Bücher für coole Mädchen.
www.piper.de/youandivi
For Mum and Dad, with love
Übersetzung aus dem Englischen von Michaela Link
ISBN 978-3-492-99084-4
© Kate Wiseman 2017
Titel des englischen Originalmanuskripts: »The Brotherhood of Brimstone«
Deutschsprachige Ausgabe:
© , ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: zeromedia.net, München
Covermotiv: FinePic®, München
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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»Charlie, halt die Lampe still«, flüsterte Milly Dillane. »Ich brauche Licht, um die Zahlen zu erkennen. Safeknacken ist unter normalen Umständen schon knifflig genug, aber so ist es fast unmöglich.«
Der Strahl von Charlies Taschenlampe durchschnitt die mitternächtliche Finsternis wie die Miniaturausgabe eines Suchscheinwerfers in einem Gefängnis.
»Tut mir leid. Gruffel hat mich abgelenkt«, murmelte Charlie. Er drehte sich wieder um und leuchtete den Tresor an. »Der Hund scheint von diesem Stuhl fasziniert zu sein. Er hat so einen komisch entschlossenen Ausdruck in den Augen. Den hab ich schon mal gesehen, das war, als er gegen MuMiss neues weißes Sofa gepinkelt hat, ungefähr zehn Minuten nachdem es geliefert worden war. GRUFFEL !«
Charlies Hund hatte die Ablenkung genutzt und sich um den großen Schreibtisch geschlichen. Jetzt hob er tatsächlich ein weißes, wolliges Hinterbein gegen den hohen Stuhl. Charlies Taschenlampe fiel klappernd zu Boden, als er sich auf sein Haustier stürzte und das Bein herunterdrückte. »NICHT HIER! Willst du uns alle umbringen? Oder noch schlimmer – willst du, dass man uns nach Crumley’s schickt?«
Gruffel schnaubte und sah aus, als würde er darüber nachdenken. Sein Bein zuckte leicht, blieb aber unten. Selbst Gruffel hat Angst davor, auf Crumley’s Schule für Kleine Kriminelle geschickt zu werden, dachte Milly mit leichtem Schaudern.
»Braver Junge!«, lobte Charlie, griff nach dem Hundehalsband und zerrte das sich sträubende Tier zurück zur Wand, wo Milly auf einem Stuhl balancierte. Sie bemühte sich, den Safe zu öffnen, den sie endlich nach langem Suchen entdeckt hatten.
Der Junge nahm die Taschenlampe wieder in die Hand und richtete sie auf den Tresor. Charlie war viel höher gewachsen als Milly, doch jetzt, da sie auf dem Stuhl stand, waren sie ungefähr gleich groß.
»Erinnere mich noch mal, warum wir Gruffel mitgenommen haben. Er ist eine Belastung«, zischte Milly und biss sich vor Konzentration auf die Zungenspitze, während sie die kleine Zahlenscheibe hin- und herdrehte. »Nein, er ist schlimmer. Er ist eine Bedrohung.«
Sie warf Gruffel einen vernichtenden Blick zu. Der Hund sah jetzt ganz unschuldig aus, so als könne er kein Wässerchen trüben. Na ja, dachte Charlie, er konnte auf jeden Fall Wässerchen trüben, vor allem, wenn er in die warme Badewanne musste.
»Gruffel begleitet uns, um Schmiere zu stehen. Wenn er jemanden kommen hört, warnt er uns, und wir haben Zeit zu fliehen«, sagte Charlie. »Kapiert?«
»Wenn sein Gestank uns vorher nicht verrät.« Gruffel roch stärker als ein normaler Hund, fand Milly. Viel stärker.
»Dieser verflixte Safe.« Sie sah kurz von dem Zahlenschloss auf. »Das dauert zu lange. In der Bankraub AG war das nicht so schwer!«
»Soll ich mal versuchen?«, bot Charlie an und spähte ihr über die Schulter.
»Sei bitte nicht gekränkt, aber traditionelles Safeknacken ist nicht dein bestes Fach. Erinnerst du dich an das letzte Mal, als du einen Tresor aufgesprengt hast? Der Lehrer war nicht gerade begeistert … aber der Wiederaufbau des Ostflügels der Schule kommt gut voran.«
»Er hätte sich bei mir bedanken sollen. Er bekommt ein neues Klassenzimmer, frisch gestrichen! Das Problem war, dass das Schloss kein elektronisches war. Gib mir einen digitalen Safe, und ich habe ihn geöffnet, bevor du auch nur ›Bankraub‹ sagen kannst.«
Da musste sie ihm recht geben. Obwohl sie Charlie erst seit wenigen Monaten kannte, hatte sie seit ihrer ersten Begegnung am ersten Schultag in Blaggard’s Schule für Große Gangster, der weltbesten Schule für angehende Verbrecher, bereits viele Beispiele für seine Zauberei an elektrischen Geräten aller Art erlebt.
»Ich wette, Wolfie bekäme ihn in einer Mikrosekunde auf«, sagte Charlie. »Er ist schon viel zu lange fort.«
Wolfie war ein fliegender Roboterhund mit unglaublichen Kräften. Milly und Charlie hatten ihn Pekunia Badpenny geraubt, der skrupellosen Superschurkin mit den zusammengewachsenen Augenbrauen und einem Groll gegen die Schule, der noch größer war als ihr Ego. Wolfie hatte sich Milly und Charlie angeschlossen und war ihnen seitdem ein treuer Verbündeter. Doch gerade befand er sich auf Reisen und überall, wo er hinkam, sorgte er für Ordnung und machte das eine oder andere Unrecht in der Welt wieder gut. Das war wie Urlaub für ihn.
Jetzt allerdings hätten sie ihn wirklich gut gebrauchen können.
Milly strich sich eine Strähne ihres glatten braunen Haares hinters Ohr und hielt den Kopf dichter an den Safe. »Aha! Ich glaube, jetzt hab ich’s …« Sie drehte den Zahlenknopf noch ein klitzekleines Stück weiter, so quälend langsam und vorsichtig, dass auch nicht der geringste Laut zu –
Ein Klicken erklang, das so entsetzlich laut war wie eine Explosion. Und der Safe öffnete sich. Milly warf über die Schulter einen Blick zur Tür und hielt den Atem an. Kein Licht glomm unter dem Spalt auf. Keine unheilvollen Schritte in dem verlassenen Flur dahinter. Sie sah erst Charlie, dann Gruffel an. Der Hund schien völlig unbesorgt zu sein und leckte seine Pfote.
»Puh«, hauchte sie.
Charlie machte einen langen Hals und spähte über ihren Kopf hinweg in den Safe. »Es ist nicht da! Du hattest recht, Milly.«
Das war der Moment, in dem erst der Stuhl, dann der Boden unter ihren Füßen nachgab. Sie stürzten in die Tiefe und landeten einen Schreckmoment später mit einem würdelosen Plumps in der Dunkelheit. Charlie flog die Taschenlampe aus der Hand und erlosch, als sie auf steinigem Boden aufschlug.
»Au! Was zum …?«, rief Charlie.
Er musste irgendwo in der Nähe sein, aber die Schwärze in dieser Grube war so dicht, dass Milly sich nicht sicher war. Nicht einmal die schwarz-weißen Streifen seines Einbrecher-Hoodies, ein wesentlicher Bestandteil der Schuluniform von Blaggard’s (neben der schwarzen Hose mit den vielen Taschen für die wichtigsten kriminellen Utensilien), waren in der Finsternis zu erkennen.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Milly und stemmte sich in die Hocke hoch. »Eine Fallgrube war auf dem Plan definitiv nicht eingezeichnet.«
Eine Stimme erreichte sie in der Dunkelheit.
»Das liegt daran, dass sie neu ist. Sie wurde erst vor einer Woche angelegt. Ich halte sie aus einem sehr guten Grund geheim. Also, Milly Dillane und Charlie Partridge, was beim Tor zur Hölle habt ihr hier zu suchen?«
Der Boden unter Millys Händen und Füßen begann zu vibrieren und dann zu rumpeln. Sie spürte, dass sie wieder nach oben gefahren wurden, in Miss Martinets Büro, wo die Dunkelheit etwas heller war, wenn man das so sagen konnte.
Jetzt fand Charlie auch seine Taschenlampe wieder. Er hob sie auf, schaltete sie wieder ein und schwang den Lichtstrahl in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
Obwohl beide Kinder sie längst erkannt hatten.
Griselda Martinet, Blaggard’s Direktorin, stand vor der Tür. Sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt, und selbst in dem schlechten Licht konnte Milly erkennen, dass ihre kalten Augen vor Zorn brannten.
Zumindest hat sie uns bei etwas Kriminellem erwischt. Vielleicht ist sie dann nicht ganz so sauer. Miss Martinet wusste, dass Milly und Charlie insgeheim Ahnungslose waren – ehrliche Bürger, die nichts Unrechtes tun wollten –, und hätten die beiden nicht die Schule von der finsteren Pekunia Badpenny befreit1, wären sie sicherlich der Schule verwiesen worden. Schließlich gab es für einen Blaggardianer nichts Ehrloseres als einen Ahnungslosen. So aber waren Miss Martinet, Milly und Charlie durch ihre Taten zusammengeschweißt. Was die Direktorin natürlich nicht davon abhielt, sich alle Mühe zu geben, um die beiden Kinder auf einen anständigen unredlichen Weg zu leiten.
Die Schulleiterin drückte auf das rechte Auge eines Mannes auf einem Plakat. Daraufhin glitt der Boden unter den Kindern vollständig in seine ursprüngliche Position zurück, und gleich darauf war von einer Falltür nichts mehr zu sehen.
Milly überflog den Text auf dem Bild:
Miss Martinets Büro war schwarz gestrichen und bedeckt mit ähnlichen Polizeifotos und Fahndungsplakaten von äußerst zwielichtig aussehenden Gestalten – alles ex Blaggardianer auf dem Höhepunkt ihrer Verbrecherkarriere.
Gruffel stellte die Ohren auf, als er Miss Martinet sah. Schwanzwedelnd und sichtlich erfreut sprang er zu ihr hin. Sie wich zurück und rümpfte die Nase.
»Danke für die Warnung, Gruffel«, murmelte Charlie.
Griselda Martinet schaltete das Licht ein. Sie trug einen eleganten Tarnschlafanzug. Sie war eigentlich immer blass, aber heute Nacht war ihr Gesicht so bleich, dass sie krank wirkte. Sie hatte dunkle Augenringe, und ihr von immer mehr grauen Strähnen durchzogenes, braunes Haar war vollkommen zerzaust.
Sie sieht erschöpft aus, schon seit Tagen! Milly fragte sich, warum ihr das nicht früher aufgefallen war.
Die Direktorin warf Gruffel einen angewiderten Blick zu. Hunde standen ganz weit oben auf der Liste der Dinge, die sie nicht mochte, aber sie hatte einen guten Grund, dieses spezielle Exemplar stillschweigend zu ertragen.
»Ich muss gestehen, ich bin hin- und hergerissen zwischen Freude darüber, euch ausnahmsweise einmal etwas Kriminelles tun zu sehen, und Ärger, dass ihr die goldene Regel gebrochen habt, indem ihr euren Gesetzesverstoß gegen mich gerichtet habt statt gegen einen unschuldigen, ahnungslosen Bürger von Borage Bagpize«, tadelte Miss Martinet. »Also lasst mich einen Moment überlegen … Fertig! Unterm Strich überwiegt der Ärger.«
»Ähm, woher haben Sie überhaupt gewusst, dass wir hier sind?«, fragte Milly und trat einen kleinen Schritt zurück. Sie hatte Schauergeschichten über Miss Martinets Wutausbrüche gehört. Angeblich gab es sogar einen geheimen Raum auf dem Schulgelände, in dem Miss Martinet die Leichen jener Schüler aufbewahrte, die sie zu Tode erschreckt hatte. Milly glaubte dem Gerücht nicht, aber sie hatte sich einen gesunden Respekt vor der Schulleiterin bewahrt, vor allem, da neben ihr ein Paar dekorativer Handfesseln und eine Sträflingskugel an der Wand baumelten. Und diese Fallgrube mitten im Büro war ja auch nicht ohne. »Charlie hat die Nachtsicherung ausgeschaltet, deshalb wurde kein Alarm ausgelöst«, fügte sie hinzu. »Dachten wir jedenfalls.«
Miss Martinet schüttelte den Kopf. »Wie oft habe ich es euch gesagt: Unterschätzt niemals euren Gegner?« Ihre Stimme war voller Enttäuschung. »Ihr kennt das Geheimnis meiner Kindheit. Ihr hättet es in eurem Plan berücksichtigen sollen. Ich habe eure Bewegungen gespürt, statt sie zu hören. Es war nicht schwer, mich hineinzuschleichen und meine neue Falle zu aktivieren.«
Sie deutete mit dem Kopf auf das Plakat von Vlad dem Mailer. »Ihr könnt von Glück reden, dass ich gemerkt habe, dass ihr die Eindringlinge wart, bevor ich auch noch auf Vlads linkes Auge gedrückt habe. Ihr hättet dabei draufgehen können, und zwar auf unerfreuliche Weise.«
Miss Milly fragte sich, ob sie sich die senkrechten Schlitze in den grauen Augen der Direktorin nur einbildete. Miss Martinet hatte ihnen vor Kurzem anvertraut, dass sie von Katzen großgezogen worden war. Mit ihren anmutigen Bewegungen und ihren unheimlich scharfen Sinnen schien sie manchmal tatsächlich mehr katzenhaft als menschlich zu sein.
»Aber woher haben Sie gewusst, dass wir es waren? Ohne Taschenlampe konnte ich nicht die Hand vor Augen sehen, und Sie haben keine«, wandte Charlie ein.
»Katzen können im Dunkeln sehen«, rief Milly ihm ins Gedächtnis.
»Ich Idiot!« Charlie schlug sich vor die Stirn. »Daran hätten wir denken sollen, Milly. Aber du wolltest ja unbedingt –«
»Was wollte ich?«, warf Milly verärgert ein. »Es war doch dein Vorschlag, dass wir –«
»Verzeiht mir, dass ich euer lächerliches Gestreite störe«, unterbrach Miss Martinet, »aber ich hoffe, ihr habt einen ab-so-lut triftigen Grund dafür, meinen Safe zu öffnen. Denn wenn nicht, werdet ihr gleich etwas anderes öffnen – den Verbandskasten dort. Mit Pflastern für extragroße Wunden!«
Milly und Charlie sahen sie an.
Von jedem anderen hätte man das für einen Scherz halten können, aber die Direktorin war nicht für ihren Sinn für Humor bekannt.
Charlie starrte auf den Teppich. Milly wusste, was das bedeutete – es war mal wieder an ihr, sie aus dem Schlamassel herauszureden. Sie holte Luft. »Die Sache ist die, wir, äh, haben uns Sorgen gemacht. Um Sir Bryons Gehirn. Charlie hat – na ja, er hat Akten der Schule durchgeblättert …«
Miss Martinet zog die Augenbraue hoch. »Du meinst die streng geheimen Akten, nehme ich an. Die, auf denen steht, dass kein Schüler sie jemals in Augenschein nehmen darf.«
»Äh, ja, die meine ich. Jedenfalls ist er dabei zufällig auf einen Brief des Vorstands an Sie gestoßen. Das Schreiben klang so, als wäre das Gehirn verschwunden.«
Für einen Nichtblaggardianer musste das verrückt klingen. Sir Bryon de Bohun war einer der berüchtigtsten ehemaligen Schüler der Schule. In der Empfangshalle hing ein Porträt von ihm. Das Bild täuschte, denn der Mann darauf sah aus, als würde er sich lieber vor einem Spiegel aufstylen, als abscheuliche Verbrechen zu begehen. Sir Bryons schlecht ausgestopfter Körper war in der Aula ausgestellt, doch es fehlte sein ›Gehirn‹ – natürlich nicht sein echtes. Das Gehirn, von dem hier die Rede war, war ein seltsam klumpiger, aber unfassbar wertvoller Diamant, den Sir Bryon stets am Leib trug, bis sein Butler den ehrbaren Gangster mit einem tödlichen Champagnerkorken ermordet hatte.
Miss Martinet lief vor Ärger rot an. »Charlie Partridge, du bist eine Plage. Ich habe gerade erst die Sicherheitsmaßnahmen der Schule auf den neuesten Stand gebracht, nachdem du letztes Mal deine Nase in meine höchst privaten Dateien gesteckt hattest. Ist vor deiner Neugier denn gar nichts sicher?«
»Vielen Dank, Madam«, sagte Charlie mit vor Stolz geröteten Wangen. »Wahrscheinlich nicht, wenn ich ehrlich bin. Am besten bewahren Sie alles auf die altmodische Weise auf – in Papierform in verschlossenen Aktenschränken. Mit herkömmlichen Schlössern hab ich’s nicht so.« Er grinste. »Aber alles, was im Computer ist, da komme ich dran. Da könnte Vlad der Mailer noch was von mir lernen.«
»Wie gesagt, wir haben uns Sorgen gemacht«, warf Milly ein, bevor Charlie sich weiter reinredete. »Jeder weiß doch, was es mit der Kraft dieses Gehirns auf sich hat. Wenn der Diamant das Schulgelände auch nur für einen kurzen Moment verlässt, wird die Schule sofort einstürzen und …« Sie schluckte, bevor sie heiser weitersprach: »… und die Direktorin wird noch am selben Tag einen schrecklichen Tod sterben.«
1 siehe »Gangster School« Band 1
Die Röte auf Miss Martinets Gesicht vertiefte sich.
»Danke, dass du mich daran erinnerst. Wem hast du davon erzählt, dass das Gehirn verschwunden ist?«, blaffte sie.
»Niemandem. Und wir werden auch niemandem davon erzählen. Bei unserer, äh, Verbrecherunehre«, schwor Milly.
»Wir wollen Ihnen nur helfen«, bekräftigte Charlie. Dann schien er zu begreifen, dass das die Direktorin nur noch ärgerlicher machen würde. »Auf gangstermäßige Weise natürlich«, fügte er hinzu, »während wir gleichzeitig jede Menge Verbrechen begehen!« Er schielte unter seinem wuscheligen Haarschopf hervor, um verschlagen auszusehen.
Griselda Martinet nickte widerstrebend. »Es hat keinen Sinn, es abzustreiten«, seufzte sie. »Das Gehirn ist verschwunden. Allerdings muss es sich noch auf dem Schulgelände befinden. Blaggard’s steht nach wie vor, und wie ihr seht, bin ich quicklebendig. Wenn die Geschichte um den Diamanten also stimmt, und ich möchte es ungern herausfinden, sollte ich alles tun, um das Gehirn so schnell wie möglich wieder zurückzukriegen.«
Ihre Miene verdüsterte sich. »Wenn ich herausfinde, dass es ein Blaggardianer war, der es gestohlen hat, werde ich zorniger sein, als ihr euch vorstellen könnt. Kein Diebstahl unter Blaggardianern – das ist unsere goldene Regel, erinnert ihr euch? Und ich werde es herausfinden. Das ist der Grund, warum ich diese Grube bauen ließ – um den Dieb zu fangen, wenn er es noch einmal versucht.«
Milly verstand Miss Martinets Entrüstung. Die goldene Regel war ihr lange vor Schulbeginn von ihren Eltern eingebläut worden, die ebenfalls in Blaggard’s gewesen waren und die Schule für die beste Erfindung seit den ausziehbaren Brechstangen aus Ultraleichtmetall hielten.
Charlie war verwirrt. »Aber es gibt doch nur ein Gehirn, oder? Warum sollte der Dieb noch mal zurückkommen, wenn er es doch schon hat?«
»Ja, du Dummkopf, es gibt nur ein Gehirn, aber es könnte ja sein, dass in der Schule noch andere seltene und kostbare Erinnerungsstücke aufbewahrt werden?« Miss Martinet funkelte sie an. »Ich habe nur gesagt, dass es so sein könnte. Kommt bloß nicht auf dumme Gedanken!«
Dann seufzte sie. »Nun, ihr habt bestätigt, was der Vorstand mir in diesem Brief bereits mitgeteilt hat. Ich bin für die Rolle der Schulleiterin vollkommen ungeeignet. Am besten trete ich sofort zurück. Vorausgesetzt, dass ich vorher nicht auf seltsame und ungewöhnliche Weise aus dem Leben trete.«
»Aber nein!«, riefen Milly und Charlie.
Miss Martinet zog die Augenbrauen hoch. »Was ändert es für euch, wenn Blaggard’s einen neuen Direktor bekommt?«
Verlegen antwortete Charlie: »Die Sache ist die, wir … mögen Sie. Natürlich nur ein bisschen. Also nicht übermäßig, aber …«
Milly übernahm hastig, als Miss Martinet begann, mit dem Fuß auf den Boden zu klopfen. »Und Ihr Nachfolger würde nie so verständnisvoll sein, was unsere Bemühung betrifft, Gangster zu werden. Wir würden in Rekordzeit von der Schule fliegen.« Und nach Crumley’s geschickt werden, wo wir von Glück reden können, wenn wir auch nur einen Tag durchhalten, dachte sie.
Eine Idee blitzte in ihr auf. »Obwohl es also den Anschein haben mag, dass wir schrecklich rechtschaffen sind, sind wir in Wirklichkeit ganz schön egoistisch – wir versuchen unsere eigene Haut zu retten!«
Sie fand den Einfall genial und spähte durch ihre Ponyfransen, um zu sehen, wie Griselda Martinet es aufnahm. Die Direktorin runzelte die Stirn, aber das hatte nichts zu sagen, denn sie runzelte fast immer die Stirn. Wenn sie nicht gerade ein finsteres Gesicht machte. Was allerdings auch meist mit einem Stirnrunzeln einherging.
»Aber bevor wir unseren Plan in die Tat umsetzen, mussten wir uns vergewissern, ob das Gehirn tatsächlich aus Ihrem Safe verschwunden ist. Und das ist es«, endete Milly.
Miss Martinet trommelte mit den Fingern auf ihren Marmorschreibtisch. »Nachdem ihr das nun also festgestellt habt – wie sieht euer grandioser Plan aus?«
Milly zögerte. »Ehrlich gesagt haben wir keinen. Noch nicht. Aber bald. Ich sag Ihnen was, Madam. Sie erlauben, dass wir Ihnen helfen, und ich werde Sie in unseren Plan einweihen, sobald uns einer eingefallen ist, und halte Sie über unsere Fortschritte auf dem Laufenden. Abgemacht?«
Sie bewegte sich in Richtung der Tür. Ich gebe ihr besser nicht zu viel Zeit, darüber nachzudenken.
»Glaub ja nicht, dass ich auf diesen völligen unlogischen Handel hereinfalle. Aber weißt du was? Schlimmer kann es dadurch auch nicht werden«, sagte Miss Martinet. »Und es ist euch tatsächlich gelungen, Pekunia Badpenny zu besiegen, also muss hinter eurer rechtschaffenen Fassade doch ein gewisser krimineller Einfallsreichtum stecken. Aber ich hoffe, ihr arbeitet schnell. Ich habe nicht viel Zeit – der Vorstand fordert bis zum Gründungstag den Nachweis, dass ich das Gehirn wiedergefunden habe. Vorausgesetzt, dass ich dann noch lebe und Blaggard’s kein qualmender Schutthaufen ist … Na schön.«
»Also abgemacht?« Milly hatte die Tür erreicht.
»Mir ist nicht wohl dabei, aber … abgemacht.«
Milly grinste.
»Klasse. Sie werden es nicht bereuen.« Sie kam zurück, schob Charlie und Gruffel durch die Tür und fügte über die Schulter hinzu: »Übrigens, wir können Ihnen etwas Geld leihen, falls das auch gestohlen wurde. Wir haben jede Menge davon. Die Leute geben es Wolfie als Belohnung, wenn er ihnen gestohlene Sachen zurückbringt.«
Sie hörten noch ein entrüstetes Schnauben, bevor sie die Tür schlossen. Dann machten das Mädchen, der Junge und der Hund, dass sie wegkamen.
Der nächste Tag begann auf altehrwürdige Weise mit einer schnellen Versammlung. Sie bot Miss Martinet Gelegenheit, die Schule über Neuigkeiten auf dem Laufenden zu halten und jene zu demütigen, die sie in jüngster Zeit verärgert hatten.
Als Milly die Aula betrat und die Hand auf einen der Fingerabdruckscanner legte, bevor sie an den Vitrinen mit kriminellen Ausstellungsstücken und dem schlecht präparierten Leib Sir Bryon de Bohuns vorbeiging, verspürte sie unerwartet das warme Gefühl, als gehöre sie genau hierhin. Ich fühle mich endlich wie zu Hause. Ich weiß, dass ich meine rechtschaffene Art nie loswerde, aber so langsam fühle ich mich hier wohl. Es ist verrückt und seltsam, aber ich möchte, dass alles so bleibt.
Ein plötzliches lautes PENG lenkte Millys Aufmerksamkeit auf den Panzerglaslaufstall, in dem die Kleinen Gangster – die Jüngsten aus Blaggard’s kürzlich eröffneter Kindertagesstätte – wie eine Horde wild gewordener Äffchen die Zeit verbrachten, wenn eine Versammlung stattfand. Zu diesem Anlass wurden sie von ihrem eigenen Gebäude, das auf einer nicht einsehbaren Fläche gleich hinter der Grundstücksmauer von Blaggard’s errichtet worden war, von einer Armee erschöpfter und verzweifelter Erzieher in Ganzkörperschutzanzügen durch den Wald geführt. Das änderte nichts daran, dass die Anzüge bei der Ankunft regelmäßig zerrissen waren und jedem der Erzieher ein bis zwei lachende Kleinkinder auf den Schultern hockten oder sich in die Ärmel verbissen hatten.
Heute waren die Kleinen Gangster relativ brav, obwohl einer von ihnen – ein Zweijähriger, der von einem grimassenschneidenden Zehntklässler vor dem Glaskasten geärgert wurde – gerade seinen kleinen Plastikstuhl genommen und gegen das Panzerglas geworfen hatte. Er prallte ab und landete lautstark auf dem Boden.
Miss Martinet hörte den Lärm und kam herbeigeeilt. Sie verschränkte die Arme und sah das Kind böse an, das sich sofort hinsetzte und unschuldig am Daumen nuckelte. Milly lächelte. Wir MÜSSEN einen Weg finden, um Miss Martinet hierzubehalten. Sie ist ein Erziehungsgenie!
Die Schulleiterin kehrte an ihren gewohnten Platz in der Mitte der Schulbühne zurück und klopfte mit kaum verhohlener Ungeduld mit dem Fuß, während sie darauf wartete, dass die Schüler sich versammelten. Die Lehrer nahmen in zwei langen Reihen hinten auf der Bühne Platz. Über ihnen glühte der riesige Flachbildschirm, der vor Kurzem an der Wand angebracht worden war, und warf einen Lichtschein auf die seltsame Schar der Lehrer.
Milly ließ den Blick über die Reihen wandern. Da war Edgar Borgia, der Lügenlehrer, mit seiner breiten Stirn und den verängstigten blauen Augen. Neben ihm saß, wie stets in einem langweilig farblosen Kleid und mit grimmigem Blick, Jane Vipond, seine Freundin und Lehrerin für Trotz und Unhöflichkeit im Alltag; dann war da noch der Fälschungslehrer, Mr Molesworthy, kurz und stämmig, mit schwarzem Haar und dicken Brillengläsern.
Nicht weit von Molesworthy entfernt saß einer von Millys Lieblingslehrern – Marius Babington, der sich über den seidigen Bart strich und wahrscheinlich den Lehrstoff seiner nächsten Betrugsstunde plante. Und am Ende der ersten Reihe saß das Elektronikgenie Hermann Blight, der dafür sorgte, dass sich niemand an den Fingerabdruckscannern zu schaffen machte. Er war ein ehemaliger Computerhacker und erst kürzlich Lehrer geworden – nachdem er gemeinsam mit Milly und Charlie Pekunia Badpenny bekämpft hatte. Mr Blight war mit Abstand Charlies Lieblingslehrer – der Einzige, der bislang kriminelles Potenzial in ihm gesehen hatte.
Die Lehrer, deren Fachgebiete mit Energischem Wegnehmen, auch Raub genannt, zusammenhingen, saßen zusammen in der rechten Ecke der zweiten Reihe, wo sie mit den Schatten verschmelzen konnten. Sie hießen Gary Nightingale, Hal Steel und Susan Smith (niemand glaubte, dass das ihr richtiger Name war, und bei Mr Steel war man sich auch nicht sicher).
Millys Blick wanderte weiter und heftete sich auf einen Mann, der dicht hinter Hermann Blight saß. Sie runzelte die Stirn.
Wer ist das?
Als Siebtklässlerin saß Milly in der Reihe, die der Bühne am nächsten war, daher war es einfach, den Neuling unter die Lupe zu nehmen. Er hockte auf seinem Stuhl wie ein kleiner Vogel, der sich gleich erschrecken und davonflattern würde. Er war klein und schlank. Seine Haut war von dem gleichen zarten Rosa wie das Innere einer Muschel. Er hatte fedrige Brauen, schwarze Knopfaugen und eine lange, neugierig vorgereckte Nase.
Er erinnert mich an jemanden – bloß an wen? Ich könnte aus ihm eine tolle Comicfigur machen. Sie nahm sich vor, ihn auf die Liste der Leute zu setzen, die sie in der Ungestörtheit ihres Zimmers zeichnen wollte. Milly musste darauf achten, ihre Liebe zur Kunst für sich zu behalten. Die schönen Künste der Ahnungslosen – der Menschen ohne Verbindung zur Kriminalität – waren in Blaggard’s selbstverständlich verboten.
Als auch der letzte Schüler saß und sich die Kleinen im Laufstall etwas beruhigt hatten, kam Griselda Martinet endlich zur Sache. »Guten Morgen, künftige Gangster. Zuerst eine kurze, aber umso ernster gemeinte Warnung: Man hat mich unterrichtet, dass in diesem Halbjahr eine Schulinspektion ansteht. Ihr wisst, was das bedeutet – Doktor X wird uns besuchen und überall seine Nase reinstecken.«
Eine Welle der Verunsicherung lief durch die Menge. Doktor X war der weltweite Oberinspektor aller verbrecherischen Bildungseinrichtungen. Und er war berüchtigt. Jeder hatte von ihm gehört, aber niemand wusste, wie er aussah. Sein Erscheinen war allseits gefürchtet, und es gab zahlreiche Geschichten über Lehrer, deren Leben durch seine schonungslosen Inspektionsberichte zerstört worden war. Angeblich hatte er sogar auf einen Lehrer geschossen, nachdem der eingestanden hatte, sich um einen rechtschaffenen Teilzeitjob in einem Streichelzoo beworben zu haben. Die Geschichte wirkte stimmig, denn Dr. X war dafür bekannt, dass er in jeder Waffendisziplin ein Meisterschütze war.
Miss Martinet nickte sorgenvoll. »Seid auf der Hut. Wenn ihr jemanden herumschnüffeln seht, den ihr nicht kennt, verhaltet euch sofort kriminell!« Ihre Augen glitzerten warnend. »Das müsst ihr zwar ohnehin tun. Dennoch habe ich das Gefühl, ich sollte es hier noch mal extra erwähnen. Und noch ein schnelles Wort zum Gründungstag. Wir brauchen ein erstklassiges Unterhaltungsprogramm, um eure Eltern und Vormünder zu beeindrucken, die anlässlich der Feierlichkeiten zu Besuch kommen. Ich übertrage die Verantwortung für das Entwerfen einiger ab-so-lut umwerfender Ideen den Hauskapitänen und ihren Stellvertretern. Also, schmeißt eure Gehirnzellen an und teilt eure Pläne untereinander. In diesem Jahr ist es wichtiger denn je, dass wir den Besuchern etwas Fantastisches bieten.«
Milly lächelte, denn das versprach lustig zu werden. Sie und Charlie waren vor Kurzem zu den Stellvertretern von Jet Mannington ernannt worden, dem Kapitän des neuen Hauses Martinet. Jet war ein Zehntklässler, der sich hauptsächlich durch ständige Angeberei auszeichnete und gern den starken Mann markierte. Es war kein einfaches Bündnis.
»Wir denken uns was aus, um Jet so richtig aufzuziehen«, murmelte sie.
»Sollte nicht schwer sein«, flüsterte Charlie zurück.
Auf der Bühne lächelte die Schulleiterin ein spitzzahniges Lächeln. »Und nun zu einem ebenfalls erfreulichen Thema. Diejenigen von euch, die gute Augen und einen scharfen Verstand haben, werden es schon bemerkt haben … also du nicht, Blake Thornton!« Sie funkelte einen Neuntklässler an, der sie offenbar kürzlich verärgert hatte. Der Junge ließ den Kopf hängen und spielte mit brennenden Wangen an den Ärmeln seines Einbrecher-Hoodies herum.
»Wie ich gerade sagte«, fuhr die Direktorin fort, »die Smarten unter euch werden bemerkt haben, dass wir ein neues Mitglied in unserem Lehrkörper begrüßen können. Und wundert euch nicht, dass er aussieht wie ein kleiner Gangster, der sich in die sechste Klasse eingeschlichen hat. Denn er ist gut in dem, was er kann.«
Ohne sich umzudrehen, gab sie dem neuen Lehrer mit einem Fingerschnippen ein Zeichen. Er schoss wie von der Tarantel gestochen von seinem Stuhl und blieb neben Miss Martinet stehen. Sie war mindestens einen Kopf größer.
»Sein Name«, sprach sie weiter, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, »ist Gabriel Huggins, aber auch dafür kann er nichts. Wir können schließlich nicht alle Luzifer oder Mephistopheles heißen, nicht wahr, Godfrey Goodfellow?« Die Direktorin lächelte einen der Schüler an, den seine Eltern offenbar mit einem völlig unkriminellen Namen gestraft hatten.
»Mr Huggins ist einer der weltweit herausragendsten Beherrscher krimineller Tarnung, der vor allem auch die als äußerst schwierig geltende Blitztarnung zu seinen Fähigkeiten zählen darf«, erklärte Miss Martinet.
Der kleine Mann lief rosig an und verbeugte sich leicht.
»Er wird euch also von nun an in Tarnung und Täuschung für Wind und Wetter unterrichten. Dieses Fach ist von nun an Teil des Stundenplans aller Blaggardianer«, erklärte sie.
Die Direktorin lächelte noch einmal gütig, dann scheuchte sie Huggins weg. Er huschte an seinen Platz zurück.
»Dies ist eine der Änderungen, die wir vorgenommen haben, um gegenüber Crumley’s Schule für Kleine Kriminelle weiterhin die Nase vorn zu behalten. Denn offenbar führt Crumley’s ebenfalls neue Kurse ein, die die Ausbildung des gangstergeneigten Nachwuchses auf ein ganz neues Niveau heben soll – darunter auch einen zum Thema Mit allem Davonkommen. Hier muss selbst ich zugeben, dass dieser ganzheitliche Ansatz beeindruckend klingt. Crumley’s versucht, einen Teil der Aufmerksamkeit zurückzuerlangen, die sich seit dem Erscheinen unseres Geisterhundes Humbug zu Beginn des Halbjahres glücklicherweise auf unsere hervorragende Bildungseinrichtung konzentriert hat.«