Meiner Frau Christine,
die mit großer Geduld meine Tätigkeiten
bei den Schreibenden begleitete
und oft an Veranstaltungen und Treffen teilnahm.
Widmung
Vorwort
Erster Teil:
Willi Bredel – ein Ahnherr der schreibenden Arbeiter
Hamburg – Handlungsort des ersten proletarischen deutschen Betriebsromans
Willi Bredels Vermächtnis: bedeutende Literatur und ein »Neues Kapitel«
Zweiter Teil:
Grundzüge einer Geschichte der Bewegung schreibender Arbeiter
Die I. Bitterfelder Konferenz 1959 und erste Ergebnisse
Freiwilliger Umgang mit Kunst und Kultur und auch Literatur
»In der Landschaft der Fabriken …« (Ernst Zober)
Literarische Salons des Volkskunstschaffens
Dritter Teil:
Zur Geschichte einzelner Zirkel
Der Zirkel schreibender Arbeiter »Maxim Gorki« im Zentralen Haus der DSF
In der Landschaft der Fabriken …
Das Sternbild des Krans
Vierter Teil:
Autoren der Bewegung schreibender Arbeiter
Von Friedensgedichten zu einer Literatur verstörten Menschseins
Die Wirklichkeit der Alpträume
Nachträge – Erhart Ellers neue Gedichte
Freiheit und Arbeit in einem Roman, der den Deutschen Buchpreis 2014 erhielt
Rudi Berger
Anhang
Veröffentlichungsnachweise
Weitere Literatur zum Thema von Rüdiger Bernhardt (Auswahl):
Über den Autor
Impressum
Es war vor fünfzig Jahren zu Beginn des Studienjahres 1965/66, als mich der Dozent am Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Dr. phil. habil. Wolfgang Friedrich (1926–1967) fragte, ob ich den Zirkel schreibender Arbeiter der Leuna-Werke leiten würde. Die Frage kam nicht unerwartet, denn bei meiner Einstellung als Assistent ein Jahr zuvor wurde ich in die Besonderheit des Institutes eingeführt, sich seit der I. Bitterfelder Konferenz 1959 für schreibende Arbeiter einzusetzen und dabei auch Zirkel zu betreuen. Dazu bedurfte es keines Auftrags und keiner Weisung, sondern die Hallenser Germanisten fühlten sich von den in Bitterfeld entwickelten Vorstellungen so angeregt, dass sie unabhängig von ihren Lehr- und Forschungsverpflichtungen sich in die neue Problematik einarbeiteten und auch in der späteren sehr viel größeren Sektion Germanistik und Kunstwissenschaften entsprechenden Tätigkeiten nachgingen. Sie hatten sich 1960 auf einer ersten Konferenz[1] über die Grundzüge einer solchen Tätigkeit verständigt, wurden Zirkelleiter, erarbeiteten methodische Materialien, gaben Anthologien und andere Texte heraus und übernahmen leitende und anleitende Aufgaben, so Wolfgang Friedrich als Vorsitzender der Bezirksarbeitsgemeinschaft schreibender Arbeiter beim Bezirkskabinett für Kulturarbeit, seine Frau Cäcilia Friedrich als Zirkelleiterin wie auch viele andere. Bezirksarbeitsgemeinschaften (BAG) gab es für alle Volkskunstgruppen und Genres in jedem der fünfzehn Bezirke der DDR. Als ehrenamtliche Gremien berieten die Bezirksarbeitsgemeinschaften die Bezirkskabinette für Kulturarbeit und als Zentrale Arbeitsgemeinschaften (ZAG) das Zentralhaus für Kulturarbeit in Leipzig.
1963/64 war eine Blütezeit der Bewegung schreibender Arbeiter, die sich stabilisiert hatte und auf diesem Niveau bis zum Ende der DDR, in mehreren Zirkeln auch darüber hinaus bestehen blieb. Auch von den massiven kulturpolitischen Eingriffe wie dem 11. Plenum des ZK der SED 1965 blieb sie weitgehend verschont; nur einige Zirkelleiter, die Schriftsteller waren wie Hasso Grabner, gerieten in die Schusslinie. Bei der Stabilisierung der Bewegung sind nicht alle Vorstellungen der Politiker und Initiatoren in Erfüllung gegangen – sofern es solche genauen Vorstellungen gegeben hat und es nicht um einen allgemeinen, für notwendig erachteten Bildungsprozess ging, der eingeleitet werden sollte –, aber das Ergebnis der Bewegung schreibender Arbeiter war insgesamt und von »unten« her betrachtet beeindruckend, wie 25 Jahre nach der I. Bitterfelder Konferenz auf einer Konferenz in der Maxhütte Unterwellenborn 1984 eingeschätzt wurde.[2] Für 1964, das Jahr der II. Bitterfelder Konferenz, wurden die schreibenden Arbeiter von bürgerlichen Literaturwissenschaftlern jedoch totgesagt, bestenfalls belächelt: »Eine heute exotisch anmutende massenkulturelle Initiative versandete wieder.«[3] Sie reagierten so auf einen Bildungsvorgang, der ihnen suspekt war, weil er sich auf einen ihnen fremden sozialen Teil der Gesellschaft bezog, dessen Besonderheit sie zwar ahnten, aber nicht wahrhaben wollten und den sie deshalb auch nicht zur Kenntnis nahmen. Deshalb gaben sie gravierende Fehlurteile ohne jede Kenntnis der Entwicklung und Fakten ab. Das Verfahren blieb aktuell; die Beispiele sind zahlreich und einige finden sich in diesem Band dokumentiert. Nur eines wird hier noch vorgestellt: Spiegel online veröffentlichte am 28. März 2013 einen Beitrag mit der seriös erscheinenden, wenn auch nicht ganz korrekten Überschrift »Greif zur Feder, Kumpel!«[4] Aber schon der Vorspann zeigte den aller Seriosität Hohn sprechenden Ansatz, denn »weil der SED viele Autoren des Landes verdächtig waren, sollte in ›Zirkeln schreibender Arbeiter‹ das Volk fabulieren«. Weder das Ziel noch der Vorgang waren richtig. Zwar benutzte die Verfasserin das Archiv Schreibende ArbeiterInnen in Berlin, aber bereits die Eröffnung machte den Tenor des Artikels deutlich: Das Archiv sei »staubig und grau«, der Schriftsteller Jürgen Kögel, der zwanzig Jahre im Zirkel am Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft war und sich ehrenamtlich um das Archiv bemüht, wurde als »Rentner« vorgestellt, der die Texte des Archivs »innig« liebe. Hohn und Geringschätzung, mit der Josefine Janert an ihr Thema ging, sind kaum zu überbieten. Ihr Verfahren entspricht dem der üblichen Herabsetzungen: Im Archiv lagere »die versammelte proletarische Dichtkunst des Arbeiter- und Bauernstaates«, Schriftsteller wie Erik Neutsch und Christa Wolf seien »brav« aufgebrochen, »um das Leben der Werktätigen kennenzulernen«, bei den »sich zuspitzenden Widersprüchen des Sozialismus« hätten sich die Autoren ins Private »geflüchtet«. Zu solchen Verdrehungen und Herabwürdigungen werden jene Bemerkungen aus Zirkeln gestellt, die kritischer Art sind, besonders bemerkenswert bei Brigitte Reimann, deren kritische Einschätzungen aus dem Zusammenhang gerissen verwendet werden, deren bedeutende Rolle als Zirkelleitern mit keinem Wort erwähnt wird, auch nicht der Einfluss der Zirkelarbeit auf ihren Roman Franziska Linkerhand. Da ist das Ergebnis eines solchen »seriösen« Artikels natürlich klar. »Große Schriftsteller gingen aus den Zirkeln zwar nicht hervor, wohl aber Autoren, deren Werke sich verkauften.« Dafür habe der »Bitterfelder Weg« »Ideologiekitsch« produziert Voller Häme und Geringschätzung, ohne genaue Kenntnis und vor allem ohne nur ansatzweise begriffen zu haben, dass es beim Bitterfelder Weg zuerst um einen Bildungsvorgang ging, wird von solchen Journalisten drauflos schwadroniert was das Zeug hält.
Janert setzte damit fort, was andere ihr vorgemacht hatten: 1998 schrieb Gero Hirschelmann über eine objektive Behandlung des Themas auf einer Konferenz in Vockerode,[5] vorbereitet von Manfred Jendryschik, einem Schriftsteller, der selbst aus einem Zirkel gekommen war: »Sah Schütrumpf doch im ›Bitterfelder Weg‹ vor allem den Versuch, ›alte Eliten durch neue zu ersetzen‹. Ein Rekrutierungsprogramm sei damals angelaufen, das mit stalinistischen Methoden versucht haben soll, unbotmäßige Intellektuelle auszuschalten.«[6] Mit »Schütrumpf« meinte er den Berliner Historiker Jörn Schütrumpf, der eine Darstellung »Stürmt die Höhen der Kultur!« Der Bitterfelder Weg während einer Führung der Tagungsteilnehmer durch die Ausstellung gegeben hatte, die den Bitterfelder Weg entschieden ablehnte und wofür er entschiedenen Widerspruch erntete. Schütrumpfs Darstellung ging zurück auf ein Diskussionsangebot aus dem Jahre 1997, in dem nichts aus der DDR anerkannt wurde. Der Fehler des Verfassers lag darin, dass er die Gesamtentwicklung ausschließlich aus den offiziellen Dokumenten der Partei, nicht aber aus den Leistungen der Menschen ableitete. Dabei entging ihm der Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit.[7]
Die Journalisten und Historiker setzten nur fort, was Schriftsteller wie Erich Loest und Werner Heiduczek[8] auf der sogenannten 3. Bitterfelder Konferenz, an anderer Stelle Wolfgang Hilbig ihnen vorgesprochen hatten, die den Bitterfelder Weg als »Feldweg, Irrweg und Holzweg« (Loest) sahen. Sie waren jedoch unter den Schriftstellern Ausnahmen. Und die 3. Bitterfelder Konferenz brachte erwartungsgemäß, da auch sie die entstandenen literarischen Dokumente und substanzielle persönliche Erfahrungen und Erlebnisse nicht einbezogen hatte, für eine objektive Geschichtsschreibung nichts.
Natürlich fragt man sich, warum Wissenschaftler und Journalisten derart hemmungslos Falsches oder Herabwürdigendes verkünden, ohne exakt recherchiert zu haben, Material zu studieren und ordentliche Studien zu treiben, was sie sonst – ich unterstelle es – tun. Die Erklärung ist, dass ihre Voreingenommenheit und ihre Vorurteile jede Sorgfalt hinfällig werden ließen, weil sie sich in arroganter Überheblichkeit diesen Prozessen, die sie nicht kannten, überlegen fühlten. Daraus entstand auch das gewollte Missverstehen: Die Bitterfelder Konferenz wurde gleichgesetzt mit den schreibenden Arbeitern, dabei ging es um alle Künste und der Akzent, bis in die Leitbegriffe und die Konferenzlosung, lag auf »Kultur« bzw. »Nationalkultur«, nicht auf Literatur. Deshalb erinnerte Harald Bühl, der das Präsidium des Bundesvorstandes des FDGB auf der Konferenz 1984 in Unterwellenborn vertrat, nachdrücklich daran, dass es um »ein hohes Kultur- und Bildungsniveau der Arbeiterklasse und ein reiches geistig-kulturelles Leben seiner Mitglieder (des FDGB, R.B.)«[9] gegangen sei und gehe. Es waren jedoch auch namhafte Schriftsteller, die sich geradezu über die schreibenden Arbeiter entrüsteten. Als Arno Schmidt 1973 mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt a.M. geehrt wurde, polemisierte er in seiner Dankesrede nicht nur gegen den Bitterfelder Weg im Allgemeinen (»anmaßend geführter Arbeiter= und Bauernkrieg gegen die Phantasie«), sondern auch gegen die schreibenden Arbeiter im Besonderen: »… die marxistisch beliebte Formulierung vom ›schreibenden Arbeiter‹ (bedeute) imgrunde eine Diffamierung des Berufsschriftstellers – gleichsam wie wenn man derlei auch ohne lebenslange mühsame Ausbildung, so nach Feierabend nebenbei mit=ausüben könne«. Schmidt, der sonst großen Wert auf Genauigkeit und wissenschaftliche Gründlichkeit legte, war hier von größter Oberflächlichkeit und kaum zu übertreffender Unkenntnis, die jedoch unwidersprochen blieb: Schmidt polemisierte gegen etwas, was die bundesdeutsche Öffentlichkeit nicht dulden wollte. Unter diesen Umständen fehlt bis heute eine zuverlässige Darstellung der Geschichte der schreibenden Arbeiter und ihres Wirkens. Auch lexikalische Darstellung müssen eingeschlossen werden: Das Metzler Lexikon DDR-Literatur[10] gibt weder unter dem Stichwort Bitterfelder Weg (S. 41–43) noch unter Zirkel schreibender Arbeiter (S. 377–378) zuverlässige Informationen. Bei den Zirkeln geistert u.a. immer noch »nach sowjetischem Vorbild« und die »neue ›bessere‹ deutsche Nationalliteratur« neben vielen anderen falschen Fakten durch den Text, die Zahlen beziehen sich auf 1960 und einzelne Aussagen von Hilbig u.a. werden unstatthaft verallgemeinert. Nicht ein einziger Zirkel wird genannt, nicht ein einziges Dokument eines Zirkels erwähnt. Von ähnlicher Qualität ist der Beitrag zum Bitterfelder Weg, bei dem »schnell eine einheitliche Ablehnung« durch die Schriftsteller »erkennbar« gewesen sei, während das Gegenteil nachweisbar ist und dokumentiert werden kann. Auch hier wurde auf eine Bilanz verzichtet, da die »Erträge in dem Bereich der Breitenkultur … schwer zu fassen« seien, weshalb der Versuch gar nicht erst unternommen wurde. Er wäre, wie die Auswahlbibliografie zeigt, nicht so schwer gewesen, zumal auch Hefte der ndl (Neue Deutsche Literatur; z.B. 1968, 3 und 4) und andere Zeitschriften sich dem Gegenstand gewidmet haben. Die Geschichte der schreibenden Arbeiter der DDR ist nach wie vor nur ansatzweise geschrieben, die des Bitterfelder Weges noch weniger.
Ich wurde also 1964 gefragt, ob ich an dieser Arbeit teilnehmen und einen Zirkel leiten wolle. Volkskunstschaffen und Bitterfelder Weg waren mir nicht neu, nur hatte ich mich bis dahin als Kabarettist und junger Lyriker betätigt, zuerst ganz im Stillen, dann während der Armeezeit im Zittauer Artillerie-Regiment 7 1958–1960, als Folge der I. Bitterfelder Konferenz, in dem Kabarett Das Bajonett, das sehr erfolgreich war und aus dem bekannte Künstler hervorgingen wie der Schauspieler Siegfried Voß (1940–2011) und Wolfgang Schaller (geb. 1940), der nach seiner Armeezeit Pädagogik studierte, Lehrer in Görlitz wurde und 1970 in die Dresdner Herkuleskeule eintrat, die er von 1986 bis 2012 leitete. Am Ende der Armeezeit betreute ich das Kabarett Die Kugelblitze, reichte Gedichte für den Zentralen Ausscheid junger Talente ein und wurde ausgezeichnet.[11] In der Chronik des künstlerischen Volksschaffens findet man in diesem Zusammenhang Namen schreibender Arbeiter oder späterer Zirkelleiter, die ebenfalls ausgezeichnet wurden: Irmgard Heise, Reinhard Kettner, Ulrich Völkel und andere.
Zu Beginn des Studium in Leipzig 1960 war ich in einem Zirkel schreibender Studenten, an dem auch Volker Braun und Bernd Schirmer teilnahmen, der nur kurze Zeit existierte. Zudem gab ich das Schreiben auf, weil ich mich mit dem zunehmendem Wissen um Literatur mehr der analytisch-wissenschaftlichen als der schöpferisch-künstlerischen Arbeit widmen wollte. Einfluss auf diese Entscheidung hatte mein hochverehrter Lehrer Prof. Dr. Hans Mayer, der wohlwollend Gedichte von mir gelesen hatte, aber in einem persönlichen Gespräch riet, mich zwischen wissenschaftlicher und schöpferischer Beschäftigung mit Literatur zu entscheiden. Ich tat es.
Erneut mit dem Bitterfelder Weg direkt in Berührung kam ich, als ich 1963 an einer Diplom-Arbeit über Willi Bredel schrieb und dabei nicht nur mit ihm Briefe wechselte, sondern im Zusammenhang mit einem Praktikum beim Rundfunk ihn am 18. Februar 1963 in Berlin besuchte. Bredel hatte 1959 auf der I. Bitterfelder Konferenz über seinen Weg vom schreibenden Arbeiter zum Schriftsteller gesprochen; im Gespräch mit ihm, das vor allem seine Erzählung Das schweigende Dorf betraf, kam er darauf zu sprechen und beschrieb seinen Weg zum Schreiben, aber auch den Zusammenhang mit fortwährend erworbener Bildung, für deren privaten Erwerb er ein vorbildliches Beispiel bot (Die Prüfung).
Ich erklärte mich also 1965 bereit und übernahm den Zirkel in Leuna im Januar 1966. Es blieb nicht bei der Zirkelleitung in Leuna: Nach dem frühen Tod Wolfgang Friedrichs 1967 übernahm ich den Vorsitz der BAG (Bezirksarbeitsgemeinschaft) und arbeitete in der ZAG (Zentrale Arbeitsgemeinschaft) mit, die im Oktober 1960 in Leipzig gegründet worden war und deren erster Vorsitzender Hasso Grabner wurde, den ich in Leuna als Zirkelleiter ablöste. Auch führte ich die Kontakte zur Dortmunder Gruppe 61 und Josef Büscher sowie zum Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, die Wolfgang Friedrich geschaffen hatte, kontinuierlich weiter.[12] Hinzu kam ein brieflicher, auch persönlicher Kontakt zum Schriftsteller Peter Schütt, als er sich noch als linken Dichter gab, und der Hamburger Werkstatt.
Später wurde ich bis 1986 selbst Vorsitzender der ZAG, Mitglied in verschiedenen Beiräten des Ministeriums für Kultur, hielt Vorlesungen zur Methodik in Zirkeln schreibender Arbeiter am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig, war bei den Wettbewerbern der schreibenden Arbeiter in Jurys tätig, organisierte Lesungen bis hin zu den Arbeiterfestspielen u.a.
Die ich schreibe, Zeitschrift für schreibende Arbeiter erlebte dreißig Jahrgänge; verantwortlicher Redakteur unter dem Chefredakteur Hanns Maaßen war zuerst Andreas Leichsenring, dann Ursula Dauderstädt. Seit 1964 veröffentlichte ich darin kontinuierlich und gehörte dem Redaktionsbeirat an. 1976 erschien das »Sachbuch für Schreibende« Vom Handwerk des Schreibens, 1983 nach erstaunlichem Erfolg in zweiter Auflage. Ich hatte es gemeinsam mit Andreas Leichsenring und Hans Schmidt (1926–1990) herausgegeben und mehrere Kapitel darin verfasst. Auch in der Bundesrepublik wurde auf die Einmaligkeit und Besonderheit dieses Buches aufmerksam gemacht: Manfred Durzak erklärte in einem Gespräch mit Günter Kunert, in der Bundesrepublik gebe es kein Buch, »das sich ähnlich als Handwerksinstrument für Schreibende versteht«.[13] Es gab kein Feld in der Bewegung schreibender Arbeiter, mit dem ich mich nicht beschäftigte oder auf dem ich nichts zu tun hatte. Zahlreiche Zirkel und sehr viele Schreibende kannte ich persönlich. Am intensivsten und dauerhaftesten aber war die Arbeit im Leunaer Zirkel – nach 1989 nannte er sich, weil die Bindung an das Werk abrupt mit der beginnenden Arbeitslosigkeit beendet wurde, Literarische Werkstatt Leuna. Ich leitete diese Gruppe von 1966 bis 2008. Dann gaben wir die Zirkeltreffen auf – zu viele waren gestorben, sehr alt, krank oder konnten keine Reisen mehr antreten –, aber die Verbindung mit den verbliebenen Zirkelmitgliedern brach nicht ab und dauert bis heute an.
Im zurückliegenden Jahrzehnt hat es Interessierte aus dem Inland,[14] aber vor allem aus dem Ausland gegeben, die sich nach den schreibenden Arbeitern und dem Bitterfelder Weg erkundigten und bei mir ein und aus gingen. Daraus sind wissenschaftliche Arbeiten entstanden[15] oder entstehen gerade.[16] Rundfunk und Presse interessierten sich zu nehmend dafür; ein Höhepunkt wurde 2009 zum 50. Jahrestag der I. Bitterfelder Konferenz erreicht. Aus dem, was für mich eine weitgehend ehrenamtliche Nebenbeschäftigung gewesen war, ist ein wesentlicher Teil meines Lebens geworden, neben der Berufstätigkeit an Universitäten des In- und Auslandes, in Verlagen, bei der Presse usw. Immer öfter trafen und treffen Anfragen ein, wollten interessierte Menschen Aufklärung. Daraus entstanden nach 1989 einige größere Aufsätze, Rezensionen und andere Beiträge. Einige von ihnen wurden hier vereinigt, beginnend mit einem der Ahnherrn der Bewegung, Willi Bredel, und endend mit Aufsätzen über einige Autoren, die an der Bewegung schreibender Arbeiter beteiligt waren, von Lutz Reichelt alias Erhart Eller über Alfred Salamon bis zu Lutz Seiler, dessen Roman Kruso 2014 den Deutschen Buchpreis bekam. Noch immer kommen junge Autoren und legen Manuskripte vor, wollen beraten werden und staunen, wenn man ihnen von der Vielfalt des literarischen Lebens in den Zirkeln erzählt, die nicht vorrangig auf Veröffentlichungen zielten, sondern von der Gemeinsamkeit, dem Lernen, dem Begreifen und dem Genießen von Kunst und Literatur lebten.
Im Zusammenhang mit Rückfragen und Bitten um Informationen fand ich offene Ohren. Der Kulturpolitiker Johannes Kunze (geb. 1956) vom Burgenlandkreis, einst von 1984 bis 1989 Mitglied in dem von Alfred Salamon geleiteten Zirkel in der Schuhfabrik Weißenfels, schickte mir auf meine Bitte hin einige Angaben und Material des Zirkels und fügte an, was viele andere mit ähnlichen Worten mitteilten: »Ist ja auch meine Geschichte, die mich einst sehr geprägt hat! Möchte ich nicht missen!«[17] Er schrieb im Zirkel, schrieb auch danach hin und wieder weiter und schreibt heute Reden für den Landrat.
Um Interessierten einen Überblick und Anregungen zu geben werden diese Texte veröffentlicht, zum freundlichen Gebrauch und zur nachhaltigen Erinnerung. Wenn in den letzten Jahrzehnten viel Werbung für Kreatives Schreiben gemacht wurde, wenn Sachbücher entstanden wie ein Lehrbuch des kreativen Schreibens (2001, Verfasser: Lutz von Werder) und sein Einsatzgebiet angepriesen wird als »neues Lehrgebiet«, kann daran erinnert werden, dass das alles nicht neu ist, sondern auf hohem Niveau in der DDR in den Zirkeln schreibender Arbeiter gepflegt wurde. Auch zur Historisierung dieses Niveaus und um das Wissen darüber nicht völlig zu verdrängen soll das vorliegende Buch dienen und so auch den Grundstein für eine Geschichtsschreibung zur Bewegung schreibender Arbeiter legen.
Die meisten Beiträge liegen gedruckt vor, sind allerdings oft schwer zugänglich; sie wurden weitgehend in der ursprünglichen Fassung, von Fehlern, einzelnen journalistischen Formulierungen und größeren Wiederholungen bzw. Überschneidungen bereinigt und durch Anmerkungen teils aktualisiert, aufgenommen. Manche Fakten kommen dennoch mehrfach vor, was in Anbetracht der geringen Kenntnisse zu diesem Thema von Nutzen sein kann, die selbst bei Wissenschaftlern, die sich mit dem Bitterfelder Weg beschäftigt haben, festzustellen sind. Das Register verzeichnet die wesentlichen Namen, Einmalnennungen sind nicht alle aufgenommen worden.
[1] Am 1.–2. Juli 1960 fand am Germanistischen Institut eine wissenschaftliche Konferenz zum Thema Die Bewegung schreibender Arbeiter und die Aufgaben der Germanistik statt. Beteiligt waren Schriftstellerverband, Mitteldeutscher Verlag und Hochschulgruppe des Kulturbundes. Das Referat arbeiteten die späteren Professoren Hans-Georg Werner und Günter Hartung gemeinsam mit Dr. Wolfgang Friedrich und Dietrich Allert aus.
[2] Vgl. die Dokumentation der Konferenz Ein gutes Wort zur guten Tat. 25 Jahre Bewegung Schreibender Arbeiter, hrsg. vom Bundesvorstand des FDGB, zwei Hefte, Berlin 1984.
[3] Von den zahlreichen Beispielen sei nur dieses genannt, weil durch eine Literaturgeschichte weit verbreitet, Wolfgang Emmerlich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 130.
[4] Josefine Jagert: Schreibzirkel in der DDR. »Greif zur Feder, Kumpel!« Spiegel online vom 28. März 2013. – Im Original ist kein Komma vorhanden.
[5] Die Autoren und der Bitterfelder Weg, Propaganda – Illusion – Blickerweiterung. Tagung im Rahmen der kulturhistorischen Ausstellung »mittendrin – Sachsen-Anhalt in der Geschichte« in Vorbereitung der expo 2000.
[6] Gero Hirschelmann: Ein Blick zurück auf den Bitterfelder Weg. In: Mitteldeutsche Zeitung vom 13. Juli 1998.
[7] Jörn Schütrumpf: Ausstellung ›mittendrin‹. Abschnitt ›Bitterfelder Weg‹. Diskussionsangebot für die konzeptionelle Debatte am 28. Juli 1997 vom 12. Juli 1997.
[8] Vgl. Klaus Staeck (Hg.): Kunst. Was soll das? Die Dritte Bitterfelder Konferenz. Göttingen 1994, S. 13 (Loest) und 15 (Heiduczek).
[9] Ein gutes Wort zur guten Tat. a.a.O., Heft 2, S. 23.
[10] Michael Opitz, Michael Hofmann (Hg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Stuttgart-Weimar 2009.
[11] Vgl. Chronik des künstlerischen Volksschaffens 1958–1962. Teil I. Jahrbuch 1968, Leipzig 1968, S. 55.
[12] Vgl. Sokoll: Von Gelsenkirchen nach Leuna und zurück – ein deutsch-deutscher Briefwechsel zwischen Josef Büscher und Prof. Dr. Rüdiger Bernhardt. In: Ute Gerhard/Hanneliese Palm (Hg.): Schreibarbeiten an den Rändern der Literatur. Die Dortmunder Gruppe 61. Schriften des Fritz-Hüser-Instituts, Bd. 25, Essen 2012, S. 215–233.
[13] Durzak: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart, a.a.O., S. 85.
[14] Vgl. Anne M.N. Sokoll: »Ein gutes Wort zur guten Tat«. Die Zirkel schreibender Arbeiter im Spannungsfeld zwischen staatlichen Anforderungen und dem Streben nach Freiraum innerhalb der DDR-Volkskunstbewegung und in ihrer Außenwirkung nach Westdeutschland. In: Cepl-Kaufmann, Grande (Hg.): Schreibwelten – Erschriebene Welten, a.a.O.
[15] Vgl. William James Waltz: The Movement of Writing Workers in the German Democratic Republic: The Vision of Cultural Revolution and the Reality of Popular Participation. Dissertation: University of Wisconsin-Madison, 2014.
[16] Anne M.N. Sokoll schreibt an einer Dissertation, die kurz vor ihrer Beendigung steht.
[17] Mail vom 28. Mai 2015 an den Autor.