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Kurt Salterberg

Als Wachsoldat in der Wolfsschanze

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Aus der Sicht eines einfachen jungen Soldaten berichtet der Zeit- und Augenzeuge über die Abläufe des 20. Juli 1944 in einem Zwiegespräch mit Ute Jape

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Erzähler und Zeitzeuge: Kurt Salterberg

Text: Ute Jape

Assistent: Gerd Kampmann

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie das Recht der Übersetzungen vorbehalten.

Impressum

eISBN 978-3-86933-202-4

Print ISBN 978-3-86933-165-2

Inhaltsverzeichnis:

Vorwort:

Zwiegespräche zwischen Kurt Salterberg und Ute Jape

Lebenslauf

1920 gründete Adolf Hitler die NSDAP

Reichskristallnacht

Adolf-Hitler-Marsch

1939 Beginn des Zweiten Weltkrieges

16.12.1941 Einberufungsbescheid zum Reichsarbeitsdienst RAD

Meine Einberufung am 25. März 1942 zum Militär

Fronteinsatz in der Nähe um Orel

´FHQ` Führerhauptquartier Wolfsschanze bei Rastenburg und Illustration, Umbau der Wolfsschanze 1944

Ich bin Hitlers Wachsoldat

20. Juli 1944 Das Attentat auf Hitler

Ende meiner Dienstzeit als Posten an der Wache 1A

„Sonderkommando Seeschwalbe“

Die Zeit nach dem Attentat

Quartier Ulmen in der Eifel

Verlegung an die Ostfront

Lungendurchschuss am 3. März 1945

Am 30.4.1945 begeht Adolf Hitler im Hitlerbunker unter der Reichskanzlei in Berlin Selbstmord

Sprengung der Wolfsschanze

Der „Zweite Weltkrieg“ ist am 8. Mai 1945 zu Ende

Hindenburgdenkmal Tannenberg

Das Ehrengedenkmal in meinem Heimatdorf Pracht b. Hamm/Sieg

Der internationale Militärgerichtshof brachte die Verantwortlichen des Krieges vor ein Gericht

Reste des Einganges zum ehemaligen Sperrkreis 1 wiedergefunden

Laudatio: Prof. Dr. med. Anton Scharl

Zwei von vielen Veröffentlichungen in deutschen und amerikanischen Zeitungen:

Ute Jape, Fotografenmeisterin, Fotoreporterin, freie Schriftstellerin, Gesprächspartnerin, Autorin

Die Machtergreifung

Günter Sodl: Ergänzender Bericht zum Buch von Herrn Kurt Salterberg und Frau Ute Jape, nach Berichten und Tagebucheintragungen meines Vaters Franz Sodl, Leutnant im Führer-Begleit-Bataillon (FBB) von Januar 1943 bis Januar 1945

Beim Führer-Begleit-Bataillon des Führerhauptquartiers (FBB)

Einsatz der „Kampfgruppe Pohlmann“ des FBB in der Schlacht um Charkow Februar-März 1943

Die Schlacht um Narva

Der 20. Juli 1944

Aufstellung zur Führer-Begleit-Brigade

Die Ardennen Offensive

Danksagung

Vorwort

Kurt Salterberg: Immer wieder werde ich gebeten, über meine Militärzeit im Zweiten Weltkrieg, der am 1. September 1939 begann und am 8.Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation offiziell endete, und über die Wochen danach, zu berichten. Besonders aber auch über die Zeit, in der ich im FHQ (Führerhauptquartier) Wolfsschanze bei Rastenburg/Ostpreußen als Hitlers Wachsoldat diente. Als Augen- und Zeitzeuge habe ich dort das leider misslungene Attentat auf Adolf Hitler, vom 20. Juli 1944 in der Lagebaracke im FHQ von meinem nahegelegenen Wachposten aus miterlebt und kann darüber berichten. Am 20. Juli 1944 hatte der geheime Widerstandskämpfer Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg versucht, Hitler durch einen Sprengsatz zu töten. Hitler überlebte das Attentat, weil die Aktentasche mit der präparierten Bombe nicht an dem von Stauffenberg vorberechneten Platz stehen blieb, sondern ungünstig weiter entfernt von Hitler, platziert wurde.

Schon viermal nach dem Kriege habe ich die wunderschöne masurische Landschaft, die mich immer wieder begeistert, besucht. Natürlich suche ich dann auch das Gelände der ehemaligen Wolfsschanze auf, das heute in Polen wegen seiner riesigen Trümmerbrocken zur touristischen Attraktion geworden ist. Nach dem verlorenen Krieg wurde die Kreisstadt Rastenburg zur polnischen Stadt Ketrzyn umbenannt. Jedes Mal wurde ich von meinen Reisebegleitern oder auch von den dortigen Touristenführern, die mich teilweise kennen, gebeten, ihren Gruppen über meine Zeit als Soldat zu berichten, und meine Ortskenntnisse einzubringen.

Über die Hintergründe der Kriegsführung Hitlers wurde ich als junger Soldat leider nie angemessen aufgeklärt. Als Soldat hatte ich Hitler durch meinen Eid unbedingten Gehorsam geschworen. Ich musste den Kommandos meiner Vorgesetzten gehorchen. Während des Krieges, im gefährlichen Fronteinsatz, hatte ich auch kaum Zeit über den Sinn oder Unsinn der Befehle nachzudenken. Nach den erbitterten Kämpfen im eisigen Winter 1942/43 an der Ostfront und dem großen Leid, das ich dort täglich miterlebt hatte, war ich zufrieden, im FHQ in einer ordentlich organisierten Wehrmachtseinheit dienen zu können. Als junger Soldat hat mir die Anlage, wie wir das FHQ nannten, sehr imponiert. Von einer Bedrohung durch den Feind war im FHQ zunächst noch nichts zu spüren. Doch am 20. Juli 1944 erlebte ich als Wachsoldat in unmittelbarer Nähe das Attentat auf den Führer Adolf Hitler mit. Ich selbst hatte den geheimen Widerstandskämpfer Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg an meiner Wache passieren lassen. Am 20. Juli 1944 kam er mit Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, in einer Gruppe von Offizieren, um an einer Lagebesprechung teilzunehmen. Keitel zeigte mir wie stets, schon aus etwa drei Meter Entfernung seinen gültigen Dauerausweis, danach konnte die gesamte Gruppe den inneren Sperrkreis 1a betreten. Von Stauffenberg war kurzfristig zum Stabschef des Allgemeinen Heeres im Berliner Bendler-Block ernannt worden, wodurch er Zugang zu der Lagebesprechung im Führerhauptquartier hatte.

Die letzten Monate des Krieges verbrachte ich, wegen eines Lungendurchschusses im Kampf um Lauban (Niederschlesien) an der Ostfront, in verschiedenen Lazaretten. Nach dem Ende des Krieges war für mich und viele Soldaten, die Ungewissheit groß darüber, was die vier Siegermächte, nach Deutschlands verlorenem Krieg, noch mit uns vorhatten. Deutschland war in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden: Die vier Siegermächte waren USA, Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien. Nach meiner glücklichen Heimkehr in die Heimat, in das Dorf Pracht bei Hamm an der Sieg, wollte ich vom Krieg und vor allem von dem, niemals so vorgestellten, grauenhaften Erlebten, nichts mehr sehen und hören.

Erst 40 Jahre später wurde in mir die bewusst verdrängte Erinnerung an diese Zeit nochmals wachgerufen. Das war 1984, zum vierzigsten Jahrestag des 20. Juli 1944. Damals stand in unserer Rhein-Zeitung, das ‘ZDF’ suche Zeitzeugen zu diesem Ereignis. Ich rief beim ZDF an, hatte aber das Gefühl, dass ich zunächst gar nicht ernst genommen wurde. Doch am gleichen Tage, abends, rief mich Guido Knopp, ein deutscher Journalist, Publizist und Moderator beim ‘ZDF’, persönlich zurück und sprach recht lange mit mir. Guido Knopp ist vor allem für seine Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Themen bekannt. Wir hatten ein sehr interessantes Gespräch. Danach schickte Herr Knopp einen seiner Mitarbeiter, Herrn Piekowiak, zu mir nach Hause. Auch dieser unterhielt sich sehr lange mit mir über das Thema 20. Juli 1944. Tage später besuchte mich dieser Mitarbeiter nochmals. Er hatte einen Lageplan der Wolfsschanze dabei, hielt immer die Hälfte mit den Erklärungen zu, und ich musste dann die Gebäude und Bereiche benennen und viele Details dazu erklären. Die genaue Überprüfung meiner Angaben erfolgte aus folgenden Gründen: Am 25. April 1983 präsentierte der Stern in seinem Magazin in Hamburg, die von Konrad Kujau gekauften, angeblich originalen ‘Hitler-Tagebücher’. Doch einige Zeit später stellte sich heraus: Die Bücher sind eine Fälschung, denn Kujau hatte diese selbst angefertigt. Um nicht ebenfalls einem Schwindler auf den Leim zu gehen, wurden meine Schilderungen über die Wolfsschanze von Guido Knopp genauestens überprüft.

Seitdem haben das ‘ZDF’ und weitere Filmstudios immer mal wieder mit mir Aufnahmen und Aufzeichnungen über meine Kriegserlebnisse gemacht. Auf Grund dieser Aufnahmen und der Berichte im Internet und in den Tageszeitungen wurde ich in der Folgezeit bis heute zu Vorträgen und Interviews, überwiegend von Schulen, Vereinen und sonstigen Körperschaften eingeladen. Ich erfahre bei meinen Vorträgen mit anschließenden Diskussionen immer wieder, dass die meisten jüngeren Leute, die mit den derzeitig angebotenen Medien vertraut sind, sich die Zeit in der ich aufwuchs, der Armut und die Ahnungslosigkeit in Bezug auf Politik und Weltgeschehen, mangels Aufklärung und nicht greifbarer Literatur, gar nicht so richtig vorstellen können. In meiner Jugendzeit waren für mich die heutigen medialen Möglichkeiten, wie Fernsehen, Internet und internationale Vernetzung, auf die heute jeder interessierte Benutzer zurückgreifen kann, noch völlig unbekannt. Gegen das Vergessen und auch um der Jugend begreiflich zu machen was Krieg bedeutet, bin ich trotz meiner 93 Jahre immer wieder bereit, bei Anfragen über diese Zeit zu sprechen, Vorträge zu halten und mich jeder Diskussion zu stellen. Mein Appell an die Jugend ist: „Zeigt Zivilcourage!“

In meinem langen Leben habe ich sowohl zeitgeschichtliche, wie auch entwicklungstechnische große Veränderungen erfahren, die ich mir in meiner Jugend und in meiner Fantasie manchmal ausgedacht habe, aber in solchem Ausmaß nie erwartet hatte.

Nachdem ich mit der Fotojournalistin Ute Jape das Gebiet um die Masurischen Seen und die touristische Attraktion, die riesigen Trümmerreste der Gebäude des einstigen Führerhauptquartiers Wolfsschanze die völlig verbuschte und verwüstete Anlage des Hindenburg-Denkmal-Geländes bereist hatte, und Ute Jape alles fotografierte, haben wir, mit mir als Zeit- und Augenzeuge, in Text und Bildern mein Leben nun dokumentiert.

Pracht, im April 2016 Kurt Salterberg

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Kurt Salterberg und Ute Jape fanden 2012 nach mühsamer Suche einen Ziegelstein-Eckblock auf dem Gelände der völlig zerstörten Reichsehrenmal-Tannenberg-Anlage

Zwiegespräche zwischen Kurt Salterberg und Ute Jape

Jape: Das Gelände der ehemaligen Wolfsschanze bei Rastenburg mit den riesigen, im Laufe der Zeit üppig überwucherten Trümmerbrocken, und zerstörten Gebäuden in der Nähe der heute polnischen Stadt Ketrzyn, ist eine beliebte Touristenattraktion in Masuren geworden. Was empfinden Sie, wenn Sie ihren ehemaligen Einsatzort während des 2. Weltkrieges nach so langer Zeit wiedersehen?

Salterberg: Ich bin immer wieder erschüttert, wenn ich in der ehemaligen Wolfsschanze ankomme. Ich fühle mich um meine Jugend und meine Ideale so richtig betrogen. Mit welcher Begeisterung hatte ich der damaligen geschickten und verführerisch klingenden Propaganda des Dritten Reiches vertraut, die Angebote für die Hitlerjugend begrüßt und sehr gerne mit meinem totalen Einsatz mitgemacht. Wie begeistert und ohne Furcht bin ich in den Krieg gezogen.

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Nach dem, was ich mir nachträglich an Aufklärung und Hintergrundwissen über den 2. Weltkrieg angeeignet habe, sehe ich diesen Weltkrieg und meine Zeit als Wachsoldat der Wolfsschanze mit ganz anderen Augen.

Gott sei Dank habe ich viel Glück gehabt, das muss ich immer wieder sagen, denn viele meiner Freunde aus Pracht haben diesen Krieg gar nicht, oder nur schwer verwundet an Leib und Seele, überlebt.

Jape: Wie kam es dazu, dass Sie als einfacher Soldat der deutschen Wehrmacht in eine der wichtigsten Machtzentralen, in unmittelbarer Nähe des Führers Adolf Hitler, stationiert wurden?

Salterberg: Das ist eine lange Geschichte mit vielen Zufällen. So richtig kann ich Ihnen diese Frage gar nicht beantworten, denn ich habe mich selber darüber gewundert.

Mit welchem Zeitabschnitt soll ich beginnen?

Das Führerhauptquartier Wolfsschanze war ein militärisches Lagezentrum des Führungsstabes der deutschen Wehrmacht und eines der Hauptquartiere von Adolf Hitler während des Zweiten Weltkrieges. Es liegt in der Nähe von Rastenburg (heute Kętrzyn) beim Dorf Görlitz (heute Gierłoż) ehemals Ostpreußen. Als Hitlers Wachsoldat erlebte ich dort auch das misslungene Attentat auf Adolf Hitler in der Lagebaracke, das Generalstabsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944 gegen 12:42 Uhr verübte, während ich in unmittelbarer Nähe auf meinem Posten Wache stand. Damit Sie selbst alles beurteilen können, gebe ich einfach einen kurzen Lebenslauf bis zu dieser Zeit.

Lebenslauf

Am 8. Januar 1923 in Pracht (Kreis Altenkirchen) geboren, bin ich meiner Heimat bis zum heutigen Tage treu geblieben und bin dankbar, dass ich im Alter von 93 Jahren noch sehr gesund bin und die wichtigsten Erfahrungen meines sehr ereignisreichen Lebens, im Zwiegespräch mit Frau Jape, festhalten kann.

Meine Kindheit und Jugendzeit in Pracht erlebte ich mit meinem um drei Jahre älteren Bruder Heinz und meiner jüngeren Schwester Edeltrud in einem einfachen, sehr liebevollen Elternhaus. Mein Vater Heinrich Salterberg war Nachtwächter in einem Weißblech-Walzwerk in Wissen/Sieg. Mein Vater hatte sechs Geschwister. Meinem Großvater gehörte eines der drei Wirtshäuser, die es damals in Pracht gab. Heute wird nur noch eins davon bewirtschaftet, aber noch immer von einem Nachkommen der Familie Salterberg. Meine Mutter Emma, geborene Reinhardt, war die Älteste von dreizehn Kindern und musste, sehr jung noch, die Verantwortung für die große Familie mit übernehmen, da der Vater sehr früh gestorben ist.

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Das Familienfoto der Familie Reinhardt wurde von dem berühmten Fotograf August Sander aufgenommen. Das Besondere an diesem Foto ist, dass ein Nachbar für den schon verstorbenen Vater einsprang und August Sander auf seinen Körper den Kopf des Vaters einmontierte. Der Bruder Albert war zu dieser Zeit als Schulkind schon tödlich verunglückt. Meine Mutter h.R. vierte von links.

Hauptsächlich musste unsere praktisch orientierte Mutter auch unseren Haushalt allein versorgen, doch nach meiner Erinnerung schaffte sie das sehr gut, denn sie bezog uns drei Kinder bei allen anfallenden Arbeiten, besonders auch in der kleinen Landwirtschaft, kräftig mit ein. Unser Vater, der als Nachtwächter arbeitete, musste morgens zunächst erst einmal seinen Schlaf nachholen, erst nachmittags arbeitete er mit.

1923 gab es in dem kleinen Ort Pracht außer den Wirtshäusern noch drei Geschäfte und die beiden Schulgebäude. Die meisten Bewohner verdienten ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft oder im Handwerk. Außer in der Pulvermühle Hamm/Sieg und auf dem Weißblech-Walzwerk Wissen /Sieg gab es kaum Industriebetriebe für weitere Verdienstmöglichkeiten. 1928 bauten meine Eltern unter tatkräftigem Einsatz der Verwandten und Nachbarn, die in entsprechenden Berufen ihr Handwerk gelernt hatten, ihr eigenes Haus, nachdem im gleichen Jahr noch unsere Schwester Edeltrud geboren wurde. Straßennamen gab es damals noch nicht. Meine Eltern betrieben eine kleine Landwirtschaft mit zwei Kühen und meist einem Rind oder Kalb.

Ich war mit meiner Lebenssituation zufrieden. Mein Vater hatte einen Beruf, der ihm Spaß machte. Meine Mutter hatte schon in ihrem Elternhaus gelernt einen kinderreichen Haushalt mit Landwirtschaft gut zu durchplanen. Mit der Ernte aus dem eigenem Garten und durch den Nutzen der kleinen Landwirtschaft bekam sie uns immer satt. Sie konnte gut mit Kindern umgehen. Wir hatten auch ein sehr gutes Verhältnis zu unserer zahlreichen Verwandtschaft in Pracht und Umgebung. Diese altersmäßig sehr gemischte Gruppe brachte viel Abwechslung, unvergessliche Geselligkeit, und ein prägendes Gefühl von Zusammengehörigkeit, Verantwortung und Toleranz in mein Leben.

Sonntags wanderte ich gerne mit meinem Onkel Ferdinand, einem Bruder meiner Mutter, durch die nahegelegenen Mischwälder, die mich mit ihren unterschiedlichen warmen Farbnuancen zu jeder Jahreszeit immer wieder begeistern. Er lehrte mich zu allererst im Wald still zu sein, dem Gesang der Vögel wirklich zu lauschen, Ihre Stimmen zu unterscheiden und zuzuordnen. Wir konnten die Eier sämtlicher Vögel in ihren Nestern auseinander halten. Ich lernte Spuren und Fährten der Tiere im Wald zu verfolgen und mir ihre Eigenartigkeiten zu merken. Immer hatten wir einen kräftigen, selbst geschnitzten Stock oder „Knüppel“ dabei. Unser Ehrgeiz war die alten, meist überwucherten Grenzsteine unserer eigenen Waldgrundstücke aufzufinden. Es machte mich sehr stolz, und ich hatte ungeheuren Spaß, mit meinem Onkel Schritt zu halten, wenn wir das Ende unserer Waldgrundstücke etwa nur durch Abschreiten in Schritten bestimmen konnten und nach einigem Suchen und Herumstochern unsere Grenzsteine, die bereits um 1830 gesetzt wurden, entdeckten. Sie markieren die Größe der manchmal auch steil ansteigenden Waldgrundstücke. Bevor die Grenzsteine gesetzt wurden, markierten sogenannte Grenzbäume, im Sprachgebrauch auch „Bewund“ genannt, die Eigentumsverhältnisse. Noch heute werde ich oft um Rat gefragt, wenn jüngere Waldbesitzer ihre ererbten Waldgrundstücke nicht finden können, denn das Lesen der Karten, die oft noch in der alten Deutschen Schrift oder Sütterlinschrift geschrieben sind, und die eigentümlichen Flurnamen setzen doch einige Kenntnisse und Erfahrungen voraus.

Jape: Als Sie 1929 im Alter von sechs Jahren eingeschult wurden, lernten Sie ja noch diese Sütterlinschrift.

Salterberg: Als Schulanfänger erlernte ich diese Sütterlinschrift im Unterrichtsfach Schönschreiben. In meinem Schulranzen hatte ich einen Griffelkasten mit sehr zerbrechlichen Griffeln und eine gleichfalls sehr zerbrechliche Schiefertafel in einem Holzrahmen. In diesem Rahmen gab es ein Loch, in dem baumelten, mit einer Kordel befestigt, ein feuchtes Schwämmchen und ein trockenes Läppchen.

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Sütterlinschrift, Schiefertafel und Griffelkasten für den Schulanfänger Kurt Salterberg

In Pracht gab es 1929 eine Volksschule mit 2 Schulgebäuden. In dem älteren Schulgebäude unterrichtete ein Lehrer in einem Klassenzimmer die Klassen 1. bis 4. Schuljahr und in dem 2. Gebäude, ein anderer Lehrer, ebenfalls in einem Klassenzimmer, die Schüler der Klassen 5. bis 8. Schuljahr. Mit dem Schulanfang wurden wir Kinder auch zum Sport geführt.

An den Reichsjugendwettkämpfen ab 1933 in Hamm „Auf dem Bruch“ habe ich immer begeistert teilgenommen, und wenn wir die Normen erfüllten, empfingen wir stolz die ausgehändigte Urkunde. Heute weiß ich: Die Jugend wurde dadurch unbewusst wehrertüchtigt.

1920 gründete Adolf Hitler die NSDAP

Das Adolf-Hitler-Buch „Mein Kampf“ erscheint und wird zum Programm der NSDAP. Der 2. Band erscheint 1926. In diesem Jahr wurde auch die Hitlerjugend gegründet. Im Januar 1933 wird Adolf Hitler von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum deutschen Reichskanzler ernannt. Am 10.5.1933 zündeten die Nationalsozialisten die Bücher, das so genannte „undeutsche Schrifttum“ einfach an. Am 14.7.1933 gibt es das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien. Nachdem weitere Parteien verboten sind, blieb nur noch die NSDAP übrig. Deutschland ist nun ein Einparteienstaat. Zitat, http://wikipedia Auszug aus dem Internet: „Josef Goebbels, der 1925 in die NSDAP eintrat, wurde zuerst Reichspropagandaleiter. Er bereitete die Reichstagswahlen von 1930 und 1932 vor. Mit dieser Arbeit, bei der er schon die neuen Medien Film und Rundfunk einsetzte, bereitete er den Boden für die nationalsozialistische Machtergreifung. 1933 übernahm Goebbels das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, sowie die neu geschaffene Reichskulturkammer. Aufgrund seiner Macht, übte er die totale Kontrolle über die Kultur (Theater, Film, Literatur, bildende Kunst, Musik) aus. Die Medien manipulieren die Bevölkerung in ihrer Meinungsbildung.

Joseph Goebbels wurde am 29.10.1897 in Rheydt geboren. Er entstammte einer streng katholischen, kleinbürgerlichen Familie. Oft wurde er wegen seines „Klumpfußes“ in der Schule verspottet. Trotz der Hänseleien wurde er zum Besten seiner Klasse. Er studierte Germanistik. Er entwickelte, ähnlich wie Hitler, einen fanatischen Judenhass. Als der zweitmächtigste Mann des Großdeutschen Reiches im Nationalsozialismus Deutschlands, nach Adolf Hitler, galt der deutsche NS-Politiker Hermann Göring, Jagdflieger und Reichsmarschall. Mit Heinrich Himmler und Joseph Goebbels war Hermann Göring der dritte Vertraute Hitlers. Ab 1933 betrieb er den Aufbau der Luftwaffe. Mit Gründung der Gestapo 1933/34, organisierte Göring mit Himmler die Errichtung der Konzentrationslager.“ www.whoswho.de/bio/hermann-goering.html

Jape: Die NSDAP war ja sehr interessiert die Jugend in ihr Programm miteinzubeziehen. Welche Organisation hat Sie angesprochen?

Salterberg: Für die Jungen im Alter von 10 bis 14 Jahren gab es das Jungvolk, von 15 bis 18 Jahren die Hitlerjugend, alle Angebote habe ich genutzt. Für die Mädchen aller Altersklassen gab es den BDM, Bund Deutscher Mädchen. Die Angebote: die sportlichen Betätigungen, die Eltern- und Singabende, die Gelände- und Schießübungen, die Fackelzüge usw. wurden von fast allen Jugendlichen mit Begeisterung angenommen. 1933 war ich 10 Jahre alt. Nachrichten und Politik haben mich damals überhaupt nicht interessiert. Meine Eltern und Lehrer machten auf mich auch nicht den Eindruck, als wären sie mit Hitlers Politik nicht einverstanden. Zukunftsangst habe ich nicht wahrgenommen. Neben der Schule, den Pflichten zu Hause, und den Angeboten des Jungvolks und der Hitlerjugend, habe ich meine freie Zeit gerne mit meinen Freunden in Pracht, draußen im Freien verbracht.

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Bis auf wenige Ausnahmen tragen alle Schüler die Uniform von Jungvolk und BDM.

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Hitlerjugend wird zur Pflicht.

Jape: Als wichtigen Beitrag dieser Zeit füge ich noch das Kalenderblatt der Rhein-Zeitung über den 25. März 1939 an: Hitlerjugend wird zur Pflicht.

Reichskristallnacht

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Die ehemalige Synagoge von Hamm/Sieg

Jape: Am 9. November 1938, in der Pogromnacht- verharmlosend als „Reichskristallnacht“ bekannt, kam es in Deutschland zu massiver Gewalttätigkeit gegen Synagogen, jüdische Geschäfte und jüdische Bürger. Auch in Hamm/Sieg brannte die Synagoge, von SA -Trupps angezündet, in den Abendstunden ab. Sie waren damals noch sehr jung. Wie erlebten Sie diese extreme, unmenschliche Ausuferung der Gewalt?

Salterberg: