Heike Wenig
Hier bei uns - Dorstener Geschichten
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Tobias Stockhoff Bürgermeister
Carl Ridder
Heike Wenig
Carl Ridder
Franz Schuknecht
Carl Ridder
Heike Wenig
Clemens Schröder
Hans-Jochen Schräjahr/Josef Ulfkotte
Ruud te Slaa
Beilage
Edelgard Moers
Carl Ridder
Paul Fiege
Gerda Illerhues
Carl Ridder
Manfred Steiger
Manfred Steiger
Jupp Hürland
Gerda Illerhues
Werner Wenig
Peter Bertram
Fritz Oetterer
Heike Wenig
Edelgard Moers
Edelgard Moers
Gea Runte
Brigitte Wiers
Brigitta Frieben
Edelgard Moers
Gerda Illerhues
Hermann Kuhl
Heike Wenig
Gerda Illerhues
Rudolf Kowalleck
Edelgard Moers
Marion Vrenegor
Paul Lippick
Paul Lippick
Peter Bertram
Paul Lippick
Edelgard Moers
Ute Heymann gen. Hagedorn
Edelgard Moers
Brigitta Frieben
Edelgard Moers
Heike Wenig
Mein Ruhrgebiet
Gerda Illerhues
Ute Heymann gen. Hagedorn
Heike Wenig
Ute Heymann gen. Hagedorn
Jutta Wilbertz
Edelgard Moers
Vita
Impressum neobooks
Edelgard Moers, Heike Wenig (Hrsg:)
Hier bei uns - Dorstener Geschichten
- Historisches und Fantastisches -
Erstausgabe 2014
Umschlagbild: Jürgen Moers
Printed in Germany
HW-Verlag
Wischenstück 32
46286 Dorsten
Lektorat: Dr. Heike Wenig
Druck: flyer store, Augsburg
Alle Rechte beim Herausgeber und beim Verlag
ISBN-13 978-3-932801-64-8
Mit dem Band „Hier bei uns“ haben die Herausgeberinnen Edelgard Moers und Heike Wenig die nunmehr vierte Sammlung ortsbezogener Geschichten herausgegeben: spannende und manchmal auch ein wenig gruselige Geschichten, Erzähltes, Überliefertes und Erfundenes.
Interessant ist die Mischung alleine schon deshalb, weil sie den Leser geradezu animiert, sich seinen momentanen Stimmungen hinzugeben und die dazu passenden Erzählungen zu wählen oder – als eine andere Variante – ein Stimmungstief mit einer der heiteren Erzählungen zu bekämpfen. Vielseitig, weil Freunde historischer Betrachtungen ebenso angesprochen werden wie Liebhaber historisierter Geschichten, heiterer Erzählungen und kleiner Gedichte.
Edelgard Moers setzt mit ihren leicht und spannend erzählten Dorstener Sagen dabei schmunzelnde Lichtpunkte. Die bekannte Dorstener Erzählerin hat es wie immer verstanden, kurz und dennoch deutlich und mit einem Augenzwinkern Histörchen zu erzählen, die sich so in Dorsten zugetragen haben müssen. Sie kennt ihre Dorstener und weiß, wie man ihnen eine schöne kleine Geschichte aus der Heimat schmackhaft macht. Eingestreut zwischen den kleineren und größeren Geschichten anderer Autoren, ziehen sie sich dennoch wie ein roter Faden durch das ganze Buch.
Der vierte Band der Reihe „Dorstener Geschichte“ ist, wie die vorangegangenen Bände, ein Buch für Dorstener und Menschen, die Dorsten mögen. „Hier bei uns“ gibt dem Leser Aufschluss über das, was war und das, was ist – und ist damit mehr als nur liebenswerte Lektüre. Manch einer wird sich und seine Familiengeschichten wiederfinden, neu erzählt und neu erfunden, aber immer wahr.
Ich danke allen, die mit ihren Texten und Gedanken das Leben in unserer Stadt als literarische Basis gefunden und genutzt haben, um uns daran zu erfreuen, herzlich. Und ich danke den beiden engagierten Herausgeberinnen und Autorinnen dafür, dass dieses Buch erscheinen konnte: Ein Buch von Dorstenern für Dorstener. Und auch für alle, die Dorsten kennen und lieben.
Tobias Stockhoff
Bürgermeister
Die Weise von Hannes und seiner alten Stadt
Märztage. Jubelnder Finkenruf. Das erste Gemurre der erwachenden Luft läuft den Himmel entlang. Weiße Wolken wehen wie weiße Fahnen. Ein seliger Wind wiegt die drängenden, schwellenden Knospen. Aus den Hecken schaut hier und da ein Tupfen Grün. Am Schölzbach blutet der Weidenbaum. Ein weicher, wundersamer Glanz liegt über dem weiten Land. Pastellfarbig. Die Erde ist wie eine junge Braut. Sie hat ihr seidenes Kleid angezogen und schreitet wie eine Königin in den rufenden Morgen. Die Ferne ist dunstig. Eine Unrast fällt in die Welt. Die Sterne stehen nicht mehr still und der Mond putzt seine silberne Scheibe. Alles will Licht. Gott hat es angesteckt.
Auf die alte Stadt streut die Sonne flimmerndes Gold. Sie wird ganz wach. Der Winter mit Schnee und Eis ist vergessen. Das große Reinemachen beginnt. Des Jahres schönste Zeit wird kommen. In den Straßen und Gassen frohe, leuchtende Blicke. Schwatzige Frauen lauern in den Türen. Vor ihrem Blumenladen fröstelt die spinndürre Liese. Die Hände unter der Schürze. Sie weiß mit klapperndem Augenschlag kostbare Neuheiten zu erzählen. Taufrisch. Wie sie sich freut und weidet. Von Stunde zu Stunde weitet sich der Kranz neugieriger Weiber. Es wird getuschelt und gekichert. Morgen weiß es die ganze Stadt. Frau Dreyer rüstet zum Hochzeitsschmaus. Sie kocht nur bei vornehmen Herrschaften und erzählt nichts weiter. Aus den Fenstern winken die Mädchen. Hellauf lachen die Buben.
Am speckigen Geländer der hölzernen Brücke scheuern sich die Fischer die Knöpfe blank. Sie stieren großäugig über das Wasser weg. Sie sprechen nicht viel, priemen und spucken aber meisterhaft. Besser als die Fuhrleute. Freitags glatthaariger Fox steht wie ein Zolleinnehmer am frisch gekälkten Brückenhaus. Er ist blank geschrubbt und wartet mit bebenden Flanken auf Mantau, die struppige Töle von jenseits des Ufers. Die Silberpappeln im Flusstal rauschen mächtig auf. Ihr altes und neues Lied hebt an.
An der Stadtmauer recken die Türme die steifen Glieder. Grauer Mörtel rieselt über ihre Leiber. Sie werden nicht recht froh. Das Alter plagt sie. Zu ihren Füßen blühen Krokus und Schneeglocken. Um den himmelstürmenden Kirchturm von St. Agatha fliegen schreiend die Dohlen. Und eine Amsel flötet aus einer Linde am Patersgarten. Frühling!
Spitzweg hätte die alte Stadt malen müssen. Er hätte all den Zauber hineingepinselt, den sie besaß. Auch ihren Humor hätte er eingefangen, der in den Gassen zu Hause war. In jedem Winkel fing sich das Glück. Nichts war an ihr lieblos. Sie war sehr alt, aber sie hatte von dem Blutrot ihrer Jugend nichts eingebüßt. Ihre Augen waren spiegelblank. Sie kannte kein Sündenregister. Wie ein treuer Hund lag sie da. Ganz nahe an den Fluss geschmiegt. Wie war sie froh, wenn die Sonne höher stieg und die Stare und Spatzen in ihr laut wurden. Nie wurde es zu laut. Sie hatte ein mütterliches Herz. Sie schmiss keinen hinaus. Im Blauen des Sommers rührte sie sich nicht, der Herbst aber goss ihr Gold auf den Buckel.
Still wurde sie, wenn der Winter kam. Der brachte ihr einen Bart aus Eiszapfen und machte sie bitterkalt. Gern ließ sie sich einschneien. Und beim Fallen der Flocken duckte sie sich wie ein junger Vogel im Nest. Gott war sie schön, wenn der Mond ihr „Gute Nacht“ sagte. Dann war ihr Zauber erst vollends. Silber floss um ihre Schläfen, und um ihr müdes Haupt flochten die Sterne einen schimmernden Kranz. Hannes war dann häufiger bei ihr. Er strich durch Gassen und Gräben. Den Zeichenblock in der Hand. Und wenn auch alles nichts wurde, so war er doch reich geworden. Er hatte die schlafende Stadt belauscht. In der Stille und Weltvergessenheit der Nacht war sie ihm noch mehr als am rufenden Tag, und wie ein Schäfer mit traumverlorenem Blick seine Herde, so schaute er trunken die Schönheiten ihres nackten Leibes. Was der helle Tag an kleinen Unwahrheiten und Lieblosigkeiten zuließ, verdeckte schweigend und milde die Nacht und alles schien an ihr alt und wahr. Von den Türmen der Kirchen und Kapellen und von den Giebeldächern rann es hinauf und hinab, und der Friede der Welt schien in ihren Mauern geborgen.
Die Sonne zog sich die Schuhe aus. Sie wollte schlafen gehen. Den ganzen Tag hatte sie ein feuriges Köpfchen gehabt. Gott hatte es glühend geschürt. Der Sommer sollte es gut haben. Die Gärten waren buntkariert. Leuchten und Sterben standen nebeneinander. Seit dem frühen Morgen lag Goldflimmern über der alten Stadt. Sie mochte die Augen nicht öffnen. Ihr war es recht. Die Sonne konnte gar nicht heiß genug scheinen. Sie sperrte den Mund weit auf und ließ den Sommer tief bis ins Herz strömen. O seliges Leben. Sie überdachte die vielen Jahrhunderte. Wohl war ihr Rock ein wenig abgeschabt, auch wohl zerrissen, aber darinnen tropfte ein goldener Born. Der hielt sie jung. Wie ein großer Schutzengel erwachte sie über die, die in ihr ein- und ausgingen. Sie hatte ihre Art. Man merkte es nicht. Nur wenn man fort wollte, war sie auf einmal da. Sie war eine schöne Stadt. Es gab nicht viele ihresgleichen. Sie hielt auf sich. Wie eine Taube putzte sie sich jeden Morgen. Alles war an ihr blank. Nicht nur der Marktplatz und die breiten Straßen. Auch die kleinen Gassen, holprigen Gräben und Winkel waren sauber gescheuert.
Dort kannten sie viele nicht. Und doch lag da ihre ganze Glückseligkeit. Da war alles echt. Die bunt getünchten Leiber der kleinen Fachwerkhäuser und Hütten waren so alt wie sie. So zäh und so wahr wie sie. Ein Stück ihrer selbst. Hier „achtern Grawen“ war sie ganz zu Hause. Hannes hatte da oft hineingeschaut. In dieses wunderbare Leben und Treiben.
Hier waren die Wiegen immer voll. Man konnte kommen, wann man wollte. An den Brunnen und unter den alten Laternen spürte man den seligen Hauch. Von da nahm alles seinen Ausgang. Hier war sie besonders fruchtbar. Hier atmete sie ganz tief. Und alles, was sie so besonders reich machte, drang hier ans Licht. Die Sonne versank. Es war die Stunde des Schweigens draußen und drinnen.
Eine Hand voll Gold hatte die Sonne in jedes Herz gelegt. Keiner wusste recht, woher diese warme Freude gekommen. Die kleine alte Stadt hatte einen silbernen Reif um jeden gelegt. Ihre Glocken klangen aus Jahrhunderte über Jahrhunderte hinweg. Und aus dem Bronnen der Seele stieg die Heimat hoch.
Die alte Stadt hatte alle geformt. Hier auf dem kleinen Raum mussten sie vierschrötig und wunderlich werden. Das ewige Einerlei schnitt sich in ihre Rinde und prägte sie zu seltsamen Käuzen. Sanft wurde der eine, feurig der andere. Aber alle hatten sie das gleiche Dach über dem Kopf, und in der Geborgenheit der Heimat trabten sie alle ihrem und der sterbenden Zeit Ende zu.
Diese kleine Stadt nahm alle gefangen. Die, die in ihr schreiend ins erste Licht blickten und die, die als Wanderer gekommen waren. Eine wunderbare Weise ging von ihr aus. Traumhaft schritt alles Leben seinen Pfad. So unbewusst und doch so klar. So tiefgeliebt. Über Kirchtürme, Kapellen und Giebeldächer lief eine selige Melodie in ihr Herz. Dieses so mächtig schlagende Herz. Wo immer das grüne Moos sich an Gemäuer und Brunnen schmiegte, da sann sie über die alte Zeit nach. Oder sie dachte an ihren Tod. Einmal würde er kommen. Sie war vorbereitet.
Die Welt hatte sich nicht besonnen. Die Saat, die gelegt war, ging auf. Sie war mit Feuer und Schwert getränkt. Sie verschonte keinen. Auf der weiten Erde ging ein Morden an. Der Sensenmann flog durch die Luft. Er warf die Menschen tot. Die Großen wie die Kleinen. Er erstickte sie in ihren Löchern. Städte und Dörfer steckte er in Brand oder zerschlug sie mit dem Hammer.
Die kleine alte Stadt hatte den Winter überstanden. Eine wonnige Frühlingssonne strahlte ihr erstes Licht auf Straßen und Gassen. Froh wurde sie nicht, aber sie hatte ein gutes Gewissen. Sie war eine friedliche und wehrlose Stadt. Sie hatte keinem etwas zu Leide getan. Gott würde sie schützen.
Die Erde heulte auf. Ein dröhnendes Brausen erfüllte die Luft. Die alte Stadt zitterte. Der Tod kreiste um ihren Kirchturm. Seine Hämmer schlugen, und aus seinen blutleeren Händen strömte das Feuer. Das Sterben begann. Wilhelm Hoffrogge, der in der Kirche immer so schön sang, schnürte er die Kehle ab, und Gustchen Freitag packte er in ihrem Keller zu. Die Pforten der Hölle hatten sich aufgetan. Die Schreie nach dem goldenen Leben verstummten. Die Ernte war eingebracht.
Als Hannes in der Frühe des anderen Tages sich der alten Stadt näherte, fand er sie nicht wieder. Wie der Flaum einer Pusteblume war ihr Leib in alle Winde verweht. Kindheit, Jugend und ein blühender Sommer, ja eine ganze Welt, waren ausgelöscht. Und der helle Morgen rötete ein zertrümmertes Herz.
Wie Heiner und Anna nach Amerika kamen
1847 hatte Heiner schon länger keine Arbeit mehr. Wie sein Großvater und Vater hatte er das Handwerk des Seilers erlernt. In dem alten Städtchen Dorsten hatte es schon immer einige kleine Schiffswerften gegeben und zum Schiffbau wurden gute, starke Seile verwandt. Eine richtige Blütezeit hatte noch sein Vater erlebt, als die Lippe kanalisiert und Schleusen eingebaut wurden. Da nahm der Schiffbau in Dorsten einen Riesenaufschwung und das über seine Grenzen hinweg bekannte Schiff, die Dorstener Aak wurde in großer Stückzahl hergestellt. Es war eine Art Floß, das über die Lippe getreidelt wurde, d. h. an langen Tauen von Menschen oder Pferden den Fluss entlang gezogen wurde. Da wurden natürlich solche Handwerker wie Seiler gebraucht.
Sein Vater hatte es nicht mehr miterlebt, wie die Lippe anfing, zu versanden und wie es immer schwieriger wurde, die hergestellten Aaks dort hin zu transportieren, wo sie noch eingesetzt werden konnten.
Heiner war jung und versuchte sich, mit allerlei Aushilfsarbeiten über Wasser zu halten. Meist half er einer benachbarten Bäuerin, die frischen Lebensmittel nach Dorsten auf den Markt zu bringen. Und beim Verkaufen dieser Ware stellte er sich auch nicht schlecht an. Er sah gut aus. Wenn er am Verkaufsstand war, kamen auffällig viele junge Frauen an seinen Stand. Die Bäuerin sah es gern, weil sie dadurch fast immer ihre ganze Ware loswurde. Er machte die Arbeit gern, obwohl er tief in sich wusste, dass das keine Männerarbeit war. Aber er bekam einen kleinen Lohn und immer etwas zum Essen. Nur auf Dauer, das wusste er, musste sich sein Leben ändern.
Es gab viele Menschen so wie er, die zwar etwas Arbeit hatten, aber davon nicht leben konnten. Auf dem Marktplatz hörte er einige von ihnen erzählen, dass es in Amerika viel bessere Lebensbedingungen gäbe und dass man nach Amerika auswandern könne. Dieser Gedanke setzte sich in seinem Kopf fest und wo immer er etwas über Amerika erfahren konnte, saugte er dies Wissen auf.
Auf dem Markt kam sehr häufig ein junges Mädchen zu ihm und kaufte Eier und Fleisch ein. Sie war freundlich, offen und interessiert an allem, was um sie herum geschah. Sie kamen miteinander ins Gespräch und er erfuhr, dass sie die Tochter des Lehrers war. Sie war des Lesen und Schreiben kundig, hatte aber keine Vorbehalte, als er ihr sagte, dass er dies nie hätte lernen können. Schon früh habe er seinem Vater bei der Arbeit helfen müssen. Er wusste nicht, wieso, aber bald hatte sie ihn dazu gebracht, seine Lebensgeschichte zu erzählen und ihr auch seinen geheimen Traum von einem Leben in Amerika zu gestehen. Sie gefiel ihm sehr und bald schon musste er sich eingestehen, dass er sich in sie verliebt hatte. Aber dass diese Liebe keine Zukunft hatte, war ihm auch klar.
Sein Verhalten ihr gegenüber wurde abweisend, bis sie ihn schließlich fragte, ob sie ihm etwas getan habe. Sie wirkte traurig, als sie so vor ihm stand. Und so kam es, dass er ihr seine Liebe gestand und wie hoffnungslos das alles sei, sie eine Lehrerstochter und er ein armer Schlucker ohne richtiges Einkommen. Ihr Gesicht fing an zu strahlen und sie sagte, sie liebe ihn doch auch von ganzem Herzen und zusammen würden sie einen Ausweg finden, da sei sie sich ganz sicher.
Der Spätherbst war angebrochen und der Bauer beschied ihm, nun habe er keine Arbeit für ihn. Er solle sich doch wieder melden, wenn der Winter vorbei sei. Es kam eine Zeit, wo es ihm richtig schlecht ging. Von einigen Gelegenheits-arbeiten konnte er nicht leben. Seine Anna schmuggelte oft Brot und Wurst aus dem Haus und gab es ihm, wenn sie sich trafen. Auch das Treffen war schwieriger geworden, weil für sie die regelmäßigen Einkäufe auf dem Markt fort fielen.
Er wohnte auf einem kleinen Dorf ganz in der Nähe von Dorsten. Im Dorf und auch in dem Städtchen herrschte eine zunehmende Unzufriedenheit über die schlechten Lebens-bedingungen. Überall kam Unruhe auf. Als im Frühjahr 1848 Kunde von den Berliner Märzereignissen im Kreis Recklinghausen eintraf, zogen am Abend des 24. März in Dorsten etwa 30 bis 40 junge Menschen, hauptsächlich Handwerksgesellen, vor das Gerichtsgebäude, das Haus des Steuerempfängers, die Wohnungen einiger Gerichts- und Polizeibeamten und anderer Privatpersonen, um zu protestieren. Sie verlangten eine Änderung der bestehenden Verhältnisse und sozialen Schutz. Auch Heiner hatte sich den Menschen angeschlossen, aber beim Steinewerfen machte er nicht mit. Geholfen hatte ihnen das Protestieren nicht. Als die Unruhen am nächsten Tag weiter gingen, bildeten die Dorstener Bürger eine Bürgerwehr von drei Kompanien mit je 80 Mann und beendeten den Aufstand. Heiner konnte entfliehen. Andere wurden ins Gefängnis geworfen.
Als er seine Anna beim nächsten Treffen am verabredeten Ort sah, nahm sie ihn in die Arme und sagte, was für eine Angst habe sie um ihn gehabt. Und zuhause sei richtig viel Ärger mit dem Vater. Dieser habe von ihrer Freundschaft Wind bekommen, habe drei Tage getobt und sie mit seinem Kollegen, der nicht viel Jünger sei als er, verlobt. Jetzt plane die Mutter schon die Hochzeit. Nun, so sagte Anna, sei die Zeit gekommen, wo sie beide zusammen nach Amerika auswandern würden. Sie habe sich auch schon erkundigt und erfahren, dass in der nächsten Woche ein Treck von Auswanderwilligen in Recklinghausen aufbrechen würde. Und wenn er nicht wolle, dann würde sie allein auswandern. Heiner konnte fast nicht glauben, was sie da zu ihm gesagt hatte. Sie wollte mit ihm zusammen nach Amerika. Ja, dann schaffen wir das, rief er und wirbelte sie durch die Luft, bis sie in seinen Armen landete.
Wie verabredet, trafen sie sich nach einer Woche am Rande der Stadt. Jeder hatte einen Reisesack gepackt, nur mit dem Notwendigsten. Anna hatte aus dem Sekretär ihres Vater die Goldtaler, die ihr die Großmutter vererbt hatte und die laut Vater ihre Mitgift seien, heimlich an sich genommen. Das sei ihr beider Startkapital in Amerika, so sagte sie und hatte die Münzen gut an ihrem Körper verborgen. Sie schlossen sich dem Treck in Recklinghausen an, der fast nur aus jungen Leuten oder kinderreichen Familien bestand. Das Ziel war Bremen. Von dort aus konnten sie dann mit dem Schiff nach Amerika reisen.
Es war ein langer, beschwerlicher Weg. Schlafplätze und Essen mussten sie sich bei Bauern erbetteln. Einige aus dem Treck hatte etwas Geld und nahmen einen Planwagen für die weitere Reise. Heiner wollte das auch für seine Anna tun, aber Anna weigerte sich beharrlich. Das Geld ist für Amerika und nicht für hier. Dass sie einen festen Willen hatte, seine Anna, den sie dann auch eisern durch setzte, das hatte Heiner schnell gemerkt.
Nach vielen, vielen Wochen Wanderschaft unter schweren Bedingungen erreichten sie Bremen, von wo aus, wie sie wussten, regelmäßig ein Paketschiff nach Amerika fuhr. Sie blieben im Hafen, wo Heiner mit dem Kapitän des eintreffenden Schiffes aushandelte, dass er die Überfahrt abarbeitete. Dies wurde durch einen mündlichen Vertrag besiegelt. Für Anna bezahlte er die Reise. Den Preis dafür handelte er geschickt herunter, da er sie als seine Frau ausgab und sich mit einer engen Kabine für sie beide begnügte.
Was aber nun. Sie waren ja nicht verheiratet, wären es aber gern. Da machte er unter den auf die Überfahrt wartenden Menschen einen jungen Priester ausfindig und trug ihm seinen Wunsch, noch vor Abfahrt des Schiffes seine Anna zu heiraten, vor. Der Priester hatte in seinem kurzen Priesterdasein bereits vieles erlebt, war oft mit der Kirche nicht einverstanden gewesen und hatte auch mehrere Mischehen mit dem kirchlichen Segen versehen, was seinen Vorgesetzten gar nicht behagte. Deshalb war in ihm der Entschluss gereift, auszuwandern. Gott wird überall von den Menschen gebraucht, dachte er. So betrachtete er mit Wohlwollen das junge Paar und führte die Trauung in der kleinen Hafenkirche aus, ganz ohne Feierlichkeiten, aber mit einem Brautpaar, dessen Freude übermächtig war.
Die Überfahrt von Bremen nach New York dauerte 6 Wochen und Henner war durch die schwere Arbeit dünn und zäh geworden. Anna war oft seekrank. Das starke Schaukeln des Schiffes machte ihr sehr zu schaffen. Als aber das Schiff in den Hafen von New York einlief, standen sie beide an der Reling, er noch ganz verschmiert vom Öl der Maschinen, nahmen sich in die Arme, küssten sich und schauten auf ihr neues gemeinsames, Leben.
Hannes Jugend
Wiegenfest am Rande der alten Stadt. Krähend, ein Zehnpfünder, war Hannes in die Welt gepurzelt. In eine glückliche, friedliche Welt. Er trug das gleiche Haar wie seine Mutter, war aber aus dem Holz seines Vaters geschnitzt. Sein lautes Geschrei störte beileibe nicht seinen um zwei Jahre älteren Bruder Friedrich. Vergnügt hörte der zu. In ihm wohnte die Ruhe, und die Heiterkeit war sein ständiger Gast. Er war zu beneiden.
Wenn er mit übergeschlagenen Beinen in den kleinen Garten hineinträumte und unter dunkel bewimperten Augen mit sich und der Welt zufrieden auf Blumen und Vögel schaute, war es, als hätte Gott einen dicken, freundlichen Pusteengel vom Himmel fallen lassen. Das war Friedrich, in dieser Weise Hannes meilenweit überlegen.
Klein und hager, ernst und sinnend, dabei klug und von beharrlicher Zähigkeit, war aus altem Bauerngeschlecht Hannes´ Vater. In der geruhsamen Stille und Einsamkeit ländlicher Abgeschiedenheit war er in Einfachheit und Strenge aufgewachsen. Der ihn umrauschende Wald und Berg hatten Geist und Charakter geformt. Hannes fand sich in seiner Jugend nur schlecht mit ihm zurecht, und mehr als einmal schnurrte über ihm die schlanke Gerte aus der dicken Hecke von Bestens Garten.
Im Schatten und unter dem Geläut der Glocken der Pfarrkirche war Hannes´ Mutter geboren und groß geworden. Sie war ein echtes Kind ihrer Scholle und saß voll Sonne und Lebenslust. Ihre Ahnen waren schon viele Jahrhunderte angesehene und fleißige Bürger dieser alten Stadt, und so trug sie aufgehäuft in ihrem immer frohen Herzen die Bilder der Heimat wie einen nie versiegenden Quell. Wie konnte sie erzählen! Wenn Hannes ihrer reichen, schwärmerischen Seele lauschte, öffnete die alte Stadt weit ihre Tore, und alle bunten Gassen, Stiegen und Winkel wurden lebendig. Im Turm der Kirche war sie ebenso zu Hause wie an der Pumpe vor dem Alten Rathaus, und alle Seligkeit ihrer ungetrübten Jugend ließ sie tief in sich einströmen. O strahlendes Bild der Mutter im Zauber der alten Stadt!
Wie ein flügger Vogel zirpte sich Hannes in seinen jungen Morgen hinein. Fliegen brauchte er nicht, aber er musste laufen lernen. Haus und Garten waren seine Welt. Durch seine Feuerlocken blies lustig der Wind, und der kirschrote Mund fand die ersten Worte und Weisen. Die Sommersprossen kamen von selbst. Vom Regenwurm bis zum Apfel steckte er alles in sein kleines Maul. Wenn Gott die Erde tränkte, bekam er jedes Mal einen kräftigen Stritz mit, und da er jeden Tag in die Sonne lief, schoss er wie ein Pilz in die Höhe.
In der Schule am Kirchplatz hatte der erste Ernst des Lebens sich aufgetan. Auf seinem Pult saß der „Herr Lehrer“. Wie der Herrgott auf seinem Thron. Voller kindlicher Scheu blickte Hannes zu ihm auf. In seinen Augen war er der Inbegriff aller Weisheit und Macht. Die Lehrerinnen waren schwarz gekleidet. In jungfräulicher Scham trugen sie hohe Börtchen mit weißen Spitzen. Ihr Leben war nur Gott und der Jugend geweiht. Dabei wurden sie sehr alt und waren oft ungenießbare „Gaffeltangen“. Hannes war nicht dumm. Er hatte den Bogen bald spitz. Sein alter Lehrer hatte stets Freude an ihm. In der großen Pause rannte alles gleich lärmenden Spatzen auf den Kirchplatz. Wie junge Füllen sprangen sie durcheinander. Unter den blühenden Linden war der Sommer eine Lust.
Der Winter hatte seine besonderen Mucken. Es war oft grimmig kalt. Angebraten von dem immer glühenden Kanonenofen, fror man draußen umso mehr. Wenn der Wind über den Kirchplatz pfiff, kroch alles an die Kirchenmauer und suchte zwischen den vorstehenden Pfeilern Schutz.
In der Schule saß Ackermann in der Bank neben Hannes. Kernig und strotzend gesund, trug er egal einen braunen Manchesteranzug und hatte stets einen Geruch von frisch gepflügter Erde an sich. Er war wie die Sommervögel in allen Hecken und Gärten zu Hause. Es schien, als wenn aus seinen großen, tiefliegenden Augen nur der blaue Himmel sah und seine Gedanken beim Unterricht über den weiten Wiesen der Feldmark hingen. Er passte nie auf. Er war wie aus der Scholle gebrochen; beraubt der ungebundenen Freiheit, stemmte er seine trotzige Seele gegen den bitteren Zwang. Ein großes, mutiges Unterfangen von Ackermann. Aber das sollte ihm schlecht bekommen. Sein alter Lehrer hatte dafür kein Verständnis. Tagaus, tagein tanzte auf Ackermanns prallem Hintergewölbe lustig das Marterholz. Wie herrlich knallte das. Dabei staubte seine Hose ungemein.
Imeza, die Stifterin Dorstens
Seitdem es eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte Dorstens gibt, d.h. seit 1851, als der gebürtige Dorstener Julius Evelt (*1823), Professor für Kirchen-geschichte in Paderborn, die Dorstener Geschichte untersuchte, ist die Frage umstritten: Wie kommt Dorsten in den Besitz des Stiftes Xanten? Evelt vermutete, eine Gräfin Reinmod habe Dorsten übertragen, denn sie ist als Stifterin von Kirchen und Kapellen in der Zeit um 1030 im Bistum Münster nachgewiesen. Um 1900 bestreitet der Dortmunder Archivar Karl Rübel eine solche Schenkung, denn wie sollte wohl ein Reichshof in den Besitz dieser Frau gekommen sein? Die Frage ist allerdings auch in der Xantener Überlieferung seit 1300 verworren.
Alle die verschlungenen Wege und Vermutungen von 800 Jahren hier einzeln aufzulösen, würde zu verwirrend sein. Ich trage mein Ergebnis vor. Dabei habe ich die bisherige Fragestellung zum Namen und zum Todesjahr der Frau erweitert auf ihr persönliches Schicksal und den Zeitgeist des 11. Jahrhunderts.
Im 11. Jahrhundert, sicher vor 1075, wahrscheinlich vor 1044, hat Imeza, die letzte Edelfrau von Dorsten, ihren Hof mit allen seinen Rechten und Besitzungen an das Stift Xanten vermacht. Der Name Imeza, geschrieben mit z, gesprochen aber mit stimmlosem S, ist altniederdeutsch, er wird mittelniederdeutsch zu Emese. Als sie diese Schenkung machte, war sie Witwe, und ihr Sohn war als kleines Kind gestorben. Erbenlos suchte sie Trost im geistlichen Leben.
Sie erhielt eine dotierte Planstelle im Stift, eine von 48 Präbenden oder Pfründen. Sie hatte allerdings im Konvent kein Stimmrecht. Eine solche Schenkung und rechtliche Stellung in einem geistlichen Institut ist zwar selten, aber nicht beispiellos. In ihrem Testament setzte sie den Pfarrer von Xanten als Erben ihrer Stelle im Stift ein, allerdings bekam er weder Stimmrecht noch Einkünfte. Die Einkünfte vermachte Imeza an die Gemeinschaft zu gleichmäßigen Anteilen für alle Kanoniker. Das Stift akzeptierte dieses Testament. Das Grab Imezas liegt an einer höchst ehrenhaften Stelle in der Stiftskirche: auf dem Hochchor, zwischen dem Chorgestühl und vor dem mittleren Lesepult, in der Nähe der Märtyrergräber. Die Grabplatte ist 1640 anlässlich der neuen Bedeckung des Bodens entfernt worden. Bei der Ausgrabung im Dom im Jahre 1934 wurde der große Steinsarkophag wieder entdeckt. Zu allen Hochfesten des Kirchenjahres wurde in der Messe der Stifter und Stifterinnen gedacht. Einen persönlichen Gedenktag hatte Imeza am 13. November, dieser wurde auf das feierlichste begangen, denn Imeza galt als die größte Stifterin und Wohltäterin Xantens. Allerdings endete das ewige Gebet mit der Säkularisation des Stiftes im Jahre 1802.
Worin liegt die Ursache der Zweifel und die Unkenntnis vom genauen Todesjahr? Der Brand im Jahre 1109 hatte den gesamten Urkundenbestand des Stiftes vernichtet, darunter auch das Totenbuch, in dem der Todestag Imezas verzeichnet war. Jedenfalls muss dies gefolgert werden aus dem Umstand, dass im Totenbuch von St. Gereon der 16. November als Gedenktag für die Witwe Imeza verzeichnet ist. Vorlage kann nicht das erhalten gebliebene Totenbuch sein, das nach 1044 neu angelegt wurde. Eine leere Seite dieses Buches benutzten um 1100, wohl um 1109, zwei Schreiber um die folgende Geschichte aufzuschreiben: Über das Mahl der Frau Imeza und das Mahl des Erzbischofs Anno. Wir schreiben über dieses Mahl, weil meistens und fast jährlich die beiden Mähler nicht getrennt, sondern zusammen gefeiert wurden, so dass darüber Beschwerden geführt wurden. Es ist deshalb zwischen den Kanonikern und dem Dekan eine Übereinkunft getroffen worden, indem für das Mahl des Anno wie für das Mahl der Imeza eine bestimmte Menge an Lebensmitteln und Getränken festgesetzt wurde, während früher die Mengen unbegrenzt waren. Es werden dann die Sonderzuteilungen zur Feier des Gedenktages genannt, die in ihrer Menge, z.B. von 10 Fleischgängen, überraschen mögen. Aber diese festlichste Gedenkfeier begann mit der Vigil und dauerte den 1. und 2., wahrscheinlich auch 3. Feiertag. Nach dem Vorbild des Totenmahls der Imeza stiftete Erzbischof Anno von Köln sein Gedächtnismahl. Da des Erzbischofs Todestag und -jahr 1075 bekannt ist, liegt das Todesjahr der Imeza früher. Später ist an die Stelle des Mahls die Geldzahlung getreten. Im späten 12. Jahrhundert hat man an die Geschichte vom Mahl der Imeza die Notiz angeschlossen: Der Oberhof Dorsten zahlt an die Xantener Kirche jährlich 15 punt Roggen und (Lücke) Malter außer den Roggenfudern.