Herman Heijermans
Bluff
Roman
Herman Heijermans
Bluff
Roman
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Else Otten
EV: Rudolf Mosse, Berlin, 1926 (281 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962814-01-4
null-papier.de/595
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Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel – Worin es der Teufel mit einem lyrischen Schriftsteller, einem Bankier und einem Hoteldieb zu tun bekommt.
Zweites Kapitel – Worin Näheres über den Multimillionär Artur Rondeel erzählt wird.
Drittes Kapitel – Worin Näheres über den Schriftsteller Hans Thyssen, Mitglied des Literaturwissenschaftlichen Vereins, mitgeteilt wird.
Viertes Kapitel – Worin nun Näheres über den Hoteldieb Johan Tulp, genannt Charles Jean Tullipe, bekannt wird.
Fünftes Kapitel – Worin Nathan Marius Duporc von der Geheimpolizei die Notbremse zieht.
Sechstes Kapitel – Was Schreckliches in dem Zuge geschehen, und in welches Labyrinth der Kriminalkommissar geraten war.
Siebentes Kapitel – Die Vorlesung von Hans Willem Adriaan Thyssen in Dordrecht findet nicht statt, und Jaapje Eekhorn macht im Hotel Ponsen eine Entdeckung.
Achtes Kapitel – Ein Hotel, in dem wenig geschlafen, viel gewaschen und gehämmert wird und die Gäste auf nüchternen Magen ihre Rechnung bezahlen, aber aufs Frühstück verzichten.
Neuntes Kapitel – Ein bedeutsames Kapitel, in dem Herr N. M. Duporc vom Geheimdienst den Zug verpasst, die Aktien der »Internationalen Bank« für einen Pappenstiel an der Amsterdamer Börse zu haben sind und Jaapje Eekhorn Damenbesuch im Wohnschiff empfängt.
Zehntes Kapitel – Worin Jaapje Eekhorn den Flirt seines Busenfreundes fortsetzt, eine Verlobung auf niederträchtige Art aufgehoben und Klothilde Rondeel mit herzlichen Teilnahmebeweisen überschüttet wird.
Elftes Kapitel – Worin Klothilde eine etwas hochtrabende Rolle spielt, Nathan Duporc einige nächtliche Besuche abstattet, bei Mondenschein auf dem Damm ein paar gewaltige Luftsprünge macht und die Connie vom Notar die Feuerwehr alarmiert.
Zwölftes Kapitel – Ein neues, höchst bewegtes Kapitel, worin der Kriminalkommissar die Erfahrung macht, dass man mit Stelzen auf unbekannten Pfaden nicht gut vorwärts kommt; worin ferner Jaapje Eekhorn durch einen mitleidigen Helfer in der Not gerettet, aber dank seiner Mundstückmanie wieder verraten wird und in einem schwachen Augenblick selber an Verrat denkt; und worin endlich Nathan Marius Duporc sein Licht in Aerdenhout leuchten lässt.
Dreizehntes Kapitel – Worin der Kommissar das Gastrecht verletzt und die Bekanntschaft eines höchst ungenießbaren Kollegen macht, Notars Connie mit Schillerlocken traktiert wird und selber was zum besten gibt, während eine chemische Untersuchung die Vermutungen Duporcs auf eine auch für ihn überraschende Weise bestätigt.
Vierzehntes Kapitel – Worin Nathan Marius Duporc einen ausführlichen Bericht schreibt und seine Cousine Anna den finsteren Pfad der Sünde betritt – Hans Thyssen mit 30 Sonetten und dem Entwurf zu zwei neuen Dramen aus der Haft entlassen wird – Josephus Bok, Ritter der Ehrenlegion, aus der Effektenbörse hinausgeworfen werden soll – Charles Jean Tullipe eine edle Rolle spielt – und verschiedene andere höchst interessante Ereignisse sich zutragen, die sich zu Beginn dieses Kapitels noch nicht alle aufzählen lassen, weil ein geschickter Romanschreiber nicht all sein Pulver schon vorher verschiessen darf.
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Ihr
Jürgen Schulze
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An einem außergewöhnlich düsteren Nachmittag, an dem der Himmel so voll schwarzer Wolken und Unwetterdrohungen hing, dass in vielen Wohnungen schon frühzeitig Licht hinter den Fenstervorhängen brannte, hatte ein Schriftsteller, der erkältet war, seine Füsse in lauwarmes Wasser gesteckt und war darüber eingenickt; ein vielfacher Millionär saß mit einer Zigarette zwischen den vollen Lippen einen Augenblick ausruhend in seinem Klubsessel, und der Hoteldieb zündete sich eine zu fest gestopfte und darum schlecht brennende Pfeife an.
Diese drei Menschen hatten nichts miteinander gemein als eben dieses Eine: dass sie Menschen waren – aber Menschen allerverschiedenster Art.
Sie kannten einander nicht.
*
Der Schriftsteller bewohnte ein Zimmer mit Schlafkammer in einem kleinbürgerlichen, doch sehr anständigen Viertel. Der Bankier nannte, unter anderem, eine fürstlich eingerichtete Wohnung im vornehmsten Stadtteil Amsterdams, hinter dem Reichsmuseum, sein eigen. Der Hoteldieb schweifte bald hier, bald dort hin; er hatte letzthin im Volkshause Obdach gefunden und lebte jetzt, taktvoll zurückgezogen, bei einem Busenfreund in einem Wohnschiff, das an einem Kai festgemacht hatte.
»Das ist eine hübsche Musterkollektion«, dachte der Teufel und klopfte an.
»Herein«, sagte der Schriftsteller, »aber, bitte, sehen Sie sich nicht um und nehmen Sie keinen Anstoss an meinem Aufzug! Ich habe mich erkältet, muss aber heute Abend verreisen, und weil der Mensch nie weiss, was über ihm schwebt, und was ihm passieren kann, wasche ich mir die Füsse, wie ich mir auch die Seele von Gift und Galle gegen die Menschheit reinwaschen möchte, die mich schmählich im Stiche Iässt.«
»Wir werden viel miteinander zu tun kriegen«, sprach der Teufel lächelnd.
*
»Herein!« rief der Bankier. »Bitte, nehmen Sie doch eine Zigarette. Ich ruhe mich einen Augenblick von meinen endlosen Konferenzen aus. Man reibt sich schliesslich ganz auf. Man wirtschaftet mit seinen Nerven drauf los und verraucht eine Schachtel Zigaretten nach der anderen. Ich muss heute Abend in Begleitung eines meiner Freunde und meines Sekretärs verreisen. Wir bringen ein Kapital von unschätzbarem Wert in zwei Handkoffern fort. Aber wir sind zu dritt und bewaffnet.«
»Ich werde die Sache im Auge behalten«, sprach der Teufel lächelnd.
*
»Was soll denn das?« rief der Hoteldieb und fuhr hoch, wobei aus der gleichfalls hochfahrenden Pfeife Funken in die Ritzen des Fussbodens im Wohnschiff fielen. »Ich schätze das nicht, wenn jemand so heimlich an Bord kommt! Ich tue hier noch ein paar Züge aus meiner Pfeife, ehe ich meinen Koffer packe. Ich muss heute Abend sehr dringend verreisen, und die vorige Nacht bin ich auch nicht ins Bett gekommen. Ich war mit meinem Kollegen auf Tour, aber es war nichts zu holen. Ich arbeite am liebsten in internationalen Hotels und in internationalen Zügen. Schnüffeln Sie nicht so herum! Dies ist nur der gesunde Geruch von Chloroform; damit erreiche ich mehr als mit einem geräuschvollen Browning, obgleich man auch diesen für den Notfall nicht gänzlich ausschalten darf. Pfeife gefällig?«
»Danke. Wir beide haben uns nicht zum letzten Male gesehen«, meinte der Teufel und lächelte wieder.
*
Dreimal hatte er auf die gleiche Art gelächelt. Kein Zweifel: es war eine hübsche Musterkollektion: der Schriftsteller A; der Bankier B; der Hoteldieb C.
Und auf seine Manschette zeichnete er mit ein paar raschen Bleistiftstrichen ein Dreieck:
Das luxuriöse Reiseauto des Herrn Artur Rondeel, Hauptinhabers der Internationalen Bank, hielt vor den vergitterten Fenstern des Bankgebäudes auf der Kaisersgracht. Wäre es Frühjahr oder Sommer und wäre die ganze Lage weniger beängstigend gewesen, so würde Herr Rondeel vermutlich die ganze Fahrt in seinem Luxuswagen zurückgelegt haben, statt den Pariser D-Zug zu benutzen. Nun aber war die Angelegenheit nicht nur sehr dringend, sondern sie musste auch so diskret wie möglich behandelt werden – an der Börse war ohnedies schon etwas durchgesickert – wohl nicht das Richtige, aber doch immerhin etwas, und das hatte natürlich zur Folge, dass die Aktien der Internationalen Bank, die in den letzten Jahren ohnehin schon unter Pari gefallen waren (trotz einer Dividende von acht Prozent und einer Reserve von dreissig Prozent des Aktienkapitals!), noch weiter heruntergingen. Innerhalb weniger Tage musste alles mit den Vertretern der Regierung ins Reine gebracht werden. Obendrein musste Herr Artur Rondeel bis spätestens Donnerstag zurück sein, um der Trauung seiner einzigen Tochter Klothilde beizuwohnen. Die Hochzeitsfeier sollte das glänzendste Fest werden, das noch je in Privatkreisen gefeiert worden war. Das Programm umfasste drei Tage: Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. Dienstags die Fahrt auf einem der Passagierschiffe der Seefahrtsgesellschaft, in deren Aufsichtsrat Herr Rondeel als Vorsitzender saß. Mittwochs Diner mit Ball und großem Orchester in der fürstlichen Villa draussen in Aerdenhout. Donnerstags Lunch im Pavillon des Vondelparks, Empfang in der Stadtwohnung und Sondervorstellung im Stadttheater.
Es sollten Tage und Nächte voller Überraschungen werden, und Herr Rondeel, der seit zehn Jahren Witwer war, hätte auch nicht um der größten Transaktion willen dieses Fest versäumen mögen.
*
Im Privatkontor der Direktion gab es ein nervöses Hasten, um alles zur Reise fertigzumachen.
Es war schon öfter fieberhaft zugegangen. Einmal, während einer jener Börsenperioden mit nur mühsam unterdrückten Panikstimmungen, hatte Herr Rondeel seine Angst vor dem Schwindeligwerden tapfer unterdrückt und war an einem Tage nach London hin und zurück geflogen; und an jenem Tage hatte es in dem luxuriös eingerichteten Privatkontor mit den wundervollen Mahagonimöbeln und den kristallenen Wandleuchtern und Lüsterkronen wortwörtlich Sturm gegeben. Die Prokuristen, die zwar nicht alle Finessen des Generalstabes und der Transaktionen großen Stils kannten, schätzten immerhin den Gewinn dieses Tages auf ein paar Millionen holländischer Gulden. Herr Artur Rondeel hatte privatim konsequent in Kronen, Mark, ja sogar in Francs à la baisse spekuliert. Keiner der Angestellten – und ihre Zahl war Legion – erinnerte sich, jemals eine aufgeräumtere, betriebsamere, frohere Stimmung in den Privatkontors erlebt zu haben, wie während der Abwesenheit des Herrn Rondeel, für den sein baumlanger Kompagnon Jones, ein geborener Engländer, die Geschäfte führte.
Sämtliche Telefonleitungen – elf Haupt- und sieben Nebenanschlüsse – waren schon vor Beginn der Börsenzeit und bis spät in den Abend hinein ununterbrochen besetzt, und drahtlose Telegramme hatte es nur so geregnet.
Aber auch diesmal hatte es Stunden gegeben, die an jenen historischen Tag erinnerten.
Der alte Jones, der sonst stets guter Laune war, brummte, schimpfte und schnauzte die Angestellten an, die ihn um Unterschriften baten. Der junge Henry Jones, der Donnerstag mit Klothilde getraut werden sollte, war ganz bleich. Der Subdirektor Cochefort, sonst das verkörperte Phlegma, dem kein Mensch an vornehmer Zurückhaltung gleichkam, nahm zwei – drei Stufen auf einmal und sprang die schwarzmarmornen Wendeltreppen zum oberen Flur empor, als ginge ihm heute alles zu langsam und als sässe ihm jemand auf den Fersen. Kikker hingegen, der tolle Jan Kikker, der denkbar heiterste aller Direktionssekretäre, der allzeit scherzende Turner, der nur einmal ein paar Tage aus seinem gewohnten Ton gefallen war, als Klothilde, der er heftig den Hof gemacht hatte, die Braut des jungen Jones geworden war – Kikker also war heute so ruhig und gemessen, als läge ihm die Reise nach Paris, die er als Vertrauensmann mit dem Bankier unternehmen sollte – eine Reise, um die das ganze übrige Personal ihn beneidete – sehr schwer im Magen.
Um ein Viertel nach fünf Uhr lehnte sich Herr Artur Rondeel, völlig erschöpft von den unzähligen Besprechungen und Konferenzen, einen Augenblick in seinen Klubsessel zurück, steckte sich die soundsovielte Zigarette zwischen die Lippen, und kein Sterblicher, weder sein Sozius, noch sein zukünftiger Schwiegersohn, noch sein Sekretär, hätte es gewagt, ihn während dieser wenigen Minuten der Ruhe zu stören, nachdem er ganz schlicht gesagt hatte: »Lasst mich jetzt einen Augenblick allein, bevor ich in den Wagen steige. Ich bin für keinen Menschen zu sprechen.«
Des Unermüdlichen Kopf mit den noch jugendlichen Gesichtszügen unter dem braunen Haar, dem wohlgepflegten Schnurrbart und dem kleinen Spitzbart à la Napoleon III. lehnte sich einen kurzen Augenblick müde hintenüber und gewahrte dabei das dreiste Lächeln des großen Seelenverderbers.
Dann schloss er die Augen, war einen Augenblick der Welt und dem Fieber des Tages entrückt.
Da läutete das Haustelefon trotz des strengen Verbotes und wollte nicht verstummen.
»Wer ist denn da?« fragte der Bankier zornig, »ich habe doch gesagt …«
»Ich!« rief eine Stimme.
»Wer ist ich?« fragte der in seiner Ruhe Gestörte, und seine Stimme klang sehr wenig freundlich.
»Joopie«, erwiderte der Störenfried lachend, weil er dessen sicher war, dass er sich sogar in diesem vornehmen Kaisersgrachthause etwas erlauben dürfte. War er jemals unentbehrlich gewesen, so war er es diesen Abend, da er im Begriff stand, mit seinem alten Jugendfreund Artur eine Spritztour nach der Lichtstadt Paris zu unternehmen.
»Wo sind Sie?« fragte der Bankier, dreiviertel wach geworden.
Josephus Bok, der frühere Komiker, jetzige Direktor der All-Risk-Versicherungsgesellschaft, Ritter der Ehrenlegion in Anerkennung der Dienste, die er dem französischen Staate während des Krieges erwiesen, war der einzige, der mit ihm fertig werden konnte, wenn er von Zeit zu Zeit unter heftigen Depressionen litt.
»Ich sitze hier im Konferenzzimmer in Ihrem Stuhl und präsidiere mir selber. Es ist beinahe halb sechs, und wir müssen noch ein paar Besorgungen erledigen. Wollen Sie erst noch nach Aerdenhout?«
»Ich hätte für mein Leben gern noch meiner Tochter Adieu gesagt, aber der Pariser Express hält nicht in Haarlem. Nun wollte ich hier noch in aller Ruhe essen. Freilich, wenn … Kommen Sie doch zu mir herüber. Telefonisch möchte ich das nicht besprechen. Die Zentrale hat Ohren.«
Einen Augenblick später streckte Josephus Bok, ohne anzuklopfen, sein gesundes, rotes, heiteres Gesicht durch den Türspalt.
»Bitte, nehmen Sie wenigstens einen Augenblick Platz«, sagte Artur Rondeel; »ich habe alles weggeschickt, um noch ein paar Sekunden ruhig für mich sein zu können. Ich bin ein wenig down …«
»Ausgezeichnet«, tröstete ihn der alte Spaßvogel, »wenn Sie in solcher Stimmung etwas unternehmen, schlägt es selten fehl. Menschen, die nur einen einzigen Zustand kennen, liebe ich nicht. Sind das die Koffer mit den bewussten Papieren?«
Der untersetzte Mann im Klubsessel nickte. Er schien zerstreut. Gleich darauf klopfte es.
»Ja?« rief der Bankier.
»Herr Direktor«, sagte der Sekretär im Eintreten, »ich glaube, es wird Zeit. Guten Tag, Herr Bok.«
»Guten Tag, Kikker. Sind Sie auch ein wenig down?«
»Ich? – aber nein.«
»So lassen Sie das Gepäck in den Wagen schaffen und sagen Sie dem Portier, er solle auf die Koffer achten, bis wir selber einsteigen. Oder nein, lassen Sie ihn lieber heraufkommen, wenn ich soweit bin.«
Als Rondeel sein abgespanntes Gesicht in dem reichgeschliffenen Spiegel im Mahagonirahmen gewahrte, erschrak er selber und wandte sich dann unerwartet um, als sein Freund und sein vertrauter Sekretär einander auf so absonderliche Art ansahen, dass ihm beinahe eine Bemerkung darüber entschlüpft wäre. Aber in demselben Augenblick erschien der Portier, um die Koffer zu holen, die mit den Schildern der besten Hotels beklebt waren, und Cochefort, der phlegmatische Subdirektor, musste noch ein paar Spezialvollmachten mit der Unterschrift des Herrn Rondeel haben, und der alte Jones musste ihm noch etwas zuflüstern, weil er dem allzeit vergnügten Josephus Bok nicht traute, und der junge Jones kam noch im letzten Moment mit dem Kreditbrief und dem goldenen Füllfederhalter, den sein zukünftiger Schwiegervater auf seinem Schreibtisch hatte liegen lassen – dann endlich bewegte sich der Zug durch den marmornen Vorraum, an den marmornen Säulen entlang, in das volle Licht der Kontore, durch die nervöse Hast des Betriebes, dann weiter durch die Halle mit den geschlossenen Schaltern und zu den schweren bronzenen Türen des Gebäudes.
Artur Rondeel, der in seinem Pelz noch untersetzter aussah als gewöhnlich, ging an der Seite des riesengroßen Jones an der Portierloge vorüber – Josephus Bok erzählte Herrn Jones, der kaum zuhörte, einen etwas saftigen Witz – der Sekretär Kikker und der Subdirektor trugen die ganz harmlos aussehenden Handkoffer, die unschätzbare Werte enthielten.
Der Chauffeur kurbelte an – der Portier öffnete den Wagenschlag so weit wie möglich – durch die erleuchteten Fenster blickten ein paar neugierige Angestellte – man nahm Abschied. Der Schein einer brennenden Zigarette leuchtete im Innern des Wagens auf – dann glitt dieser geräuschlos davon, und Jan Kikker fiel mit einem Ruck in den Sitz zurück, weil Josephus Bok ihn in das Knie kniff, indes Artur Rondeel das elektrische Licht im Auto anknipste.
»So kann man uns prachtvoll sehen«, sagte der ehemalige Komiker.
»Das wollen wir ja gerade«, antwortete der Bankier lächelnd.
Vor dem Haus, in dem der Sekretär ein paar Zimmer bewohnte, hielt das Auto ein paar Minuten, weil Kikker etwas vergessen hatte, und vor der Junggesellenwohnung des Josephus Bok hielt es noch ein wenig länger, weil der Direktor der All-Risk-Versicherungsgesellschaft so viel Gepäck heranschleppte, als wollte er eine Reise nach Afrika machen – unter anderem einen schwergefüllten Sack, den er durchaus nur selber anfassen und nicht dem Chauffeur anvertrauen wollte.
Als sie eben fertig waren, ging im Laternenschein ein Mann vorüber und grüsste Bok höflich.
»Wer war das?« fragte Artur Rondeel.
»Ein Idiot«, sagte Josephus.
»Bitte drücken Sie sich etwas präziser aus«, meinte der Bankier leicht beunruhigt.
»Ein Monsieur Habenichts«, antwortete Josephus Bok lachend, »ein Zeilenschinder, dem ich mal was zu verdienen gegeben habe. Die spannende Novelle in der letzten All-Risk-Broschüre, in der eine Familie an einem Tage von Brand, Einbruch, Diebstahl, Wasserrohrbruch, Beinbruch des die Treppe heruntergefallenen Mannes, Autounfall der Frau usw. usw. heimgesucht wurde, war von ihm. Langweile ich Sie, Herr Rondeel?«
»Von Langweilen kann nicht die Rede sein«, antwortete der Direktor der Internationalen Bank höflich; »aber Sie sprechen so ruhig über lauter Dinge, die mich absolut nicht interessieren, und Sie wissen doch, an was für wahnsinnige Schwierigkeiten ich denken muss. Haben Sie den Browning mitgenommen?«
»Bitte, hier«, sagte der Sekretär und griff nach seiner Hosentasche.
»Nicht herausnehmen!« sagte Herr Rondeel rasch und warnend; »Sie vergessen, dass wir in einem hellerleuchteten Auto fahren und dass jede Bewegung gesehen werden kann … Und Sie, Joopie?«
»Meiner funktioniert tadellos«, sagte Josephus; und ohne sich um die Warnung des Herrn Rondeel zu kümmern, holte er einen Browning vor und spannte den Hahn. Als er sah, wie entsetzt der Bankier sofort eine regelrechte Abwehrstellung einnahm, lachte der frühere Komiker so laut und so anhaltend, dass er rot und blau im Gesicht wurde. Oben am Browning hatte sich eine kleine Benzinflamme entzündet, und ein spaßiges Magazin voller Zigaretten schob sich unter dieser Flamme dem Bankier entgegen.
»Was sind Sie doch für ein verrückter Hering!« sagte Rondeel, der nun auch lachen musste. »Sie können einen zu Tode erschrecken!«
»Das wollte ich ja gerade!« antwortete Bok lachend; »na, soll ich noch eine Stunde warten oder ist eine Zigarette gefällig? Sie können sie ruhig nehmen; eine Spezialmarke, die sonst nirgends zu haben ist. Geschenk meines Bruders, der mir tausend Stück aus Madeira mitgebracht hat.«
»Aromatisch, aber schwer«, sagte der Bankier, der Kenner war.
Auch der Sekretär wollte die besondere Sorte kosten. Der blaue, schwere Dampf legte sich um die Benzinflamme, und die drei hätten noch länger mit der drolligen Attrappe ihren Spaß gehabt, wenn sich der Bankier nicht plötzlich erhoben und das Licht im Wagen ausgeschaltet hätte.
»Was machen Sie denn mit einem Mal?« fragte Josephus, der – wie mit einer Reflexbewegung – auch die kleine Benzinflamme auslöschte.
»Da gaffte gerade ein höchst verdächtig aussehender Kerl durch das Fenster«, sagte der Bankdirektor, der aus einem Extrem ins andere fiel und nun auch noch den kleinen seidenen Vorhang herabliess, sodass sie ganz im Finstern saßen.
»Was ist schon dabei«, meinte der Ex-Komiker; »ob man in seinem Leben ein verdächtiges Gesicht mehr oder weniger sieht? Soweit ich Menschenkenner bin, hat jeder ein verdächtiges Gesicht, und wir drei vielleicht ganz besonders! Sie sollten meine Methode befolgen, Herr Rondeel! Wenn mir eine Fotografie vor die Augen kommt, so decke ich allemal den Namen, der unter das Bild gedruckt ist, erst mit der Hand zu. Versucht man dann zu erraten, wer es ist, so meint man gewöhnlich, hundert gegen eins, einen Einbrecher, Giftmischer, Falschmünzer, Mörder, Hochstapler – oder einen flüchtigen Bankier, wie Sie, Herr Rondeel, vor sich zu haben. Das hängt alles vom Fotografen ab, der oft aus den ehrbarsten Menschen finstere Landstreicher und aus den verdächtigsten Spitzbuben Pfarrer oder Minister macht.«
»Verdrehter Kerl«, sagte Artur Rondeel lachend und fürs erste wieder heiter.
Der Chauffeur, der seine Weisungen erhalten hatte, hielt vor einem Friseurgeschäft. Jan Kikker sprang aus dem Wagen, um für seinen Chef ein paar Besorgungen zu machen. Als er mit dem Paket aus dem Laden zurückkehrte, eilte ein merkwürdig unholländisch aussehender Mensch, halb Gent, halb verkommenes Individuum, auf den Wagen zu, um den Schlag zu öffnen.
»Danke schön«, sagte der Sekretär und stieg rasch ein, aber doch nicht so rasch, dass ihm der Gentleman, der so äusserst zuvorkommend gewesen war, nicht noch etwas aus seiner linken Überziehertasche hätte entwenden können.
Es war Jaapje Eekhorn, der intime Freund des Hoteldiebes Karel Johan Tulp, den man in Fachkreisen bestens unter dem Namen »Charles Jean Tullipe« kannte.
Nachdem der Schriftsteller Hans Willem Adriaan Thyssen, bekannter als »Hans Thyssen«, etwa zehn Minuten lang einen heftigen Kampf mit den Fettflecken auf seiner Weste und seinem Jackett ausgefochten, nachdem er dann weiter die Fransen an seinen reinen Manschetten und seinem reinen Hemdkragen sorgfältig abgeschnitten und sich mit seinem Rasierapparat gründlichst die Haut rot geschabt hatte, sah er ganz repräsentabel aus. Er machte sich daran, sein kärgliches Mittagsmahl – ein paar Tassen Tee und ein paar belegte Brötchen – herzurichten und stellte zwischendurch im Kursbuch fest, dass der Pariser Express Schlafwagen und Speisewagen führte – märchenhafte Traumbilder, die er vermutlich niemals als Wirklichkeit kennen lernen würde! Dann legte er die letzte Hand an seine Toilette, indem er aus einem kirchlichen Familienblatt ein paar neue Papiereinlegesohlen für seine etwas leck gewordenen Stiefel zurechtschnitt. Das half vorzüglich.
Während er seine Mahlzeit einnahm, las er den Vortrag, den er an diesem Abend um dreiviertel zehn Uhr in Dordrecht zu halten gedachte, noch einmal durch. Es war die humoristische Geschichte einer Familie, die an einem Tage mit allem, aber auch mit allem Pech hatte, eine Geschichte, die er im Auftrage einer Versicherungsgesellschaft geschrieben und die dem Publikum ausserordentlich gefallen hatte.
Als er fertig gegessen hatte, zündete er sich eine Pfeife an.
Der feuchte Frühabend liess ihn fröstelnd zusammenschauern.
Da saß er nun in seinem dürftigen Zimmer bei seinen Büchern, diesen Reihen von Büchern, die er selber geschrieben hatte, und war wieder einmal in dem behaglichen Kreislauf des Lebens bei einer Periode angelangt, in der er sich nicht einmal ein anständiges warmes Mittagessen leisten konnte. Welche andere Missetat hatte er denn begangen, als dass er, der Erfindungsreiche, den Gebilden seiner Fantasie hatte Leben und Wirklichkeit geben wollen? Man konnte sich stolz wie ein König dabei fühlen, aber was kaufte man sich dafür? Man schlug sich gerade so durch, wie ein armer Edelmann, der sich als Jockei verdingte oder Adressen schrieb, die nach dem Tausend bezahlt wurden.
In seinen eigenen Wänden »fühlte« man sich noch einigermassen, draussen aber war man wie ein abgeklappertes Droschkenpferd, das im Regen auf eine Fuhre wartete. »Wenn sich mir«, seufzte er vor sich hin und dachte dabei an den Augenblick, in dem er so behaglich mit den Füssen im Wasser gesessen und der Teufel ihm zugelächelt hatte – »wenn sich mir jemals irgendeine Chance bietet, dann wird mich kein Mensch davon zurückhalten, sie auszunutzen – und müsste ich über Leichen gehen! Zum Sklaven bin ich nicht geboren.«
Darauf legte er einen Zettel für seine Wirtin hin: »Erwarten Sie mich heute Abend nicht. Ich muss fort. H. Th.« Und dann ging er mit langsamen, vorsichtigen Schritten zum Zentralbahnhof.
Vor dem Hause von Josephus Bok, dem Direktor der All-Risk-Versicherungsgesellschaft, stand ein Auto. Er erkannte sofort den Mann, der ihm mal etwas zu verdienen gegeben hatte, grüsste und sagte leise vor sich hin: »Guten Tag, du Idiot!«
Merkwürdig, dass jeder von beiden den anderen so einschätzte! Und noch merkwürdiger, dass sie nun miteinander in demselben Zug reisten …
»Dieses Land«, sagte Charles Jean, der langausgestreckt in dem schaukelnden Alkoven lag, während Jaapje, der kesse Spitzbube mit dem Clownsgesicht, in dem anderen Teil des Wohnschiffes »Rustenburch« eine Zigarette nach der anderen rauchte und die Goldmundstücke in Reih und Glied auf dem eisernen Bettrand aufbaute, »dieses Land ist in seiner Kleinheit ein Hemmschuh für jedes Wesen mit zu viel Fantasie, zu viel Hirn, zu viel Willenskraft, zu scharfem Verstand, das darin geboren ist. Wenn du oder ich das fatale Tageslicht in Frankreich, in England oder Amerika erblickt hätten, würden wir jetzt mindestens schon eine seetüchtige Dampfjacht mit erstklassiger Bemannung besitzen, statt uns mit einem undichten Wohnschiff begnügen zu müssen, das bei so verfluchtem Wetter heute oder morgen zweifellos eine Etage tiefer gehen wird.«
»Ich muss doch sehr bitten«, sagte die tonlose Stimme von der anderen Seite des Alkovens her, »ich muss doch sehr bitten, nicht über dieses Prachtschiff zu klagen, das an die Arche Noah erinnern würde, wenn sich noch andere Tiere als du und ich an Bord befänden. Das einzige, was uns hier fehlt, aber auch wirklich das einzige, ist: Zentralheizung, ein Perserteppich, elektrische Beleuchtung, ein Badezimmer mit Dusche, ein Chambre séparée für Privatbesuch … Ich bete dich an, Connie mit deinem süssen Mündchen, ich verlasse mit dir diese trostlose Welt; für dich setze ich meine Seele, meine Seligkeit, mein Leben aufs Spiel!«
»Hör’ doch auf, Jaap!« unterbrach ihn Charles Jean. Er war durchaus nicht in der Stimmung, die täglich ihren Gegenstand wechselnden verliebten Ergüsse seines Genossen anzuhören. »Ich bin wie gerädert von der letzten Nacht. Ich mache mir nichts aus solchen Dingen, die der erste beste Prolet viel besser erledigt. Als ich dich an dem Schloss herummurksen sah, hatte ich das Gefühl, als sänken wir je länger, je tiefer. Auf solche Weise geht einem noch das letzte bisschen Selbstachtung flöten. Aber was hat denn, zum Teufel, dies Schiff heute? Ich werde, weiss Gott, seekrank dabei.«
Tatsächlich schwankte die »Rustenburch«, als läge sie mitten in einer Brandung. Das frühere Lastschiff, das manche Ladung von Amsterdam nach den Binnengewässern gebracht hatte, ehe es alt und abgetakelt ausser Betrieb gesetzt worden war, riss an den Haltetauen, dass sie knirschten, und die kleine Hühnertreppe vor der Klapptür quietschte, dass es klang, als ob ein junger Hund jaulte.
Der Anflug von Menschenhass, der sich bei Charles Jean Tullipe zeigte, war nicht so ganz unbegründet. In diesem Wohnschiff musste ein Mensch, der bessere Tage und Wochen gekannt hatte und sie noch immer wieder erhoffte, melancholisch werden. Die Tüllappen vor den kleinen verwitterten Fenstern flatterten hin und her, die qualmige Petroleumlampe schlingerte in den gusseisernen Ringen, und auf dem Tisch flogen mit den Resten der Heringe, die man zum Mittagessen verzehrt hatte, leere Eierschalen gegen den Tellerrand. Dies alles aber war noch nicht das wahrhaft Deprimierende. Unter der niedrigen, verräucherten Zimmerdecke, zu der man mit der Hand hinaufreichen konnte, hatte der von solchen Äusserlichkeiten abhängige Hoteldieb, der seinen Beruf in angenehm durchwärmten, gut gelüfteten Zimmern auszuüben pflegte, ein Gefühl der Beklemmung. Und wenn er die Augen schloss, um dem Anblick der Armut in dieser Behausung zu entgehen, so drang sie doch in der Dunkelheit heimtückisch auf ihn ein, weil der undichte Ofen beim Bereiten des fetten Mittagessens bei dem ruckartigen Sturm noch mehr gestunken hatte als die qualmende Petroleumlampe – und weil der scharfe Dunst sich nun überall festgesetzt hatte.
»Ich fühle mich hier wie im Paradiese«, sagte Jaapje und legte das 23. Goldmundstück seiner zweiten Schachtel Zigaretten neben die anderen 22 auf den eisernen Bettrand, »und ich verstehe beim besten Willen nicht, warum dir diese innere Zufriedenheit abgeht. Hier lebe ich, nach vieljährigem Aufenthalt in den borniertesten und geradezu mit sadistischer Grausamkeit eingerichteten Zellengefängnissen, zum ersten Mal wie ein Musterbürger aus den besten Zeiten der zu Wohlstand gelangenden Menschheit. Ich lenke die Aufmerksamkeit nicht unnötig auf mich. Ich hause in meinen eigenen vier Wänden. Und ich träume. Das einzige, was mir nicht passt und mein seelisches Gleichgewicht stört, ist die Gleichgültigkeit der kleinen Connie vom Notar gegenüber. Würde sie ›Ja‹ sagen, würde sie mir das Göttergeschenk ihrer Lippen reichen, so wäre ich imstande, in die menschliche Gesellschaft zurückzukehren und meine Nächsten auf gesetzlich erlaubte Art übers Ohr zu hauen. Da ist sie, der liebe Schatz! Sie legt Kartoffeln neben den Baum. Was für eine sonnige Seele, dass sie sogar bei diesem Sauwetter für einen einsamen Hund und für hungrige Spatzen sorgt! Guten Tag, mein Schatz! Hast du denn keinen Blick für mich übrig, obwohl ich doch schon in einer Stunde mit meinem Freunde Charles Tulipe eine wissenschaftliche Forschungsreise antreten soll? Fi donc!1 Sie sagt: Hol’ dich der Teufel! Aber wie lieb sagt sie das; in welchem vornehmen Ton! Mein Herz schlägt höher. Hast du diese ersten Worte einer erwachenden Neigung vernommen, Charlie?«
»Es wäre mir lieb, wenn du jetzt aufstehen wolltest, sonst müssen wir uns wieder in Schweiss laufen.«
»Muss denn überhaupt diese Reise über die Grenze so Hals über Kopf angetreten werden? Dein Pass ist ja noch nicht einmal in Ordnung.«
»Wir fangen erst mal in dem französischen Express an. Machen wir gute Geschäfte, so übernachten wir in Roosendaal und sind morgen in aller Frühe schon wieder zurück. Machen wir keine Geschäfte, so gehen wir zu Fuss über die Grenze. Ich muss mich mal wieder betätigen. Zieh die Vorhänge zu, Jaap, dann steck’ ich die Lampe an.«
Vor dem kleinen Rasierspiegel machte er nun Toilette, zog sich das Beinkleid und die Gamaschen an, packte seinen Handkoffer; und während Jaapje wie eine geschickte Hausfrau alles aufräumte und unter einer losen Diele ein paar Reiseutensilien ganz besonderer Art hervorholte, zündete er sich eine neue Pfeife an, horchte auf den wilden Hagelschlag über seinem Kopf und starrte in die Petroleumflamme. Da begegnete er dem Blick des lächelnden Unsichtbaren, der den Geruch des Chloroformfläschchens im Koffer mit der Kennernase des besterfahrenen Fachmannes einsog und lächelnd herüberschaute.
»Hast du nichts vergessen, Charlie?« fragte Jaapje, der im Alkoven kniete und dem starren Blick des Freundes mit einem gewissen Misstrauen folgte. Charles Jean gefiel ihm nicht; er hielt nicht viel von stillen Wassern, die einen tiefen Grund haben sollten!
»Nichts«, antwortete der andere, der im Schein der Lampe mit seinem feinen, bleichen Gesicht, den dunklen, träumerischen Augen und dem seidigen, schwarzen, gepflegten Schnurrbart so gentlemanlike aussah, dass er unbedingt Erfolg haben musste, wo man sich nicht gerade für seine Papiere und sein Strafregister interessierte.
»Hast du das Formyltrichlorid CHCl3, Charlie?«
»Wenn du dich etwas deutlicher ausdrückst, will ich dir gern antworten …«
»Ich drücke mich mehr als deutlich aus«, sagte der Kleine, und aus seiner lauschenden Haltung entnahm der Gentleman-Dieb, dass sein Sozius die Ohren spitzte und sich irgend ein Geräusch zu deuten versuchte, das ihn unruhig machte. Ohne Zweifel war da etwas nicht geheuer, denn plötzlich gab Jaapje, indem er sich zweimal auf das Kinn schlug, ein Zeichen, dass er Unheil wittere. Mit geradezu vorbildlicher Geschwindigkeit verschwand Charles Jean Tullipe hinter der geschlossenen Tür des primitiven Raumes, der auf der »Rustenburch« für bestimmte Zwecke eingerichtet war, und der feindselig pfeifende Wind fuhr durch das geöffnete Miniaturfensterchen an der Rückseite des Wohnschiffes über sein glatt pomadisiertes Haar. Noch bevor die Glocke zu der Eingangstür über der Hühnerleiter läutete, kroch Jaapje mit der Geschwindigkeit einer Katze über den Boden links von der Lampe, damit kein Schatten ihn verriete, und im Nu hatte er seine Weste und sein Jackett auch schon beiseite gebracht.
Zum zweiten Male ertönte die Klingel.
»Geben Sie mir einen halben Liter«, sagte er und reichte, die Zigarette zwischen den Lippen, die Milchkanne aus dem Türspalt heraus.
»Ich hoffe«, sprach eine sehr bekannte Stimme, »dass ich Ihnen nichts anderes zu geben brauche, Jaapje Eekhorn. Ich wollte nur mal rasch nachsehen. Spielen Sie den barmherzigen Samariter, der vornehmen Herren Ihres Schlages, die lieber nicht polizeilich gemeldet werden wollen, Obdach gibt? Ich glaubte, da soeben zwei Schatten zu sehen.«
»Hahaha«, lachte Jaapje mit dem ihm eigenen, ganz besonderen Tonfall, der ebenso wie seine Fingerabdrücke der Polizei wohlbekannt war, »da muss mein Schatten gejungt haben. Bitte schön, überzeugen Sie sich; aber nicht gar zu lange, wenn ich bitten darf; denn es ist ein Hundewetter, und ich neige sehr zu Bronchialkatarrhen.«
Der Wind spielte mit den flatternden Enden seiner Krawatte und den noch lose herabhängenden Bändern seiner Hosenträger.
Über das Deck des Wohnschiffes neigte sich ein Kopf; ein paar prüfende Augen schweiften durch die kleine Küche und den halbdunklen Alkoven mit den zwei leeren Betten und der Reihe Goldmundstücke. Und eine verdammte Spürnase, die die verfluchte Angewohnheit hatte, in alles hineinzuriechen, sog den Rauch der auf dem Tisch liegen gebliebenen, noch brennenden Pfeife ein und witterte auch den schwülen Geruch des Chloroforms, das soeben mit dem wissenschaftlichen Wort »Formyltrichlorid« und der chemischen Formel CHCl3 benannt worden war.
»Nehmen Sie die kleine Störung nicht übel«, sagte der Kopf, freundlich nickend. »Sie waren anscheinend im Begriff, etwas Milch zu kaufen, bevor Sie sich zu Bette legten?«
»Richtig! Sie sehen dem Menschen bis auf den Grund der Seele«, sagte Jaapje freundlich. »Es ist immer ein wenig kühl auf dem Wasser, und Morgenstunde hat Gold im Munde.«
»Dann wünsche ich Ihnen eine recht angenehme Ruhe, Herr Eekhorn«, sagte die Stimme freundlich, während die Tür in das Sicherheitsschloss fiel.
Es blieb still in dem an knarrenden Haltetauen schwankenden Schiff. Jaapje Eekhorn zog sich an, ohne sich besonders zu sputen – aber hinter der brennenden Lampe; er legte alles, was er brauchte, mit mathematischer Genauigkeit zusammen, dann drehte er die Lampe aus und schwieg. Und weil er schwieg, gab auch Charles Jean Tullipe in dem primitiven Gelass, in das er sich eingeschlossen hatte, keinen Laut von sich, sondern setzte sich still, erschöpft von dem nervenaufreibenden Warten und gepeinigt von dem Gedanken, dass sie den Zug versäumen könnten, auf den nassgeregneten Sitz und nahm den Handkoffer mit seinem mysteriösen Inhalt auf die Knie.
Als Jaapje sicher zu sein glaubte, dass die Luft in der nächsten Umgebung wieder rein war, öffnete er die Aussentür. Er machte ganz den Eindruck eines verschlafenen Schiffers, der in der Dämmerung noch einmal frische Luft schöpft und mit schläfrigen Augen um sich guckt. In Wahrheit entging ihm dabei keine Bewegung, kein Schatten auf dem stillen Kai. Dann kletterte er schweren Schrittes die Hühnerleiter herauf, bückte sich ein paarmal, als suchte er etwas, schaute lauernden Blickes in die Seitenstrasse und auf den tiefen Schatten hinter dem Häuschen der städtischen Strassenreinigung. Und dann ging er in derselben nachlässigen Haltung an all den vornehmen, elektrisch beleuchteten Wohnschiffen und den am Kai gelegenen Häusern vorüber – und wäre beinahe rettungslos verloren gewesen. Denn die kleine Connie von Notars musste noch ein paar Gänge machen und ging direkt an ihm vorbei.
»Guten Tag, mein lieber Schatz«, sagte er, indes er sich ihr ohne Umschweife anschloss und darüber den wartenden Charles Jean ganz vergass.
»Machen Sie, dass Sie fortkommen!« gab sie zur Antwort und ging absichtlich schnell. Zwar schielte sie immer durch die Tüllvorhänge des vergitterten Küchenfensters nach dem Scheusal mit dem Affengesicht und der Hornbrille, das wie eine Schnecke an seinem Wohnschiff festzukleben schien; aber wenn er sich ihr aufdringlich näherte, so wie jetzt zum Beispiel auf dem schon in der Dämmerung liegenden Kai, wurde ihr unbehaglich zumute.
»Connie, mein Herz, ich schmelze dahin vor lauter Sehnsucht«, begann er, während er seinen Zeigefinger in ihr Schürzenband legte, um ihren Schritt ein wenig zu hemmen. Sie aber gab ihm einen derben Schlag mit ihrem Einholekorb und sprach die vernichtenden Worte: »Dass du mich nicht anrührst, du verdammter Kerl!« Und weg war sie, verschwunden.
Wäre sie nur etwas zugänglicher gewesen, hätte sie den abschüssigen Pfad betreten, der mit einer kleinen Unterhaltung harmlos beginnt und in Trübsal endet, so sässe Charles Jean noch da, und aus der mit so viel Sorgfalt vorbereiteten Reise wäre nichts geworden.
»Donnerwetter! Das hat aber lange gedauert«, sagte Tullipe unwirsch, als Jaapje endlich wieder mit der Hand an sein Kinn schlug. »Was war denn los?«
»Sst! Hier wird nicht geredet!« warnte der andere, der im Dunkeln sein Bündel packte. »Später haben wir genug Zeit. Du verschwindest nach links; die Luft ist rein; du brauchst dich nicht umzusehen. Ich gehe nach rechts. Wir treffen uns im D-Zug, und wir verleugnen einander steif und fest; mindestens bis Roosendaal kennen wir uns nicht. Psst! Geh’ doch bloss nicht so dicht neben dem Laufbrett mit deinen verdammten hellen Gamaschen! Und kein Wort Holländisch, wenn ich bitten darf! … Au revoir, mon cher …«
Jaapje Eekhorn ging durch die Seitenstrasse nach rechts, und trotz der Abfuhr mit dem Korb warf er in jeden Laden, an dem er vorüberkam, einen heimlichen Blick, um zu sehen, ob er die schwarzäugige Kleine nicht etwa doch noch zu fassen bekäme.
Links ging Charles Jan Tullipe mit elastischen Schritten sorgfältig um alle Pfützen herum, damit seine hellen Gamaschen nicht bespritzt würden. Jaapje, der dieses Viertel von Amsterdam am besten kannte, hatte gesagt: »Du brauchst dich nicht umzusehen«, und nun beging Jean die Dummheit, sich an diese Parole zu halten; wusste er doch nicht, dass der kleine Schelm es über seinem lyrischen Intermezzo mit der hübschen Connie verabsäumt hatte, diese Hälfte des Kais gründlich zu inspizieren. Auf dem Platz stieg er in eine Elektrische und stopfte sich auf der hinteren Plattform eine frische Shagpfeife. Zugleich bestieg ein Herr mit kurzgeschnittenem, rotem Haar, der vom Kai aus den von Jaapje mit Recht »verdammt« genannten Gamaschen gefolgt war und gleichfalls am Zentralbahnhof ausstieg, den Vorderperron.
»Eins Erster Antwerpen«, sagte Charles Jean Tullipe am Schalter, oder vielmehr: er verlangte im korrektesten Französisch: »Première classe, Anvers.«2 – »Bitte«, antwortete der Beamte.
»Je vous remercie bien«,3 sagte Charlie darauf äusserst höflich, zahlte und stellte sich mit dem holländischen Geld, das er anscheinend nicht kannte, so ungeschickt an, dass der Beamte ihn zweimal auf einen kleinen Irrtum aufmerksam machen musste.
Nach ihm löste der Herr mit dem kurzgeschnittenen, roten Haar eine Fahrkarte und flüsterte so leise wie nur möglich, weil mehrere Reisende hinter ihm standen. In der Reihe befanden sich auch Artur Rondeel, Jan Kikker und Joopie Bok, jeder mit einem dickbauchigen Handkoffer. Der Chauffeur und ein Gepäckträger warteten bepackt und beladen unter der Uhr.
Am Schalter für die Fahrkarten dritter Klasse stand Jaapje Eekhorn und dachte über ein kleines Abenteuer nach, das er eben unterwegs erlebt hatte. In einem Luxusauto, das im Gedränge hatte halten müssen, hatte er etwas höchst Seltsames bemerkt. Ein dicker Herr mit einem rotwangigen Gesicht hatte einen anderen mit einem Browning bedroht, er hatte den Hahn gespannt und dann laut auflachend aus diesem Browning eine Zigarette und Feuer angeboten. Dieser Witz war weiter nicht neu. Aber das Gesicht des erschrockenen Herrn, der gleich darauf das Licht im Auto ausgeknipst hatte, kam ihm so bekannt vor. Das musste doch weiss Gott der unanständig reiche Bankier sein, der sein Büro auf der Kaisersgracht und eine fürstliche Wohnung in der vornehmsten Gegend Amsterdams hatte. Wenn der mit zwei anderen zusammen auf die Reise ging – etwa vier Meter von Jaapje entfernt standen sie vor dem Schalter zur 1. und 2. Klasse – und wenn sie alle ihre schweren Handkoffer selber trugen, dann – dann – ja, dann musste doch was Besonderes los sein.
Und dann noch etwas: als der Wagen vor einem Friseurgeschäft hielt, hatte er den Schlag geöffnet, und eine ganz unwillkürliche Bewegung seiner Hand hatte dem Jüngsten der drei Herren aus der linken Tasche des Überrocks eine bezahlte Rechnung herausgeholt, auf der ein paar Details notiert waren, die ihn interessierten. Hier stimmte was nicht. Hier war etwas im Werke. Und was es auch war; jedenfalls gab es hier etwas zu verdienen, wenn man es nur geschickt anfing und sich möglichst in rechter Entfernung hielt.
Auf dem Bahnsteig selbst herrschte kurz vor der Abfahrt des D-Zuges mit seinem sauber gedeckten und beinahe festlich erleuchteten Speisewagen und den Schlafwagen mit herabgelassenen Vorhängen ein nervöses Treiben von Menschen, die ihre Verwandten begleitet hatten, von Dienstmännern, die Gepäckstücke in die Netze legten, von Postwagen und Bahnbeamten. Vor einem der geöffneten Fenster des Schlafwagens, in dem der Direktor der Internationalen Bank zwei Abteile hatte reservieren lassen, standen der alte, riesengroße Jones, sein Sohn Henry und der Subdirektor Cochefort, während Klothilde, die noch gerade in einem Auto von Aerdenhout gekommen war, weil sie klugerweise vorher festgestellt hatte, dass der Pariser Express nicht in Haarlem hielt, am Arm ihres Vaters hing, sich immer wieder auf die Lippen biss und sich die Augen wischte. Es herrschte eine ausgesprochen trübselige Stimmung. Die einzigen, die ein wenig munterer schienen, waren Josephus Bok und der Sekretär Jan Kikker. Die beugten sich aus dem Coupéfenster – Bok mit einer Reisemütze, die ihm bis über die Ohren ging, Kikker, der es vom Sport her so gewöhnt war, barhäuptig.
»Warum bist du bloss so traurig, mein Kind«, sagte der Bankier. »Es wäre mir lieber gewesen, wenn du in Aerdenhout geblieben wärest. Die Menschen müssen denken, dass wir Abschied fürs Leben nehmen.«
»Lass sie glauben, was sie wollen«, sagte das junge Mädchen, »wenn du nur um Gottes willen vorsichtig bist.«
»Ja, ja, ja«, sagte der Bankier nervös und ein wenig gereizt, weil der Herr mit dem kurzgeschnittenen, roten Haar ihn so aufdringlich ansah und seine Unterhaltung so dreist zu belauschen schien.
Im Speisewagen saß Charles Jean Tullipe, freute sich nach der Armseligkeit des Wohnschiffes doppelt über all den Komfort, der ihn umgab, und studierte die Speisekarte.
Ihm gegenüber hatte eine ziemlich aufgetakelte Dame Platz genommen, die hin und wieder das feine Profil des interessanten, blassen, jungen Mannes ansah, der auch sie mit der zurückhaltenden Wohlerzogenheit des Weltmannes ab und zu fixierte und mit noch größerer Diskretion taxierte. Sie hatte kleine, fette Hände, an denen Ringe wie Schätze aus »Tausendundeiner Nacht« blitzten, und in ihren Ohren funkelten Steine, die geradezu magnetisch die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Während er das Menü las und wieder las und unwillig an Jaapje Eekhorn dachte, der auf dem Petroleumkocher einen Eierkuchen in schlechter Margarine gebacken hatte, stützte er den tadellos frisierten Kopf in die Hand und betrachtete nun die Dame in ihrem Spiegelbild in der Fensterscheibe – eine Methode, die für unauffällige Beobachtung ausserordentlich zu empfehlen ist! Darauf bückte er sich höflich, weil einer ihrer Handschuhe vom Tisch geglitten war, und fragte auf Französisch:
»Gehört dieser Handschuh Ihnen, gnädige Frau?«
Sie dankte lächelnd. Was für liebenswürdige Menschen waren doch diese französischen jungen Leute; was hatten sie für einen feinen Charme!
In einem Raucherabteil 2. Klasse saß Hans Thyssen, Mitglied des Literaturwissenschaftlichen Vereins, und las das Abendblatt. »Sobald sich der Zug in Bewegung gesetzt hat«, überlegte er, »ziehe ich mich gleich auf die Herrentoilette zurück und lege mir ein paar neue Sohlen in meine Stiefel – das Papier des Kirchlichen Familienblattes taugt doch nicht so recht für nasse Füsse. Und dann will ich mir den scheusslichen Flecken auf meinem Jackett noch ein wenig mit Benzin ausreiben. Gut, dass ich das Restchen aus der Benzinflasche mitgenommen habe.«
In einem Nichtraucherabteil 3. Klasse, in dem das meiste Gepäck in den Netzen lag, lehnte sich Jaapje Eekhorn schläfrig zurück. Über seinem hochgeschlagenen Rockkragen, unter dem tief in die Stirn gezogenen Hut und hinter den runden Gläsern der Hornbrille war sein Gesicht kaum zu erkennen. Mit halbgeschlossenen Augen machte er Inventur, nahm das ganze Hab und Gut seiner Reisegefährten auf. Ihm entging nichts. Kein Mensch konnte in dem Korridor des D-Zuges vorübergehen, ohne dass Jaapjes Schlitzaugen jedes Detail wahrnahmen und einen ganzen Steckbrief hätten herstellen können!
»Einsteigen!« rief es draussen. Und während auf dem Bahnsteig der alte und der junge Jones, Klothilde und Cochefort von der Internationalen Bank standen und winkten und ein paar Coupétüren heftig zugeschlagen wurden, setzte sich der Zug in Bewegung.
Jetzt erst wurde Jaapje Eekhorn wach. Gähnend belegte er seinen Eckplatz und fragte den im übervollen Coupé ihm gegenübersitzenden Herrn in fliessendem Französisch, wie lange man bis zur Grenzstation zu fahren habe? Er sprach so schnell, dass man ihn kaum verstehen konnte. Einer der Mitreisenden gab ihm jedoch die gewünschte Auskunft.
Jaapje fügte noch auf Französisch einige für die Holländer ungemein schmeichelhafte Bemerkungen über den Komfort in Holland hinzu und schob dann an den Knien der anderen Reisenden vorbei und hinaus, um weitere Erkundigungen vorzunehmen. Dabei irrte er sich be