Kriminalroman
Herausgegeben von Wolfgang Franßen
Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2018
© 2018 Polar Verlag GmbH Hamburg
www.polar-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Redaktion: Ursula Schötzig, Wolfgang Franßen
Umschlaggestaltung: Robert Neth
Umschlagfoto: Kerstin Petermann
Autorenfoto: © 2018 Hendrik Ertel
Satz/Layout: Martina Stolzmann
Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign
ISBN: 978-3-945133-59-0
eISBN: 978-3-945133-60-6
No Exit
Tiefenscharf
Verbrechen fasziniert. Aufgeklärte Morde beruhigen. Gebrochene Ermittler sind en vogue. Manchmal reißt uns auch der Wahnsinn bei einem durchgeknallten Serientäter mit. Es gibt alles. Für jeden Geschmack. Serien bis ans Lebensende. Sogar die Ironie ist ins Genre eingebrochen und persifliert sich selbst.
Warum dann eine Reihe, die sich »Deutscher Polar« nennt? Verfügen wir nicht schon über genügend Etiketten? Müssen wir uns in der Flut an Noir-Schattierungen nicht jetzt schon gegen Wortgeschöpfe wie Screwball Noir zur Wehr setzen?
Ich war immer ein begeisterter Leser des französischen Polars. Nicht nur wegen Jean-Patrick Manchette, der dem Polar eine gesellschaftliche Verantwortung zuwies. Vor allem Melville hat mit seinen Filmen Autoren und Autorinnen geprägt. Wie wenig braucht es doch, um ganze Lebensentwürfe scheitern zu lassen, ohne das Verbrechen in einem gesellschaftlich leeren Raum stattfinden zu lassen. Der französische Polar war politischer als das amerikanische Ebenbild, dessen Hard-Boiled-Ausgabe allzu oft Stereotypen produzierte, die sich wunderbar auf die Leinwand bannen ließen. In Deutschland gibt es diese Tradition überhaupt nicht.
Von Anfang an, als ich den Polar Verlag gründete, wollte ich einen »Deutschen Polar« ins Leben rufen. Autoren eine Plattform bieten, sie ermuntern, sich abseits des Gängigen zu bewegen, vielmehr Risiken einzugehen. Ich war begeistert von Autoren wie Newton Thornburg und seinem Zorn in »Cutter und Bone«. Von Christian Roux und seiner gebrochenen Selbstironie, mit der er einen Arbeitslosen zum Bankräuber machte. Von Benjamin Whitmer, der das Risiko einging, seinen Patterson Wells nicht als in sich abgekapselte Figur nach schwerem Verlust zu zeichnen, sondern seinem toten Sohn Briefe schreiben zu lassen. Von Ken Bruen in seiner Brant-Reihe stilistisch, indem er schwarzen Humor mit einem gnadenlos reduzierten Stil verband. Alle diese Autoren gingen ein Wagnis ein.
Es ist also Zeit für keinen Kompromiss. Für kein Etikett, um das Marketing zu erweitern. Zeit für Autoren und Autorinnen, die etwas wagen wollen. Sei es stilistisch, sei es durch unbequeme Antworten. Geschichten müssen rebellieren. Nicht mit Krawall und Tumult, um effekthaschende Kulissen zu errichten, die alles für einen Platz auf der Bestsellerliste opfern würden.
Als ich Roland Sprangers leises, von der Sehnsucht nach dem Rausch geschriebenes Manuskript las, war gleich klar, dass ich mit ihm den »Deutschen Polar« in unserem Verlag einführen wollte. Hier dröhnt kein Autor mit Worten, die Leser von ihm hören wollen. Hier spürt ein Chronist seiner Welt nach, der weiß, dass die großen Zeitläufe woanders stattfinden, aber erst wirklich zur Geltung kommen, wenn sie am entferntesten Ort aufschlagen. Kein popkorngerechtes Gangstertum, zum Konsum angerichtet. Hier zerfällt eine Geschichte im Spiegel einer Handvoll Figuren, die ständig versuchen, sich selbst wieder zusammenzusetzen.
Was erwartet die Leser beim »Deutschen Polar«? Autoren und Autorinnen, die keiner Leseranalyse folgen, um ihnen die immer gleiche Geschichte aufzubereiten. Die unsere Sinne schärfen wollen.
Deutscher Polar? Wir amüsieren uns nicht zu Tode. Wir rebellieren.
Die riesigen Neon-Tafeln des Travel-Free-Shops leuchten aufreizend in den Nachthimmel. Auf dem Parkplatz davor stehen gut zwanzig Autos. Selbst um diese Zeit finden sich genug konsumgeile Bedürftige, die sich dankbar mit billigen Zigaretten und Schnaps eindecken.
Nach dem Travel-Free-Shop wird es finster. Nur ein paar einzelne Laternen streuen sparsames Licht.
Max fährt langsam über die Landesgrenze. Wie der vorsichtige Revolvermann durch eine Geisterstadt reitet.
Natürlich muss er seinen Ausweis nicht vorzeigen. Kein Licht in den verlassenen Grenzhäuschen. Jalousien hängen schief in den Fenstern. Nichts schaut hier aus wie eine richtige Grenze, an der die Welt mal zerschnitten war. Schon lange her. Langweilige Fakten aus dem Geschichtsunterricht.
Nach einem Blechschild mit der Aufschrift Staatsgrenze und einem Wappen ist er wieder in Deutschland.
Von der tschechischen Polizei wird man selten kontrolliert. Und wenn, interessieren sie sich mehr dafür, ob man eine Ersatzbirne dabeihat, als für den Rest. Mit dem Rest verdient Max Kohle. Angefangen hat er mit Tabakwaren. Natürlich ist Zigarettenschmuggel ein Thema. Die ohne Steuerbanderole sind besonders billig. Die Vietnamesen bieten sie nicht jedem an. Manchmal sind nur Zeitungsschnipsel in den Zigaretten und kein Tabak. Dann bist du verarscht worden. Passiert, wenn du zu viel Vertrauen hast oder gierig wirst.
Max hat sich schon lange vom Zigarettenschmuggel zurückgezogen. Stattdessen hat er einen Druckverschlussbeutel in der Jackentasche, der nicht nur leichter zu transportieren ist als Zigaretten, sondern dessen Inhalt auch eine wesentlich bessere Umsatzrentabilität verspricht. Dafür ist das Geschäft risikobehafteter: Das Crystal bringt ein paar Jahre Knast mehr ein, wenn er erwischt wird.
Schließlich endet die beleuchtete Strecke. An der letzten Laterne gibt Max Gas. Bergauf macht sich die Entscheidung für das Auto besonders bezahlt. Manchmal ist mehr einfach mehr. Mehr PS zum Beispiel. Der Mond versucht, sich durch die wenigen Lücken zu kämpfen, die ihm die dicken Wolken lassen.
Tagsüber hat Max von der Bergkuppe eine weite Sicht. Jetzt blinkt ein Schwarm roter Lichter neben der Autobahn. Nachts rocken dutzende Windräder die Landschaft mit einer nervösen Lightshow.
An dem kleinen Parkplatz, der nur gebaut wurde, um Polizeikontrollen durchzuführen, wird Max nicht herausgewunken.
Max grinst. Die Bullen feiern vermutlich ihren Resturlaub ab. Es sei ihnen vergönnt. Jagen das ganze Jahr Typen hinterher, die cleverer sind als sie. Dazu auch noch schlecht bezahlt. Selber schuld. Wichser. Nachdem er auf die Autobahn gefahren ist, drückt Max gleichzeitig Gaspedal und den Power-Knopf der Audioanlage. Er stellt die Musik so laut, dass die Bässe jeden Teil des Körpers erreichen. Bauch. Eier. Gehirnlappen. Bis er die Fahrgeräusche des Autos nicht mehr hört und in einem dieser scheiß X-Wing zu sitzen glaubt. Oder in einem Tie-Fighter. Max verwechselt die immer. Irgendwas aus Star Wars. Plötzlich Blaulicht im Rückspiegel. Es leuchtet durch den ganzen Innenraum. Wie Photonentorpedo-Beschuss.
Einen Moment lang hält Max die Luft an. Die Zähne knirschen. Er will nicht in den Rückspiegel schauen, aber dann macht er es doch. STOPP! POLIZEI!
Max gibt Gas. Einen Moment lang sackt das Polizeiauto zurück, dann holt es sofort wieder auf.
Max beschleunigt. Mehr kann er das Gaspedal nicht durchdrücken. Das Auto vibriert. Der Motor spricht direkt zu ihm.
Er pegelt die Musik hoch. Dann fährt er das Beifahrerfenster nach unten und wirft das Plastikpäckchen nach draußen.
Noch ein Kilometer Höchstgeschwindigkeit. Autoverfolgungsjagden ohne Helikopter machen einfach keinen Spaß, seit man Luftverstärkung aus Videospielen gewöhnt ist. Max bremst ab, stellt die Warnblinkanlage an und fährt an der nächsten Autobahnausfahrt nach draußen.
Er bleibt im Auto sitzen, bis ihm der Bulle auf der Fahrerseite mit der Taschenlampe in Gesicht leuchtet. Sein jüngerer Kollege rechts lässt zwischenzeitlich den Taschenlampenstrahl über den Innenraum des Autos gleiten. Auf einem Karton mit Karlsbader Oblaten auf Beifahrersitz beißt sich der Lichtkegel fest.
Max lässt das Fahrerfenster nach unten.
»Führerschein und Fahrzeugpapiere.«
Max klappt die Sonnenblende nach unten und holt das dort deponierte Mäppchen hervor. Er gibt es dem Polizisten, der prüfend darauf schaut.
»Herr Thoss, warum haben Sie nicht gehalten?«
»Ich hab doch gehalten.«
»Sie haben versucht, uns abzuhängen.«
»Ich hab euch Jungs gar nicht bemerkt. War da hinten etwa eine Geschwindigkeitsbegrenzung?«
»Nein. Können Sie dem Kollegen den Karton mal geben.«
Der Bulle leuchtet auf den Beifahrersitz. Max reicht die Packung aus dem Fenster. Vorsichtig öffnet der Cop die Verpackung.
»Karlsbader Oblaten«, sagt Max. »Ich mag die mit Zimt. Auf Schokoladenfüllung stehe ich nicht.«
Der Polizist nickt und gibt Max die Oblaten.
»Bitte bleiben Sie im Auto, Herr Thoss«, sagt der Polizist an der Fahrertür und geht mit den Dokumenten zurück zum Polizeiauto. Der andere Bulle geht auf der Beifahrerseite auf und ab und leuchtet ins Fahrzeuginnere.
»Darf ich rauchen?«, fragt Max.
»Das müssen Sie wissen. Gesund ist es nicht.«
Max zündet sich eine Zigarette an. Raucht. Lehnt den Hinterkopf an die Kopfstütze. Sie ist zu niedrig eingestellt. Wenn er einen Unfall hat, bricht sie ihm das Genick. Der entgegengesetzte Effekt ihrer Bestimmung oder so ähnlich. Wie lange dauert das noch? Der Rauch schaut scheiße aus. So zwischen Windschutzscheibe und Gesicht in einem unbewegten Auto.
Der Bulle an der Beifahrertür leuchtet wieder herein. Beleuchtet schaut der Rauch noch beschissener aus.
»Hatten Sie schon mal Probleme mit der Polizei?«, fragt der Polizist. Max kichert. Eigentlich doof, aber er kann nicht anders.
»Was für Probleme meinen Sie? So Probleme wie jetzt?«
»Sie müssen nicht antworten.«
»Natürlich muss ich nicht antworten.«
Max drückt die Zigarette aus.
»Wo lernt ihr so was? Im Kommunikationstraining, oder wie?«
Endlich wird eine Autotür geöffnet und wieder verschlossen. Max beobachtet im Seitenspiegel, wie der Bulle von seiner bekackten Bullenschaukel zurück zu seinem Auto kommt. Der Polizist reicht das Mäppchen mit Führerschein und Fahrzeugpapieren durch das Fahrerfenster. Max nimmt es und schiebt es wieder in den Gummihalter an der Sonnenblende.
»Haben Sie was getrunken?«
»Nein.«
»Dann haben Sie sicher nichts gegen einen Alkoholtest einzuwenden?«
Max seufzt und steigt aus. Als er versucht möglichst würdevoll mit den beiden Polizisten zum Alkoholtest zu schreiten, hält ein Bullenkombi mit Hundekäfig im Heck. Na super, denkt er. Während er von den Polizisten den Automaten erklärt bekommt, kann er bereits die Schritte des Drogenspürhunds auf dem Asphalt hören. Einmal bellt er sogar kurz.
»Fest blasen, bis ich Stopp sage!«
Max bläst fest. Während er bläst, schnüffelt von hinten ein Hund an seinem Schritt.
»Stopp!«, sagt der Polizist.
»0,0« zeigt das Gerät leuchtend rot an.
»Gehört das eigentlich dazu, dass mir der Hund von hinten an den Eiern rumnuckelt?«, fragt Max.
Der Hund wird weggezogen. Neben Max erscheint das Gesicht des Hundeführers.
»Stört Sie das? Hätten Sie lieber einen Finger im Arschloch?«, fragt der Hundeführer grinsend. »Da haben Sie sich das Zeug ja wahrscheinlich reingesteckt.«
»Dann hätte der Köter sicher angeschlagen.«
»Vielleicht stinkst du so sehr aus dem Arsch, dass der arme Hund die Drogen gar nicht riechen kann.«
Der jüngere Polizist, der Beifahrerbeamte, sagt »Is’ schon gut jetzt« und schiebt den Hundeführer weg. »Mach deinen Job.«
Und der Hundeführer macht seinen Job. Läuft mit dem Hund um das Auto. Öffnet alle Türen. Den Kofferraum. Der Hund schnüffelt. Max merkt, dass der Hund nicht weiß, was er von der Sache halten soll. Er würde gerne was finden. Er ist sich fast sicher, dass etwas da ist. Bellen tut er trotzdem nicht, weil es nur so eine Ahnung ist. Hunde können nicht viel mit der Vergangenheitsform anfangen.
»Wir warten einfach, bis der Kollege fertig ist«, sagt der ältere Polizist.
Außerdem ist das Ice richtig sicher eingepackt. Besser als so eine Sendung von Amazon. Oder Zalando. Richtig gut eingepackt. Es liegt irgendwo neben der Autobahn. Zu gut eingepackt für den Hund. Der Hundeführer schüttelt den Kopf und geht mit Polizeihund zurück zum Auto.
»Mag der Hund Autofahren?«, ruft Max. Der Hundeführer dreht sich um.
»Na, klar. Er liebt seine Arbeit. Er freut sich schon drauf, das nächste Mal etwas zu finden.«
Max schaut abwechselnd zu den beiden Polizisten, die neben ihm stehen.
»Wollen Sie noch etwas sehen? Warndreieck? Warnweste? Erste-Hilfe-Koffer?«
»Haben Sie die dabei?«
»Logisch. Warnweste im Handschuhfach. Erste-Hilfe-Koffer und Warndreieck im Kofferraum. Leicht zu erreichen. Soll ich es vorführen?«
»Schon in Ordnung. Gute Fahrt.«
Die Polizisten steigen ins Auto. Max weiß, dass sie ihm hinterherschauen, als er zum Wagen geht.
»All Cops Are Bastards«, murmelt er. Er fühlt sich kurz wie ein Gewinner. Ein Gefühl, das an den Eiern kitzelt. Im Auto atmet er durch. Von einem Moment auf den anderen ist das Glücksgefühl weggeblasen. Das scheiß Päckchen. Er muss es wiederhaben. Da sind zwanzigtausend Euro in Kristallform drin. Natürlich denken die Bullen gar nicht daran, als Erste wegzufahren. Sie stehen hinter ihm und warten. Blöde Wichser. Er startet den Motor. Fährt. Scheiß Bullen. Scheiß Päckchen.
Mehrere verlassene Landstraßen später ist sich Max sicher, dass er nicht verfolgt wird. In einem Dorf bleibt er stehen und steigt aus. Er schaut sich um. Ein paar hingewürfelte Häuser mit einer Bushaltestelle, die nur werktags vom Schulbus angefahren wird. Max holt sein Handy aus der Tasche. Tatsächlich hat er sogar hier am Arsch der Welt Empfang.
Max mag die vernetzte Welt. Gute Freundin, die mobile Kommunikation. Allerdings muss man aufpassen, was man ihr verrät, denn sie kann nichts für sich behalten.
Am anderen Ende der Leitung ein müdes »Hallo«.
»Du musst sofort herkommen.«
»Hast du keine Sehnsucht?«
»Ich hab schon geschlafen.«
»Oh, tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, weil ich ausnahmsweise mal deine scheiß Hilfe brauche. Beweg endlich deinen fetten Arsch hierher! Jetzt!«
»Ich hab keinen fetten Arsch.«
»Natürlich nicht. Dein Arsch ist super.«
»Den Tonfall kannst du dir sparen. Er ist wirklich super.«
»Sag ich doch. Ich hab keinen Tonfall. Bitte, versuch deinen reizenden Popo möglichst schnell zu deinem Lover zu bringen.«
»Schon besser. Was ist denn eigentlich los?«
»Das willst du nicht wissen.«
»Doch.«
»Ich kann es dir nicht am Telefon sagen.«
»So schlimm?«
Max schnauft ins Telefon. Manchmal ist sie echt schwer von Begriff. »Okay. Wo bist du?«
»Keine Ahnung. In irgend so einem bekackten Hinterwäldler-Kannibalen-Dorf. Wir treffen uns an der Autobahnausfahrt bei der Bezirksklinik. Kennst du von deinem letzten Entzug.«
»Da fahr ich nicht hin.«
»Keine Angst, du landest schon nicht in der Anstalt. Nicht heute Nacht.«
Am anderen Ende der Leitung atmet es. Kira überschreitet deutlich die Höchstdauer für eine Antwort. Schließlich sagt sie:
»Ich will da nicht mehr hin. Da war ich schon zu lange.«
»Ehrlich nicht. Hey, so lange du mit mir zusammen bist, fährst du da nie mehr hin. Du kennst mich: Ich beschütze dich. Vertrau mir.«
»Okay, ich vertrau dir. Ich bin in 20 Minuten dort.«
»Lass dir Zeit. Keine Geschwindigkeitsüberschreitungen. Wir können keine Cops brauchen.«
»Keine Angst. Für Cops habe ich ein eigenes Sinnesorgan.«
Sie legt auf. Max zündet sich ans Auto gelehnt eine Zigarette an. Es ist schweinekalt. Er schaut sich um. In ein paar Fenstern ist noch Licht und Fernsehen. Fußball, Porno, eine Talkshow, eine Krimi-Serie. Und warme Wohnzimmersitzlandschaften. Nicht mal so schlecht. Max tritt die Zigarette auf dem Asphalt aus. Das scheiß Päckchen.
Er fährt zur verabredeten Autobahnausfahrt und wartet, bis seine Freundin in ihrem Kleinwagen neben ihm hält. Beide lassen die Fenster herunter.
»Ich fahr da hinten in einen Feldweg und stell mein Auto ab«, sagt Max. »Wir nehmen deinen Wagen.«
»Und warum?«
Max seufzt. Er ist nicht der Sozialpädagogen-Typ, der gerne jeden Scheiß erklärt.
»Weil mein Auto heute schon mal in Erscheinung getreten ist.«
Nachdem Max seine Limousine abgestellt hat, holt er die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und steigt in den Kleinwagen seiner Freundin.
»Okay, fahr auf die Autobahn.«
»In welche Richtung?«
»Süden. Bis zur nächsten Ausfahrt. Dann kehren wir um.«
»Warum?«
»Wir suchen was.«
»Und was?«
»Ein Päckchen, das ich verloren habe.«
»Was für ein Päckchen?«
Max umklammert ihr Kinn mit Daumen und Zeigefinger. Dreht den Kopf in seine Richtung. Sie schauen sich in die Augen. Max kann das gut. Er schiebt den ausgestreckten Zeigefinger zwischen die beiden Gesichter. Die vertrauten Gesichter.
»Du willst gar nicht alles genau wissen.«
Sie nickt.
»Will ich nicht.«
Sie startet den Motor und fährt auf die Autobahn. Bis zur nächsten Anschlussstelle sagt keiner etwas. Dann fährt sie in die entgegengesetzte Richtung wieder auf die Autobahn.
»Du bist zu schnell«, sagt Max.
»Häh? Sonst fahre ich dir immer zu langsam.«
»Heute nicht. Du musst in fünfhundert Metern auf der Standspur halten.«
»Okay.«
Max steigt aus. Geht zur Leitplanke und leuchtet den Abhang mit der Taschenlampe ab. Nichts, so sehr er auch seine Augen anstrengt. Nur Grün und scheiß Gras und sein Atem, der eine kleine Wolke bildet. Er hält den Atem an und leuchtet wieder. Kein Plastik.
Max steigt ins Auto ein.
»Fahr fünfzig Meter auf dem Standstreifen und halt dann an.«
Als sie wieder anhalten, springt Max aus dem Auto, lehnt sich an die Leitplanke und leuchtet die bekackte Landschaft ab, während er den Atem anhält. Auf seinem Nacken spürt er etwas Kaltes, als würde er von einem Geist berührt. Max hebt die Taschenlampe und leuchtet nach oben. Einzelne Schneeflocken sind in der Luft.
Ziellos.
Max steigt wieder ins Auto.
»Scheiße, es beginnt zu schneien.«
»Der Jahreszeit entsprechend.«
»Ich kann die beschissene Jahreszeit nicht brauchen.«
»Was machen wir jetzt?«
»Du fährst fünfzig Meter auf dem Standstreifen.«
Das machen sie dreimal. Anhalten, Max steigt aus und leuchtet in die Landschaft, ohne dass im Lichtkegel der Taschenlampe etwas zu entdecken ist. Er ist angefressen. Schwer angefressen.
»Und nun?«
»Fahr erst mal von der Autobahn.«
Als sie bei der nächsten Ausfahrt die Autobahn verlassen, fängt es richtig heftig an zu schneien. Dicke Schneeflocken fliegen ins Scheinwerferlicht.
»Und jetzt?«, fragt Kira.
»Fahr über die Dörfer zurück zur Autobahn, damit wir die Strecke noch mal abfahren können.«
»Noch mal?«
»Ja. Kriegst einen Karmapunkt.«
»Ich scheiß auf den Karmapunkt. Ich will wissen, was los ist.«
»Was juckt’s dich?«
»Ich fahre verkehrswidrig auf der Autobahn und auch sonst stinkt die Nummer.«
»Wie oft denn noch? Wir suchen ein Plastikpäckchen. Eher einen Beutel. Ein Beutel in ’nem Päckchen.«
»Ist da zufällig Crystal drin?«
»Nein. Es ist Biomüsli im Wert von zwanzigtausend Euro drin.«
Als sie zur Autobahnauffahrt kommen, bedeckt bereits eine geschlossene Schneedecke die Fahrbahn. Selbst auf der Autobahn sind die Verkehrsteilnehmer vorsichtig unterwegs. Nur ein schwarzer Audi überholt noch, aber schwarze Audis überholen immer.
»Halt nach zweihundert Metern auf dem Standstreifen an.«
»Klar.«
Max springt aus dem Auto. Drückt sich an die Leitplanke. Seine Hose wird feucht. Er leuchtet mit der Taschenlampe nach unten. Alles weiß. Max macht die Taschenlampe aus und steigt wieder ein.
»Und jetzt?«, fragt sie.
Max muss nachdenken.
»Und jetzt?«, fragt sie noch einmal.
Spontan hat er Lust, sie zu schlagen, aber er tut es nicht. Das ist gut. Er ist immer zufrieden, wenn er sich im Griff hat. Das scheiß Päckchen. Das scheiß Ice. Wenn sie noch einmal »Und jetzt?« fragt, haut er ihr auf die Fresse, das weiß er.
Stattdessen sagt sie: »Lass uns nach Hause fahren.«
Er nickt.
Kira gibt Gas.
Die Schneeflocken sind noch fetter geworden. Sie macht das Autoradio an.
Erst synthetische Chart-Musik. Dann die Nachrichten. Anschließend der Wetterbericht und die Verkehrsmeldungen. Der Verkehr bricht gerade überall zusammen. Scheiß Jahreszeit. Scheiß Schnee. Scheiß Cops.
Sascha öffnet die Wohnungstür.
Alles dunkel, nur aus dem Wohnzimmer fällt Licht. Lydia sitzt in ein Buch vertieft auf der Couch. Er lehnt sich an den Türrahmen und schaut sie eine Weile an. Als sie ihn bemerkt, legt sie das Buch weg und lächelt. Dabei dreht sie sich in seine Richtung. Das fällt ihr schwer wegen des Babybauchs. Sascha geht zu ihr und küsst sie. »Julian wollte auf dich warten«, sagt sie.
Julian liegt schlafend im Bett. Als Sascha ihn küsst, reagiert er nicht einmal. So einen Schlaf wünscht man sich als Erwachsener, aber Sascha erwacht bei jedem Geräusch. Bei jeder Berührung.
Als Sascha zurück ins Wohnzimmer kommt, liest Lydia wieder. Muss ein spannendes Buch sein. Trotzdem legt sie es gleich zur Seite, als er sich neben sie setzt.
»Wie war es beim Frauenarzt?«, fragt er.
»Alles in Ordnung.«
»Super. Tut mir leid, dass ich nicht mitkommen konnte.«
Lydia lächelt und küsst ihn.
»Wie gesagt: Alles in Ordnung. Wie war es beim Sender?«
»Ich spar dir die Details. Ich hab Bereitschaft.«
Lydia rutscht abrupt zwanzig Zentimeter von ihm weg – vielleicht sind es auch dreißig – und schaut ihn streng an.
»Können die nicht checken, dass du eine schwangere Frau zuhause hast, die im Mutterschutz ist? Bei der jederzeit die Wehen einsetzen können? Oder die Fruchtblase platzt plötzlich an einem peinlichen Ort. Beim Italiener. Oder im Supermarkt.«
Sascha zuckt mit den Schultern.
»Norbert ist krank geworden.«
»Der ist doch Hypochonder.«
»Ich glaube, er ist ausgebrannt.«
»Es ist noch nicht mal erwiesen, ob es Burnout überhaupt gibt. Ich hätte mir gerne mit dir einen gemütlichen Fernsehabend gemacht.«
Er stellt sich vor, dass seine Frau mit »Fernsehabend« so etwas meint wie heißer Sex ohne Tabus. Vielleicht ist es auch wirklich so. Seit Lydia schwanger ist, hat sie wieder mehr Lust. Die prallen Brüste, in die bereits die Milch eingeschossen ist, haben ihn total geil gemacht, als er sie das letzte Mal abgeschleckt hat. Er hatte sogar den Mut, es ihr hinterher zu sagen. Entgegen seiner Erwartungen ohrfeigte sie ihn nicht.
»Es muss ja nicht unbedingt ein Anruf kommen.«
»Es kommt immer ein Anruf.«
Sascha zieht Lydia zu sich und drückt sich so eng an sie, wie es trotz eines Babybauchs geht. Damit Lydia versteht, fährt er mit den Händen über ihre Pobacken.
»Wir können es einfach mal drauf ankommen lassen. Vielleicht kriegen wir ja einen gemütlichen Fernsehabend hin.«
Sie schiebt ihn liebevoll, aber doch bestimmt zurück.
»Es ist immer unentspannt, wenn du Bereitschaft hast. Weil du ständig auf das Handy achtest. Den Klingelton. Das Vibrieren. Ich achte auch darauf.«
Lydia liest weiter in ihrem Buch.
»Was liest du?«, fragt er.
Sie schaut vom Buch auf.
»Ein Buch über Träume.«
»Ist das was Esoterisches?«
Lydia lacht.
»Träume haben ein schlechtes Image. Das Buch ist reflektiert und gut recherchiert.«
»Willst du deine Träume verstehen, oder was?«
»Nein, ich finde sie einfach spannend.«
»Okay.«
Sascha findet das Video-Spiel spannend, mit dem er sich die Zeit vertreibt. Irgendwie mag er Endzeitszenarios, in denen er mit großen Knarren zwischen Mutanten überleben und sich ab und zu aus dem wenigen, was er hat, etwas basteln muss. Mit seinen Träumen hat er sich noch nicht auseinandergesetzt. Das ist so ein Frauending. Als er ins Bett geht, schläft Lydia schon. Ein Bein spitzt bis zur Pobacke aus der Decke. Da fällt ihm der Sex wieder ein. Natürlich wird er sie nicht wecken. Bei zehnmal Wecken kommen auf einen Spontanfick neun Tage schlechte Laune. Außerdem braucht sie ihren Schlaf. Sie ist schwanger. Und er muss sie beschützen. Sascha legt sich neben sie. Einen Moment ist er versucht, den Arm um sie zu legen, aber dann dreht er sich in die andere Richtung und schläft auf seinem Ellbogen ein.
Das Telefon klingelt um halb vier. Scheiß Bereitschaft.
Eine Großraumdisko an der Autobahn. Gut zu erreichen, aber ohne Niveau.
Bei Licht möchte man die Inneneinrichtung nicht sehen. Vor allem die Sitzbezüge. Der DJ mischt schlecht ab. Man merkt, dass er keinen Spaß hat. Egal. An die entlegenen Ecken mit den Sitzgruppen quält sich der Bass nur noch schwammig. Als hätte er noch genug vom letzten Tag.
Pascal lässt sich neben Luisa ins Polster fallen. Sein Gesicht ist bleich. Jede Viertelstunde wird sein Gesicht dem Bass ähnlicher, aber er gibt nicht auf. Er führt sich alles zu, was zu einem glücklichen Wochenende gehört. Diesmal ist es ein »Sex on the Beach«.
»Soll ich dir auch einen Cocktail holen?«
Luisa schüttelt den Kopf. »Ich muss doch fahren.«
Pascal nickt. Während er nickt, beginnt er zu lachen. »Du bist so vernünftig.«
»Vor allem bin ich müde. Wir müssen dann fahren. Meine Eltern wollen wandern gehen. Das Auto muss rechtzeitig zuhause sein.«
»Wenn ich mal Familie habe, den ganzen Scheiß, dann geh ich auch wandern und erzähle meinen Kids, was das für Bäume sind.«
»Welche Bäume?«
»Na, halt die Bäume, die wir beim Wandern sehen. Am Wegesrand.«
»Du passt doch nie auf in Biologie.«
»Gibt bestimmt eine Biologie-App.«
Pascal macht sich mit seinem Handy zu schaffen. »Wir müssen dann wirklich gehen.«
Er hört auf mit dem Smartphone rumzumachen.
»Okay, dann ziehe ich mal los und sammle Felix und Michelle ein.«
Pascal verschwindet und taucht eine Viertelstunde nicht mehr auf. Langsam wird Luisa sauer.
Als Fahrerin bist du wirklich der letzte Depp. Volljährigkeit hat auch Nachteile. Langsam hat sie es satt, sich jedes Wochenende wieder überreden zu lassen. Der Laden ist scheiße. Der DJ ist scheiße. Ein Typ in einem »Wacken«-T-Shirt versucht sie anzubaggern. Der Typ ist auch scheiße. Trägt ein Metal-Shirt, obwohl er wie Justin Biber ausschaut. Diesen Abend kann nichts mehr retten. Sie ist müde. Die Bässe haben das Verfallsdatum endgültig überschritten. Spielen nicht mal mehr an ihren Zehenspitzen herum. Luisa legt ihren Nacken auf die Lehne. Sie schläft ein.
Jemand rüttelt an ihrer Schulter.
Groß vor ihr das Gesicht von Michelle. »Träumst du vom Märchenprinzen?«, fragt sie.
»Leck mich«, antwortet Luisa. Noch nicht ganz wach, aber schon genervt. Alle möglichen Muskeln sind verspannt, als sie sich wieder gerade hinsetzt.
»Wir rauchen noch was, bevor wir fahren«, sagt Pascal. Er wedelt mit einem bunten Tütchen vor Luisas Gesicht herum.
»Crazy Monkey. Willst du auch was?«
Luisa schüttelt den Kopf. »Ich muss doch fahren.«
»Ich warne Sie gleich mal vor, Herr Rost«, sagt der Polizist, der ihn zur Unfallstelle vorlässt. »Kein schöner Anblick.«
Sascha kennt das bereits. Gerade fährt er noch zivilisiert über eine Autobahn und plötzlich ist er an einem Kriegsschauplatz. Das Autowrack ist vollkommen zerfetzt. Wie nach einem Drohnenangriff. Aber dahinter steckt kein böser Feind. Ein Unfall. Ein paar Sekunden Unachtsamkeit. Und dann knallt der Zufall in die Karosserie. In den Körper. Macht alles kaputt. Metall auf Knochen und Glas auf Fleisch. Das Gewebe gibt nach. Zufall ist der schlimmste Feind.
Sascha muss sich zwingen, seinen Blick auf die Trümmer zu richten. Auf die menschlichen Überreste, die rumliegen. Er packt die Kamera aus. Und filmt. Mit der Kamera dazwischen geht es besser.
»Schlimm, oder?«, fragt der Polizist, der neben ihm steht.
Ja, schlimm. Sascha nickt.
Die Feuerwehr sägt das eingequetschte Dach ab. Funken sprühen. Langgezogener Lärm fräst sich in die Gehörgänge. Metall wird gespreizt. Von dem Auto ist schon vorher nicht viel übrig gewesen. Sascha gibt sich Mühe, die Arbeit der Feuerwehr so zu filmen, dass nicht allzu viel von den Leichen zu sehen ist. Notfalls kann man hinterher noch verpixeln. Feuerwehrleute im Einsatz kommen immer gut. Verpixeln kommt auch gut.
Die Körper der Toten sind vollkommen zermatscht. Einige Gliedmaßen abgetrennt. Kommen in Tüten. Die Notfallpsychologen stehen schon bereit.
Sascha machen solche Szenen nichts aus, solange er eine Kamera zwischen ihm und den abgetrennten Körperteilen hat. Heran- und wegzoomen kann. Tatsächlich macht ihm nicht einmal das Heranzoomen etwas aus.
Noch ein paar Bilder von den Spuren im Schnee. Zwei parallel verlaufende Reifenspuren enden an einem Autowrack, das zusammengeknüllt an einem Baum hängt.
Der Baum gibt keine Interviews. Der Pressesprecher der Polizei ist auch eher kurz angebunden. Drei tote Kids in einem Auto. Was soll man dazu schon sagen?
Nur die Fahrerin hat überlebt. Wenn es einen Überlebenden gibt, ist es immer der Fahrer.
Sascha hasst die Wochenend-Rufbereitschaft. Nur Lydia, seine Frau, hasst die Rufbereitschaft vielleicht ein klein wenig mehr. Auch, wenn überhaupt nichts passiert, ist das Wochenende kaputt. Du kannst nicht wegfahren, du bist immer auf Abruf, du machst alles mit halbem Arsch, bist mit den Gedanken woanders und wirst unmittelbar nach dem Einschlafen von einem fiesen Signalton geweckt. An diesem Wochenende muss er bereits das dritte Mal nachts raus. Macht drei Mal mehr Augenringe als sonst.
Zurück im Medienhaus holt sich Sascha erst mal einen Cappuccino, obwohl er nicht die Vorstellung teilt, die der Automat von einem Cappuccino hat.
Beim Schneiden achtet er vor allem auf das Zeitfenster, den der Clip in der Sendung hat. Mitgefühl für die Opfer entwickelt er nicht. Das ist ja nur Filmmaterial, das bearbeitet werden muss. Da ist er professionell. Außerdem hat er keine Zeit für Emotionen im Arbeitsablauf. Hinterher ist es manchmal komisch. Man läuft durch die Redaktionsräume, als wäre man gar nicht am Match beteiligt, sondern als würde man sich nur unentwegt am Spielfeldrand warm machen.
Berger, der Chefredakteur, ist nicht in seinem Büro. Sascha trifft Ines, die Moderatorin, in der Kantine.
»Du schaust blass aus«, sagt sie.
Sascha nickt.
»Ich weiß. Ist der Unfall der Aufmacher?«
Ines nickt.
»Schön, dass ich den Hunger stillen konnte.«
»Den Hunger nach was?«, fragt sie.
»Nach Schicksal. Die Zombie-Medienlandschaft bedient ihre Zombie-Zuschauer.«
»Nach dem Unfall folgt natürlich erst mal was Positives.«
»Was ist heute positiv?«
»Die Wahl der neuen Bierkönigin. Sie schaut wirklich gut aus.«
»Ich finde Bier und Frauen gut.«
»Danach kommt eine Reportage über eine Musiklehrerin an einem Gymnasium, die ihre Schülerinnen ermahnt hat, nicht ohne Ausweis in die Schule zu kommen, da sie sonst nach einem Brand nicht identifiziert werden können und nur eine Schleife kriegen.«
»Was für eine Schleife?«, fragt er.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich an der großen Zehe.«
»Das ist in mehrerlei Hinsicht schwachsinnig. Zum Beispiel schmilzt der Ausweis ebenfalls, wenn die Schülerin bis zur Unkenntlichkeit verbrennt.«
Ines nickt.
»Es ist gaga. Deshalb berichten wir ja darüber. Angeblich ist die Schülerin traumatisiert. Kommst du mitrauchen?«
»Ich glaube, ich hab mir eine Zigarette verdient.«
»Auf jeden Fall«, sagt sie.
»Zuhause rauche ich nicht mehr.«
»Eine schwangere Frau gewissenlos Zigarettenrauch auszusetzen, wäre auch das Letzte.«
»Wenn es um Schwangerschaften geht, seid ihr Frauen euch alle einig.«
»Ich hol mir einen Cappuccino. Möchtest du auch einen?«
»Nee. Ich krieg davon Pickel. Klar, will ich einen – scheiß auf die Pickel.«
»War es der schlimmste Unfall, den du je gesehen hast?«, fragt Lydia, während sie ihm eine Bierflasche hinstellt.
Sascha öffnet den Schnappverschluss und nimmt einen kräftigen Schluck. Erst dann schüttelt er den Kopf.
»Der schlimmste Unfall ist immer noch der, bei dem der PKW in den Tieflader geknallt ist. Das Kind saß hinter der enthaupteten Mutter. Lebendig und sechs Jahre alt. Zuerst hat es geschrien wie am Spieß. Dann hat es aufgehört zu schreien. Wahrscheinlich, weil es einfach nicht mehr konnte. Hatte ja auch mit dem ganzen Körper gebrüllt. Die Stille war grusliger. Ein kleines, stilles Mädchen hinter der geköpften Mutter. Die Feuerwehr brauchte stundenlang, um es zu befreien. In Echtzeit im Fernsehen würden die Zuschauer verrückt, aber ich musste es filmen. Okay, ein paar Freaks würden nicht verrückt. Die schauen alles. Im Endeffekt sind alle austauschbar. Die Zuschauer. Die Toten. Der Video-Journalist.«
Lydia berührt Saschas Finger. Vielleicht wollte sie die ganze Hand nehmen, aber sie kann sich nicht gut über den Tisch beugen, weil der Bauch im Weg ist. Neunter Monat.
»Man braucht ein Feierabendbier mehr, um die Scheiße nach unten zu drücken.«
Sie prostet ihm mit ihrem Früchtetee zu und lächelt.
»Wollen wir ins Bett?«, fragt sie.
»Bist du müde?«
»Ich bin ausnahmsweise mal nicht müde.«
Auch hochschwanger schaut Lydia sexy aus, wie sie sich durchs Haar fährt und ihre Augenlider auf eine unwiderstehliche Art senkt, als würde sie sich für ihre Fantasien schämen.
Am leichtesten geht es, wenn sie oben sitzt. Ihre Brüste und der Bauch sind schon wieder gewachsen. Gerade, als sie auf ihm Platz nimmt, beginnt Julian im Nebenzimmer zu schluchzen.
Lydia hält in den Bewegungen inne und lauscht. Ihre Oberschenkel drücken seine Hüften.
»Mama.«
»Was ist denn, Kleiner?«
Julian schluchzt lauter. Lydia hat Mühe, aus dem Bett zu klettern.
»Ich geh schon«, sagt er.
Sie schaut lächelnd auf seinen erigierten Schwanz.
»So kannst du doch nicht gehen.«
Er wickelt sich in die Decke ein.
Als seine Frau mit dem Sohn ins Schlafzimmer zurückkommt, hat sich Julian beruhigt. Zu dritt liegen sie im Bett. Das Kind zwischen ihnen. Schon nach ein paar Minuten sind Lydia und Julian eingeschlafen.
Der ausgebliebene Orgasmus macht Sascha unruhig. Er steht auf und schleicht zum Kühlschrank. Noch ein Bier. Er öffnet es möglichst leise, trinkt und geht ans Fenster. Der Atem lässt die Scheibe beschlagen. Draußen hat es zu schneien begonnen. Er leert die Flasche in wenigen Zügen. Zurück im Schlafzimmer liegt Julian quer im Bett. Sascha hat gelernt mit einem schmalen Streifen auszukommen, aber trotzdem kann er nicht einschlafen.
Sascha steht auf und schenkt sich einen Whisky ein. Gute-Nacht-Trunk. Daran kann ja nichts verkehrt sein. Oder an noch einem. Sicherheitshalber.
Sascha hält im Innenhof einer ehemaligen Schuhfabrik. Die Gewerberäume wurden aufwändig zu Lofts und Apartments im gehobenen Preissegment umgebaut. Auf der Rückseite des Gebäudes Balkone mit Blick auf den Fluss, der während des Wirtschaftswunders zu einer stinkenden Kloake verkam, auf der dicke Schaumflocken schwammen. Mittlerweile ist der Flusslauf renaturiert. Das dicke Rohr, aus dem ungefiltert Gerbemittel von der Schuhfabrik ins Wasser geleitet wurde, hat man beim Bau des Fahrradwegs aus der Uferböschung gebaggert. Eine zwei Meter große Spindelstanze erinnert im Eingangsbereich der Wohnanlage an die industrielle Vorgeschichte des Gebäudes.
Sascha trägt die Kamera in den dritten Stock und klingelt an einer Wohnungstür.
Eine junge Frau mit blauen Strähnen in den blonden Haaren öffnet.
»Sascha Rost. Wir haben telefoniert.«
»Alina. Komm rein.«
Er betritt das Apartment. Alina bleibt in der Tür stehen und schaut nach draußen.
»Kommen die anderen später?«, fragt sie.
»Es gibt keine anderen.«
»Du bist aber schon beim Fernsehen, oder?«
»Ja.«
»Es schaut irgendwie nicht so aus.«
»Die Öffentlich-Rechtlichen schicken manchmal noch richtige Teams raus. Einen Redakteur, einen Kameramann, einen Tonassistenten und noch einen Praktikanten, der das Auto umparkt. Im Gegensatz dazu macht ein Videojournalist beim Privatfernsehen den ganzen Scheiß alleine.«
»Kenne ich. Ich mach mittlerweile auch alles alleine für meine Video-Produktion.«
Sascha schaut sich nach dem besten Hintergrund für das Interview um.
»Schöne Wohnung.«
»Ja. Natürlich achte ich aufs Ambiente. Immerhin hat mein YouTube-Channel mehr als eine Million Abonnenten. Die ganze Community kennt meine Wohnung.«
»Wohnen Sie hier alleine?«
»Bis vor Kurzem hat mein Freund mit hier gelebt, aber wir haben uns getrennt.«
»Tut mir leid.«
»Nein, ist okay. Er war ein Arschloch.«
»Finanzieren Sie sich ausschließlich über den Vlog?«
»Ja, das ist manchmal schon stressig, wenn man mehrere Videos in der Woche produzieren und freischalten muss, aber nur mit neuem Content kommt man auf seine Klicks.«
»Ich glaube, wir machen das Interview zwischen den Bonsais. Und natürlich muss die Katze mit ins Bild.«
»O’Malley schläft.«
»Wir werden O’Malley wecken müssen. Er ist Ihr Co-Star in den Videos.«
»Können wir uns duzen? Zumindest während des Interviews? Das fänden in der Community alle voll blöd, wenn ich jemanden siezen würde.«
»Gut. Halten wir uns an die Netiquette.«
»Zuerst muss ich nochmal ins Bad und den Lidschatten nachziehen.«
»Ich finde den Lidschatten okay.«
»Okay ist nicht genug. Ich bin es meinen Followern schuldig.«
Alina verschwindet im Bad.
Sascha zoomt mit der Kamera durch den Raum, um sich mit dem Licht vertraut zu machen. Bonsais. Ein großer verschneiter Balkon vor den Fenstern. Ein Bücherregal, in dem Bücher stehen, die man vielleicht als Vloggerin gelesen haben muss oder die schöne Buchrücken haben. Dazwischen ein digitaler Bilderrahmen. Sascha nimmt die Kamera vom Auge und schaut sich die Bilder an. Alina mit einer Freundin im Urlaub in einer Strandbar. Lachen, ein Arm um die Schulter der Freundin und die andere Hand am Cocktail. Alina mit der gleichen Frau auf einer Party beim Karaoke-Singen und dann die zwei Frauen mit drei jungen Männern im Partygetümmel. Die Jungen reißen Grimassen. Auf dem nächsten Foto starren alle fünf in die Linse, während der Fotograf offensichtlich am Boden liegt.
Alina öffnet die Badezimmertür. Sascha schultert die Kamera.
Natürlich setzt sich O’Malley während des Interviews genauso gut in Szene wie sein Frauchen. Eitel, wie rotgetigerte Kater sind. Beide sind kameraerfahren und können Aufmerksamkeit generieren. Alina ist gesprächig. Wie in ihren Vlogs. Sie erzählt, dass ihre Rubrik »Outfit-Of-The-Day« (»Pailletten, darunter Glanz, nicht so bäm«) bei ihren Fans super ankommt und wie sie durch Zufall ihrem Künstlernamen gefunden hat. Für den von ihr kreierten Organic-Burger bekam sie so viel Zuspruch, dass sie mit dem Gedanken spielt, einen eigenen Koch-Channel aufzumachen. Oder einen Beauty-Action-Channel, weil sie gerne sportlich und risikobereit ist, aber dabei immer perfekt gestylt. Nein, sie hat keine Angst, dass ihr der Erfolg zu Kopf steigt. Der Kontakt zur Community ist ihr sehr wichtig.
Nach dem Dreh fragt Alina, ob Sascha ein Bier möchte. Sie verbindet die Frage mit dem Zusatz:
»Ich weiß, es ist eigentlich zu früh, aber ich finde, wir haben es uns verdient, oder?«
»Auf jeden Fall.«
Alina holt aus einem riesigen, silbernen Retro-Kühlschrank zwei Bierflaschen und öffnet sie. Während sie mit den Bieren auf Sascha zugeht, verlangsamt sie ihre Schritte und lächelt so, dass man ihre Zähne sehen kann, wie es Leute in Werbespots machen. Dann prosten, trinken, weiter lächeln.
»Sag mir Bescheid, wenn das auf Sendung ist, damit ich in den sozialen Netzwerken Werbung machen kann. Ihr stellt es ja hoffentlich in die Mediathek?«
»Bestimmt. In meinem Beitrag geht es um ein Internet-Phänomen. Da wäre es blöd, wenn es nicht verfügbar wäre.«
»Betrachtest du es eigentlich als Vor- oder Nachteil, allein zu arbeiten?«
»Wie man’s nimmt. Ich bin schnell vor Ort, weil ich kein ganzes Team koordinieren muss.«
»Das schätze ich auch, wenn ich alleine mit meiner kleinen Kamera unterwegs bin. Es gibt keine Verständigungsprobleme. Die ersten Filme habe ich sogar mit dem Handy gemacht. Die ganzen zwischenmenschlichen Probleme entfallen, der ganze Mist.«
»Ist ja auch eine Kostenfrage. An Idioten wie mir spart sich der Sender dumm und dämlich.«
»Dafür muss man aber auch schon ein spezieller Typ sein, findest du nicht?«, sagt sie und fährt sich absichtsvoll durchs Haar. Es gibt circa 92 Arten, auf die sich Frauen durchs Haar streichen, und Sascha kennt sie alle, weil sie von einer Kamera gnadenlos aufgedeckt werden. Auffällige Frisuren machen Sascha irgendwie nervös.
»Wofür?«
»So …«
Sie lässt eine Pause, in der sie noch mehr lächelt.
»… alleine zu sein.«
»Ich komm klar. Außerdem bin ich nicht allein. Ich habe eine Frau. Sie ist im neunten Monat schwanger.«
»Das ist ja super. Meinst du, ich hätte eine Chance als Praktikantin in deinem Sender?«