort an Anubis zu richten.

„Warum hast du das getan? Wir können das Gold nicht essen, nicht damit heilen. Und dennoch hat es so viel Leid über die Welt gebracht.“

Sie zuckte vor Schreck zusammen, als auf der anderen Seite des Ufers eine Steinspitze aus dem Boden brach. Sie wurde immer breiter, je höher sie in den Himmel wuchs. Die Pyramide von Gizeh, stellte Celine fest, als der Schatten über ihr Gesicht kroch. Im beschleunigten Fluss der Zeit sah sie hunderte Arbeiter an der Spitze, bis diese ganz vergoldet war und wie eine zweite Sonne strahlte.

Anubis’ Mähnenhaar streifte Celines Wange. „Ich brauche das Gold für mein Grab. Und ich brauche ihren Tod und ihr Blut als Opfer.“

Celines Brust wurde eng, als sie verstand. Anubis hatte den Menschen den aufrechten Gang beigebracht, damit sie mit den Händen nach dem Gold schürften, wonach es ihm so zu gieren schien.

Aus Wasser und Sand stiegen Grabsteine empor, dann bedeckte Gras die Wüste und Moos kletterte am Stein hinauf. Der Atem versagte Celine, als sie die Inschrift des Grabsteines vor ihnen las: Celine Lorenz.

Anubis fuhr mit der Kralle über ihren Namen, so wie sie mit der Fingerspitze die Hieroglyphen des Sarkophags nachgezeichnet hatte. „Du siehst hier nur den Tod.“ Er hielt bei der Jahreszahl an. „Ein Datum, das endet. Ein Mensch, der stirbt. Aber es gibt keine Zahlen. Es gibt nur das eine Universum, das sich immer wieder neu zusammenstellt.“

Bevor Celine verstehen konnte, lösten sich ihre Füße vom Boden und sie stieg zusammen mit Anubis in die Höhe. Erschrocken klammerte sie sich an seinem Arm fest. Unter ihr wurde der Friedhof immer kleiner und kleiner, bis er nur ein grüner Fleck im Betonskelett der Stadt war.

Anubis glitt mit den Fingerspitzen über ihren Handrücken, malte den Weg ihrer Adern nach. „In deinem Blut strömt das Eisen eines Ritterschwertes. In deinen Knochen ist der Staub von uralten Muscheln.“ Er fing mit seinem Krallenfinger ihre Träne auf. „In deinen Tränen schwebt das Salz des Meeres.“

Celines Herz pochte schneller und härter, je höher sie stiegen, flatterte beinah, als sie die Wolken durchbrachen.

Anubis löste die Verkrampfung aus ihrer Hand und legte ihr ein goldenes Henkelkreuz hinein, das gleichzeitig heiß und kalt pulsierte. Ankh, erkannte Celine bebend, das zweite Attribut von Anubis. Es war das Symbol für das Weiterleben nach dem Tod, auch bekannt als Lebensschleife.

„Bei deinem Heranwachsen im Schoß deiner Mutter wurdest du zusammengefügt. Im Schoß der Erde löst du dich wieder auf.“ Anubis legte seine Wange auf ihren Scheitel. „Um zu leben, müssen wir sterben.“

Celine schloss die Finger um Ankh und drückte es an ihr Herz. Als sie hinabblickte, hatten sich aus den Ländern Kontinente geformt. Zum ersten Mal wurde sie sich bewusst, wie verbunden sie mit diesem Planeten war. Sie musste sein Wasser trinken, von seiner Schöpfung essen und seine Luft einatmen, um zu überleben. Unaufhörlich wurde sie von ihm durchströmt, war nie von ihm getrennt – war eins mit ihm.

Celine konnte die Erdkrümmung ausmachen und dahinter Schwärze. Jene Dunkelheit, aus der die Gottheit, in deren Armen sie getragen wurde, geboren war. Sie wusste nicht mehr, was sie denken, was sie fühlen sollte. Es war so viel. So unglaublich viel.

Plötzlich leuchteten überall von der Erde goldene Funken wie Sterne auf. Die Goldkörner stiegen mit ihnen zusammen in den Himmel, schmiegten sich in der Luft aneinander und schwebten als Bänder aus Goldnebel empor. Während Celine die Hand in den Streifen tauchte und den Goldstaub über ihre Haut rieseln ließ, begann sie zu verstehen, mit ihrem ganzen Sein bewusst zu werden.

Wenn der Tod Wiedergeburt bedeutete, dann war Anubis’ Grab nicht nur ein Leichenbett, sondern wie der Schoß der Erde, der Schoß einer Mutter; eine Hülle, die bei der Wandlung half.

Erschrocken drehte Celine den Kopf zur Seite, als sie eine helle Gestalt ebenfalls aus der Atmosphäre der Erde dringen sah. Auch sie war ein ägyptischer Gott, doch mit weißem Manneskörper und dem Haupt eines Falken. In den Armen hielt er eine dunkelhäutige Frau mit kahlgeschorenem Kopf.

„Horus“, erklärte ihr Anubis. „Gott des Lichts. Er brachte das Feuer zu den Menschen. Lehrte sie zu verbrennen und zu wärmen.“

Celine spürte die Hitze des Feuerstrudels, der Horus folgte.

Neben ihnen flog eine weitere Gestalt empor. Kein Gott, sondern eine Göttin, den Körper so durchsichtig und schillernd wie Glas. Unter ihrem Löwenkopf hielt sie einen Albinomann umschlungen.

„Tefnut. Göttin der Tränen. Sie lehrte den Menschen zu weinen.“

Auch Celines Tränen lösten sich von ihren Wangen und schlossen sich der Wasserschlange hinter Tefnut an.

Dicht an ihr vorbei stieg noch eine Göttin auf. Ihr Körper mit dem Katzengesicht war ein Gemälde aus lebendigen Farben. In den Armen hielt sie einen alten Mann umschlossen, so behutsam, als sei er ein Neugeborenes.

„Bastet. Göttin der Freude. Sie lehrte den Menschen die Kunst, die Schöpfung aus Gedanken.“

Celine legte den Kopf in den Nacken, als Gold, Feuer, Tränen und Farben sie überholten. Jedes der Elemente formte sich zu einem Kristall zusammen, von der Größe des Mondes neben ihnen.

Särge, erkannte Celine und spürte, wie sich eine Schockwelle von ihrer Brustmitte her ausbreitete. Ihr Blick heftete sich auf den goldenen Kristall. Mein Sarg.

Anubis fuhr mit der Krallenhand unter ihre Haare und umfasste ihren Nacken.

„Was wird mit uns geschehen?“, wisperte sie dicht an seinem Hals.

„Wir werden zerspringen.“

Ein neuer Urknall, erkannte Celine überwältigt.

Der Goldstaub legte sich auf ihre Haut, kleidete sie in ihr letztes Gewand. Anubis drückte seine Wange gegen ihre Stirn, umschloss sie ganz fest.

„Bist du nun bereit zu sterben? Durch den Tod zu gehen für neues Leben?“

Celine sah ein letztes Mal auf die Erde hinab, dann schloss sie die Augen.

„Ja.“

Spuren

Peter Hoeft

Erregung ergriff Ashitaka, während sich das Schiff der Oberfläche des Planeten näherte. Noch immer, auch nach fast dreißig Jahren im Dienst der Sternenflotte, schlug sein Herz höher, wenn seine Crew und er einen unbekannten Himmelskörper ansteuerten.

Eine neue Welt – und wir sind die Ersten, die sie betreten.

Der hochgewachsene Mann wandte den Kopf und fing einen Blick seines ersten Offiziers und Steuermanns Shar auf. Die beiden kannten sich seit langer Zeit. Ashitaka wusste, was seinen Freund bewegte, besonders, wenn sie nicht in ihrer Heimatsprache miteinander redeten, sondern, wie in diesem Augenblick, telepathisch kommunizierten.

Der Kapitän nickte, erhob sich und trat an die Scheibe, die fast die gesamte Vorderseite der Brücke einnahm.

„Maximale Vergrößerung“, sagte er mit fester Stimme.

Ashitaka erkannte Einzelheiten der Vegetation des Planeten, den ihre Wissenschaftler erst vor einem halben Jahr entdeckt hatten: Anders als auf ihrem Heimatplaneten gab es hier offenbar keine üppigen Laub-, sondern ausschließlich Nadelbäume, zwischen denen die Seen als bläuliche Flecke hindurchschimmerten.

Nicht nur der Kapitän, sondern auch Shar und Quirin, der junge Bordarzt, der vor zwei Tagen seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert hatte, standen auf. Während das Raumschiff tiefer sank, traten die beiden neben Ashitaka und blickten einen Moment lang schweigend nach draußen.

„Was mag uns da unten erwarten?“, ließ sich der Mediziner schließlich vernehmen, der zum ersten Mal auf der Aurora mitflog.

„Unsere Scanner zeigen Lebensformen verschiedener Größe an“, antwortete Shar, mit hundertfünfundzwanzig Jahren der Älteste der drei Männer, „aber mehr kann ich noch nicht sagen.“

„Das Wunder des Lebens“, nickte Ashitaka. „Wie auf den meisten Planeten.“

Gedankenverloren strich er sich über den kurzgeschnittenen Kinnbart. Seit ihm das Kommando über das Schiff samt einhundert Männer und Frauen übergeben worden war, hatte er die verschiedenartigsten Wesen auf rund zwei Dutzend Planeten kennengelernt, zuletzt eine Rasse, die durch große, haarlose Köpfe auffiel, die so gar nicht zu ihren feingliedrigen Leibern passen wollten. Einer dieser kleinen Grauen, wie sie ihrer Hautfarbe und geringen Körpergröße wegen allgemein genannt wurden, hatte es geschafft, in die Mannschaft aufgenommen zu werden und arbeitete als Assistenzarzt von Quirin in der Krankenstation.

Ashitakas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als er an weitere Kontakte auf bewohnten Planeten dachte. Auf einigen waren seine Crew und er als „Götter“ verehrt worden; nach anfänglicher Furcht hatte man ihnen sogar Opfer gebracht und gebeten, sie mögen doch für gute Ernten sorgen! Für die Bewohner dieser Himmelskörper, die selbst keine Raumfahrt betrieben, war es unvorstellbar, dass es auf anderen Planeten Leben geben sollte. Ashitaka und Shar mussten also Gottheiten sein, die mit ihren fliegenden Wagen vom Himmel herabgestiegen waren.

Wie würden sie hier empfangen werden?

Die Aurora befand sich nur noch etwa dreihundert Meter über den höchsten Baumwipfeln, wo sie abbremste und schließlich stehen blieb. Die Zweige mit den langen, bläulich schimmernden Nadeln bewegten sich heftig im Wind, den das Raumschiff produzierte.

Kapitän Ashitaka registrierte eine Bewegung und kniff die Augen zusammen. Ein Tier von der Größe eines Yquatraesami – der größten Vogelart auf Ashitakas Heimatplanet im System Alpha Centauri–erhob sich von einem der Äste. Durch die Vergrößerung schien es, als flöge das Wesen mit weit gespreizten, ledrig wirkenden Flügeln dicht an der Scheibe vorbei.

„Interessant“, bemerkte Quirin, der nicht nur Medizin, sondern auch Naturwissenschaften studiert hatte.

Der Kapitän straffte die Schultern. „Gehen wir hinunter“, sagte er mit einem letzten Blick auf die Baumkronen und wandte sich um.

Die beiden anderen folgten ihm in den der Brücke gegenüberliegenden Transporterraum und betraten neben ihrem Kapitän die markierte Fläche. Selonia, eines von vierzig weiblichen Crewmitgliedern, ließ die schlanken Finger über die Tasten der Konsole gleiten. Ashitaka sah ihr zu, bis ihre Gestalt vor ihm verschwamm und das Summen des Transporterstrahls an seine Ohren drang.

Wenige Augenblicke später berührten seine Füße, die in halbhohen Stiefeln steckten, den Boden des fremden Planeten. Leichte Übelkeit stieg in ihm auf, die jedoch mit den ersten Atemzügen verschwand. Er blickte sich um, und Shar und Quirin taten es ihm gleich. Schwüle Wärme umfing die drei Raumfahrer und ließ sogleich Schweißperlen auf Ashitakas hohe Stirn treten. Einen Helm brauchten sie hier nicht, das hatte Selonia ihnen schon im Anflug auf den Planeten versichert, die Atmosphäre ähnele der auf ihrem Heimatplaneten. Bis auf die Hitze, dachte Ashitaka und verzog das Gesicht. Während er die Hand hob, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, erblickte er in der Ferne einen See, der von fremdartigen, mannshohen Pflanzen gesäumt war.

„Lasst uns dort hinübergehen“, schlug er vor, und die drei Männer setzten sich in Bewegung.

Shar, der neben ihm ging, stieß hörbar die Luft aus. Er hob einen tragbaren Scanner in die Luft. „Kein intelligentes Leben“, hörte Ashitaka ihn murmeln, während sie sich dem Ufer näherten.

Über ihnen war jetzt ein Geräusch zu hören. Ashitaka blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken. Eine fliegende Kreatur, jedoch wesentlich größer als die, die sie vom Schiff aus gesehen hatten, segelte über ihnen am strahlend blauen Himmel. Unwillkürlich hielt Ashitaka die Luft an. Allein der langgestreckte Hals des Tieres mit dem spitz zulaufenden Kopf, der in eine Art Schnabel mündete, war länger als ein ausgewachsener Mann; seine Flügelspannweite mochte sogar viermal so lang sein.

Ob man mit ihm kommunizieren kann?, fing er einen Gedanken Shars auf. Ashitaka hob die Schultern.

Ein lautes Kreischen ließ ihn zusammenzucken. Im nächsten Moment stürzte die Kreatur mit angelegten Flügeln auf die Wasseroberfläche zu. Pfeilschnell schoss sie in den See, um nur einen Augenblick später – mit einem gewaltigen, im Sonnenlicht glänzenden Fisch – aus dem Wasser aufzutauchen und sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft emporzuschwingen.

Quirin hob eine Braue und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, da erscholl ein weiteres Kreischen. Ein zweites dieser imposanten Tiere näherte sich mit weit ausgebreiteten Schwingen und aufgerissenem, zähnestarrendem Maul. Es steuerte geradewegs auf seinen etwas kleineren Artgenossen zu. Zweifellos wollte es ihm seine Beute entreißen. Mit angehaltenem Atem beobachteten der Kapitän und seine Männer das Schauspiel am Himmel. Nur wenige Momente später war der Kampf entschieden und die größere Kreatur schoss mit dem Fisch im Maul davon, bis sie den Blicken der drei Zuschauer entschwunden war. Auch der Verlierer flog davon. Kopfschüttelnd sahen Ashitaka, Shar und Quirin ihm nach.

„Gehen wir weiter“, ordnete der Kapitän an und schritt kräftig aus.

Am Rand des Sees wischte er sich erneut den Schweiß von der Stirn. Ob das Wasser ein wenig Kühlung bringen würde? Er ging in die Hocke und tauchte die Hand hinein. Im Vergleich mit der Luft war es erfrischend.

Ashitaka setzte sich auf einen moosbewachsenen Felsen und zog die Stiefel aus. Er forderte seine Männer auf, dasselbe zu tun und mit ihm ins Wasser zu kommen, aber Quirin wollte lieber am Ufer auf sie warten. „Ich passe auf eure Stiefel auf“, sagte er lächelnd.

Ashitaka und Shar wateten ins flache Wasser, nicht ohne dabei den Himmel im Auge zu behalten, an dem sich jedoch kein möglicher Angreifer zeigte.

„Ich frage mich, welche anderen Lebensformen es noch auf diesem Planeten geben mag“, dachte Ashitaka laut, während er den Blick über die Wasseroberfläche schweifen ließ, die sich leicht kräuselte, obwohl kein Windhauch zu spüren war. „Außer Fische und diesen fliegenden –“

Er brach ab, drehte sich um und lauschte. Das Geräusch kam vom Ufer. Es glich dem Schnauben, das die Xarios, eine Echsenart, welche mehrere Planeten seines Sonnensystems bevölkerte, ausstießen, sobald sie sich bedroht fühlten. Shar reckte den Hals, er hatte es ebenfalls gehört. Zu sehen war nichts. Der Kapitän blickte zu dem Felsen, wo Quirin jetzt die Hand hob und ihnen zuwinkte. Ashitaka wollte die Geste erwidern, und ließ die Hand sinken.

Da war es wieder. Diesmal sehr viel lauter.

Ashitaka verengte die Augen zu Schlitzen und suchte das Ufer nach dem Urheber des Geräusches ab. Dann, kaum einen Steinwurf von Quirin entfernt, bewegten sich die Spitzen einiger hochgewachsener Farne. Gleichzeitig erscholl ein Brüllen. Ashitaka konnte sehen, wie der junge Arzt zusammenzuckte. Dann teilten sich die Pflanzen und gaben den Blick auf eine Kreatur frei, die Ashitaka das Blut in den Adern stocken ließ. Das Tier war groß wie ein Haus!

„Das zu deiner Frage nach weiteren Lebensformen“, presste Shar neben ihm hervor.

Ashitaka heftete erneut den Blick auf Quirin. Der ging hinter dem kaum mannshohen Felsen in Deckung. Zu spät! Die Kreatur hatte ihn bereits entdeckt und stampfte geradewegs auf Quirins Versteck zu.

Ohne den Blick von der Bestie zu wenden, tastete der Kapitän nach der Strahlenwaffe, die in seinem Gürtel steckte. Seine Hand umfasste den Griff, zog sie heraus – und in diesem Moment entglitt sie seiner schweißnassen Hand und fiel platschend ins knietiefe Wasser.

Ashitakas Lippen entwich ein Fluch. Er beugte sich nach unten, suchte im schlammigen Boden nach der Waffe. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, ertasteten seine Finger das Metall. Ashitaka richtete sich auf, zielte auf den Kopf der Bestie und schoss. Doch kein Strahl verließ den Lauf! Das Wasser hatte sie funktionsuntüchtig gemacht!

Ashitaka fluchte erneut. „Gib mir deine!“ schrie er, an Shar gewandt.

Doch es war zu spät. Die Bestie machte zwei federnde Schritte auf den Felsen zu, hinter dem Quirin sich zusammenkauerte. Ihr Kopf senkte sich herab, bis kaum eine Handbreit Raum mehr zwischen ihr und dem jungen Arzt war. Dann riss sie das Maul auf, und im nächsten Moment schlossen sich die gewaltigen Kiefer um Quirins Oberkörper! Sein Schrei wurde über das Wasser zu den beiden Männern herübergetragen, um dann jäh zu verstummen.

Ashitaka wollte den Blick abwenden, doch er konnte es nicht. Wie gelähmt beobachtete er das furchtbare Geschehen, das sich am Ufer abspielte. Blut schoss aus Quirins weit geöffnetem Mund und färbte den sandigen Boden rot. Dann öffneten sich die Kiefer des Tieres, und der junge Mann fiel auf den Boden. In Ashitaka stieg Übelkeit auf, und auch Shars sonst bräunliche Gesichtsfarbe war jetzt nahezu weiß.

„Der arme Kerl“, brachte er tonlos hervor.

Ashitaka nickte. „Ein grausamer Tod. Und so sinnlos“, sagte er düster. „Ich weiß gar nicht, wie ich es seiner Frau beibringen soll.“

Der junge Arzt hatte erst vor acht Wochen an Bord der Aurora geheiratet, eine der Krankenschwestern. Finster starrte der Kapitän zum Ufer hinüber, wo die Bestie jetzt an Quirins Leichnam schnüffelte.

Ashitaka hob den linken Arm, an dessen Handgelenk sich ein kleines Gerät befand, und drückte eine winzige Taste. „Selonia, holen Sie uns an Bord“, befahl er.

Shar runzelte die Stirn. „Du willst seine sterblichen Überreste hierlassen?“

„Ich glaube nicht, dass wir es mit dem