Eine Seele aus Flammen – Phönix

Anthologie

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Erste Auflage 2015

© Coverbild: Jessica Nirschl

Covergestaltung, Korrektorat

und Layout: net-Verlag

Auswahl der Geschichten:

Lysann Rößler & Leserteam

© Illustrationen:

Detlef Klewer (S. 23)

Kerstin Paul (S. 49)

Iris Wassill (S. 188)

Elisabeth Schreck (S. 238)

Britta Knuth (S. 309)

Kimea Zizzari (S. 316)

Juliane Waldeck (S. 329)

© net-Verlag, Tangerhütte

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978 - 3-95720 - 068-6

Eine Seele aus Flammen –
Phönix

Der mystische Vogel, der aus der Asche wiederaufersteht, ist Gegenstand vieler Sagen und Erzählungen. Ob Geschichten aus der Gegenwart, wo der Phönix plötzlich erscheint, oder neu erzählte Märchen, vielleicht sogar tiefgreifende Gedichte – auf jeden Fall wird es spannend, wenn die Autoren in die Welt des Phönix eintauchen und Sie, liebe Leser, dazu mitreißen werden.

Wir wünschen allen Lesern

einige unterhaltsame Stunden!

Ihr net-Verlag-Team

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Detlef Klewer - Die zweite Chance

Jennifer Schumann - Als der Himmel zu Asche zerfiel

Kerstin Paul - Wenn die Seele brennt

Marion Mink - Aus dem gleichen Holz geschnitzt

Lea Badura - Aus Flammen, Fleisch und Blut

Chiara Medri - Schattenfeuer

Katharina Stein - Urlaubsfund

Ina Mauer - Von Frevel und Unschuld

Angie Pfeiffer - Das kristallene Kleinod

David Pawn - Asche zu Asche

Liesa Ziegler - Flammen in der Dunkelheit

Dorothea Möller - Die List des Falkners

Claudia Speer - Das Korn

Karsten Beuchert - Die Angst des Phönix in der Moderne

Hannelore Furch - Gebranntes Kind

Romy Fischer - Wenn du an dich glaubst

Marieke Pochstein - Meister der Flammen

Melanie Brosowski - Flächenbrand

Elisabeth Schreck - Glücksmomente

Christian Wolfgang Büge - Flammen über Xeradur

Elfriede Weber - Seele in Flammen

Dörte Müller - Der Krümel

Tammo Helms - Phönix

Elke Meny - Genesis

Karl-Heinz Kirchherr - Ein neues Leben

Leonie Uhlmann - Die Feder des Phönix

Ernst Merz - Phönixgleich

Michaela Illner - Sturmvogel

Natalie Geißinger - Schrei der Freiheit

Sophia Heldt - Ein Ende und ein Anfang

Magdalena Ecker - Tausend Sonnen

Saskia V. Burmeister - Der flammende Pakt

Britta Knuth - Verbrannte Seele

Celine Hübscher - Flug des Phönix

Lina Bartel - Wiedergeburt

Markus Herrmann - Gilbert, der Papagei – Erzählung

Juliane Waldeck - EINER, Phönix und viele …

Lily Beier - Feueressenz

Eva Birzer - Feuervogel

Anja Kubica - Der Feuerschlucker

Maja Neumann - Der Feuervogel

Anna Schlimpen - Die Geburt des Feuers

Liliana Kremsner - Schon heute Nacht

Michaela Weiß - Die Flammen in mir

Autorenbiografien

Illustratorenbiografien

Buchempfehlungen

Detlef Klewer

Die zweite Chance

Ein guter Tag, dachte Emma Wensing, als sie erwachte. Es gab nicht mehr viele gute Tage in ihrem Leben. Heute aber quälte sie die Arthritis kaum, und das Rheuma ließ ihre Finger nicht anschwellen.

Vorsichtig stieg sie aus dem Bett und verschob die Gardine, um die strahlende Morgensonne hereinzulassen. Sie lächelte. Auch das Wetter meinte es heute gut mit ihr.

An schlechten Tagen schmerzten Rücken, Hüfte, Knie, Knöchel, und die deformierten Hände krümmten sich zu Klauen. In letzter Zeit gesellte sich des Öfteren auch ein dumpf pochender Kopfschmerz hinzu.

Manchmal fühlte sie sich so steif und lahm, dass sie morgens eine geschlagene Viertelstunde benötigte, um endlich aufzustehen und ins Bad zu schleichen. Gehen war an diesen Tagen eine Qual. Dann pries sie Gott und ihre Weitsicht für einen gut gefüllten Kühlschrank.

Bisweilen erwies sich selbst das Binden der Schnürsenkel als unmöglich – und ihr traten Tränen der Hilflosigkeit in die Augen. Sie lag weinend rücklings auf dem Bett und betete um Erlösung.

Selbst die Jahreszeitenwechsel fielen ihr nicht mehr so leicht wie früher: Der Schmerz schien erträglicher, sobald die Temperatur stieg, im Winter allerdings trug sie sogar in der Wohnung Handschuhe. »Besser, ich nenne das Kind beim Namen«, entschied sie und verzog widerwillig das Gesicht. »Ich bin eben eine verbrauchte alte Frau.«

Aber heute wartete einer der guten Tage auf sie. Kein Gelenk verursachte nennenswerte Beschwerden. Trotzdem wollte sie auf die täglichen Medikamente lieber nicht verzichten. Allzu schnell konnte ihre Befindlichkeit umschlagen, und dieses Risiko sollte sie tunlichst nicht eingehen – allen möglichen Nebenwirkungen zum Trotz. Was blieb ihr denn anderes übrig? Sie hatte sich mit den Schmerzen wie mit lästigen Verwandten abgefunden – und die Pillen ließen diese ungebetenen Gäste erträglicher werden. Also stellte sie ihre morgendliche Tablettenration zusammen und trug sie in die Küche.

»Frühstück«, scherzte sie ironisch mit sich selbst und seufzte. Ihr Kater Hector – der sie mit seinen großen, grünen Augen immer so mitleidig angestarrt und dann mitfühlend gemaunzt hatte – war vor einem halben Jahr gestorben. Um ihm eine unwürdige Einäscherung durch den Tierarzt zu ersparen, begrub sie ihn mithilfe eines rostigen Klappspatens nachts heimlich im nahe gelegenen Stadtwald. Unter einer alten, ausladenden Eiche. Dort würde er auch bei Regen nicht so schnell nass, denn Wasser in seinem Fell hatte er stets verabscheut. Während dieser Aktion saß ihr permanent die Furcht im Nacken, womöglich erwischt und mit der Diagnose Verrückte Alte in eine Psychiatrie eingewiesen zu werden. Ihr geliebter Hector war der bislang Letzte in der langen Reihe derer, die vor ihr den Weg in eine hoffentlich bessere Welt beschritten hatten.

Sie schob den Wasserkessel für ihren Morgenkaffee auf die Herdplatte. Eigentlich stand ja eine moderne Kaffeemaschine auf der Anrichte, da sie diesen geschäumten Milchkaffee so gerne mochte. Das Gerät war damals ein Sonderangebot – angesichts ihrer schmalen Rente aber immer noch sehr teuer – und jetzt stand es hier: unbenutzt. Sie konnte die komplizierte Maschine nicht bedienen, und es gab niemanden, der ihr den Gebrauch hätte erklären können.

Sie überlegte, ob es vielleicht eine gute Idee wäre, hinunter in die Bäckerei zu gehen und Schokoladenkringel zum Frühstück zu kaufen. Dies gehörte zu den kleinen Freuden ihres Lebens. Schokolade wirkte Wunder! Sie hatte gelesen, dass sie im Gehirn Glückshormone freisetzen würde. Diese Theorie konnte sie nur bestätigen.

Aber … die süße Droge wäre heute eine Sünde, denn der heutige Tag würde sich auch ohne Süßigkeiten gut entwickeln. Besser, sie sparte das Geld für einen der schlechten Tage …

Emma genoss den Kaffee, nahm ihre Arznei und dachte nach. Sie war inzwischen alt und schwach, aber zumindest ihr Verstand funktionierte noch sehr gut. Ihr entglitten nur manchmal Erinnerungen.

Den Grund für diese Erinnerungslücken argwöhnte sie in den Medikamenten, von denen sie zunehmend abhängig war. Sie verlegte gelegentlich Dinge, die sie dann nur durch Zufall wiederfand. Aber das passierte auch jungen Menschen! Diese kleinen Ausfälle beunruhigten sie bislang nur wenig. Solange sie nur nicht vergaß, die Herdplatten auszuschalten, um einen Wohnungsbrand zu vermeiden, bereiteten ihr die bisherigen Gedächtnisausfälle keine allzu großen Sorgen.

Ihr körperlicher Gesundheitszustand hingegen beunruhigte sie allerdings schon.

Emma seufzte in sentimentaler Erinnerung. Früher … da war alles besser. Nein, nur anders, korrigierte sie sich streng. Benimm dich bloß nicht wie eine alte, verbitterte Frau! Das Leben hatte ihr zwar überwiegend schlechte Karten zugeteilt, aber auch kein Verliererblatt.

Ihr Blick fiel auf den zweiten Luxusgegenstand in ihrem Leben. Ein Farbfernseher. Zeitvertreib in vielen einsamen Stunden. Da saß sie dann mit hochgelegten Beinen in ihrem Fernsehsessel und träumte sich in bessere Welten, die ihr die Spielfilme vorgaukelten. Gern und oft blätterte sie aber auch in den zwischenzeitlich zerlesenen Liebesromanen voller angeblich glücklicher Menschen.

Manchmal schlief sie vor dem Fernseher ein und träumte von den guten alten Zeiten – die in Wahrheit aber gar nicht so gut waren. Aber alle, die ihr jemals Böses wollten, waren inzwischen tot und begraben. Daher hielt sie es für legitim, sich die Vergangenheit ein wenig … schönzudenken. Außerdem hatte es in ihrem Leben ja durchaus auch glückliche Tage gegeben.

Zum größten Problem wurde die zunehmend erdrückende Einsamkeit, die an manchen Tagen so schwer auf ihr lastete, dass sie kraftlos im Bett liegen blieb. Am schlimmsten wurde es unter grauem Himmel und trostlos prasselndem Dauerregen oder bei schneebedeckten Straßen, die sie zwangen, daheim zu bleiben. In solchen Zeiten blieb ihr dann nur noch der Fernseher als Tür zum Leben.

Jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit verfasste sie einen Wunschzettel. Ganz oben auf der Liste stand: ein Heilmittel gegen Arthritis. Weiterhin fanden sich Wünsche wie Freunde finden und schließlich: Die Kaffeemaschine bedienen lernen.

Der Wunsch Frieden finden tauchte zunächst ganz unten auf, doch mit jedem neuen Lebensjahr rückte er weiter hinauf, bis er sogar Freunde finden überholt hatte.

Ihre Ehe war kinderlos geblieben, folglich gab es auch keine Enkel, die sie betreuen konnte, um etwas Leben in ihren tristen Alltag zu bringen. Oh, sie und ihr Mann hatten es nicht an Versuchen mangeln lassen, aber die Natur hatte wohl nicht gewollt, dass sie schwanger wurde. Vierundfünfzig Jahre waren sie ein Paar gewesen, bis ein betrunkener Autofahrer mit überhöhter Geschwindigkeit ihre Zweisamkeit abrupt beendete.

Die Vergangenheit war eben vergangen – und würde niemals zurückkehren. Und die wenigen Jahre, die ihr noch blieben, sollte sie nicht mit Erinnerungen an längst Vergangenes vergeuden. Das Wichtigste im Leben musste es doch sein, sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse kennenzulernen. Doch für sie entpuppte sich die Umsetzung dieser Erkenntnis als aussichtsloses Unterfangen. Vor allem, weil sie viel zu spät damit begann.

Es hatte einige behutsame Versuche des Seniorenstiftes in der Nachbarschaft gegeben, sie für nachmittäglich gesellige Zusammenkünfte zu interessieren. Doch zu jener Zeit fühlte sie sich für die gut gemeinten Einladungen noch nicht bereit und lehnte dankend ab. Nun hinderte sie ihr Stolz, ihre Meinungsänderung einzugestehen.

Etliche Jahre gelang es dem Kater Hector, ihr fehlende menschliche Freunde zu ersetzen, doch mit seinem Tod schlich sich ein weiteres Stück Dunkelheit in ihr Leben – und sie konnte sich nicht durchringen, ihn einfach zu ersetzen. Eine andere Katze aufzunehmen schien ihr seinem Andenken gegenüber falsch.

Ein Vogel wäre nett, dachte sie plötzlich. Vielleicht einer, dem ich sogar ein paar Worte beibringen könnte. Es wäre schön, in der Wohnung eine Stimme zu hören, die nicht aus den Fernsehlautsprechern ertönte.

Nun, heute war ein guter Tag. Warum ihn nicht mit einem Besuch in der Zoohandlung an der Ecke krönen? Ja, das würde sie tun!

Nach Möglichkeit achtete sie immer noch sehr sorgfältig auf ein gepflegtes Äußeres. Sie wählte ein hübsches Kostüm, kleidete sich an, und ihre Schnürschuhe bereiteten ihr heute kaum Probleme.

»Oh, guten Morgen, Frau Wensing«, strahlte der junge, dunkelhaarige Mann und hielt ihr zuvorkommend die Eingangstür auf. »Ein wirklich schöner Tag für Einkäufe.« Er hielt einen prall gefüllten Müllsack in der Hand.

»Ja, wunderschön«, bestätigte sie lächelnd und trat hinaus, während er die Tür hinter ihr schloss, um den Abfall in den Hof zu bringen.

Ach, ein netter junger Mann, dachte sie.

Vor einigen Monaten hatte ihr jemand auf offener Straße die Handtasche geraubt. Sie war froh, dass der Dieb wegrannte und wahrscheinlich erst Straßen später bemerkt haben musste, dass sich kein Geld darin befand. Womöglich hätte er sie aus Wut geschlagen.

Augrund dieser bösen Erfahrung schaute sie sehr misstrauisch drein, als der kürzlich in die Erdgeschosswohnung eingezogene junge Mann anbot, ihr die Einkaufstaschen hinaufzutragen. Aber inzwischen wusste sie, dass er ein guter Junge war, von denen es ihrer Ansicht nach leider zu wenige gab.

Sie hatte versucht, sich stets auf dem Laufenden zu halten, doch die oberflächliche Lebensweise der jungen Leute heute blieb ihr ein Rätsel. Natürlich war auch sie einmal ein junges Mädchen gewesen, das Grenzen austestete. Damit hatte sie es ihren Eltern nicht immer leicht gemacht. Aber zumindest hatte sie nicht hohl grinsend mit Kopfhörern in einem überfüllten Bus gesessen und ihren Sitzplatz älteren Menschen verweigert, die deutlich erkennbar kaum stehen konnten. Nun, sie würde die Jugend nicht ändern – und so oft fuhr sie jetzt glücklicherweise auch nicht mehr mit dem Bus.

Die Türglocke bimmelte fröhlich, als sie den Laden betrat. Der Verkäufer brütete über einer Zeitschrift und spähte kurz über den Rand seiner Brille. »Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte er sich mäßig interessiert.

»Ich möchte … mich erst einmal umsehen, vielen Dank«, entgegnete sie höflich.

Er winkte einladend. »Nur zu, bitte, lassen Sie sich ruhig Zeit.« Dann wandte er sich wieder seiner Lektüre zu.

Emma schlenderte gemächlich an den Käfigen vorüber und erfreute sich an den bunten Gefiedern und dem lebhaften Zwitschern der Vögel. Doch während sie die Volieren abschritt und immer wieder einen Blick auf die kleinen Preisschilder warf, wurde ihre Miene zunehmend trauriger. Keines dieser Tiere würde sie sich leisten können. Sie bewunderte versunken einen kleinen Vogel mit kecker gelber Haube und erschrak, als der Verkäufer plötzlich unmittelbar hinter ihr sprach.

»Nymphicus hollandicus«, erklärte er. »Dieser Nymphensittich ist ein sehr schönes Exemplar. Gefällt er Ihnen? Er wäre eine gute Wahl. Fünfundzwanzig Euro. Ein günstigeres Angebot wird Ihnen niemand in dieser Stadt offerieren können.«

»Oh … ja«, seufzte sie und blickte sehnsüchtig die Käfigreihe entlang. »Aber … es übersteigt meine finanziellen Möglichkeiten bei Weitem«, fügte sie niedergeschlagen hinzu und wandte sich zum Gehen.

Der Mann blickte ihr bedauernd nach, überlegte. Dann nickte er. »Warten Sie einen Augenblick!«, rief er. Als sie sich fragend umdrehte, winkte er ihr zu. »Kommen Sie, kommen Sie! Ich denke, ich habe da vielleicht etwas für Sie.«

Sie folgte ihm zögernd in einen Lagerraum hinter der Verkaufstheke. Aus einem Regal hob er einen großen Vogelkäfig und stellte ihn auf den Tisch in der Raummitte.

Sie hielt den Atem an und näherte sich.

Meine Güte! Es war wohl mit Abstand der hässlichste Vogel, den sie je gesehen hatte!

Die Gefiederfarbe des armen Geschöpfes war von stumpfem Grau, doch es gab viele kahle Stellen, an denen rosafarbene Haut oder weißlicher Schorf zu sehen waren. Die wenigen Federn sahen zerrupft aus, und der gelbliche Schnabel wirkte porös und brüchig. Doch die kleinen schwarzen Augen glänzten, wirkten gar nicht krank … und betrachteten Emma so eindringlich, als würden sie ihre Gedanken lesen wollen.

»Wissen Sie, ein Araber hat mir diesen Vogel verkauft, als er in seine Heimat zurückfliegen musste.« Der Ladenbesitzer schüttelte den Kopf, anscheinend immer noch verärgert über den Umstand, eine derartige Fehlinvestition getätigt zu haben.

»Damals sah der Vogel allerdings noch nicht so … armselig aus«, sagte er zu seiner Verteidigung. »Na ja, jedenfalls wird ihn wohl niemand kaufen wollen, und sein Futter kostet mich nur Geld. Daher können Sie ihn haben – wenn Sie wollen.«

Sie konnte ihren Blick nicht von dieser bemitleidenswerten Kreatur abwenden, die jetzt den Kopf schief legte und sie immer noch unverwandt aus schwarzen Perlenaugen musterte. Etwas in diesem Blick rührte tief an ihr Herz.

Ach, Kleiner, dachte sie traurig, wir sind uns wohl ähnlich: Beide sind wir inzwischen Jammergestalten.

»Aber ich kann ihn nicht geschenkt nehmen«, widersprach sie und senkte beschämt den Blick.

Der Mann verstand und schüttelte den Kopf. »Aber nein, nein, es soll doch kein Almosen sein«, knurrte er, leicht verärgert über die Zurückweisung seiner Großzügigkeit. Dann hellte sich seine Miene auf. »Wissen Sie was? Ein Vorschlag zur Güte: Geben Sie mir fünf Euro … für den Käfig«, schlug er vor. »Ich lege noch eine Tüte Vogelfutter gratis obendrauf – und wir sind beide zufrieden.«

Sie lächelte dankbar und kramte nach ihrer Geldbörse.

Der Rückweg mit dem großen Käfig gestaltete sich schwierig. Mehr als einmal musste sie pausieren und ihre Last absetzen.

Endlich hatte sie es fast geschafft und bog in die Straße, in der sich ihr Zuhause befand. Ihr junger Nachbar trat gerade aus dem Haus, ging rasch zu seinem Auto, öffnete die Fahrertür und stieg ein. Als er sie mit ihrem Käfig kommen sah, zögerte er, sprang aus dem Wagen und lief ihr mit großen Schritten entgegen. »Aber Frau Wensing, das ist doch viel zu schwer!«, tadelte er sie lächelnd und nahm ihr den Käfig ab. »Lassen Sie sich Zeit, ich bringe den kleinen Kerl schnell nach oben und stelle ihn vor Ihre Wohnungstür.«

Ehe sie etwas erwidern konnte, hatte er sich bereits auf den Weg gemacht. Nur wenige Minuten später war er zurück. »Alles erledigt! Jetzt muss ich aber los!«, rief er ihr zu.

»Vielen herzlichen Dank!«, rief sie ihm nach.

Er winkte ihr zu, als er davonfuhr.

Er ist wirklich nett, dachte sie. Wäre ich ein halbes Jahrhundert jünger, könnte ich mich wirklich in ihn verlieben.

»Dies ist dein neues Zuhause, mein Schatz«, erklärte sie feierlich und betrachtete den Vogel nachdenklich. »Wie soll ich dich nennen? Welcher Name würde dir gefallen?«

Der Vogel wirkte wie ein Häufchen Elend. Hilfsbedürftig und zerzaust schien er zu zittern.

»Mein armer Kleiner, das Leben hat uns beide nicht besonders gut behandelt. Da haben wir etwas gemeinsam. Mit einem Pokerface und der Fähigkeit zu bluffen hätte ich vielleicht mehr aus meinen Chancen machen können. Aber, na ja … ich war nie eine gute Spielerin.«

Sie öffnete die Käfigtür und versuchte, das verängstigte Wesen mit Körnern zu locken, doch der Vogel blieb zurückhaltend und sah sie prüfend an, als wolle er ihre wahre Absicht durchschauen.

Sie erinnerte sich, wie sie sich nach dem Raubüberfall gefühlt hatte, und nickte verständnisvoll. Nun, dachte sie, vermutlich ist auch zu ihm kaum jemand freundlich gewesen. Emma lächelte ihren neuen kleinen Freund liebevoll an.

»Sieh mal, du verlierst deine Federn und ich meine Haare. Wir geben schon ein schönes Paar ab.« Sie kramte eine grüne Ledermappe aus der Schrankschublade. Grün ist die Hoffnung, dachte sie, doch sie hatte das Album nicht aus diesem Grund erworben, sondern weil es das preisgünstigste gewesen war. Sie hatte keine Ahnung, was sie auf die abstruse Idee brachte, ihre Vergangenheit mit einem Vogel zu teilen, aber es erschien ihr in diesem Moment als das Normalste der Welt.

Ihre guten alten Zeiten befanden sich in dieser Erinnerungsmappe. Fotos, Briefe, gepresste Blumen, Zettel mit Gedichten, die sie als junges Mädchen geschrieben hatte. Sehnsuchtsvoll in gestochen sauberer Handschrift. Die ausgebleichten Fotografien ihrer Kindheit zeugten von ihrem inzwischen hohen Lebensalter.

»Weißt du, Schätzelein, solange du ein Kind bist, fühlst du dich wie eine Sonne, um die sich alles dreht. Später bist du nur noch einer von Millionen Sternen am Firmament. Und du kannst dich glücklich schätzen, wenn dich überhaupt noch jemand wahrnimmt.«

War sie ein Stiefkind des Schicksals? Jemand, der von Beginn an dazu bestimmt war, immer nur Pech zu haben? Sie blätterte eine Seite um.

»Oh, schau mal, das ist mein Heinrich«, seufzte sie und zeigte auf die Fotografie eines kleinen Mannes mit schiefem Lächeln.

»Weißt du was? Du erinnerst mich ein wenig an meinen verstorbenen Mann. Er war auch kein Adonis – außerdem klein und mit einem Bart, der nie richtig sprießen wollte. Aber … wenn er mich mit seinen wunderschönen Augen ansah, war es um mich geschehen. So wie bei dir, kleiner Vogel.«

Das fedrige Wesen blickte ihr in die Augen.

»Schon gut, schon gut, keine Angst. Ich werde dich nicht Heinrich nennen.«

Diese kleinen schwarzen Vogelaugen schienen direkt in Emmas Herz zu schauen. Es war, als sähen sie dort Dinge … geheime Dinge. So tief vergraben, dass sie selbst nicht mehr um ihre verborgene Existenz wusste. Sie räusperte sich.

»Nein, mein Heinrich war kein strahlender Ritter auf einem weißen Pferd. Das einzig Weiße, das er besaß, waren seine Unterhemden. Unser gemeinsames Leben verlief wie eine Kutschfahrt. Zuerst saßen wir zusammen auf dem Kutschbock und teilten uns die Zügel. Doch dann übernahm er mehr und mehr das Kommando, lenkte die Pferde hierhin oder dorthin. Er bestimmte das Ziel, gleichgültig wie oft ich ihn bat, diese Fahrtrichtung nicht einzuschlagen. Schließlich resignierte ich, stieg in den Passagierraum, zog die Vorhänge zu, ließ ihn einfach gewähren und mischte mich nicht mehr ein. Ab diesem Zeitpunkt war es nicht mehr unsere gemeinsame Fahrt durch das Leben.«Sie erhob sich mühsam von ihrem Stuhl und betrachtete sich vor dem großen Spiegel im Korridor. »Ich habe aufgehört zu tanzen, weil er es albern fand.« Sie drehte sich langsam um ihre eigene Achse und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. »Es mache mir nichts aus, log ich, aber das Tanzen aufzugeben, schloss eine weitere Tür zu meinem Leben. Die Wahrheit? Ich liebte es! Und dort, wo mein Herz gewesen war, blieb immer mehr eine Leere zurück, die ich nicht mehr füllen konnte.« Sie seufzte tief und setzte sich wieder. »Ich hatte die üblichen Vorstellungen vom Eheleben. Die ewigen Streitereien meiner Eltern hatte ich satt und war sicher, in meiner Ehe alles besser machen zu können.« Sie senkte den Kopf. »Was für ein Irrtum! Wie naiv ich doch damals war! Es war ganz einfach: Das Leben, das ich führen wollte, existierte niemals. Also nahm ich meine eigenen Bedürfnisse zurück und richtete ich mich in einem fremden Leben ein.«

Der Vogel schüttelte sich und sträubte sein zerfleddertes Gefieder. Eine weitere Feder löste sich und sank auf den Käfigboden.

»Heiraten, Kinder kriegen, den Haushalt und den Mann versorgen sind die Aufgaben der Frau. So habe ich es von meiner Mutter gelernt. Daher hat mich meine Kinderlosigkeit damals tief getroffen. Ich fühlte mich so … nutzlos. Heute weiß ich, wie absurd das war. Die Natur ist weise. Ich glaube nicht, dass Kinder uns für die Lebensumstände, die wir ihnen zugemutet hätten, dankbar gewesen wären.« Sie zuckte entschuldigend die Achseln. »Du musst denken, ich wäre eine törichte, alte Frau«, lachte sie leise. »Mein Kater Hector hat das jedenfalls getan.«

Sie lockte den Vogel erneut mit Körnern, und nun trippelte er auf seiner Stange zögernd auf sie zu, um vorsichtig aus ihrer Hand zu picken.

»Weißt du, Liebe ist eine ziemlich idiotische Sache«, fuhr sie fort. »Sie verwirrt die Sinne und kann viel Unglück bescheren. Ich habe mein Leben damit vergeudet, einen Mann zu lieben und zu umsorgen, der ohne Rücksicht auf mich sein eigenes Leben verschwendet hat. Was für eine Ironie des Schicksals …« Ihr Lachen klang bitter. »Er war leichtsinnig, verlor oft seinen Job und trank zu viel. Er schwor mir jedes Mal Besserung. Hoch und heilig. Vermutlich meinte er es in diesen Momenten sogar ernst. Aber das Problem ist: Männer haben ein kurzes Gedächtnis. Er blieb egoistisch, ungerecht und ließ sich gehen. Ich erinnere mich an viele Abende, an denen ich zu Bett ging und bitterlich weinte. Meine Jugend und meine Schönheit verblassten allmählich, sein Verhalten und der Alltag verschlangen die Liebe, Glück wurde zunehmend ein Fremdwort und verschwand am Ende gänzlich aus meinem Wortschatz. An die Stelle meiner Ideale trat Lethargie. Er hat mich zwar nie geschlagen, konnte aber sehr gemein sein und sorgte dafür, dass Freunde sich von mir abwandten.« Sie nahm mehr Körner aus der Tüte und hielt sie dem Vogel hin. Nun zeigte er kaum noch Scheu und näherte sich.

»Ich habe sogar erwogen, mich von ihm zu trennen. Aber damals einfach fortzugehen, mittellos, allein … das konnte ich nicht. Ich hatte nicht den Mut.«

Der Vogel zirpte … verständnisvoll?

»Na ja, er war nichts weiter als ein gewöhnlicher Mann mit allen Schwächen, die ich in meiner ersten Verliebtheit erhaben geglaubt hatte. Trotz der Ernüchterung vieler Ehejahre hing ich noch der Illusion nach, alles würde sich ändern und zum Guten wenden. Das tat ich … bis er starb.« Sie lehnte sich zurück und blickte auf die Bilder in ihrem Album. »Die Tragödie meines Lebens bestand darin, dass ich es nie in meine eigenen Hände genommen habe. Als ich nach seinem Tod die Chance bekam, fehlte mir die Kraft dazu. Auf einmal musste ich nur noch an mich denken, kleiner Vogel. Weißt du, wie schwer das ist, wenn man es noch nie getan hat?«

Es schien ihr fast, als nicke der Vogel nun zustimmend. Aber das war bestimmt ein Zufall.

»Könnte ich mein Leben noch einmal leben, dann wüsste ich heute, was zu tun wäre.« Mit all den Erfahrungen ihrer vielen Lebensjahre hätte sie die Chance, es im zweiten Versuch besser zu machen. Ein Wunschtraum, der unerfüllt bleiben würde, angesichts der wenigen Lebenszeit, die sie noch erwarten durfte.

Sie erhob sich und schloss das Album. »Und nun, meiner kleiner, neuer Freund, gehen wir beide schlafen. Ich werde deine Taufe auf morgen verschieben. Was hältst du davon? Einverstanden?«

Der graue Vogel blickte zu ihr auf, verlor eine weitere Feder und zirpte. Es klang zustimmend.

Sie lachte, winkte ihm zu und bedeckte den Käfig mit einem Tuch.

Die Morgensonne weckte sie. Keine Schmerzen. Sie lächelte glücklich. Der zweite gute Tag in Folge. Ein Geschenk des Himmels! Doch sie fühlte sich mehr als gut. Sie fühlte sich ausgeruht, kräftig, geradezu … jung.

Während sie sich noch im Bett räkelte, erklang – anscheinend aus der Wohnung nebenan – eine wunderschöne Melodie wie der Gesang eines Vogels! Aber … Moment: Ihr Nachbar besaß nur einen stets missgelaunten Dackel. Die Geräuschquelle schien auch viel näher. Sollte ihr neuer, kleiner Freund seine Stimme wiedergefunden haben?

Sie schwang sich leichtfüßig aus dem Bett und war schon in Richtung Fenster gegangen, um die Vorhänge aufzuziehen, als sie feststellte wie leicht ihr das Gehen heute fiel.

Sie griff nach den Gardinen und erschrak heftig. Ihre Hand … Das konnte nicht sein! Sie war weiß und glatt! Die braunen Altersflecken waren verschwunden, die runzlige Haut war zart und weich.

Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder, doch der Anblick blieb. Das konnte nur ein Traum sein! Sie zwickte sich, doch es war kein Traum. Stattdessen kniff sie schmerzhaft in festes, jugendliches Fleisch.

Der Gesang … der Vogel … Emma wirbelte herum, stürzte in das Wohnzimmer und hielt angesichts des sich ihr bietenden Anblicks den Atem an. Ungläubig starrte sie auf den Käfig.

Der zerrupfte und kränkliche Vogel hatte sich gründlich verändert. Er war nicht mehr grau und hässlich. An Kopf und Hals glänzte stattdessen nun goldenes Gefieder, das am Körper zu königlichem Purpur wechselte und in den langen Schwanzfedern zu flammendem Rot überging.

Seine Stimme war kein kraftloses Krächzen mehr, sondern ein tremolierender Gesang, der sie mit grenzenloser Freude erfüllte.

Behutsam ging sie auf den Käfig zu. Auf dem Käfigboden erblickte sie graue Asche und einige zerbrochene Eierschalen.

Ihre Augen weiteten sich überrascht. Konnte es sein? Ein Mythos, eine Legende … lächerlich! Und doch stand sie hier – auf unerklärliche Weise verjüngt – vor einem Vogel von atemberaubender Schönheit, obwohl er noch tags zuvor hässlich, unscheinbar und wahrscheinlich dem Tode nahe gewesen war.

Es gab nur diese eine Erklärung: Ein Phönix.

Und dieses magische Wesen hatte nicht nur sich ein neues Leben geschenkt, sondern auch ihr eine zweite Chance gewährt. Um nun zu leben, wie sie es sich erträumt hatte. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Sollte sie …?

Der Phönix beendete seinen Gesang und blickte sie an. Zustimmend? Sie lächelte und öffnete die Wohnungstür.

Wer nicht wagt …, dachte sie und stieg die Treppe hinunter. Vor der Erdgeschosswohnung blieb sie mit klopfendem Herzen stehen. Sie konnte sich als ihre Enkelin ausgeben, die hierher gezogen war. Das würde für den Anfang genügen. Dann klopfte sie energisch.

Ein vertrautes – jetzt allerdings verschlafenes – Gesicht mit zerzausten Haaren tauchte im Türspalt auf und erhellte sich bei ihrem Anblick umgehend. Ihr wurden die Knie weich.

»Lust auf einen Espresso?«, fragte sie forsch. Er würde mit der verdammten Kaffeemaschine schon fertig werden …

Jennifer Schumann

Als der Himmel zu Asche zerfiel

Ich hatte die Augen geschlossen.

Ich wusste, dass ich Angst haben sollte. Ich hatte doch Angst gehabt … Ich konnte mich aber nicht erinnern, warum, wovor.

Was war passiert?

Ich wusste es, konnte mich aber nicht erinnern. Es war, als würden die Erinnerungen wie Sand durch meine Finger rinnen … Nein, nicht wie Sand. Wie Asche. Wie feine schwarze Asche, die in Flöckchen im Wind davonweht und die Welt um mich herum in trübes Grau färbt.

Ich fühlte mich nackt. War das mein Körper, der da so ungeschützt am Boden lag? Fror ich oder jemand anderes? Dieser Körper kam mir so vertraut vor und doch irgendwie fremd.

Bin ich noch da? Existiere ich noch?

Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wer ich war. Ich wusste es für einen ganz kurzen Moment, aber die Erinnerung wurde mir entrissen, wurde fortgeweht wie feine Ascheflöckchen. Ich wusste nicht mehr, wer ich war. Ich wusste nicht mehr, warum ich war. Aber musste es einen Grund geben?

Eine angenehme Leere breitete sich in meinem Kopf aus und wurde von etwas Neuem ersetzt. Wovon? Ich weiß es nicht. Worte verlieren an Bedeutung. Wofür Worte? Wofür Definitionen? Unwichtig, alles unwichtig. Aber was ist wichtig? Es gibt nichts Wichtiges, was kann schon wirklich wichtig sein? Vielleicht bin ich wichtig, vielleicht auch nicht.

Wer bin ich denn noch mal?

Ein Ziel. Ich brauche ein Ziel. Ja, das ist wichtig. Ein Ziel. Eine Sehnsucht. Zum Leben.

Ich öffnete meine Augen und sah direkt in den strahlend blauen Himmel.

Vorsichtig deutete ich auf den sonderbaren Vogel. Meine beiden Kollegen nickten und näherten sich ihm leise.

Es war ein Vogel, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte. Eine unentdeckte tropische Art, hier mitten im Regenwald. Er ist mir wegen seinem Gefieder aufgefallen. Es war blau, aber jede einzelne Feder hatte eine eigene Blauschattierung, keine glich einer anderen. In dem dunklen Grün des Dickichts leuchtete er hervor wie ein Licht in der Nacht. Auf magische Weise zog er meinen Blick wie hypnotisch auf sich.

Aber noch etwas fiel mir auf. Er hatte den zarten, etwas drolligen Körperbau eines europäischen Singvogels, aber er war so groß wie ein Bussard. War er wirklich so harmlos, wie er aussah? Oder doch ein geschickter Jäger?

Ich wollte es unbedingt wissen. Deswegen hatte ich meine Kollegen angewiesen, ihn einzufangen.

Ich war nervös. Der Vogel regte sich absolut nicht. Schon die ganze Zeit über starrte er nur durch eine Lücke des Blätterdaches zum Himmel hinauf. Immer nur zum Himmel und schien alles andere um sich herum gar nicht wahrzunehmen. Oder wusste er in Wahrheit genau, was um ihn herum geschah?

Würde er die Falle erkennen, bevor sie zuschnappte? Uns doch noch entkommen, auf nimmer Wiedersehen davonfliegen?

Wieso regte er sich nicht?

Ich starrte ihn grübelnd an. Sein Blick … er wirkte beinahe traurig, voller Sehnsucht. Ich hatte vorher noch nie im Blick eines Vogels wirkliche Emotionen gesehen. Aber vielleicht täuschte ich mich auch, vielleicht war es nur das Licht, das sich in den schwarzen Augen spiegelte.

Die Falle schnappte zu. Einen Moment zu spät zuckte der Vogel erschrocken zusammen und breitete seine Flügel zur Flucht aus, als das feinmaschige Netz sich über ihn legte und an den Boden fesselte.

Meine beiden Kollegen lobten sich lachend gegenseitig für die gute Arbeit und sperrten den Vogel vorsichtig in eine Transportbox.

»Das war beinahe zu einfach!«, lachte einer von ihnen.

Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Das war zu einfach.«

Der Vogel schaute immer noch gen Himmel. Als sei es ihm egal, dass man ihn gefangen und in eine Box gesperrt hatte. Nur die Sehnsucht in seinen Augen schien mir jetzt noch größer zu sein. Allein ihn anzusehen erschien mir jetzt fast unerträglich. Was war denn mit ihm los?

»Wahrscheinlich ist das Tier krank«, seufzte ich resigniert. Anders konnte ich mir dieses Verhalten nicht erklären. Aber zumindest hatte ich jetzt Gelegenheit, eingehend seine faszinierende Gefiederfarbe zu untersuchen.

Wir machten uns auf den schwerfälligen Rückweg zur Forschungsstation. Das dichte Blätterdach des Regenwaldes schloss sich wieder über uns und verdeckte den Himmel. In diesem Moment riss der Vogel seinen kurzen, leicht nach unten gebogenen Schnabel auf, wie zu einem stummen, entsetzten Schrei. Doch kein Laut kam aus seiner Kehle.

Wie aus einer tiefen Trance gerissen, begann der Vogel zum ersten Mal, sich umzusehen. Es schien, als würde er erst jetzt realisieren, dass es außer dem strahlend blauen Himmel noch immer eine andere Welt gab. Ob er wohl verstand, dass er gefangen war? Dass wir ihm die Freiheit geraubt hatten?

Ich betrachtete ihn genauer, während meine Kollegen schwer keuchend und in der schwülen Hitze schwitzend vorangingen.

Schnabel und Krallen ließen nicht auf einen Raubvogel schließen. Auch von Nektar wird sich solch ein großes Tier wohl kaum ernähren. Ich tippte auf einen klassischen Insektenfresser. Wobei mich diese Erkenntnis nicht sonderlich interessierte.

Vielmehr stellte ich mir immer und immer wieder die Frage, was es mit diesem Gefieder auf sich hatte. Es waren so viele verschiedene Blautöne, dass man ihn als bunt hätte bezeichnen können. Es war auffällig und bot mit Sicherheit keinerlei Tarnung. Ein solches Tier sollte unter normalen Umständen ständig auf der Hut vor Fressfeinden sein.

Lockte er mit dieser Farbpracht seine Weibchen an? Das wäre mir noch die logischste Erklärung, auch wenn ich diese Art von Prachtgefieder von keiner anderen Art kannte.

Der Vogel begann nun, hektisch den Kopf zu drehen, und sein Blick sprang von einer Ecke der Box zur nächsten. Jetzt hatte er wohl wirklich verstanden, dass er gefangen war. Mitleid schlich sich in meine Brust, aber ich schob es schnell beiseite.

Wahrscheinlich hatten wir ihm das Leben gerettet. Hätte er Fressfeinde genauso spät bemerkt wie uns, hätte er dort draußen nicht mehr lange überleben können.

Kurz darauf kam die Lichtung mit der Forschungsstation in Sicht. Mit einer ruckartigen Bewegung fixierte der Vogel wieder den Himmel und fiel erneut in einen tranceartigen Zustand.

Ich schüttelte seufzend den Kopf. Irgendetwas stimmte wirklich nicht mit diesem Tier.

Wir setzten den Vogel in eine große, leerstehende Voliere, in der wilde Sträucher und andere Pflanzen wuchsen, sodass er ein kleines Stückchen Urwaldboden hatte, um sich wohl zu fühlen. Am Rand wuchs sogar eine blaue Orchideenart. Ich musste unweigerlich schmunzeln.

Irgendwie passte die Farbe der Orchidee herrlich gut zu seinem merkwürdigen Gefieder. Doch der Vogel beachtete die luxuriöse Ausstattung seines Käfigs nicht. Er setzte sich nur wieder, wie vorhin im Wald, auf den Boden und starrte in den Himmel. Wir hatten ihn zuvor kurz begutachtet, er schien keinerlei Verletzungen zu haben, und auch seine Flügel waren in Ordnung. Es sprach auch nichts gegen die Flugfähigkeit des Vogels. Warum also schaute er immerzu so sehnsüchtig nach oben?

Während ich noch darüber nachdachte, brachten die Tierpfleger der Station verschiedene Insekten und Samen, um herauszufinden, wovon diese neuartige Vogelart sich ernährte. Alles wurde zufällig in der Voliere verteilt, aber der Vogel beachtete weder die Menschen noch das Futter. Ich beschloss, ihn erst einmal alleine zu lassen und erst morgen wieder herzukommen.

Tatsächlich brachte der nächste Morgen eine Überraschung mit sich: Die Blüte der Orchidee war weg. Ich starrte ungläubig den bunten blauen Vogel an, der wieder mal in den Himmel starrte. Das ganze Futter war nicht angerührt. Nur die Orchidee schien er gefressen zu haben. Die Tierpfleger zeigten sich ratlos. Eigentlich sei diese Orchideenart hochgiftig.

Ich betrat die Voliere und sah mir die Reste der Orchidee genau an. Auch ich fand keine andere Erklärung für das Verschwinden der Blüte, als dass der Vogel sie gefressen hatte. Aber etwas anderes fand ich, was mir die Zornesröte ins Gesicht trieb.

»Logan!«, brüllte ich, und der erschrockene Tierpfleger stolperte auf mich zu.

»Ja, Sir?«, antwortete er, bleich im Gesicht.

Ich deutete auf eine winzige Ascheflocke auf dem Boden. »Wie oft muss man dir noch sagen, dass das Rauchen in der Nähe der Tiere nicht gestattet ist?!«

Logan schüttelte heftig den Kopf. »Ich war das nicht, Sir. Ehrlich! Es muss jemand anderes gewesen sein, ich rauche wirklich nur noch hinter den Bungalows.«

»Bring den Vogel ins Labor!«, entschied ich mit eisiger Stimme. »Man soll feststellen, was er alles im Magen hat, ob er die Orchidee tatsächlich gefressen hat, und«, ich sah Logan in die Augen, »ob er Zigarettenasche gefressen hat.«

Hastig wandte Logan sich von mir ab und trat auf den Vogel zu.

»Warte mal!«, hielt ich ihn dann doch auf.

Verunsichert blieb er stehen und sah mich an.

Der Vogel hatte ruckartig seinen Kopf gedreht.

»Sieh mal, wie der Vogel dich fixiert! Nein, wie er dein Hemd fixiert! Dein blaues Hemd!«

Der Blick des Vogels war ganz starr und wirkte auf merkwürdige Weise konzentriert, als versuche er, Logan zu hypnotisieren.

Dieser kratzte sich hektisch an Brust und Schulter.

»Nicht bewegen!«, zischte ich ihn an. »Vielleicht hält er dich für ein rivalisierendes Männchen.« Ich hockte mich hin und beobachtete den Vogel genau. »Faszinierend …«

»Sir?« Es war die aufkeimende Panik in Logans Stimme, die mich aufsehen ließ. Dann geschah etwas Unerklärliches. Logans Hemd begann einfach, sich dunkelgrau zu färben und bröckelte auseinander. Es zerfiel einfach in kleine Ascheflöckchen, die leicht in der Luft tanzten und zu Boden sanken.

Zu Logans Füßen entdeckte ich auf einmal eine blaue Feder – ich war mir ganz sicher, dass sie dort zuvor noch nicht gelegen hatte – und sie hatte exakt den gleichen Blauton wie zuvor das Hemd.

Während Logan und ich noch wie erstarrt waren und nicht begreifen konnten, was soeben passiert war, stolzierte der Vogel seelenruhig auf uns zu und nahm sich die Feder, die er sich zwischen den anderen in sein Gefieder steckte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit brachte ich zwei Worte aus meiner plötzlich so trockenen Kehle hervor: »Zum Labor!«

Logan riss sich aus seiner Starre und folgte meiner Anweisung. Schnell packte er sich den Vogel und rannte los. Ich hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, weil ich mich noch immer wie benommen fühlte. Was war da gerade passiert?

Als wir so ins Labor gestürmt kamen, kam uns direkt die besorgte Forschungsleiterin entgegen. »Ist etwas passiert?«

Logan hielt ihr den Vogel entgegen und brachte atemlos hervor: »Der hat mein Hemd eingeäschert!«

Die Forscherin sah in verwirrt an. »Wie bitte?«

»Das stimmt«, antwortete ich für Logan. »Der Vogel hat sein Hemd, sein blaues Hemd fixiert, und das ist dann einfach zu Asche zerfallen! Und dann ist da so eine merkwürdige Feder aufgetaucht, eine blaue Feder und die …«

»Sagt mal, habt ihr beide etwas genommen?«, unterbrach mich die Forscherin wüst. »Verschwendet nicht meine Zeit und gib mir das arme Tier!« Sie nahm Logan den Vogel aus den Händen.

Dieser hatte schon wieder etwas fixiert …

»Da!«, kreischte ich beinahe hysterisch und deutete auf etwas hinter der Forscherin. Sie drehte sich um und erstarrte.

In schwarzen Ascheflöckchen rieselte die blaue Farbe von der Wand und bedeckte Tische, Stühle und Reagenzgläser unter einer grauen Schicht.

Der Vogel wand sich mühelos aus dem erschlafften Griff der Forscherin und pickte sich eine blaue Feder aus dem Ascheregen, die er sich in sein Gefieder steckte …

Ich wünschte, ich könnte jetzt einfach mit ein paar Kollegen einen Kaffee trinken gehen. Einfach über dies und das plaudern. Denn das hier, das konnte doch in der Realität nicht wirklich passieren. Ich würde es vergessen. Ich würde es ganz einfach vergessen, als wäre es nie geschehen, und normal meiner Arbeit nachgehen.

Benommen stolperte ich auf den Vogel zu.

»Ich werde … Ich … Ich bringe den dann mal zurück in seine Voliere …«

Ich war merklich wackelig auf den Beinen, eine blonde Laborarbeiterin eilte mir zur Hilfe …

»Verschwinden Sie!«, brüllte ich sie an, aber es war zu spät. Sie schrie vor Schmerz auf, der Vogel hatte sie bereits fixiert. Ihre Augen, ihre blauen Augen, zerfielen zu Asche und zu einer schimmernden Feder …

Panik brach aus.

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was dann geschah. Ich weiß nur noch, dass man den Vogel schließlich weggesperrt hatte, in einen dunklen, fensterlosen Raum, dreifach abgeschlossen.

Die Augen der blonden Frau konnte man nicht mehr retten. Sie waren einfach nicht mehr da. Sie war nun blind.

Über eine Kamera konnte man den Vogel, den alle nun den blauen Phönix nannten, aus sicherer Entfernung beobachten. Zweimal am Tag brachte ein Pfleger verschiedene Samen, Insekten und Orchideenblüten zu ihm. Man achtete aber genau darauf, dass nichts davon, auch kein Kleidungsstück oder gar die Augen des Pflegers blau waren. Nicht einmal zum Himmel konnte der Vogel noch sehen.

Zwei Tage geschah einfach nichts. Der blaue Phönix fraß nichts, bewegte sich kaum, reagierte auf nichts. Ich befürchtete, er würde einfach sterben.

Am dritten Tag aber veränderte sich sein Verhalten. Ohne Vorwarnung fing er an zu schreien. Es waren markerschütternde, verzweifelte Schreie. Panisch rannte er durch den Raum, flatterte hektisch mit den Flügeln, wirkte hysterisch, als hätte er den Verstand verloren.

Niemand traute sich mehr in seine Nähe. Niemand konnte sich sein Verhalten erklären. Niemand wollte etwas damit zu tun haben.

Am Ende des Tages meinte man, man solle ihn erschießen. Man würde ihn damit erlösen, erklärte man mir. Sie wollen ihn nur loswerden, weil sie Angst haben, dachte ich mir.

»Er will doch nur den Himmel wiedersehen«, sagte ich. »Er will doch nur den Himmel wiedersehen.«

»Und wir wollen ihn nicht hier haben. Er ist gefährlich.«

Jemand wurde geschickt, ein Gewehr zu holen. Irgendetwas in mir begann sich wieder zu regen, wollte sich wehren. »Nein!«, rief ich. »Bringt ihn nicht um! Er kann doch nichts dafür. Er hat niemanden umgebracht. Er will doch nur den Himmel wiedersehen. Bitte, bringt ihn nicht um!«

Man erklärte mich für verrückt. Ich wollte protestieren, wollte ihn retten. Aus irgendeinem Grund wollte ich unbedingt, dass er lebt. Aber man hörte mir nicht zu. Man erklärte mich bloß für verrückt. Weil es meine Entdeckung war, die man nun umbringen musste. Weil ich sonst nichts mehr hätte, was ich als Forscher als Erfolg präsentieren konnte. Aber das war mir doch egal. Ich wollte nur kein Mörder sein. Sie verstanden es nicht.

Ich müsse ihn ja nicht selbst umbringen, sagten sie.

Ich wollte das nicht zulassen.

Ich weiß nicht mehr, was mich dazu getrieben hat. Ich schlug zwei von ihnen nieder und holte meinen blauen Phönix aus seinem dunklen Raum. Ich hatte ihm einen Arbeitshandschuh über den Kopf gezogen, damit er nichts sehen, nichts zu Asche verwandeln konnte.

Ich konnte nicht denken, lief einfach mit dem Vogel im Arm hinaus, in den Wald. Mit dem Laborkittel, den leichten Schuhen, ohne Kopfbedeckung würde ich nicht weit kommen, aber das war mir egal. Ich wollte nur meinen blauen Phönix in Sicherheit bringen. Nur das zählte.

Ich war mir sicher, dass man mich verfolgte. Aber niemand holte mich ein, niemand hielt mich auf. Ich rannte allein durch den Dschungel, kämpfte mich verzweifelt durchs Dickicht, zerkratzte mir Beine, Arme und Gesicht. Ich rannte weiter.

Auf einmal tat sich vor mir eine kleine Lichtung auf, ich erkannte sie sofort wieder. Es war mit einem mal sehr still, nur mein Herz hämmerte laut. Ganz vorsichtig setzte ich meinen blauen Phönix, der sich die ganze Zeit in meinem Arm über nicht geregt hat, zurück auf genau den Platz, an dem ich ihn vor einigen Tagen entdeckt hatte, und nahm ihm den Handschuh vom Kopf.

»Jetzt kannst du wieder in den Himmel sehen«, flüsterte ich.

Mein blauer Phönix öffnete die Augen und sah direkt nach oben, in den strahlend blauen Himmel. Dabei wurden seine Augen immer größer, sie schienen ihm beinahe aus dem Kopf zu fallen, sein Schnabel öffnete sich leicht, als könne er nicht glauben, dass er wieder in den Himmel schauen dürfe …

Dann begann es, Asche zu regnen.

Verwirrt besah ich die feinen Ascheflöckchen, die durch die Luft segelten, und begriff nicht, woher sie kamen. Erst als ich nach oben schaute und sah, wie der Himmel sich grau verfärbte …

»Nein«, flüsterte ich, dann rief ich lauter: »Nein! Hör auf! Ich hab dich doch befreit, alles ist in Ordnung, nur bitte, bitte hör auf!«

Mein blauer Phönix beachtete mich nicht. Er starrte nur weiter gebannt in den Himmel, sein Blick war wahnsinnig. Er würde nicht aufhören.

Also brach ich ihm das Genick.

Mit dem Knacken seines zarten Halses verschwanden mit einem Schlag alle Ascheflöckchen, jede einzelne, als wären sie niemals dagewesen. Der Himmel war strahlend blau, nicht ein Hauch von Grau war zu sehen.

»Was habe ich getan?« Ich schaute auf den toten Vogel in meinen Händen. Er hatte nichts getan, ich bin nur wahnsinnig geworden. Ich hatte ein unschuldiges Wesen ermordet. Der Himmel ist niemals zu Asche geworden …

Ich wollte in Tränen ausbrechen, konnte aber nicht. Ich wollte vor Verzweiflung schreien, konnte aber nicht. Ich wollte den toten Vogel loslassen, konnte aber nicht.

Meine Welt zerfiel zu Asche.

Ich hatte die Augen geschlossen.

Ich wusste, dass ich traurig gewesen bin, aber nicht mehr wieso, worüber.

Was war passiert?

Irgendwo in mir wusste ich es, konnte die Erinnerung aber nicht greifen. Sie zerfiel einfach wie feine Ascheflöckchen im Wind und trieb davon. Färbte meine zerstörte Welt grau.

Ich versuchte, mich zu regen. Mein Körper fühlte sich fremd an und doch irgendwie vertraut. War es wirklich noch mein Körper? Oder bin ich mit diesem Körper jemand anderes? Wer war ich vorher? Spielte das noch eine Rolle?

Ich wollte mich an mich erinnern, an das, was gewesen war, doch die Worte zerflossen in meinen Gedanken, verloren ihre Bedeutung, wurden unwichtig. Ich wusste nur noch, dass ich mich nackt fühlte. Und dagegen wollte ich etwas tun.

Ich öffnete meine Augen und sah direkt in die brennend rote Abendsonne.

Kerstin Paul

Wenn die Seele brennt

Phoebe saß auf der alten, halb verfallenen Mauer und schaute aus sicherer Entfernung auf das brennende Gebäude. Sie konnte die Hitze, die von dem Feuer ausging, auf ihrem Gesicht spüren. Sie liebte dieses Prickeln auf ihrer Haut, die Hitze, die nach ihrem Gesicht griff, hart an der Grenze zu Schmerz, aber eben doch nur fast. Nur, wenn sie das Feuer spürte, war sie glücklich.

Phoebe breitete die Arme aus, lehnte sich nach hinten, so weit es ging, ohne von der Mauer zu fallen, und seufzte behaglich. Feuer, Wärme, Glück.

Sie hatte es nicht immer leicht gehabt in den knapp sechzehn Jahren, die sie auf dieser Erde weilte, und das sah man ihr an. Das Leben hatte Spuren hinterlassen auf ihrem Gesicht, auf den Händen, in ihrer Seele.

Phoebes Vater war früh gestorben. »Ein Autounfall«, sagte ihre Mutter.

»Eine Überdosis Heroin«, tuschelte eine gehässige Nachbarin.

Phoebe konnte sich nur verschwommen an ihn erinnern. Ein Foto gab es, auf dem er sie in den Armen hielt, als sie noch ein Baby war. Dort sah er glücklich aus, so, als könne er die ganze Welt umarmen. Phoebe hatte das Foto immer bei sich getragen, bis zu dem Tag, als ihre Jacke mit dem Foto darin in der Wäsche gelandet war. Seitdem konnte man die Personen auf dem Papier nur noch schemenhaft erkennen, aber sie bewahrte es trotzdem auf, in einem Umschlag in ihrer Kommode, ganz unten unter der Unterwäsche, wo es niemand sehen konnte.