Verlag C.H.Beck
Dieses Buch bietet einen Überblick über die Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Untersucht werden sowohl das Spielregelwerk, welches die Verfassung der Politik vorgibt, als auch die Verfassungswirklichkeit. Dabei werden die wichtigsten politischen Institutionen, ihre Funktionsweise sowie die Grundzüge der Innen- und Außenpolitik beschrieben, erklärt und bewertet. Behandelt werden das Grundgesetz, die Wähler und ihr Wahlverhalten, Parteien und Verbände, die Medien, der Bundestag, die Bundesregierung, der Föderalismus sowie Weichenstellungen der deutschen Innen- und Außenpolitik seit 1949, einschließlich der Europäisierung des Regierungssystems.
Manfred G. Schmidt ist Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Demokratie- und vergleichenden Staatstätigkeitsforschung, u.a. Wohlfahrtsstaatliche Politik unter bürgerlichen und sozialdemokratischen Regierungen – Ein internationaler Vergleich (Frankfurt a. M. – New York 1982), Political Institutions in the Federal Republic of Germany (Oxford 2003), Wörterbuch zur Politik (Stuttgart 32010), Sozialpolitik in Deutschland – Historische Entwicklung und internationaler Vergleich (Wiesbaden 32005), Demokratietheorien (Wiesbaden 52010), Der deutsche Sozialstaat (München 2012), The Rise and Fall of a Socialist Welfare State (mit Gerhard A. Ritter, Berlin-Heidelberg 2013), Das politische System Deutschlands (München 32016).
Einleitung
I. Spielregeln der Verfassung
1. Rechtsstaat, Republik, Demokratie, Bundesstaat, Sozialstaat und «offener Staat»
2. Verfassung und Verfassungswirklichkeit
3. Politisch-institutionelle Ergebnisse
II. Wähler, Wahlsystem und Wahlverhalten
1. Wählerschaft
2. Wahlsystem
3. Wahlbeteiligung
4. Wen die Wähler wählen
5. Bundestags- und Landtagswahlen
III. Parteien, Verbände und Massenmedien: Vermittler zwischen Bürgern und Staat
1. Deutschlands wichtigste politische Parteien
2. Parteiensystem
3. Ein Verbändestaat?
4. Massenmedien als vierte Gewalt?
IV. Der Deutsche Bundestag
1. Ein parlamentarisches Regierungssystem – kein Präsidentialismus
2. Zwischen Mehrheitsentscheid und «Staat der Großen Koalition»
3. Parlamentsfunktionen: Wahlen, Gesetzgebung, Kontrolle, Kommunikation
4. Das mächtigste Parlament auf dem Kontinent?
V. Die Exekutive des Bundes: starke Kanzler, geschwächte Präsidenten
1. Parlamentarisches Regierungssystem mit Kanzlerdominanz
2. Wie Bundeskanzler gewählt werden
3. Machtmittel der Bundesregierung
4. Der Staat der vielen Mitregenten und Vetomächte
VI. Ein Staat mit 17 Regierungen: Deutschlands Föderalismus
1. Wie Bundesländer und Bundesrat mitregieren
2. Der unitarische Bundesstaat
3. Polyzentrismus, Fragmentierung und Politikverflechtung
4. Hoher Kooperationsbedarf und Dauerwahlkampf
5. Sozialstaatsföderalismus
6. Deutschlands Bundesstaat im internationalen Vergleich
VII. Deutschland in der Europäischen Union
1. Europäisierung des politischen Systems
2. Gewinner und Verlierer der Europäisierung
3. Europäisierung der Staatsaufgaben: Trends seit 1957
4. Schattenseiten der Europäisierung
VIII. Innen- und Außenpolitik seit 1949: Weichenstellungen und Ergebnisse
1. Außenpolitische Grundentscheidungen
2. Innenpolitische Weichenstellungen
3. Die Politik des mittleren Weges
4. Stärken und Schwächen der Politik in Deutschland
Anmerkungen
Weiterführende Literatur
Dieses Buch beschreibt, erklärt und bewertet die Politik in Deutschland.[1]
Es unterrichtet die Leser über die Grundzüge des politischen Systems im Lande und informiert sie über die politischen Institutionen, die Prozesse der politischen Willensbildung sowie über Grundlinien der innen- und außenpolitischen Staatstätigkeit seit 1949, dem Geburtsjahr der Bundesrepublik Deutschland.
Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert. Sein erstes Kapitel analysiert die Spielregeln von Deutschlands Staatsverfassung, so wie sie das Grundgesetz festschreibt: Bundesstaat, Demokratie, Rechtsstaat, Republik, soziales Staatsziel und ein sogenannter offener Staat, der Souveränitätsrechte an zwischenstaatliche Einrichtungen abgeben darf, sind die wichtigsten Bestimmungen. Das zweite Kapitel handelt vom Souverän der Demokratie, den Wählern. Hier wird berichtet, mit welchem Wahlsystem und wen die Wähler wählen. Das dritte und das vierte Kapitel rücken die wichtigsten Institutionen der politischen Willensbildung in den Vordergrund – die Parteien, die Verbände, die Massenmedien und den Deutschen Bundestag.
Wer in Deutschland regiert, regiert nicht allein. Jede Bundesregierung und jede Landesregierung bekommt dies tagtäglich zu spüren. Besonders eng wird der Spielraum für die Bundestagsmehrheit und die von ihr getragene Bundesregierung, wenn ihnen im Bundesrat, der Ländervertretung, eine parteipolitisch gegnerische Mehrheit gegenübersteht. Davon berichten das fünfte und das sechste Kapitel. Darüber sollen die beachtlichen Machtressourcen der Bundesregierung nicht zu kurz kommen. Dennoch lautet am Ende die Diagnose: Regieren in Deutschland heißt Regieren im «halbsouveränen Staat». Zur Ausstattung des halbsouveränen Staates gehören der Föderalismus mit samt der im Bundesrat verankerten Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes, eine sehr starke rechtsprechende Gewalt mit dem mächtigen Bundesverfassungsgericht an der Spitze und eine autonome Zentralbank. Insbesondere vom Tun und Lassen der insgesamt 17 Regierungen in Deutschlands Bundesstaat ist im sechsten Kapitel die Rede.
Geprägt wurde Deutschland auch von der Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Von ihren Tendenzen und ihren Grenzen handelt das siebte Kapitel. Grundzüge der Staatstätigkeit im Sinne von Innen- und Außenpolitik, ihren Produkten und ihren Ergebnissen zeichnet der Verfasser im achten Kapitel nach. Dort wird außerdem berichtet, welche Aufgaben die Politik in Deutschland bislang nicht gelöst oder nicht überzeugend gemeistert hat.
Das Buch zeigt, dass Machtaufteilung statt Machtkonzentration die deutsche Politik nach 1949 charakterisiert – ein fundamentaler Unterschied sowohl zum nationalsozialistischen Deutschland wie auch zur sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik. Damit kommt die Bundesrepublik dem Typ der «Verhandlungsdemokratie» nahe, die ein Merkmal etlicher kleinerer Staaten ist. Deutschland ist aber kein Kleinstaat, sondern ein zumindest wirtschaftlich potenter Großstaat. Im Unterschied zu einer typischen Großmacht tritt Deutschland aber nicht als militärisch gerüsteter Machtstaat auf, sondern als «Handelsstaat» (Michael Staack 2000), der seinen Einfluss mit Handel und anderen wirtschaftspolitischen Mitteln mehrt, und als «Zivilmacht» (Hanns W. Maull 1990), die ihre Position in der internationalen Politik überwiegend mit friedlichen Mitteln und immer im Verein mit anderen Staaten zu wahren sucht.
Was aus diesen und anderen Eigenheiten der deutschen Politik seit 1949 resultiert und ob hieraus wirklich eine «Erfolgsstory» entstanden ist, wie viele Beobachter meinen, wird abschließend geprüft. Dabei zeigt sich ein facettenreicheres Bild. Neben großen Erfolgen – wie zuverlässige Fesselung politischer Macht oder umfangreiche sozialstaaatliche Regulierung sowie ein umwelt- und energiepolitisch besonders engagierter «Grüner Staat» – gibt es auch Mittelmäßiges zu berichten. Beispiele sind die Unterfinanzierung der öffentlichen Investitionen und des Bildungswesens, sodann die überaus enge, Unbeweglichkeit fördernde Verflechtung von Bund und Ländern. Zu den Schwächen der Politik in Deutschland gehören offene Flanken sowohl in der Inneren Sicherheit als auch in der Grenzsicherung und der Verteidigungspolitik.
Doch insgesamt verdient das politische System der Bundesrepublik Deutschland viel bessere Noten als ihm 1949 selbst die kühnsten Optimisten zutrauten – und viel bessere Bewertungen als alle anderen politischen Regime in Deutschland vor und nach 1945.
Das hiermit vorgelegte Buch ist die vierte, gründlich überarbeitete und aktualisierte Auflage eines Werkes, dessen erste Auflage im Jahre 2005 erschien. Zu den besonders berichtenswerten Änderungen gegenüber der 1., der 2. und der 3. Auflage zählen – neben den Aktualisierungen – das neu geschriebene, der Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union gewidmete Kapitel VII und die weitgehende Neubearbeitung des abschließenden Kapitels VIII.
Bei der Anfertigung des Manuskriptes wurde mir Hilfe zuteil, für die ich herzlich danke. Mein Dank gilt meiner Frau, Privatdozentin Dr. Ute Wachendorfer-Schmidt, für fachliche Beratung und Korrekturlesen. Und für die professionelle Planung und Betreuung des Werkes danke ich dem C.H.Beck Verlag, allen voran Dr. Sebastian Ullrich und Carola Samlowsky.
Der Redaktionsschluss des Werkes war der 1. November 2017.
Die Bundesrepublik Deutschland zählt zum exklusiven Kreis der seit mehreren Jahrzehnten stabilen demokratischen Verfassungsstaaten. Ihm gehören nur rund drei Dutzend Länder an.[2] Das ist ein bemerkenswerter Erfolg für ein Land, dem in seinem Entstehungsjahr, 1949, nur wenige eine stabile Demokratie zugetraut hatten, weil die Erblasten des NS-Staates und der Kriegszerstörung zu groß und die innen- und außenpolitischen Herausforderungen zu gewaltig zu sein schienen. Dass Deutschlands zweiter Anlauf zur Demokratie gelang, hat viele Ursachen. Zu ihnen gehört die vollständige Diskreditierung der NS-Diktatur. Für eine «Dolchstoßlegende» war im Unterschied zur Lage nach dem Ersten Weltkrieg kein Platz mehr. Zugute kam Westdeutschland – als Folge des aufkommenden Ost-West-Konflikts – eine allmählich weitsichtigere Politik der westlichen Siegermächte: Sie öffneten dem westdeutschen Teilstaat die Tür zur Teilhabe an den inter- und supranationalen Organisationen des Westens. Zugute kam Westdeutschlands Demokratie ferner die abschreckende Erfahrung der sozialistischen Diktatur, die in der Sowjetischen Besatzungszone und ab 1949 in der Deutschen Demokratischen Republik auf den Bajonetten der Roten Armee von den Kadern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), ihrer Gefolgschaft und Mitläufern auf- und ausgebaut wurde. Verantwortlich für die Verwurzelung der Demokratie in der Bundesrepublik wurde nicht zuletzt das «Wirtschaftswunder», der atemberaubende wirtschaftliche Aufschwung vor allem der 1950er und 1960er Jahre. Mit ihm wurde die Wahlkampfformel «Wohlstand für alle» – sie stammte vom damaligen Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard – für die große Mehrheit der Bürger fassbar: Die Beschäftigung wuchs, die Zahl der Arbeitslosen nahm rasch ab, die Erwerbseinkommen stiegen, die Konsumchancen wurden größer, und der Auf- und Ausbau der Sozialpolitik und andere Marktkorrekturen von der Agrar- bis zur Wohnungspolitik sorgten auch für eine Steigerung des Lebensstandards bei denen, die mit marktwirtschaftlichen Mitteln alleine nicht mitgekommen wären.
Zur Demokratieverwurzelung trug auch die Verfassung der Bundesrepublik bei, ihr Grundgesetz vom 23.5.1949 mitsamt seinen späteren Änderungen. Das Grundgesetz – die Bezeichnung sollte das Provisorium bis zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten betonen – atmete den Geist einer antitotalitären Staatsverfassung. Seine Leitideen der Machtaufteilung, der Kontrolle der Staatsgewalten und des Grundrechtsschutzes verwiesen zusammen mit dem alsbald wirkungsmächtigen Bundesverfassungsgericht die Politik in enge rechtliche Grenzen. Stärker als in den meisten anderen demokratischen Verfassungsstaaten bestimmen in Deutschland mittlerweile die Verfassung und ihre Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht die Spielregeln der Politik. Aus diesem Grunde erlaubt die Staatsverfassung besonders aufschlussreiche Einblicke in Deutschlands politischen Betrieb. Deshalb beginnt die hier vorgelegte Analyse der Politik in Deutschland beim verfassungspolitischen «Überbau» – und nicht bei seiner gesellschaftlichen oder seiner ökonomischen Basis.
Sechs grundlegende Weichenstellungen schrieben die Architekten des Grundgesetzes für den politischen Betrieb in der Bundesrepublik fest: Rechtsstaat, Republik, Demokratie, Bundesstaat, Sozialstaat und «offener Staat».
Mit der Vorgabe des Rechtsstaates knüpften die Verfassungsgeber wieder an liberaldemokratische verfassungspolitische Traditionen an. Rechtsstaat heißt Bindung der Staatsgewalten an Verfassung und Gesetz – nicht an Vorgaben einer Staatspartei, wie im Fall der DDR, oder an den «Führerbefehl», wie in der nationalsozialistischen Diktatur. Rechtsstaat heißt ferner Trennung der Staatsgewalten – Exekutive, Legislative und Judikative – und ihre Ausbalancierung – im Unterschied zur Konzentration der Staatsgewalten, wie im NS-Staat und der DDR. Rechtsstaat bedeutet zudem richterliche Nachprüfbarkeit der Handlungen der Legislative und Exekutive, und zwar Nachprüfung durch fachgeschulte unabhängige Richter, nicht durch willfährige Laienrichter. Nicht zuletzt legt der Rechtsstaat ein Rückwirkungsverbot fest: Niemand darf auf der Basis eines Gesetzes bestraft werden, das zum Zeitpunkt der fraglichen Tat nicht in Kraft war. Der Rechtsstaat ist der Gegenbegriff zum «Gewalt-Staat»: rechtliche Zähmung und geordnete Einhegung der politischen Gewalt ist seine Leitidee. Das soll vor der Entwicklung der Staatsverfassung zum «Leviathan», dem autoritären Staat, oder zum «Behemoth», dem Staat des Bürgerkriegs, schützen, um zwei Schlüsselbegriffe von Thomas Hobbes’ Staatslehre in Erinnerung zu rufen. Zudem soll der Rechtsstaat ein «sozialer Rechtsstaat» sein, so die Kompromissformel in Artikel 28 des Grundgesetzes. Eine folgenreiche Weichenstellung! Denn der «soziale Rechtsstaat» sieht im Unterschied zum bloß «liberalen Rechtsstaat» nicht nur den Schutz der Freiheits- und der Eigentumsrechte vor, sondern auch Eingriffe in die Güterordnung zwecks sozialen Ausgleichs!
Die Architekten des Grundgesetzes schrieben ferner eine Republik vor. Das bedeutet eine nichtdespotische Herrschaftsordnung, einen Freistaat, der die Staatsgewalt an die Verfassung bindet und auf Volkssouveränität beruht. Und es bedeutet eine Staatsform, in der die Regierungen durch Wahl für eine begrenzte Zeitspanne bestellt werden – im Unterschied zur Monarchie, in der die Staatsführung durch Erbfolge oder Wahl in der Regel auf Lebenszeit bestellt wird.
Das Grundgesetz verlangt außerdem eine Demokratie, und zwar mit parlamentarischem Regierungssystem, also mit einer Regierung, die aus dem Parlament hervorgeht und von ihm abberufen werden kann. Das ist die Absage an den Präsidentialismus wie in den USA und die Abgrenzung zum Semipräsidentialismus wie in Frankreich, wo ein starker Regierungschef und ein starker Staatspräsident koexistieren. Deutschlands Staatsverfassung sieht hingegen eine Demokratie mit starkem Bundeskanzler und schwachem Präsidenten vor, eine Art «Kanzlerdemokratie», so der in der Adenauer-Ära geprägte Begriff. Zudem hat die Repräsentativdemokratie Vorfahrt – und nicht die Direktdemokratie wie in der Schweiz. Überdies schreibt das Grundgesetz erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte den politischen Parteien eine aktive Rolle in der Politik zu: «Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit». So bestimmt es der Artikel 21 des Grundgesetzes. Allerdings enthält er strenge Auflagen für die Parteien wie freie Wahl, innerparteiliche Demokratie, öffentliche Rechenschaft über Herkunft der Parteifinanzen und Parteivermögen sowie verfassungskonforme Programmatik und Verhaltensweisen ihrer Anhänger. Seit 2017 können verfassungsgegnerische Parteien von der Staatsfinanzierung und Steuerbegünstigungen ausgeschlossen werden – auf Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes und auch dann, wenn diese Parteien wegen ihres geringen politischen Einflusses nicht verboten worden waren, wie die NPD laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2017 über den NPD-Verbotsantrag.
Damit führte der Gesetzgeber von 2017 den Kurs einer betont «wehrhaften Demokratie» weiter, die neben dem Verbot verfassungsfeindlicher Organisationen auch die Verwirkung von Grundrechten von Verfassungsgegnern vorsieht – und zwar jeweils durch Beschluss der Verfassungsrichter. Auch das unterscheidet die Bundesrepublik von der Weimarer Republik, die äußerste Toleranz, letztlich selbstzerstörerische Offenheit auch für Demokratiegegner wahrte.
Die Demokratie der Bundesrepublik beruht zudem auf Grundrechten, d.h. auf der Anerkennung freiheitlicher Bürgerrechte und der Menschenrechte. Die Grundrechtsbindung zieht besondersenge Grenzen für das Tun und Lassen der Staatsgewalten und für die Demokratie insgesamt: Auch demokratische Entscheidungen müssen die Grundrechte respektieren. Zudem wäre eine «Volksdemokratie» nach Art des SED-Staates der ehemaligen DDR mit den Grundrechten unverträglich.
Ebenso wichtig ist – viertens – die verfassungspolitische Vorgabe eines Bundesstaates. Mehr noch: Die Verfassungsgeber versahen den Bundesstaat mit einer Ewigkeitsgarantie. Diese Weichenstellung schreibt auf Dauer einen polyzentrischen Staat vor. Dieser besteht aus den Gliedstaaten, den Ländern, und ihrem Zusammenschluss im Bund – im Unterschied zum Einheitsstaat, wie in Großbritannien, Frankreich oder Schweden, der diese vertikale Machtaufteilung nicht kennt. Mit der Parteinahme für den Bundesstaat knüpften die Verfassungsgeber an Staatstraditionen an, die im deutschsprachigen Raum tief verwurzelt sind. Zu diesen Traditionen gehören Machtaufteilung, Minderheitenschutz und Integration heterogener Gesellschaften – bei gleichzeitiger Wahrung relativer Autonomie und gesicherter Mitwirkungsrechte der Gliedstaaten – sowie ein exekutivlastiger Bundesstaat. Auf Bundesebene wirken die Länder nämlich mit großem Einfluss an der Gesetzgebung des Bundes mit, und zwar über den Bundesrat. Doch im Bundesrat sitzen nicht gewählte Volksvertreter der Länder, wie im Senat der USA, sondern Repräsentanten der Länderregierungen.
Ferner gaben die Verfassungsarchitekten dem Bundesstaat eine sozialpolitische Verpflichtung mit auf den Weg: Er soll ein «sozialer Bundesstaat» sein, so legt der Artikel 20 des Grundgesetzes fest. Die Staatstätigkeit wird durch diese Vorgabe und andere Verfassungsartikel auf ein «soziales Staatsziel» (Hans F. Zacher) verpflichtet – die fünfte Weichenstellung. Gewiss: Vom Sozialstaatsprinzip ist im Grundgesetz nicht ausdrücklich die Rede, aber präsent ist es dennoch. So fordert der Artikel 20 den «sozialen Bundesstaat» und der Artikel 28 den «sozialen Rechtsstaat». Zudem gebietet der Artikel 72 des Grundgesetzes «die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet» – und bis 1994 hatte er gar die «Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse» verlangt.
Schließlich sieht Deutschlands Staatsverfassung den «offenen Staat»[3] vor. Sie berechtigt den Bund, Souveränitätsbefugnisse auf zwischenstaatliche oder supranationale Einrichtungen zu übertragen, wie auf die Europäische Union und die NATO oder auf eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Im Unterschied zu sonstigen Schlüsselentscheidungen war für solche Beschlüsse lange allerdings weder die Zweidrittelmehrheit im Bundestag noch die Zustimmung der Bundesrat erforderlich, was eine ungewöhnliche Stärkung der Bundesregierung und der sie stützenden Parlamentsmehrheit bedeutete. Seit 1992 erfordert aber der neue Grundgesetzartikel 23, den die Länder der Bundesregierung für ihre Zustimmung zum 1993 in Kraft getretenen Maastrichter Vertrag abhandelten, dass die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Abgerundet wird die Weichenstellung zum «offenen Staat» durch den völkerrechtsfreundlichen Grundgesetzartikel 25. Dieser erklärt nicht nur die «allgemeinen Regeln des Völkerrechtes» zum «Bestandteil des Grundgesetzes», sondern gibt ihnen Vorrang vor den nationalen Gesetzen – im Unterschied zur Rechtstradition der anglo-amerikanischen Demokratie, die der nationalen Gesetzgebung Vorfahrt vor dem Völkerrecht gibt.
Auch das ist eine fundamentale Kehrtwende in der deutschen Verfassungsgeschichte. Dass dieser Weg beschritten wurde, ist einsichtig: Der «offene Staat» ermöglichte der Bundesrepublik die Wiederaufnahme in die internationale Staatengemeinschaft und die Mitgliedschaft in den Bündnissen der westlichen Demokratien nach 1949.
Viele Kräfte wirkten auf die Verfassungsgebung für den Westen Deutschlands ein. Ohne den Zerfall der Koalition der westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und der Sowjetunion und ohne den «Kalten Krieg» zwischen Ost und West wäre die Entscheidung für einen zunächst auf Westdeutschland beschränkten demokratischen Teilstaat kaum denkbar gewesen. An der verfassungspolitischen Willensbildung für Westdeutschland wirkten viele mit – keineswegs nur die Vertreter der Alliierten, wie es die irreführende These nahelegt, das Grundgesetz sei auf den Bajonetten der Besatzungsmächte entstanden. Gewiss: Die Initiative zur Verfassungsbildung ging von den westlichen Alliierten aus. Auf ihr Konto gingen ferner massive Vorgaben für den Inhalt der Verfassung – liberaldemokratisch und föderalistisch musste sie sein und die Wiedergeburt eines starken Staates sollte sie verhindern – sowie massive Eingriffe in die verfassungspolitische Willensbildung. Doch Entwurf, Beratung und Erstellung der Verfassung, die Beschlussfassung über sie und ihre Annahme in den Landesparlamenten waren das Werk deutscher Verfassungsrechtler und Politiker.
Die Weichenstellungen des Grundgesetzes für die Staatsverfassung in Deutschland spiegeln Bestrebungen der Siegermächte wie auch der Landespolitiker wider, den neuen deutschen Staat in enge Grenzen zu verweisen. Starke Länder, schwacher Zentralstaat sowie mächtige Barrieren gegen einen Machtstaat – das waren die Leitideen auf beiden Seiten. Die Architekten des Grundgesetzes griffen aber auch Traditionen freiheitlicher Verfassungstheorien aus Westeuropa und Nordeuropa wieder auf: Die liberaldemokratischen Strukturen, die verfassungsrechtliche Zügelung der Demokratie und die Aufwertung der Grundrechte zeugen hiervon. Und nicht zu übersehen sind die Lehren, die aus der politischen Geschichte Deutschlands gezogen wurden: vor allem der – von der Abgrenzung zum Nationalsozialismus und zum DDR-Sozialismus geprägte – anti-totalitäre «Geist der Gesetze» und das Bestreben, Strukturmängel der Weimarer Reichsverfassung zu vermeiden. Auf dieser Basis wurden die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht festgeschrieben und eine Verfassungsgerichtsbarkeit als Hüterin der Verfassung eingerichtet. Zu den Lehren aus Weimar gehören auch die Schwächung des Amtes des Bundespräsidenten und die Stärkung der verfassungspolitischen Position des Bundeskanzlers.
Das Grundgesetz spiegelt den Ausgleich zwischen unterschiedlichen Bestrebungen wider. Der Zwang zum Kompromiss war groß, denn die Verfassung für den westdeutschen Teilstaat musste die Zustimmung der politischen Parteien, der Landtage und der westlichen Siegermächte erlangen. Schon an den Beratungen des Herrenchiemseer Verfassungskonvents, dem von der Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder in Antwort auf Vorgaben der Alliierten bestellten Sachverständigenausschuss, der die Vorarbeiten für die Verfassung lieferte, war je ein stimmberechtigter Vertreter der Länder beteiligt. Noch komplizierter verlief die Willensbildung im Parlamentarischen Rat, der für die Ausarbeitung des Grundgesetzes einberufenen Versammlung. Der Parlamentarische Rat bestand aus 65 von den elf Landtagen der Westzonen gewählten Abgeordneten sowie aus fünf Vertretern Berlins, das unter dem Viermächtestatus stand und dessen Vertreter deshalb nur mit beratender Stimme teilnahmen. Die Willensbildung im Parlamentarischen Rat stand im Zeichen der innerdeutschen Politik und des ständigen Dialogs mit den drei westlichen Militärgouverneuren, die über ihre Verbindungsoffiziere das Tun und Lassen des Rates beaufsichtigten – mit Vergünstigungen und nachrichtendienstlichen Mitteln, auch mit Telefonabhörung. «We observe them, then we cocktail them, dine them and lunch with them», so schrieb der amerikanische Journalist T. H. White über den Einfluss der Verbindungsoffiziere auf den Parlamentarischen Rat. Die parteipolitische Machtverteilung im Parlamentarischen Rat nahm die Kräfteverteilung zwischen den Parteien nach 1949 weitgehend vorweg: Auf die CDU/CSU und die SPD entfielen jeweils 27, auf die FDP fünf und auf die Deutsche Partei, das Zentrum und die Kommunistische Partei je zwei Sitze. Zur absoluten Mehrheit war folglich eine Koalition unabdingbar und zur Zweidrittelmehrheit eine Große Koalition aus Unionsparteien und SPD – so wie später bei einer Verfassungsänderung.