Alva Furisto
Seit er denken kann, ist Dirk unfähig Angst zu empfinden. Kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag schickt seine Mutter ihn in eine Nervenheilanstalt. Durch die Therapiesitzungen findet er einen Beruf, der zu ihm passt: Auftragskiller. Nachdem er Angora kennengelernt hat und Dirk als geheilt entlassen wird, scheint seine Welt perfekt. Doch dann tritt die Angst in Erscheinung …
Angst? Angst! Ich kann Sie nicht fühlen, die Angst. So ist das, seit ich denken kann.
Schon in meiner Kindheit führte meine Unvollkommenheit zu Irritationen. Ich ließ mich nicht einschüchtern. Dunkelheit ängstigte mich nicht — sie war wie ein Freund, mein Gefährte. Ich ging keiner Schlägerei, keinem Ärger aus dem Weg, keine Mutprobe war mir zu gefährlich.
Vielleicht denken Sie, diese Furchtlosigkeit hätte mich zu einem Anführer gemacht, aber dem war nicht so. Vielmehr begannen die anderen Kinder mich zu meiden. Ich war ihnen unheimlich. Schließlich führte meine sonderbare Einsamkeit dazu, dass Mutter mich zu einem Kinder- und Jugendlichen-Psychologen schickte. Zuletzt im Alter von 17 Jahren.
Dr. Klaust ist ein netter, älterer Herr; korpulent, mit kurzen grauen Haaren. Alles in allem hat er ein gepflegtes äußeres Erscheinungsbild, wenn er in seinem teuren Anzug auf seinem noch teureren Ledersessel sitzt und sich mit mir unterhält. Die exklusive Ausstattung seiner Praxis, samt seinem davor parkenden Sportwagen, lassen ihn für mich zu einem Vorbild werden. Er scheint sich von nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. So wie er, so will ich werden.
»Angst ist ein Oberbegriff für eine Vielzahl von Gefühlsregungen. Es geht dabei um die Verunsicherung des Gefühlslebens«, erklärt mir Dr. Klaust in unserer letzten Sitzung. Er sieht mich über seine extravagante Brille hinweg prüfend an. Ich zucke mit den Schultern.
»Ich fürchte mich vor gar nichts«, sage ich.
»Was ist mit Angst vor Veränderung? Angst vor Endgültigkeit, Angst vor Nähe, Angst vor Selbstwerdung?«
Ich zucke erneut mit den Schultern. »Was soll damit sein?«
»Machst du dir keine Gedanken über die Zukunft; darüber, was du werden willst? Es muss doch etwas geben, um das deine Gedanken kreisen?«
Ich schüttle den Kopf. »Alles liegt ganz klar vor mir. Warum sollte ich mich ängstigen? Natürlich denke ich darüber nach, aber das ist doch keine Angst.«
Dr. Klaust stößt angespannt den Atem aus. »Macht es dir denn nicht einmal Angst, dass du sie nicht fühlen kannst, die Angst?«
»Entschuldigen Sie, Dr. Klaust, diese Frage finde ich unlogisch.«
»Was willst du machen, wenn du erwachsen bist? Was denkst du, was du gut kannst?«
»Ich möchte sein, wie Sie.«
»Du kannst mit deiner Störung kein Psychiater werden!«, entfährt es ihm.
»Störung? Seit wann nennen Sie es eine Störung?« Ich bin enttäuscht von ihm.
»Verspürst du nun Angst? Was willst du jetzt werden? Das muss dich doch wenigstens nervös machen?« Erwartungsvoll sieht er mich an.
»Wissen Sie, wenn Sie sagen, es geht nicht mit dem Psychiater, dann werde ich Auftragskiller.«
Ich ärgere mich über ihn, weil er soeben meine Zukunftspläne zerstört hat. Dafür soll er schwitzen. Nach meinen Worten nestelt er sich nervös an seinem Hemdkragen herum und weicht meinem Blick aus.
Jedenfalls sehe ich ihn nach dieser Sitzung nicht mehr. Aber zwei Wochen später komme ich in eine 'Jugendherberge', wie meine Mutter den Betrieb nennt. Hey, ich bin fast achtzehn und nicht geistig behindert. Ich weiß Bescheid: Das ist eine Nervenheilanstalt.
Ich lasse dort im Laufe der Zeit einiges über mich ergehen. Sie verdrahten meinen Kopf mit Kabeln, entnehmen Hirnwasser und führen Messungen durch. Sie machen eine überaus unangenehme Entnahme von Rückenmarksflüssigkeit und führen endlose Gespräche mit mir.
Ich bin ziemlich genervt, denn ich habe ja nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Wenn mich jemand nach meinen Zukunftswünschen fragt, dann sage ich immer: Auftragskiller. Ich ergötze mich daran zu beobachten, dass sie das allesamt nervös macht. Irgendwie hängt das mit meiner Ausstrahlung zusammen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich mit meiner Mutter einen Termin. Ich liebe meine Mutter. Sie ist eine warmherzige und hübsche Frau, aber ihr Antlitz ist immer sorgenvoll.
Mein Vater starb, als ich drei Jahre alt war. Ich kann mich nicht daran erinnern. Und dann hat sie ein so sonderbares Kind wie mich großzuziehen. Ihr zuliebe reiße ich mich oft zusammen und versuche 'normal' zu sein.
Mama und ich sitzen bei Herrn Dr. Berger im Behandlungszimmer. Der Typ ist mir unsympathisch, aber was macht das schon? Es gibt nur wenige Menschen, die ich mag.