Strafverfolgung, Forschung und Polemik um einen Wehrmachtsverband in Weißrußland
von
Titelbild:
Generalmajor Gustav Maria Benno Freiherr von Mauchenheim, genannt Bechtolsheim
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eISBN 978-3-86933-199-7
Print ISBN 978-3-86933-156-0
„Facts will set you free“
Vorwort
Einleitung
Vorspiel Verdun
Ein Panorama von Forschung und Meinung
Weltkrieg und bundesdeutsche Gesellschaftskritik
Die Werkstatt des Historikers
Gerede und Urteil im Fall Kube/Bechtolsheim
Unterstellungsfragen
Befehlsstrukturen
Die Täter feiern sich – Unfreiwillige Selbstbezichtigungen der NS-Stellen
Das Andrian-Tagebuch
Zwei Regimenter als kommunizierende Täterröhren
Ergebnisse der bundesdeutschen Strafverfolgung
„Eines Culturvolkes unwürdig“
Alltag hinter der Front
Weitere inhaltliche Einzelfragen
Beweisschwierigkeiten
Gefangenenerschießungen
Sowjetische Strafverfolgung
„Die Partisanen sind das Opfer“
Das Unternehmen Bamberg
Zusammenfassung
Anhang
Auswahlbibliographie
Unveröffentlichte Quellen
Zeitgenössische Literatur und gedruckte Quellen
Sekundärliteratur
Zeugenaussagen
Abkürzungsverzeichnis
Index
Vor etwas mehr als einem Jahrzehnt präsentierte das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) die zweite Fassung seiner Ausstellung über „Verbrechen der Wehrmacht“. Diese Form der Anklage traf auf ein offenbar verbreitetes Bedürfnis der jüngeren Bevölkerung, sich von der deutschen Kriegsgeneration zu distanzieren. In den Diskussionen an der Ausstellungsorten bildeten sich regelmäßig Frontstellungen zwischen „jung“ und „alt“, wobei die alten Zeitzeugen des Jahres 2003 dann an Zahl zu gering und zu schwach waren, um sich Gehör zu verschaffen.
Die „Wehrmachtsdebatte“ gehörte jedenfalls zu den allgemeinen Aufregern der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts in Deutschland, soweit sich das öffentliche Interesse auf die NS-Geschichte richtete. Dabei blieb an den angeklagten deutschen Streitkräften letztlich manch negativer Eindruck hängen, auch weil in den folgenden Jahren beispielsweise das Deutsche Historische Institut in Warschau mit ähnlich konzipierten Ausstellungen nachzog. Schließlich zeigte sich auch die neuere Wehrmachtsforschung bei allen Anstrengungen zur Objektivität – insbesondere der Herausarbeitung der Tatsache, daß sich Soldaten im Einsatz in der Regel weniger von ideologischen Motiven leiten lassen als von dem Gedanken, sich persönlich zu bewähren – von vielen ahistorischen Klischeevorstellungen durchzogen. Die Frage, wie „Geschichte“ letztlich als Erzählung zustande kommt und welche Klischees dabei wirksam werden, kann anhand der neueren Publikationen zu den deutschen Streitkräften des Weltkriegs auf originelle Weise erörtert werden. Auch dies ist ein Grund für die vorliegende Publikation.
Vieles hängen blieb zudem an einzelnen Personen. Die Wehrmachtsdebatte wurde von einer Neubewertung des individuellen Verhaltens in Kriegszeiten begleitet, die sich neben der Abschaffung von Traditionen und der Aufhebung von Gedenkstätten unter anderem in einer Umbenennungswelle von Kasernen ausdrückte. Dieser stete und immer noch anhaltende Prozeß rückte zugleich Offiziere in den Vordergrund, die einer weiteren Öffentlichkeit bis dahin unbekannt waren. Zu den von dieser Entwicklung betroffenen Personen gehörte Generalmajor Gustav Freiherr von Bechtolsheim, von dem im folgenden im Zusammenhang mit der von ihm kommandierten Infanteriedivision die Rede sein soll. In vielen neueren Publikationen erhielt Bechtolsheim die Rolle einer „traurigen Berühmtheit“ als derjenige unter den Wehrmachtsgenerälen, der sich und seine Einheit angeblich besonders und aus eigenem Antrieb an der Tötung der jüdischen Bevölkerung beteiligt sehen wollte. Dies ist – gelinde gesagt – ein starker Vorwurf. Er ist vergleichsweise neu, und sein Ursprung kann recht genau bestimmt werden. Einer der Hauptprotagonisten der „Wehrmachtsausstellung“, der später nach zahlreichen Fehlern und Falschdarstellungen geschaßte Historiker Hannes Heer, kann für sich in Anspruch nehmen, diesen Vorwurf zuerst erhoben zu haben und tut das auch. Bis in die frühen 1990er Jahre seien die Division und ihr Kommandeur in der Forschung weitgehend unbekannt gewesen. Er habe das seit 1994 geändert.1 Ob dies gerechtfertigt war, wird im weiteren deutlich werden.
Wer sich den Einzelheiten des Krieges auf dem Boden der Sowjetunion in den Jahren 1941-1944 nähert, betritt unweigerlich ein finsteres Forschungsgebiet. Es geht und ging dabei um Ermittlung von Ereignissen und Verantwortlichkeiten, schließlich um Schuldzuweisung für Taten, die zu den furchtbarsten der Kriegsgeschichte gehören. Manche, die das vorliegende Manuskript vor seiner Veröffentlichung gelesen haben, reagierten deshalb auf die Konfrontation mit diesen Fakten irritiert bis schockiert. Die Frage, unter welchem Aspekt es sinnvoll ist, sich so ausgiebig mit Schauerlichkeiten wie den damaligen Massenerschießungen zu befassen, bleibt zeitlos aktuell und muß von jedem für sich beantwortet werden. Es scheint, daß auch die berufsmäßig mit diesen Dingen befaßten Historiker unter dem Eindruck der Fakten manchmal bewußt oder unbewußt dazu neigten, schnell zu einem Allgemeinurteil und damit weg von ihrem Anblick zu kommen, manchmal zu schnell. Mit aller Vorsicht und viel Respekt wird hier eine Abhandlung zu einem Teilaspekt vorgelegt, die dies zu vermeiden sucht.
Stefan Scheil
Wer immer sich mit dem deutsch-russischen bzw. dem sowjetischnationalsozialistischen Krieg beschäftigt, muß sich den besonderen Problemen der Quellenlage stellen, die dort gegeben sind. Es sind, um es kurz zu sagen, Probleme, die sich aus dem extremen Ausmaß an Desinformation und Fälschung ergeben, das hier vorliegt und sich durch die Dokumente und die Zeugenaussagen zieht. Gelogen und gefälscht wurde und wird natürlich in jedem Krieg, während der Kampfhandlungen2 und auch danach. Wenn es um die dauerhafte Deutung, die Schuldzuweisungen an die gegnerische Politik oder die Diffamierung einzelner Personen geht, dann gibt es insbesondere in der Moderne offenbar keinen Friedenszustand. Für den vorliegenden Fall kam noch die Besonderheit hinzu, daß dem „heißen“ Krieg nicht nur kein Friedenszustand, sondern ein jahrzehntelanger Kalter Krieg folgte, der nicht zuletzt auf deutschem Boden ausgetragen wurde. Er drehte sich unter anderem um das Selbstverständnis der westdeutschen Republik, in dem die juristische Aufarbeitung der NS-Zeit mit den Jahren eben nicht, wie zu erwarten wäre, eine geringere, sondern etwa seit Ende der 1950er eine immer größere Bedeutung gewonnen hat. Letzteres erhielt durch die Vereinigung zweier deutscher Teilstaaten 1990 einen neuen Schub und hält bis heute, dies wird im Jahr 2015 geschrieben, ungebrochen an. Das läßt sich etwa an den Bemühungen der bundesdeutschen Justiz ablesen, teilweise fast hundertjährige Personen unter Gesichtspunkten anzuklagen, die Jahrzehnte vorher noch als verjährt oder überhaupt nicht strafbar gegolten hätten.
Nehmen wir ein bekanntes Beispiel für systematische Totalfälschung von sowjetischer Seite: den Fall Katyn. Daß in der Nähe dieses russischen Ortes von sowjetischer Seite mehrere zehntausend polnische Offiziere ermordet wurden, kann heute als Allgemeinwissen historisch gebildeter Personen gelten. Deutlich weniger verbreitet, aber auch einigermaßen bekannt, ist die Tatsache, daß die Sowjetunion versucht hat, dieses Verbrechen zunächst als deutsches Verbrechen darzustellen und diese Version auch im Nürnberger Hauptprozeß gegen die überlebenden Teile der deutschen Staatsführung vorgebracht hat. Fast völlig unbekannt und jedenfalls gänzlich unterschätzt ist allerdings im weiteren das Ausmaß der dafür gefälschten Dokumente. Man brachte in Nürnberg und auch in einem Prozeß in Minsk, bei dem deutsche Soldaten verurteilt wurden, nicht einfach nur die bloße Behauptung des Verbrechens vor. Man ergänzte diese Anklage durch die Fabrikation von Fotos, Dokumenten, Gutachten und Zeugenaussagen, die allein in den gedruckten Akten des Nürnberger Prozesses mehrere Dutzend Seiten einnehmen. Darin enthalten waren auch gefälschte Postkarten und Briefe, mit denen der Beweis angetreten werden sollte, es hätten die 1940 erschossenen polnischen Offiziere bis zum Beginn des deutschen Angriffs im Sommer 1941 noch ihren Familien geschrieben und demnach noch gelebt. Die Bereitschaft der sowjetischen Führung, diese Dokumente vorzulegen, wirft ein negatives Licht auch auf andere strittige Fragen.
Wer es trotzdem unternimmt, zu einem Aspekt der deutschen Besatzungspolitik eine belastbare Darstellung zu erarbeiten, wie in diesem Fall zum Einsatz der 707. Infanteriedivision und ihres Kommandeurs Bechtolsheim, der muß dies berücksichtigen. Diese Feststellung erfordert ein gesundes Mißtrauen gegenüber Dokumenten und Aussagen jedweder Art. Als selbstverständliche Zurückhaltung scheint dies derzeit allerdings häufig nur noch gegenüber den Zeugenaussagen deutscher Militärangehöriger oder sonst in der UdSSR eingesetzter Personen Eingang in die Forschung zu finden. Es sollte aber ebenso für Dokumente gelten, die aus der früheren Sowjetunion stammen, auch für scheinbar deutsche Dokumente aus sowjetischer Herkunft. Brachte die westliche Geschichtsschreibung und auch die bundesdeutsche Justiz diesen Dingen aus dem „Osten“ in der Nachkriegszeit zunächst fast absolute Ablehnung entgegen, so sind beide im Lauf der Zeit in Richtung eines fast ebenso absoluten Vertrauens gekippt. Das gilt häufig auch für die Zuspitzung einzelner Sätze aus Feldpostbriefen oder von protokollierten Aussagen vor der Justiz. Michael Wildt hat dies bereits im Jahr 2000 mit Blick auf die damalige Holocaustforschung kritisch vermerkt:
„Zitate aus Vernehmungsprotokollen werden zum Beispiel wie authentische Wiedergaben des Gesagten behandelt, völlig unbekümmert darüber, daß es sich in aller Regel um die Mitschrift eines Justizangestellten handelt, der die Aussagen des Vernommenen nach bestem Wissen und Können zusammenfaßt, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die Vertrauensseligkeit, mit der Historiker mit Vernehmungsprotokollen umgehen, muß etwas mit der generellen Schriftgläubigkeit dieser Zunft zu tun haben, die stets in Gefahr steht, das Geschriebene mit dem Wirklichen zu verwechseln.“3
Nun kann Geschichtswissenschaft bekanntlich nicht anders, als sich auf das Geschriebene zu stützen. Ihr Zugriff endet nämlich exakt dort, wo Geschriebenes nicht vorhanden ist und sie muß dann der Archäologie oder anderen Wissenschaften Platz machen, spekulieren oder schweigen. Dessen ungeachtet trifft es sicher zu, daß die Begeisterung über den Zugriff auf schriftliche Quellen, die der Historiker dann im Idealfall noch als „neu“ präsentieren kann, oft den quellenkritischen Blick trübt.
Für die Wehrmachtsdebatte spielte das insofern eine allgemeine Rolle, als in den neueren Darstellungen zahlreiche Aussagen sowjetischer Provenienz eine tragende und oft dramatisierende Rolle spielen. Für den speziellen Fall der 707. Inf.-Div. gilt dies zwar nur mit Einschränkung. Hier sind es Dokumente und Aussagen deutscher Herkunft, die im Zentrum der Auseinandersetzung stehen. Eine wesentliche Ausnahme stellen allerdings die sowjetischen Gerichtsprotokolle und –urteile dar, in denen in der Nachkriegszeit die Taten jener litauischen Hilfstruppen abgeurteilt wurden, die zeitweise im Stationierungsgebiet der Division agierten. Sie geben indirekt einen Eindruck dessen, wofür die 707. Inf.-Div. verantwortlich war, und wofür nicht. Allerdings steht auch hier fest, daß die Prozesse und die Dokumenteneditionen in Bezug auf die möglichen Verbrechen litauischer Einheiten unter den Bedingungen des Kalten Krieges entstanden. Sie waren als Waffe in dieser Auseinandersetzung gedacht. In dem Monumentalwerk von Christoph Dieckmann über diesen Komplex heißt es beispielsweise dazu:
„Innerhalb des sowjetischen Litauen kursierten zunächst nur Broschüren und Zeitungsberichte, die über die Arbeit der in ganz Litauen von 1944 bis 1947 eingesetzten ‚Staatlichen Außerordentlichen Kommission für die Feststellung der von den deutsch-faschistischen Eindringlingen und ihren Helfershelfern begangenen Verbrechen‘ und über die ersten Kriegsverbrecherprozesse berichteten. Erst seit 1960 publizierte eine 1958 eigens eingerichtete Abteilung der Akademie der Wissenschaften Dokumentensammlungen unter dem Titel ‚Faktai kaltina‘ (‚Fakten klagen an‘). Den Kontext bildete eine geschichtspolitische Kampagne während des Kalten Krieges, die litauische Bestrebungen nach Unabhängigkeit desavouieren und die USA sowie litauische Emigrantenkreise, in denen auch litauische Kriegsverbrecher unbehelligt lebten, anklagen sollte.“4
Dessen ungeachtet erachtet Dieckmann die erwähnten Faktensammlungen für authentisch. Daß die Staatliche Untersuchungskommission Tatsachen verfälschte und Vorsicht im Umgang mit ihren Materialien angebracht ist, weiß er zwar ebenfalls und schreibt das einige Seiten später in den Fußnoten.5 Die zusammengestellten Dokumenteneditionen seien jedoch „fast durchweg zuverlässig“, erklärt er abschließend.6 Man fragt sich natürlich spontan, wie es wirklich mit einer Edition steht, die auch mehrere Dokumente des Justiz-, bzw. Innenministeriums der „Republik Litauen“ enthält, die teilweise vom 17. August 1941 und sogar vom 16. September 1941 datieren, wenn Dieckmann selbst an anderer Stelle feststellt, die improvisierten litauischen Regierungsstellen seien von deutscher Seite schon am 5. August 1941 aufgelöst worden.7
Angesichts dieser Sachlage und dem Komplex „Verbrechen“, um den es hier geht, müssen auch die Methoden der historischen Forschung in diesem Fall angepaßt werden. Wer einzelnen Personen oder militärischen Einheiten ein Verbrechen vorwirft, muß dafür im Prinzip gerichtsfeste Beweise erbringen. Das ist normalerweise nicht das Amt des Historikers. Dennoch sind im Rahmen der Wehrmachtsdebatte häufig Vorwürfe erhoben worden, die eigentlich eine entsprechende Vorgehensweise erfordert hätten. So bleibt denn im Rahmen einer Untersuchung wie dieser, die sich damit beschäftigt, ob dies gerechtfertigt gewesen sei, der Rückgriff auf so etwas wie Ermittlungstätigkeit gegenüber den historischen Fakten und deren Präsentation nicht erspart. Insofern unterscheidet sich diese Studie von anderen, die der Autor bisher vorgelegt hat. Er hofft, diesen besonderen Anforderungen gerecht geworden zu sein.
Der Gang der Untersuchung wird sich zunächst ein wenig den Voraussetzungen widmen, unter denen der deutsch-sowjetische Krieg der Jahre 1941-45 seine außergewöhnlichen Ausmaße annehmen konnte. Dann werden die prominentesten Fragestellungen über die 707. Infanteriedivision anhand der Beiträge verschiedene Historiker vorgestellt. Sie werden auf Übereinstimmung mit der Quellenlage sowie innere Widerspruchsfreiheit überprüft und schließlich mit den Ergebnissen der Ermittlungen deutscher Strafverfolgungsbehörden kontrastiert. Im weiteren werden dann einige Einzelfragen, bzw. einzelne Vorgänge, Taten und Verbrechen untersucht, bei denen die 707. Infanteriedivision beteiligt gewesen sein soll. Dies wird teilweise über die bisherige Debatte hinausführen. Schließlich folgt eine abschließende, zusammenfassende Einschätzung der Ergebnisse.
„Gewalterfahrung“ ist in den letzten Jahren ein viel verwendeter Begriff im Rahmen von Militärgeschichte geworden. Die Forschung versucht sich mit seiner Hilfe, auf neue, aber auch zeittypische Weise an die Kriegserlebnisse der Soldaten der jahrzehntelangen Weltkriegsära anzunähern. „Gewalterfahrung“ kann dabei zunächst einmal vieles sein, aktive Gewaltausübung wie passive Gewalterfahrung, irreguläre, vielleicht verbrecherische Gewalterlebnisse, aber auch nach damaligem Verständnis reguläre, militärische Gewalt zur Durchsetzung eigener Ziele. Die Verwendung des Begriffs in der Literatur vermeidet aber häufig den früher für viele Soldaten selbstverständlichen Bezug der ausgeübten oder erlittenen Gewalt zum Erfolg eines Gefechts. Obwohl er angesichts der nötigen Opfer immer fragwürdiger wurde, gehörte der „Sieg“ eingangs des 20. Jahrhunderts noch zu den Motiven des Handelns.
Die Führungsspitze der 707. Inf.-Div. des Jahres 1941 hatte sich viele Jahre davor an einem Ort kennengelernt, an dem Sieg und Sinnlosigkeit eine besonders enge Verbindung eingegangen waren. Regimentskommandeur Carl von Andrian und Divisionskommandeur Gustav von Bechtolsheim waren Jahrzehnte vorher gemeinsam auf dem Schlachtfeld von Verdun angetreten.8 Sie kannten die „Blutmühle“ jenes Orts aus eigener Anschauung, an dem hunderttausende deutsche und französische Soldaten dem Kalkül geopfert wurden, das jeweils andere Land könnte dies auf Dauer nicht durchhalten. So wechselten scheinbar wichtige örtliche Höhenzüge und Hügel immer wieder den Besitzer, ohne daß letztlich eine Entscheidung gefunden wurde. Bechtolsheim und Andrian lernten sich an einem solchen Tag kennen, an dem gesiegt wurde und von den beteiligten deutschen Truppen doch nur wenig übrig blieb.9
Leider muß man sich mit diesen allgemeinen Bemerkungen begnügen. Es liegen wenige ausdrückliche Bezugnahmen der Beteiligten vor, aus denen sich ein Zusammenhang mit den Kriegserlebnissen 1914/18 und ihrer Einschätzung der Lage des Jahres 1941 zweifelsfrei ableiten ließe. Immerhin sollen diese Zusammenhänge nicht vergessen werden, denn nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch auf der Ebene persönlicher Erfahrung war ganz Europa zu dieser Zeit eine Kriegsgesellschaft. Das galt für alle Kriegsparteien. Ganz besonders in Osteuropa traf 1941 allerhand an „Gewalterfahrung“ aus den vorausgegangenen Jahrzehnten zusammen, der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder hat dies in seiner Studie über die dortigen „Bloodlands“ umfassend beschrieben.10 Was in Weißrußland zwischen 1941 und 1943 geschah, läßt sich deshalb weder vom ersten Weltkrieg und Verdun, noch vom russischen Bürgerkrieg, noch vom russisch-polnischen Krieg der 1920er Jahre, noch vom innersowjetischen Terror der Zwischenkriegszeit, noch vom sowjetischen Terror in den 1939 besetzten Gebieten der früheren Republik Polen trennen. Wer dort im Sommer 1941 lebte, hatte vieles gesehen und nicht selten auch getan. Auch die litauischen Hilfstruppen der deutschen Besatzung waren keineswegs nur Opfer des sowjetischen Terrors geworden, sondern hatten manchmal auch eine andere gewalttätige Vergangenheit. Betrachten wir die Reaktion des deutschen Militärs darauf zunächst einmal im Licht der Tagebücher des Regimentskommandeurs Andrian. Sie stellen eine zeitnah entstandene Quelle dafür dar, was vor Ort geschehen ist. Am 6. November 1941 vermerkte Oberst v. Andrian diesen Zusammenhang in seinem Tagebuch:
„Um 8 Uhr kommen die Juden ins Ghetto. Kommen sie später, aber immer noch vor der festgesetzten Stunde, dann machen sich die Litauer Polizisten ein Vergnügen daraus, die Heimkehrer abzuschießen. Letten u. Ukrainer waren i. J.[ahre] 1918 u. 19 von den Bolschewiki schon zu Massenermordungen, in erster Linie an Deutschen, eingesetzt.“11
Andrian notierte das, einen eigenen Versuch zum Einschreiten vermerkt er nicht. Möglicherweise gab es wirklich keine rechtliche Handhabe für die Wehrmachtsstellen gegenüber der litauischen „Polizei“. Wie aus seinem Tagebuch hervorgeht, galt das auch für andere, zum Beispiel für von der Verwaltung beschäftigte deutsche Stellen. Doch läßt sich diese kühle Beschreibung wohl kaum ohne das Vorausgegangene verstehen.
Die 707. Inf.-Div war seit ihrem Eintreffen in Weißrußland nicht nur mit den Gewalttaten von Litauern und den vorausgegangenen sowjetischen Verbrechen, sondern auch mit den Tötungen von Juden durch den Sicherheitsdienst der SS konfrontiert. Den Tagebuchnotizen Carl von Andrians läßt sich jedoch weder vor noch nach diesem Zeitpunkt eine besondere Abneigung oder gar Feindschaft gegenüber Juden entnehmen. Er hielt von den „Aktionen“ gegen sie nichts, auch wenn der vorherige Feldkommandeur Generalmajor Wilhelm von Stubenrauch bei der Übergabe des Kommandos mit starken Behauptungen über diese Bevölkerungsgruppe aufwartete:
„Folgende Rolle haben die Juden hier gespielt: Sie machten die Angeber, meist mit falschen Anschuldigungen, beseitigten damit ihre Gegner und fast die ganze Intelligenz, setzten sich an ihre Stelle und hielten die übrige Bevölkerung in Angst mit ihrer Angeberei, z.B. wenn die Bauern ihre Waren in die Stadt fuhren, bieten sie die zuerst den Juden an. Diese kaufen sie um einen Spottpreis und geben sie teuer weiter. Heute noch hat die Bevölkerung noch Angst vor den Juden. Sehr scharf wird gegen sie vorgegangen.“12
Ob Andrian das alles glaubte oder nicht, läßt sich den Aufzeichnungen nicht ausdrücklich entnehmen. Jedenfalls war er offenbar nicht der Ansicht, daß die so als rein negativ beschriebene Rolle der Juden generell den Tatsachen entsprach. Auch aus diesem Grund mißbilligte er wenige Tage später das, was man beim Sicherheitsdienst anscheinend unter „scharfem Vorgehen“ verstand und tatsächlich in alltäglichen Mord ausuferte:
„Wir kamen heute auf die Judenfrage zu sprechen. Es werden sehr viele Juden erschossen vom SD. Sie werden zum Teil einfach auf der Straße aufgegriffen und ohne ersichtlichen Grund beseitigt. Angeblich hat der SD Weisung von Himmler. Nun sind die Juden hier meist Handwerker, Techniker usw. Die Leute fehlen uns dann sehr. Ich halte das Vorgehen für Unsinn, von der moralischen Seite ganz abgesehen.“13
Zehn Tage später wiederholte er diese Kritik, diesmal wegen eines regelrechten Massakers des SD an den Juden im Ort Smolowicze:
„Die Abendmeldung der 2. Kp berichtet, daß in Smolowicze sämtliche Juden, 1400, durch den Sicherheitsdienst erschossen wurden. Ich kann solchen Dingen nicht zustimmen.“14
Auch sein Kommandeur, der später in der Wehrmachsdebatte so stark angegriffene General von Bechtolsheim stimmte diesen Dingen offenbar nicht zu, jedenfalls läßt sich den Aufzeichnungen nichts dergleichen entnehmen. Er habe „nicht gut“ ausgesehen, „recht schmalwangig“, so lautet eine jener Stellen, aus der man indirekt auf die Reaktion Bechtolsheims auf solche Meldungen schließen könnte.15 Bei weiteren einlaufenden Meldungen aus dem täglichen Irrsinn blieb für Andrian wenigstens stets die schmale Genugtuung, daß seine Einheit und damit die Wehrmacht nicht direkt dabei gewesen sei:
„Aus Molodecno wird mitgeteilt. In dortigem Kriegsgefangenenlager wurden laut Meldung erschossen 85 Männer, 247 Frauen, 210 Kinder. Die Wehrmacht hat nicht geschossen.“16
Als unmittelbare Gegenmaßnahme auf solche Vorgänge fiel Andrian nicht mehr ein, als einer der an diesen Morden beteiligten Einheiten die Verpflegung zu sperren. Männer der Organisation Todt hatten in einer Möbelfabrik in der Nähe 27 Arbeiter als angebliche Partisanen erschossen:
„Ich ließ Oberbaurat Hertwich in Uniform sofort kommen, fuhr ihn an, wie ein Sonderführer solchen Erschießungsauftrag geben könne. Macht über Leben und Tod stünde ihm nicht zu. H. redete sich auf den Stalag-Stamm-Gefangenenlager hinaus. Einzelheiten wisse er nicht. H.: nach 24 Minuten müsse solch ein Tod doch geklärt sein. H. sagte ferner, seine Leute gehörten nicht zum Wehrmachtsgefolge. Gut, sagte ich, dann empfangen sie auch keine Verpflegung vom Verpflegungslager. Eine Entscheidung war nicht zu treffen, weil Sachlage nicht ganz geklärt. Ich befehle schriftl. Bericht. Unerhört, solche Vorgänge.“17
Andrians weitere Versuche der Aufklärung und der Information darüber, was andere Einheiten und besonders die Geheime Feldpolizei eigentlich taten, wurden abgeblockt. Das sei geheim und könne nicht mitgeteilt werden. Das nächste Mal, als im Tagebuch von der Organisation Todt die Rede war, ging es erneut um Judenmord und Plünderung.18 Die 707. Inf.-Div. versuchte aus diesen Dingen möglichst herauszuhalten, wenn auch vielleicht nicht immer mit Erfolg. Es gibt im Andrian-Tagebuch keine Stelle, die auf etwas anderes schließen ließe. Betrachten wir aber an dieser Stelle die Argumente, die dennoch für eine Tatbeteiligung vorgebracht werden und die Personen, die sie vorbringen.
In welchem Umfang die seit den 1990ern in Deutschland geführte Wehrmachtsdebatte ein Nachklang der politischen Auseinandersetzungen ist, die sich begrifflich allgemein mit dem Jahr „1968“ verbinden, das illustriert zum Beispiel die Biographie eines der Hauptbeteiligten. Der 1941 geborene Historiker Hannes Heer absolvierte gewissermaßen eine mustergültige 68er Karriere. Er trat früh der Studentenbewegung bei, ließ sich 1965 in den Asta wählen, wurde ein Jahr später Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes und wegen seiner Nähe zu kommunistischen Organisationen nach Abschluß des Studiums 1969 nicht als Referendar übernommen. Diesem klassischen Werdegang folgten der Marsch durch verschiedene kulturelle Institutionen, bei Theater und Film, zeitweise universitäre Lehraufträge und auf diese Weise die Mitarbeit an dem allgemeinen Großprojekt der politischen Linken, in der Bundesrepublik ein Geschichtsbild zu etablieren, das dem Land als ganzem eine Täterperspektive verordnete. Obwohl dabei viele Klischees und Stereotypen des realsozialistischen Antifaschismus der Deutschen Demokratischen Republik übernommen und gepflegt wurden, zielte die 68er Bewegung dabei auf eine andere Deutung des Faschismus. Deutete die DDR den bekämpften „Faschismus“ als Klassenherrschaft und Sonderform des Kapitalismus, suchte der bundesdeutsche 68er ihn in Kinderzimmer und Familie, in der „autoritären Person“ und der „patriarchalischen Gesellschaft“, also eigentlich überall, wo bürgerlich gelebt wurde.
Damit war klar, daß es ideologische Unterschiede zwischen dem Bürgertum zur Zeit des Nationalsozialismus und den bisher als Träger des Regimes begriffenen NS-Organisationen eigentlich nicht gegeben haben durfte. Eine solche Differenz stellte das 68er Weltbild fundamental in Frage, daher mußte behauptet werden, sie habe nicht existiert. Dieser Zusammenhang ist in der Wehrmachtsdebatten umfassend spürbar geworden. Die Gefahren für die eigene Position witternd, hat ihn Hannes Heer allerdings abgestritten, zum Beispiel hier, als Reaktion auf Ulla Hahns Roman „Unscharfe Bilder“:
„Ulla Hahn, 1945 geboren, will etwas zurechtrücken und wiedergutmachen. Für sie war die Wehrmachtsausstellung nicht die längst fällige Offenlegung der Wahrheit, sondern ein mitleidloses Tribunal und ein später Sieg der 68er über die eigenen Eltern. Gegen diese Chimäre hat sie ihren Roman geschrieben. Der Kriegsgeneration soll Gerechtigkeit widerfahren, sie muß den Raum und die Zeit haben, ihre in der Öffentlichkeit unterdrückten Bilder zu präsentieren. Nur eine solche Wiedergutmachung, das erzählt das sentimentale Finale, ermöglicht Versöhnung.“19
Gegen solche und andere Versuche zur Objektivierung und Gerechtigkeitsfindung für die Kriegsgeneration wehrte sich Heer mit vollem Einsatz. Die sogenannte „Wahrheit“ war für ihn erst durchgesetzt, wenn alle als Mörder dastanden:
„So verkehrt sind sie nicht, die Großväter und Väter, die uns von Medicus, Hahn und Surminski präsentiert werden. Auf den Bildern sind Menschen zu sehen und keine Mörder. Dieses Ergebnis verdankt sich allerdings einem groben Fehler: Die Kamera hat gewackelt. Alles unscharfe Bilder.“20