Aus dem
Französischen von
Nicola Denis
für Laurent Évrard
Die Sonne ist ein kaltes Gestirn. Ihr Herz aus eisigen Dornen. Gnadenlos ihr Licht. Im Februar sind die Bäume tot, der Fluss ist versteinert, als speie die Quelle kein Wasser mehr aus, als könne das Meer keines mehr schlucken. Die Zeit erstarrt. Ein geräuschloser Morgen, kein Vogel singt, nichts. Dann ein Automobil, und noch eines, plötzlich Schritte, unsichtbare Silhouetten. Der Inspizient hat dreimal mit dem Stab geklopft, noch ist der Vorhang nicht aufgegangen.
Es ist Montag, die Stadt regt sich hinter ihrer Nebelwand. Die Leute gehen zur Arbeit wie an den anderen Tagen, sie nehmen die Trambahn, den Autobus, klettern auf das Verdeck und hängen in der beißenden Kälte ihren Gedanken nach. Doch der 20. Februar dieses Jahres war kein Datum wie jedes andere. Dabei verbrachten die meisten ihren Vormittag damit, zu schuften, waren in die große redliche Lüge der Arbeit vertieft, mit jenen kleinen Gesten, in denen sich eine stumme, schickliche Wahrheit verdichtet und sich das ganze Abenteuer unseres Daseins auf eine beflissene Pantomime beschränkt. So verstrich der Tag, friedlich und normal. Und während sie zwischen Haus und Fabrik, zwischen dem Markt und dem kleinen Hof mit der Wäscheleine, abends dann zwischen Büro und Kneipe hin- und herpendelten, bevor sie endlich nach Hause gingen, stiegen vor einem Palais am Spreeufer – weit entfernt von der redlichen Arbeit, weit entfernt vom vertrauten Leben – ein paar Herren aus ihren Wagen. Unterwürfig öffnete man ihnen den Wagenschlag, sie schälten sich aus ihren dicken schwarzen Limousinen und passierten nacheinander die schweren Sandsteinsäulen.
Sie waren vierundzwanzig bei den toten Bäumen am Ufer, vierundzwanzig schwarze, braune oder cognacfarbene Überzieher, vierundzwanzig mit Wolle gepolsterte Schulterpaare, vierundzwanzig Dreiteiler, und die gleiche Anzahl breitgesäumter Bundfaltenhosen. Die Schatten stießen in das große Vestibül des Reichstagspräsidentenpalais vor; doch bald sollte es keine Reichstagsversammlung mehr geben, keinen Präsidenten, und in ein paar Jahren sogar keinen Reichstag mehr, nur noch einen Haufen schwelender Trümmer.
Einstweilen werden vierundzwanzig Filzhüte vom Kopf gezogen und vierundzwanzig kahle Schädel oder weiße Haarkränze entblößt. Würdevoll reicht man einander die Hand, bevor man auf die Bühne steigt. Die ehrwürdigen Patrizier stehen dort im großen Vestibül; sie wechseln ein paar scherzhafte, respektable Worte; man könnte meinen, dem etwas steifen Vorgeplänkel einer Gartenparty beizuwohnen.
Die vierundzwanzig Silhouetten nehmen gemessenen Schrittes den ersten Treppenlauf, arbeiten sich dann über die einzelnen Abschnitte der Stufenfolge weiter empor, wobei sie gelegentlich stehenbleiben, um ihr altes Herz nicht zu überanstrengen, die Hand um die Kupferstange geklammert, mit halbgeschlossenen Augen, ohne das elegante Geländer oder das Gewölbe zu bewundern, wie auf einem Haufen unsichtbarer toter Blätter. Man dirigiert sie durch den kleinen Eingang nach rechts, und dort, nach ein paar Schritten auf dem Schachbrettboden, erklimmen sie die knapp dreißig Stufen zum zweiten Stock. Ich weiß nicht, wer der Vorkletterer war, und im Grunde tut das wenig zur Sache, da die Vierundzwanzig exakt das Gleiche tun, demselben Weg folgen und nach rechts abbiegen müssen, einmal um das Treppenhaus herum, dann stehen sie endlich, die Flügeltüren zu ihrer Linken weit geöffnet, im Salon.
Die Literatur erlaubt alles, heißt es. Demnach könnte ich sie endlos über die Penrose-Treppe schicken, sie würden weder hinunter- noch hinaufsteigen, sondern auf immer und ewig beides auf einmal tun. Tatsächlich gleicht dies in mancher Hinsicht der Wirkung, die Bücher auf uns haben. Die Zeit der Wörter, kompakt oder flüssig, undurchdringlich oder buschig, dicht, gedehnt oder körnig, versteift die Bewegungen, friert sie ein. Unsere Figuren sind für immer in diesem Palais, wie in einem verzauberten Schloss. Kaum eingetreten, werden sie zu Boden geschmettert, versteinert, erstarrt. Die Türen sind gleichzeitig offen und geschlossen, die Bögen bröckeln, sind abgerissen, kaputt oder neu gestrichen. Das Treppenhaus blitzt, aber es ist leer, der Kronleuchter funkelt, aber er ist tot. Wir sind gleichzeitig überall in der Zeit. So steigt Albert Vögler die Stufen bis zum ersten Treppenabsatz hinauf und fasst sich dort schwitzend, ja triefend, an seinen Vatermörder, da er einen leichten Schwindel verspürt. Unter dem großen vergoldeten Leuchter, der die Stufen erhellt, zieht er seine Weste glatt, macht einen Knopf auf, weitet seinen Stehkragen. Vielleicht legt auch Gustav Krupp eine Pause auf dem Treppenabsatz ein und richtet ein mitfühlendes Wort an Albert, einen kleinen Sinnspruch über das Alter, ja, er zeigt sich solidarisch. Dann macht sich Gustav wieder auf den Weg, und Albert Vögler bleibt für ein paar Augenblicke allein unter dem Kronleuchter – große vergoldete Pflanze, in der Mitte eine riesige Lichtkugel.
Endlich stoßen sie in den kleinen Salon vor. Wolf-Dietrich, der Privatsekretär Carl von Siemens’, vertrödelt einen Moment neben der Terrassentür und lässt seinen Blick über die dünne Frostdecke auf dem Balkon schweifen. Zwischen den bummelnden Wattebällchen entflieht er für einen Augenblick den Machenschaften der Welt. Und während die anderen plaudernd eine Montecristo schmauchen, über ihr cremefarbenes oder maulwurfgraues Deckblatt fachsimpeln – der eine mag’s süßlich, der andere eher würzig, alles Liebhaber riesiger Durchmesser, Keulenknochen, derweil sie beiläufig ihre goldenen Ringe abspreizen – steht er, Wolf-Dietrich, gedankenverloren vor dem Fenster, schwebt zwischen den kahlen Zweigen und treibt auf der Spree.
Einen Steinwurf entfernt schiebt Wilhelm von Opel, die zierlichen Gipsfiguren an der Decke bewundernd, seine dicke runde Brille rauf und runter. Noch einer, dessen Familie aus den Untiefen der Geschichte zu uns aufragt: vom kleinen Grundbesitzer aus Braubach, von Beförderungen über zahllose Amtskleider und -symbole, Meiereien und Ämter, erst Richter, dann Bürgermeister, bis zu dem Augenblick, da Adam – dem unergründlichen Schoß seiner Mutter entsprungen, bevor er die Kniffe des Schlosserhandwerks erlernte – eine wunderbare Nähmaschine baute, die den eigentlichen Beginn ihrer Strahlkraft markierte. Dabei hatte er nichts erfunden. Er warb bei einem Fabrikanten an, schaute genau hin, katzbuckelte und verbesserte die Modelle ein wenig. Er heiratete Sophie Scheller, die ihm eine erkleckliche Mitgift einbrachte, und gab seiner ersten Maschine den Namen seiner Frau. Die Produktion stieg kontinuierlich. Es bedurfte nur weniger Jahre, bis die Nähmaschine einen Gebrauchswert hatte, der Zeitkurve folgte und sich den Gepflogenheiten der Menschen anpasste. Ihre eigentlichen Erfinder waren zu früh gekommen. Sobald der Erfolg seiner Nähmaschinen gesichert war, hatte sich Adam Opel auf das Zweirad verlegt. Eines Nachts aber drang eine merkwürdige Stimme durch den Türspalt zu ihm; sein eigenes Herz kam ihm kalt vor, so kalt. Es waren weder die Erfinder der Nähmaschine, die ihre Patentbeteiligungen einklagten, noch seine Arbeiter, die ihren Anteil am Gewinn forderten: Es war Gott, der nach seiner Seele verlangte; sie musste nun mal zurückgegeben werden.
Doch Unternehmen sterben nicht wie Menschen. Sie sind mystische Leiber, die nie verenden. Die Marke Opel verkaufte weiterhin Fahrräder und Automobile. Beim Tod ihres Gründers zählte die Firma bereits eintausendfünfhundert Angestellte. Sie expandierte noch weiter. Ein Unternehmen ist eine Person, der alles Blut zu Kopf steigt. Eine sogenannte juristische Person. Ihr Leben währt deutlich länger als unseres. So ist die Firma Opel an jenem 20. Februar, als Wilhelm im kleinen Salon im Reichstagspräsidentenpalais seinen Gedanken nachhängt, bereits eine alte Dame. Heute ist sie ein Imperium innerhalb eines anderen Imperiums, unterhält nur mehr eine lose Beziehung zu den Nähmaschinen des alten Adam. Als steinreiche alte Dame gibt es die Firma Opel schon so lange, dass man sie fast nicht mehr wahrnimmt, sie gehört quasi zum Landschaftsbild. Inzwischen ist sie weitaus älter als viele Staaten, älter als der Libanon, ja sogar älter als Deutschland, älter als die meisten afrikanischen Staaten und älter als Bhutan, wo sich einst die Götter in den Wolken verloren.
Wir könnten uns nun reihum jedem der vierundzwanzig das Palais betretenden Herren nähern, ihre geweiteten Kragen, ihre Krawattenknoten streifen, uns für einen Augenblick in ihren knabbernden Schnurrbärten verlieren, zwischen den Tigerstreifen ihrer Jacketts die Gedanken schweifen lassen, uns in ihre traurigen Augen versenken, und dort, tief auf dem Grund der gelben und bitteren Arnikablüte fänden wir die gleiche kleine Tür; wir würden an der Klingelschnur ziehen und in die Zeit zurückreisen, wo uns die immergleiche Abfolge von Ränken, klugen Eheschließungen und dubiosen Geschäften geboten würde – der eintönige Bericht ihrer Großtaten.
An diesem 20. Februar hat sich Wilhelm von Opel, Adams Sohn, ein für alle Mal die unter seinen Nägeln festsitzende Motorschmiere abgebürstet, sein Zweirad weggeräumt, seine Nähmaschine vergessen und trägt ein Adelsprädikat, in dem sich eine ganze Familiensaga bündelt. Mit seinen zweiundsechzig Jahren hüstelt er, während er auf die Uhr schaut. Mit zusammengekniffenen Lippen wirft er einen Blick in die Runde. Hjalmar Schacht hat gute Arbeit geleistet – bald wird man ihn zum Reichsbankpräsidenten und Reichswirtschaftsminister ernennen. Um den Tisch versammelt sind außer ihm Gustav Krupp, Albert Vögler, Günther Quandt, Friedrich Flick, Ernst Tengelmann, Fritz Springorum, August Rosterg, Ernst Brandi, Karl Büren, Günther Heubel, Georg von Schnitzler, Hugo Stinnes Jr. Eduard Schulte, Ludwig von Winterfeld, Wolf-Dietrich von Witzleben, Wolfgang Reuter, August Diehn, Erich Fickler, Hans von Loewenstein zu Loewenstein, Ludwig Grauert, Kurt Schmitt, August von Finck und Doktor Stein. Wir sind im Nirwana der Industrie und Finanz. Bisher sind alle still und manierlich, ein bisschen groggy nach der bald zwanzigminütigen Wartezeit; der Rauch ihrer Lötkolben brennt ihnen in den Augen.
In einem Moment der Sammlung bleiben einige der Schatten vor dem Spiegel stehen und zurren ihren Krawattenknoten zurecht; man macht es sich im kleinen Salon bequem. Irgendwo in einem seiner vier Bücher über die Architektur definiert Palladio den Salon vage als Empfangsraum, als Bühne, auf der sich die Possen unseres Daseins abspielen; und in der berühmten Villa Godi gelangt man durch den Saal des Olymps, wo sich die nackten Götter zwischen Attrappen von Ruinen vergnügen, und durch den Venussaal, wo ein Kind und ein Page durch eine bemalte Scheintür schlüpfen, in den Ehrensaal, wo in einer Kartusche über der Eingangstür die Schlusszeile eines Gebets zu lesen ist: »Und erlöse uns von dem Bösen«. Im Reichstagspräsidentenpalais aber, wo unser kleiner Empfang stattfand, hätte man vergeblich nach einer solchen Inschrift gesucht; das stand nicht auf der Tagesordnung.
Langsam verstreichen die Minuten unter der hohen Decke. Man lächelt sich an. Man öffnet lederne Aktentaschen. Schacht schiebt gelegentlich seine schmale Brille hoch und reibt sich die Nase, die Zunge leicht zwischen die Lippen geschoben. Die Gäste sitzen brav auf ihren Stühlen und heften ihre kleinen Flusskrebsaugen auf die Tür. Zwischen zwei Niesern wird geflüstert. Ein Taschentuch wird aufgefaltet, die Nasenlöcher trompeten in der Stille, dann nimmt man wieder Haltung an und wartet geduldig auf den Beginn des Treffens. Mit solchen Treffen kennt man sich aus, alle sitzen in Verwaltungs- oder Aufsichtsräten, alle gehören irgendeinem Arbeitgeberverband an. Ganz zu schweigen von den trostlosen Familientreffen dieses knochentrockenen, öden Patriarchats.
In der ersten Reihe wischt Gustav Krupp mit dem Handschuh über sein hochrotes Gesicht und schnäuzt sich andächtig in seinen Rotzlappen, er ist erkältet. Mit den Jahren bilden seine schmalen Lippen einen hässlichen umgekehrten Halbmond. Er sieht traurig und besorgt aus; durch den Nebel seiner Hoffnungen und Berechnungen – als bewegten sie sich in einem Magnetfeld langsam aufeinander zu, haben diese Wörter für ihn womöglich dieselbe Bedeutung – dreht er mechanisch seinen schmucken Goldring zwischen den Fingern.
Plötzlich knarren die Türen, knirscht das Parkett; Wortgeplänkel im Vorzimmer. Die vierundzwanzig Echsen richten sich auf ihren Hinterfüßen auf, kerzengerade. Hjalmar Schacht muss kurz schlucken, Gustav klemmt sein Monokel fest. Hinter den Türflügeln hört man gedämpfte Stimmen, dann ein Pfeifen. Endlich betritt der Reichstagspräsident den Raum: Hermann Göring. Und das – es überrascht uns nicht im Geringsten – ist im Grunde ein ganz banales Ereignis, Routine. Im Geschäftsleben sind Partisanenkämpfe nicht der Rede wert. Politiker und Industrielle sind gewohnt, miteinander umzugehen.
Göring macht seine Hausherrenrunde, hat für jeden ein persönliches Wort und schüttelt wohlmeinend sämtliche Hände. Doch der Reichstagspräsident ist nicht nur zu ihrer Begrüßung gekommen, er nuschelt ein paar Willkommensworte und kommt umgehend auf die baldigen Wahlen am 5. März zu sprechen. Die vierundzwanzig Sphinxe lauschen aufmerksam. Der in Aussicht stehende Wahlkampf sei entscheidend, erklärt der Reichstagspräsident, mit der Instabilität des Regimes müsse nun endlich Schluss sein; die Wirtschaftstätigkeit verlange Umsicht und Entschlossenheit. Die vierundzwanzig Herren nicken andächtig mit dem Kopf. Die elektrischen Kerzen des Kronleuchters flackern, die große, auf die Decke gemalte Sonne leuchtet kräftiger als vorhin. Und falls die Nazipartei die Mehrheit erringe, fährt Göring fort, seien diese Wahlen die letzten für die nächsten zehn Jahre; ja, setzt er lachend hinzu, für die nächsten hundert.