Hans Belting
Andrea Buddensieg
Ein Afrikaner in Paris
Léopold Sédar Senghor
und die Zukunft
der Moderne
C.H.Beck
Léopold Sédar Senghor (1906–2001), der erste Präsident des unabhängigen Senegal, war eine Symbolfigur des Dialogs zwischen Afrika und Europa nach dem Ende der Kolonialzeit. 1968 wurde er dafür mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Seine Vision einer postkolonialen Moderne wollte das Monopol des Westens brechen und setzte doch auf Verständigung. Hans Belting und Andrea Buddensieg unternehmen in diesem eindrucksvollen Buch die erste umfassende Würdigung Senghors und seines Lebenswerks in deutscher Sprache.
Senghor prägte als Präsident die ersten beiden Jahrzehnte der postkolonialen Ära in Senegal (1960–1980). Sein Leben und Wirken standen jedoch in der Spannung zwischen zwei Kulturen: der afrikanischen seiner Heimat und der französischen Moderne. Als junger Mann ging Senghor nach Paris, wo er früh Anerkennung als Dichter und die Bewunderung Jean-Paul Sartres fand. 1945 wurde er Abgeordneter der Französischen Nationalversammlung, später dann Mitglied des Europarats, in dem er ebenso vehement wie vergeblich für ein vereinigtes Europa unter Einschluss Afrikas warb. Seine Vision einer wahrhaft universellen Zivilisation, einer humanen Weltordnung, in der sich Afrika gegenüber dem Westen nicht länger assimilieren müsse, stellte die Kunst ins Zentrum. So förderte Senghor ab 1960 als Präsident die Kunst in einem Ausmaß, das in Afrika einmalig war. Hans Belting und Andrea Buddensieg blenden in ein vergessenes Kapitel des postkolonialen Aufbruchs in Afrika zurück, an das zu erinnern sich heute mehr denn je lohnt. Die Geschichte nahm einen anderen Weg als den von Senghor gesuchten – aber vielleicht keinen besseren.
Hans Belting leitete von 2004 bis 2007 das Internationale Forschungszentrum für Kulturwissenschaften in Wien. Zuvor lehrte er nach Stationen an den Universitäten Heidelberg und München an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, die er 1992 mitbegründete, und hatte 2003 den Europäischen Lehrstuhl am Collège de France in Paris inne. Seine Bücher wurden in zehn Sprachen übersetzt. Bei C.H.Beck sind von ihm u.a. erschienen: Bild und Kult (72011), Das Ende der Kunstgeschichte (22002), Florenz und Bagdad (42012) und Faces (22013).
Andrea Buddensieg hat von 2001 bis 2016 am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe gearbeitet, wo sie ab 2006 das Projekt Global Art and the Museum kuratierte und koordinierte. Gemeinsam mit Hans Belting hat sie u.a. herausgegeben: The Global Contemporary and the Rise of New Art Worlds (2013).
Einleitung: Kolonialer Kunsthandel und postkoloniale Kunst
I.: Ein Leben zwischen den Fronten
1. Der Afrikaner in Paris
2. Der «Schwarze Orpheus»
3. Der Politiker und sein Plädoyer für ein Eur-Afrika
4. Der erste Präsident Senegals
5. Négritude: Ein Begriff im Wandel
6. Der Appell an eine humane Weltordnung
II.: Afrikas Künste im Spiegel des Kunstbegriffs
1. Schwarzafrikanische Kunst als Philosophie
2. Der moderne Griot: Senghor als afrikanischer Dichter
3. Die Maske als Symbol eines Verlusts
4. Die Großen Elegien und die Künstler
5. Malerei als Poesie: Der Dialog mit Pierre Soulages
6. «Picasso en Nigritie»: Französische Kunst in Dakar
III.: Die Kultur als Modell eines Dialogs
1. Das Erste Weltfestival der Negerkünste als Auftakt
2. Die Debatte um postkoloniale Kunst als Politikum
3. Das neue Kunstmuseum als Ort der Moderne
4. André Malraux und die «Metamorphose der Götter»
5. Die Künstler der «Schule von Dakar»
6. Mudra Afrique und der panafrikanische Tanz
Anhang
Nachwort
Anmerkungen
Motto
Einleitung: Kolonialer Kunsthandel und postkoloniale Kunst
I. Ein Leben zwischen den Fronten
1. Der Afrikaner in Paris
2. Der «Schwarze Orpheus»
3. Der Politiker und sein Plädoyer für ein Eur-Afrika
4. Der erste Präsident Senegals
5. Négritude: Ein Begriff im Wandel
6. Der Appell an eine humane Weltordnung
II. Afrikas Künste im Spiegel des Kunstbegriffs
1. Schwarzafrikanische Kunst als Philosophie
2. Der moderne Griot: Senghor als afrikanischer Dichter
3. Die Maske als Symbol eines Verlusts
4. Die Großen Elegien und die Künstler
5. Malerei als Poesie: Der Dialog mit Pierre Soulages
6. «Picasso en Nigritie»: Französische Kunst in Dakar
III. Die Kultur als Modell eines Dialogs
1. Das Erste Weltfestival der Negerkünste als Auftakt
2. Die Debatte um postkoloniale Kunst als Politikum
3. Das neue Kunstmuseum als Ort der Moderne
4. André Malraux und die «Metamorphose der Götter»
5. Die Künstler der «Schule von Dakar»
6. Mudra Afrique und der panafrikanische Tanz
Literatur
1. Schriften Senghors
2. Schriften über Senghor
3. Weitere Literatur
Bildnachweis
Personenregister
«Selbst in der Zeit vor unserer nationalen Unabhängigkeit […] haben wir nie aufgehört, unsere Politik auf den Dialog zu bauen. Und das in allen Domänen, aber vor allem in der Kultur; denn die Kultur ist der erste Sinn und das letzte Ziel jeder Entwicklung.»
En effet, avant même notre indépendance nationale […] nous n’avons jamais cessé de bâtir notre politique sur le Dialogue. Dans tous les domaines, mais fondamentalement dans celui de la Culture; car la culture est la condition première et le but ultime de tout développement.[1]
«Kunst bildet durch Produktion, das heißt durch Arbeit, die allgemeinste Aktivität des Menschen. Hier hat sich der Künstler im Homo sapiens als Homo faber verwirklicht.»
L’art est, avec la ‹production›, c’est-à-dire le ‹travail›, l’activité générique de l’Homme. L’artiste, c’est l’‹Homo faber› qui se réalise en ‹Homo sapiens›.[2]
Texte über Kunst in Afrika beschreiben gewöhnlich die heutige Szene. Wenn wir aber auf die 1960er und 1970er Jahre zurückblicken, kommt ein Quantensprung in Sicht. Damals nahm das «kurze Jahrhundert» Fahrt auf, wie Okwui Enwezor die Jahre zwischen 1945 und 1994 nannte.[1] Auch die Kunstszene wurde Teil der Befreiungsbewegung. Die Rede ist also von Kunst als einer neuen Praxis, für die es vor Ort keine Voraussetzungen gab. Ein Bruch trat ein, als anstelle des kolonialen Kunsthandels mit Masken und Fetischen, die eine Beute für Sammler und Museen waren, eine postkoloniale Kunstszene entstand. Léopold Sédar Senghor (1906–2001), der erste Präsident Senegals, baute ab 1960 mit staatlichen Mitteln eine nationale Kunstszene auf, für die er durch Institutionen wie Kunstakademie, Kunstgewerbeschule und Kunstmuseum eine Infrastruktur schuf. Das Erste Weltfestival der Negerkünste bildete 1966 den Auftakt zu einem staatlich zentrierten Programm, das in Afrika damals einmalig war. 1974 gelang es Senghor, die junge zeitgenössische Kunst Senegals, einer ehemaligen Kolonie Frankreichs, durch eine Wanderausstellung in der ganzen Welt bekannt zu machen. Nach seiner Zeit als Präsident folgte 1992 in Dakar die erste Kunstbiennale Afrikas südlich der Sahara.
Heute sind auf dem neu entstandenen Weltmarkt der Kunst regelmäßig afrikanische Künstler vertreten. Sie haben sich professionalisiert und verzichten auf den ethnischen Gestus. In den 1960er Jahren war aber der Weg in die Zukunft noch ungewiss. Man hoffte auf eine spezifisch afrikanische Kunst, eine Kunst mit afrikanischem Profil. Dabei stand die Vorstellung einer postkolonialen Moderne, um einen Begriff von Chika Okeke-Agulu aufzugreifen,[2] einer Moderne der Zukunft, noch eine Zeit lang im Vordergrund. Mit der Entstehung der Global Art verändert sich heute der Kunstbegriff und fächert sich die westliche Kunstwelt in ein polyzentrisches Mapping auf. Die neue Situation der postkolonialen Kunst bringt auch im Westen die ethnologischen Museen in eine Krise. Sie waren einst gegründet worden für Artefakte, die vom allgemeinen Kunstbegriff ausgesondert und unter dem Begriff «Weltkunst» zusammengefasst waren. Jetzt aber verlieren ethnologische Museen das Recht, mit ihren alten kolonialen Sammlungen das heutige Profil Afrikas zu repräsentieren. Dagegen öffnen sich die Kunstmuseen für Künstler aus Afrika, die bisher nur in ethnologischem, das heißt kolonialem Zusammenhang gezeigt worden waren. Diese Zeitenwende weckt den Wunsch, auf die Anfänge der postkolonialen Kunst Afrikas zu blicken, die erst so kurze Zeit zurückliegen.
Der Titel Ein Afrikaner in Paris schließt an Formulierungen an, die im Gefolge der Bewegung Black Paris in den 1920er Jahren auf den Buchmarkt kamen.[3] Der Afrikaner Léopold Sédar Senghor war in Paris kein Besucher auf Urlaub. Hier suchte er die Moderne, von der er träumte. Hier fand seine Ausbildung ihr Ziel. Seit seinem Studium lebte er fast drei Jahrzehnte in Paris und stellte dort die Weichen für die Zeit nach der Kolonialherrschaft. Paris war für ihn der Ort, um mit ganz Europa in Kontakt zu treten. Die Stadt war damals das Zentrum der modernen Kunst, bevor in den 1950er Jahren New York die Führung übernahm. Nach seinem Rücktritt als Staatspräsident von Senegal im Jahr 1980 lebte Senghor wieder in Paris. Wenn er von der Stadt sprach, meinte er die Moderne, die er hier kennengelernt hatte. «Dieser Geist von Paris, der ein Musterbeispiel für den französischen Geist ist, war es, wonach ich während meiner Studienjahre suchte, und dabei entwickelte ich eine ganz afrikanische, ja barbarische Leidenschaft.»[4]
Aber es gab noch einen anderen Grund für Senghor, den Akzent auf Paris zu legen. Für Senegal, das in der Kolonialzeit zu «Französisch Westafrika» (AOF) gehörte, als dessen Sprecher Senghor bis 1960 agierte, war Paris die zuständige Adresse. Die Städter in den «vier Kommunen» Senegals besaßen das französische Bürgerrecht, und Französisch war die Verkehrssprache. Der Blick in eine Zukunft nach der Kolonialzeit musste sich also auf Paris richten. Dort fand Senghor als Dichter 1948 seinen ersten Erfolg, als Jean-Paul Sartre unter dem Titel «Schwarzer Orpheus» die Einführung in die von ihm herausgegebene Anthologie schwarzafrikanischer Poesie schrieb.
Die französische Kolonialpolitik, auf die Senghor bezogen war, geriet aber bald in den Schatten der USA. Die transatlantische Achse verschob die Gewichte. Dadurch verlor die mediterrane Achse, die Europa und Afrika verband und im Zentrum von Senghors Weltbild stand, an Bedeutung. Senghor sprach immer wieder von «unserem Mittelmeer», an dessen Ufern die Kulturen in der Geschichte miteinander statt gegeneinander verbunden waren. Métissage als Symbiose der Kulturen wurde bei ihm ein Schlüsselbegriff.[5]
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Die Entstehung dieses Buches reicht in die Zeit zurück, als die beiden Autoren am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe (ZKM) das Forschungsprojekt und die Ausstellung The Global Contemporary and the Rise of New Art Worlds durchführten.[6] Es war für uns damals eine Überraschung, Senghor in Verbindung mit großen Namen der französischen Kunstszene zu entdecken. Ein Schlüsselerlebnis war der Atelierbesuch bei Pierre Soulages im Jahre 2008, bei dem uns der Künstler ein nie gesehenes Exemplar seines Katalogs von 1974 für Dakar überreichte. So stießen wir auf die Tatsache, dass Pariser Stars wie Picasso und Soulages in den 1970er Jahren in Senegal im Musée Dynamique, dem neuen «Tempel der Kunst», ausgestellt waren. Über dieses Ausstellungsprogramm war in der einschlägigen Literatur erstaunlicherweise fast nichts zu finden. Bis vor der Ausstellung von Soulages im Centre Georges Pompidou 2010 war von dieser Episode nichts bekannt. Es stellte sich bald heraus, dass Senghor als Kulturpolitiker und Gründer von Kunstakademie und Kunstgewerbeschule, Theater und Ballett, aber auch als Neugründer der Universität von Dakar damals ein einmaliger Fall in Afrika war.
Senghor war für uns auch als Autor kunstkritischer Texte eine Überraschung. Er schrieb sie sogar in einer Zeit, als er in politischer Hochspannung lebte. Der Text von 1958 über Pierre Soulages, mit dem er befreundet war, ist dafür ein Beispiel. In diesem Text inszeniert Senghor gleichsam seine ästhetische Konversion zur Moderne.[7] Gegenüber Soulages wiederholt er 1958, gleichsam in umgekehrter Richtung, die einstige Konversion Picassos zur Ausdruckskraft afrikanischer Masken, welche die Kunst Europas «revolutioniert» hatten. Er nannte das gegenseitige «Assimilation» ohne Verlust der künstlerischen Identität. Hier fand Senghor jenseits aller Theorien und Schlagworte eine Sensibilität, die ihm auch bewies, dass in Kunstfragen eine gemeinsame Zukunft möglich war. Für seinen Appell an eine humane Weltordnung übernahm er von dem französischen Theologen Pierre Teilhard de Chardin den Begriff einer Civilisation de l’universel (Kap. I. 6). Sie sollte den falschen Universalismus korrigieren, den Frankreich für seine eigene Zivilisation propagiert hatte. Senghor dachte in den Kategorien mehrerer Zivilisationen, die miteinander statt gegeneinander agieren würden.
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Zu Senghors Zeiten gab es noch keine postkoloniale Debatte, denn es gab noch keine postkoloniale Geschichte. Die postkoloniale Welt war noch reine Zukunft und nicht beschädigte Gegenwart. Wenn sich Senghor heute als Idealist erweist, so kann man nur bedauern, dass die Globalisierung, die der Entkolonialisierung auf dem Fuß gefolgt ist, viele Wege verbaut hat. Eine Weile hatten Träume Konjunktur, aber bald stellte sich heraus, dass der Spielraum für eine gemeinsame Welt begrenzt war, wenn die Bedingungen dafür fehlten. Der Ruf nach Befreiung und Widerstand war ein altes Thema – die Freiheit wurde eine neue Aufgabe. Nicht nur zeigten sich jetzt erst die Schäden und Fehlentwicklungen der Kolonialzeit. Auch hielt die Weltgeschichte ihren Gang nicht an, um auf die neuen Akteure zu warten. Die einstigen Kolonialmächte zogen sich aus ihrer Verantwortung zurück und überließen die neuen Nationen in dem entstehenden Machtvakuum sich selbst. Als die Blockbildung von West und Ost endete, in der die Kolonien von beiden Seiten umworben worden waren, stand die Dritte Welt, wie sie seit der Konferenz von Bandung hieß, allein. Die neokoloniale Wirtschaftspolitik hatte freies Spiel. Sie bot keine Modelle für Länder, die man jetzt schönfärberisch Entwicklungsländer nannte.
Es ist heute schwer geworden, eine Gestalt wie Léopold Sédar Senghor in seiner Zeit zu sehen. Der Visionär, der in Kultur und Kunst das Potential für einen Neuanfang der Welt sieht, ist in der Medien- und Konsum-Ära quasi ausgestorben. In der Debatte um Postkolonialismus und Dekolonisierung ist die Erinnerung an eine Vision verblasst, die sich nicht nur auf die Zukunft der Kolonien richtete, sondern auf ein neues Gleichgewicht in der Welt hoffte. Senghors Vision galt einer anderen, nicht westlich dominierten Moderne, die jenseits von Technik und ökonomischem Gewinnstreben für einen weltweiten Humanismus bereit war, in dem Afrika eine Stimme besaß. In Senegal suchte Senghor als Staatspräsident diese Vision in die Praxis umzusetzen. Schon zu kolonialen Zeiten scheiterte er jedoch mit dem Versuch, Afrika in Europa zu integrieren oder mit Europa zu assoziieren. Als Mitglied des Europarats wollte er die Europäer zu einem Umdenken bringen und warb für ein vereintes Europa mit Einschluss Afrikas.
Als Senghor 1946 in die Politik ging, lag das Ende der Kolonialzeit noch in weiter Ferne. Im Gegensatz zur Mehrheit der Afrikaner drängte er hierbei aber nicht zur Beschleunigung, denn er fürchtete die Nachteile eines blinden nationalistischen Denkens. Deswegen hielt er noch lange an dem Plan fest, in Französisch Westafrika eine neue Föderation zu bilden oder die alte koloniale Föderation umzubauen. Damit stand er jedoch allein. Statt die Kolonialmacht Frankreich aus der Verantwortung zu entlassen, drängte er sie, in Afrika zu investieren, um dort die postkoloniale Zukunft ökonomisch und institutionell abzusichern. Aber die Kolonialgeschichte hatte den Kontinent schon durch die beiden kolonialen Sprachen Englisch und Französisch in zwei ungleich große Blöcke gespalten. Französisch, bis Kriegsende noch eine Weltsprache, wurde durch das globale Englisch abgelöst. Während Westafrika auf Frankreich angewiesen blieb, wurde der anglophone Block durch den Eintritt der USA in die Weltpolitik zur dominierenden Kraft. Die USA, die bisher in der Kolonialgeschichte eine Randposition innegehabt hatten, engagierten sich jetzt auch in Afrika. Die transatlantische Achse wurde übermächtig gegenüber der mediterranen, die Afrika mit Europa verband.
In den 1950er Jahren beschädigte der Algerienkrieg, der in ganz Afrika helle Empörung auslöste, den Ruf Frankreichs als Kulturnation. Damit ging ein unheilbarer Riss durch das französische Lager in Afrika. Stimmen wie die von Frantz Fanon (1925–1961) gewannen für den postkolonialen Diskurs eine zentrale Bedeutung, während Senghors Position marginalisiert wurde. Er warb weiterhin für die Devise, mit den Franzosen statt gegen sie in die Zukunft zu gehen. Aber mit einer solchen Politik hatte er selbst im eigenen Land Probleme. Und während zu Hause die Opposition wuchs, speisten ihn die Franzosen mit Wohlwollen und symbolischen Gesten ab. Man kann also von einem Leben zwischen den Fronten sprechen. Das galt in anderer Weise auch innerhalb Senegals. Hier war Senghor auf die französischen Investoren und die städtische Klasse angewiesen, doch fand er seine Wähler eher auf dem Lande. Als Präsident suchte er in der Kultur einen Erfolg, um die Gesellschaft zu einen und zu modernisieren. Aber die Wirtschaftslage machte es für ihn immer schwerer, die Balance zwischen Kultur und Politik zu halten.
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Die Vision einer neuen Moderne stieß sich bald an den neuen Fakten. Im postkolonialen Kontinent Afrika ist der Traum von einer noch nicht eingelösten Moderne heute ausgeträumt. Der echte Internationalismus, auf den Senghor hoffte, wird gerne als neokolonialer Kompromiss denunziert. Im globalen Zeitalter suchte man einst nach einer neuen Definition, um den Internationalismus aus dem Schatten des Westens herauszuführen.[8] Olu Oguibe sieht darin eine Fiktion, von der sich Afrika in die Falle eines neuen «Primitivismus» habe treiben lassen.[9] Ein neuer Internationalismus müsse sich erst einmal vom ethnologischen Erbe lösen, das in der Moderne das Bild Afrikas bestimmt habe. Die Frankophonie Westafrikas erscheint ihm verdächtig wegen ihrer Verstrickung in die französische Kulturpolitik. Auch Kwame Anthony Appiah übt Kritik an der frankophilen Haltung Senghors.[10]
Wir leben inzwischen in einer Ära, in welcher die Globalisierung andere Prioritäten setzt. Deshalb forderte Georges Balandier eine «Genealogie» der postkolonialen Debatte (généalogie du postcolonial),[11] nachdem die Postcolonial Studies in die USA abgewandert seien und ihre Vorgeschichte in Europa und Afrika weitgehend verdrängt hätten. Die heutigen Debatten leben von alten Feindbildern, während eine Aufarbeitung der alten Debatten hinter einer verbreiteten Theoriegläubigkeit zurücktritt, in der kämpferische Positionen dominieren. Inzwischen hat sich zudem ein neues Problem herauskristallisiert. Es ist die Krise der Repräsentation, mit anderen Worten, die Frage, wer heute das Recht hat, für wen zu sprechen. Sie betrifft natürlich auch unsere Einleitung.[12] Das postcolonial stiftet noch keine neue Perspektive, sondern bleibt im Wettbewerb der Diskurse stecken. Ein Beispiel dafür ist die vergessene oder verdächtigte Ära der Kulturpolitik Senghors, die unser Thema ist. Dass sie scheiterte, lag nicht so sehr an der Idee, sondern eher an ihren Bedingungen, von denen hier die Rede ist. Senghor hatte die Vision, eine andere Moderne – eine Moderne aus afrikanischer Sicht – zu begründen und damit dem westlichen Universalismus die Stirn zu bieten.
Inzwischen gibt es Versuche, Senghors Vision zu rehabilitieren und den Begriff der Négritude von dem rassisch-ethnischen Fetisch zu befreien, den man aus ihm gemacht hat. Nach dem Besuch der Biennale von Dakar fasste der Künstler Rasheed Araeen, der Gründer der einflussreichen Zeitschrift Third Text, 2010 den Beschluss, eine Sonderausgabe seiner Zeitschrift Senghor zu widmen und für eine Diskussion «Beyond Négritude» zu werben. Dafür konnte er den Literaturwissenschaftler Denis Ekpo als Herausgeber gewinnen. Dessen wegweisende Einführung trägt den Titel «From Négritude to Post-Africanism».[13] Er kritisiert vor allem die Ideologie Aimé Césaires dafür, dass der Begriff Négritude von einem «kulturellen Nationalismus» missbraucht wurde.[14] Deshalb schlägt er vor, von «Senghorismus» zu sprechen, um die Idee einer kritischen Aufarbeitung der Moderne – im Dialog mit Europa – von der offiziellen Nomenklatur der Négritude zu unterscheiden. Denn Senghor, so formuliert er, ging es darum, Afrika in die Moderne zu führen und die Stammeskulturen umzuschreiben, indem er sie ästhetisch neu definierte.[15] Die ideologische Besetzung von Senghors Vision lasse sich, so Ekpo, nur auflösen, wenn man darin eine post-afrikanische Perspektive sehe, die er als afrikanische «Aufklärung» versteht. Das heiße für die Kunst in Afrika, aus dem kolonialen Schatten herauszutreten und einer ethnischen Selbststilisierung abzuschwören. Mit anderen Worten: Man müsse der Kunst Afrikas nicht nur den Charakter der Andersartigkeit aufdrängen, sondern sie auf die Welt hin öffnen.
In einem zweiten Beitrag zum selben Band nimmt Denis Ekpo Senghors politische Philosophie unter die Lupe.[16] Es sei ihm darum gegangen, «die koloniale Frage zugunsten Afrikas zu lösen» und der Kolonialzeit einen Platz in der Dynamik der modernen Zivilisation zu geben. «Senghor war der Erste, der die positive Seite der Kolonialisierung erkannte.»[17] Vielleicht sei er deshalb in der Lage gewesen, vor einer «vorzeitigen antikolonialen Utopie» zu warnen.[18] De Gaulle, Senghors Gegenspieler in den Schicksalsjahren 1958–1961, nimmt in Ekpos Text eine zentrale Rolle ein. «Wenn Senghor seine Vision einer aufgeschobenen Entkolonialisierung [delayed decolonisation] auch nicht realisieren konnte, so war er dennoch in der Lage, die schlimmsten Effekte einer vorzeitigen Beendigung der Kolonialzeit zu mildern. Wenn er für sein Land und den Kontinent nicht mehr erreichte, so liegt die Schuld eher bei Frankreich als in seiner eigenen Doppelstrategie.»[19]
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Für Senghor hatte die Kunst eine einzigartige Bedeutung, die man heute wieder der Vergessenheit entreißen muss. Seine Vision einer neuen, postkolonialen Moderne setzte aber voraus, dass es im eigenen Land gelang, die Last der Kolonialzeit produktiv zu überwinden. Die Moderne, von der Senghor träumte, musste erst einmal im eigenen Land entstehen und dort eine Synthese mit den «Werten der Ahnen» (valeurs ancestrales) zulassen, die bei der Landbevölkerung noch die überlieferten Kulte prägten. Die ästhetische Umdeutung dieser Kulte war ein gewagter Schritt, um sie aus dem Ghetto der ethnologischen Isolation, also wiederum einem kolonialen Erbe, zu erlösen. Dabei setzte Senghor seine ganze Hoffnung auf eine neue Kunstpraxis, in die sich auch das alte Kunsthandwerk würde integrieren lassen. Zu diesem Zwecke tourte ab 1974 die große Wanderausstellung Die Kunst Senegals heute mit Senghors aktiver Begleitung durch die ganze Welt (Kap. III. 5). Eine solche Kunst sollte im Ausland zu einem ähnlichen Erfolg führen, wie er selbst ihn schon mit der Literatur in Frankreich erlebt hatte.
Die «Affinität» der modernen Kunst zur afrikanischen Maske, welche Senghor als ein Symbol des Verlustes betrachtete (Kap. II. 3), erwies sich in diesem Licht als Argument, um eine Négritude, die schon immer modern gewesen war, zu verteidigen. Doch musste dazu in Senegal erst einmal eine neue Klientel entstehen, die in Galerien ging und Kunst erwarb. Senghor überschätzte, wie sich bald zeigte, das einheimische Publikum, das sich angesichts der neu geschaffenen Kunstinstitutionen unangenehm an die Kolonialzeit erinnert fühlte, auch wenn die Kunst jetzt nicht als Import, sondern als nationale Produktion wiederkehrte. Die Literaten konnten in diesem Zusammenhang auf den Film ausweichen, um für ihre Bücher ein größeres Publikum zu erreichen. Aber die bildenden Künstler blieben an Sammlung und Ausstellung gebunden, auch wenn sie den Schritt zu Foto, Video und Installation vollzogen.
In seiner Theorie der kulturellen Symbiose, welche eine neue Moderne herbeiführen würde, strebte Senghor auch danach, die religiösen und ethnischen Probleme in seinem Land zu überwinden. Er selbst trauerte lebenslang dem «Reich der Kindheit» nach, in dem er in das geheime Wissen der schwarzafrikanischen Naturreligion eingeweiht worden war. Als Katholik gehörte er zu einer Minderheit in einem überwiegend islamischen Land. Deshalb wollte er die Trennung von Staat und Religion, die in Frankreich eine unverzichtbare Errungenschaft der Moderne geworden war, auch in Senegal durchsetzen. Was trennbar war, konnte auch nebeneinander existieren, ohne gegeneinander anzutreten. Das galt nach seiner Ansicht für die Weltreligionen ebenso wie für die Stammeskulturen. In diesem Sinne war er darum bemüht, die politische Macht der Sufi-Orden in die Schranken zu weisen. Aber 1979, am Ende seiner Präsidentschaft, nahm der islamische Einfluss noch einmal zu. Die iranische Revolution führte zur Bildung eines schiitischen Netzwerks, in dem die Konvertiten zwar eine gewaltfreie Reformbewegung anstrebten, aber doch den Schatten der Religion auf das Projekt der Modernisierung warfen.[20]
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Heute verdient das Engagement Senghors, auch wenn es keine Rezepte für die Gegenwart bietet, eine neue Bewertung. Der Poet und Politiker war ein Visionär der Moderne, die inzwischen selbst zur Geschichte geworden ist und die Kritik einer neuen Generation auf sich zieht. Es wäre ein billiges Argument, von Utopie zu sprechen und deren Scheitern als unvermeidlich anzusehen. Senghors Sicht auf die Moderne war zeitbedingt, aber sie war hellsichtig in der Formulierung der Probleme, die immer noch der Lösung harren. Im Rückblick lässt sich sagen, dass Senghors Kunstpolitik keine Fortsetzung fand, als er 1980 das Steuer seinem Nachfolger Abdou Diouf überließ, der von Hause aus Ökonom war. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die allgemeine Lage im Land schon verschlechtert. Senegal unterwarf sich den Bedingungen der Weltbank und musste sich von der Kultur als staatlicher Aufgabe trennen.[21] Allein der panafrikanische Tanz in der Schule Mudra Afrique, die im Musée Dynamique installiert war (Kap. III. 6), wurde eine Zeit lang mit Mitteln der UNESCO und der Fondation Calouste Gulbenkian weitergeführt.[22] Die Probleme von Senghors Kulturpolitik aber, für welche er Lösungen gesucht hat, bestehen fort. In Afrika fehlten meist die Institutionen und die finanziellen Möglichkeiten, um die Kunst zu fördern. Die Kunstkritik holte sich zunächst ihre Argumente von außen und wurde dabei von internationalen Kuratoren dominiert. Dabei schwang das Pendel zwischen dem Vorwurf der Ghettoisierung und dem entgegengesetzten Vorwurf eines globalen Konformismus aus.
Solange der Westen sich noch selbstbewusst bescheinigte, einen universalen Kunstbegriff zu besitzen, war dieser für Künstler, die damals in den Westen einwanderten, ein unüberwindliches Hindernis. Heute stellt sich die Frage, ob die zeitgenössische Kunst noch einen solchen Kunstbegriff hat, wie ihn die Moderne einst entwickelt und selbst wieder dekonstruiert hat. Die Kunstproduktion expandiert inzwischen weltweit, und doch fehlt ihr ein verbindlicher Kunstbegriff, den es vielleicht in globaler Gültigkeit auch gar nicht geben kann. So könnte man von einer Kunst nach dem Ende der Kunst sprechen, ähnlich, wie es Arthur Danto 1995 in seinen Mellon Lectures tat.[23] Dieser prägte 1964 auch den Begriff der einen und einzigen «Kunstwelt» (art world), auf die er als Philosoph von außen schaute. Heute kann man von einer Vielfalt von Kunstwelten sprechen, die im geographischen Mapping der Biennalen und Kunstmessen auf dem Weltmarkt miteinander konkurrieren.[24]
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Die Kunstszene, die Senghor in einer lyrisch abstrakten Malerei erlebte, repräsentierte schon in den 1960er Jahren nicht mehr den aktuellen Stand in Euramerika. Senghor wollte nicht glauben, wie schnell die westlichen Kunstmoden kommen und gehen. Sie warfen jeden verbindlichen Kunstbegriff, den er immer noch als überzeitlichen Besitz der Kulturen verstand, als lästiges Gepäck ab. Die Verfallszeit der Moderne spiegelt sich symbolisch in der Kunst der 1960er Jahre. Damals folgten Strömungen wie Nouveau Réalisme, Minimal Art, Zero, Land Art und bald auch die Videokunst einander auf dem Fuß. Eine weitere Strömung formierte sich als Concept Art, die sich radikal vom ausgestellten Kunstwerk trennte und den Kunstbegriff als solchen zur Diskussion stellte. Sie begann in England als Art and Language-Bewegung, war aber erstmals als Impuls nicht auf den Westen beschränkt.
Während sich Senghor noch an Paris orientierte, führten die Kuratoren und Theoretiker in Paris bereits ein Nachhutgefecht mit der neuen amerikanischen Kunstwelt. Der französische Kritiker Pierre Restany rief zum Widerstand gegen die Amerikaner auf, doch wurden die von ihm geförderten Nouveaux Réalistes von der Pop Art aus den USA verdrängt. Selbst in New York wurde der führende Kunstkritiker Clement Greenberg von der Pop Art überrollt, welche gegen die ästhetische Autonomie des Abstract Expressionism eines Franz Kline in Stellung ging.[25] Im sogenannten Westen bröckelte die Einheitsfront. Die «Neue Welt» gewann die Führung über die «Alte». Die «Dritte Welt» wurde jedoch erst ab den 1980er Jahren auf den Biennalen von Havanna zum Schlachtruf.[26]
Im Nachhinein erweist sich, dass Senghor von einer bereits gefährdeten Sache träumte, so verständlich es auch war, dass er seine Hoffnungen auf eine unvollendete Moderne setzte, zu welcher Afrika einen eigenen Beitrag leisten würde. Denn mit der Moderne, die er in der Kunst durchzusetzen dachte, wollten sich im Westen die Künstler und Intellektuellen bereits nicht mehr identifizieren. Die Postmoderne konnte nicht Senghors Sache sein, solange er die Moderne noch für die einzige Option hielt, um sich vom kolonialen Erbe zu befreien. Im Westen hatte sich die Kunst vom Primat der Form zurückgezogen, um im öffentlichen Raum statt im Galerieraum des White Cube politische Themen zu realisieren.[27] Auch in Senegal orientierten sich die Künstler an neuen Techniken und Medien wie Foto, Film, Video, Performance und Installation, um die aktuelle Welt in Afrika abzubilden. Ihr «Postafrikanismus» zeigte sich jetzt mehr an ihren Themen als an sogenannten authentischen Formen.[28] Das Kunstideal Senghors rückte damit so weit in den Schatten, dass es heute erst wieder rekonstruiert werden muss. Die Prämissen haben sich gewandelt, so dass der Glaube an eine unvollendete Moderne erschüttert ist. «Zeitgenossenschaft» ist in der globalen Ära ein Axiom geworden, welches das einstige Ideal einer universalen Moderne abgelöst hat.[29] Deswegen sprechen Okwui Enwezor und Chika Okeke-Agulu in ihrem Buch Contemporary African Art since 1980 von einer Zeitenwende zwischen der Phase, in der man die Moderne erneuern wollte, und den Jahrzehnten nach 1980, als man mit dem Postulat der zeitgenössischen Kunst antrat.
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In den 1990er Jahren begann auch in Senegal das Age of Biennalism.[30] Die geradezu explosiv expandierenden Biennalen boten jetzt auch für afrikanische Künstler eine Plattform, auf der sie sich neben einer internationalen Konkurrenz bewähren mussten. 1992 wurde in Dakar die erste Kunstbiennale Afrikas südlich der Sahara unter dem Titel Dak’Art Biennale de l’Art Africain Contemporain eröffnet, nachdem man 1990 eine erste Veranstaltung bezeichnenderweise der Literatur gewidmet hatte.[31] Präsident Abdou Diouf eröffnete sie mit einer halbherzigen Rede, in welcher er die Rückkehr zu Senghors Kulturpolitik versprach. Das Problem einer solchen Biennale war aber von vornherein die prekäre Balance zwischen einer panafrikanischen Musterschau und der global expandierenden Diaspora-Kunst. Immerhin besaß man jetzt ein Forum, auf dem sich senegalesische Künstler profilieren konnten, ohne auf das Museum angewiesen zu sein. Ein anderes Problem war und blieb die französische Verkehrssprache. Vielleicht fanden die beiden Biennalen, die 1995 und 1997 in Johannesburg stattfanden, auch wegen der englischen Sprache eine weltweite Aufmerksamkeit. Aber sie waren kurz nach dem Ende der Apartheid auch stärker politisch ausgerichtet. Die zweite und letzte Biennale von Johannesburg setzte unter der Leitung des einflussreichen Kurators Okwui Enwezor die afrikanische Produktion unter dem Titel Trade Routes in das Licht der Globalisierung und präsentierte sich selbstbewusst als eine neu entstandene, polyzentrische Kunstwelt.[32]
Neben den Biennalen begannen in den späten 1980er Jahren große internationale Ausstellungen damit, ein neues Bild von Afrika zu entwerfen, ein Bild, das erstmals von afrikanischen Künstlern der Gegenwart mit Namen und Biographien geprägt war. Aber sie entfesselten im nächsten Jahrzehnt erbitterte Kontroversen um die Auswahl der Künstler, bei der sich die Kuratoren und Kritiker gegenseitig Vorurteile vorwarfen. Die ethnologische Sicht auf Afrika hatte ausgedient. Der Schritt vom ethnologischen Museum zum Kunstmuseum als Ausstellungsort war eine symbolische Zäsur. Die neue Ära begann mit einem Vorlauf, der zu Recht allgemeine Entrüstung auslöste, als William Rubin ausgerechnet am Museum of Modern Art in New York 1984 noch einmal die alte koloniale Primitivismus-Karte ausspielte. Mit dem Motto Affinity of the Tribal and the Modern verband sich eine Schau, die Afrika wieder auf die namenlosen Masken reduzierte und als «Anregung» der Pariser Avantgarde begriff.[33]
Diese Ausstellung rief bald eine lange Reihe von Gegenentwürfen auf den Plan. Im Wendejahr 1989 war die Schau Magiciens de la Terre am Centre Pompidou in Paris ein erster Ausflug in die neue Szene der Global Art und als eine polemische Antwort aus Europa konzipiert.[34] Der Kurator Jean-Hubert Martin geriet jedoch seinerseits ins Kreuzfeuer der Kritik, weil er, zusammen mit André Magnin, im Kontingent der 50 ‹nicht-westlichen› Künstler die Auswahl der Afrikaner einseitig auf neoprimitive oder volkstümliche Künstler verengt hatte, während das postkoloniale Afrika nicht repräsentiert war. Zwei Jahre später, 1991, folgte die amerikanische Kritik auf Rubins Schau in der Ausstellung Africa Explores. 20th Century African Art, welche die Ethnologin Susan Vogel in New York veranstaltete.[35] Diese stellte im zeitgenössischen Kunstschaffen von Afrika eine Vielzahl von Spielarten vor, von denen aber nur wenige dem Kunstprofil des globalen Marktes entsprachen. Damit erntete die Kuratorin ihrerseits heftige Kritik, doch wurde dabei die Diskussion auf einen neuen Stand gebracht.
1995 kuratierte Clémentine Deliss unter dem Titel Seven Stories about Modern Art in Africa[36] eine Ausstellung afrikanischer Gegenwartskunst in der Whitechapel Gallery in London. Hier präsentierten sieben afrikanische Künstler und Kuratoren die Geschichte (story) der aktuellen Kunst in ihrem jeweiligen Land. Dabei fiel dem Künstler El Hadji Sy der Part Senegals zu.[37] Der Katalog bietet einen kritischen Überblick über das kulturelle Selbstverständnis auf dem postkolonialen Kontinent. Dabei suchte man sich von dem westlichen Klischee dessen, was afrikanische Kunst sei, zu befreien und den Blick auf einzelne Kunstzentren zu lenken. El Hadji Sy setzte die Verdienste Senghors in ein positives Licht. Aber er ließ dessen Kunstpolitik nur als einen ersten Impuls gelten, der die Künstler in der Ära nach Senghor auf ihren eigenen Weg gebracht hatte (Kap. III. 5).
In diesem Boom sind schließlich noch zwei große Wanderausstellungen zu erwähnen, die beide von Kuratoren afrikanischer Abstammung konzipiert wurden. Sie warfen noch einmal einen Blick auf den gesamten Kontinent Afrika und betrachteten seine moderne Geschichte im Spiegel der Kunst. Da ist zunächst die Ausstellung The Short Century. Independence and Liberation Movements in Africa 1945–1994 zu nennen, die 2001 in der Villa Stuck in München eröffnet wurde. Okwui Enwezor, der Kurator, rief hier das Stichwort des «kurzen Jahrhunderts» auf, in dem die Länder Afrikas zwischen 1945 und 1994 die Unabhängigkeit erlangten.[38] Deshalb zeigte er neben der Kunst auch Dokumente wie Fotos, Filme und Texte aus der Geschichte der Befreiungsbewegungen. Wenige Jahre später folgte die Ausstellung Africa Remix. Contemporary Art of a Continent,[39] die 2004 im Museum Kunst Palast in Düsseldorf begann. Dort war der Initiator derselbe Jean-Hubert Martin, der 1989 in Paris die Schau Magiciens de la Terre kuratiert hatte und sie nun im Katalog in einem Essay über die Geschichte der «Rezeption afrikanischer Kunst» verteidigte. Der Kurator Simon Njami, Autor einer Senghor-Biographie[40] und Herausgeber der Revue Noire, wollte mit der Ausstellung die alten Kontroversen verabschieden, die um «das Bild» Afrikas geführt worden waren. Er kritisierte, ganz in Senghors Sinne, den «Revisionismus», der die nordafrikanischen Länder von «Schwarzafrika» habe trennen wollen, als eine Fälschung der Geschichte. Die Themen der Ausstellung, so der Kurator, seien von den ausgestellten Werken inspiriert worden. Diese boten ein vielfältiges und aktuelles Bild des zeitgenössischen Kontinents, das den alten Afrika-Klischees widersprach.
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Der Stoff dieses Buches gliedert sich in drei Kapitel. Das erste Kapitel geht von der Biographie aus und bringt den Politiker Senghor zur Sprache. Die Vision, Westafrika und Frankreich in eine gemeinsame Zukunft zu führen, stand hinter dem Ringen um die Ablösung der Kolonie Senegal. Darin spiegelte sich auch die eigene Lebenssituation. Senghor lebte in zwei Welten, seit er das «Reich der Kindheit» unter der senegalesischen Landbevölkerung verlassen hatte. In Paris bestand er das Staatsexamen als erster Afrikaner überhaupt. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm er Abschied von der akademischen Karriere, um als Anwalt Westafrikas in die Politik zu gehen. Die eigene Dichtung war und blieb auch später der Anker, den er brauchte, um nicht aus der Bahn geworfen zu werden. In ihr lebte er seine Träume aus. Nachdem er 1980 auf eigenen Wunsch aus der Politik schied, wählte ihn die Académie Française als ersten Afrikaner zum Mitglied.
Der Begriff Négritude, der bei ihm anfangs für eine schwarzafrikanische Identität des Pariser Studenten stand, hat die Kontroverse in der postkolonialen Debatte allzu sehr dominiert. Auch wandelte er sich, wie wir aufzeigen wollen, mehrfach in seiner Bedeutung. In dem Streit um Négritude ist jedoch ein anderes Konzept Senghors, mit dem dieses Kapitel schließt, in den Schatten getreten. Es ist die Civilisation de l’universel, die Senghor dem falschen Universalismus der Kolonialmächte entgegensetzte. Sie lässt sich als eine humane Weltordnung begreifen, die Senghor auf die Zukunft der Moderne projizierte.
Im zweiten Kapitel steht der Kunstbegriff im Zentrum. Aber es ist diesmal nicht der Begriff der bildenden Kunst, wie ihn die Moderne entwickelt hat, um ihn von den darstellenden Künsten (Tanz, Theater und Musik) abzutrennen. Ganz im Gegenteil: Senghor spricht von dem Ideal, die Künste wieder so zusammenzuführen, wie es in der Tradition Afrikas vorgegeben war. Kunst, für die es in Afrika keinen eigenen Begriff gab, war für ihn eine soziale Praxis, die kollektiv ausgeübt worden war. Er verstand sie als eine gelebte Philosophie, mit deren Erläuterung das zweite Kapitel beginnt. Selbst für seine Dichtung stellte er sich eine Begleitung mit Musik und Tanz vor. Doch war das bereits ein Kompromiss. Er war kein einheimischer Barde mehr, sondern schrieb für Leser und in französischer Sprache. Dennoch lebt in seiner Dichtung eine Emotion, die seinen Reden und Essays fehlt. Hier spricht er «ganz als Afrikaner» und überlässt sich seinen Träumen, während er in seinen Prosatexten als Politiker spricht. Die Kunstfrage blieb für ihn immer an die eigene Poesie gebunden. In seinem frühen Gedicht auf Picasso erscheint die Maske als Symbol eines Verlustes, aber sie repräsentierte für ihn auch das Ferment, mit dem Afrika die Kunst der Moderne revolutioniert hatte. Wenn er die Editionen seiner Dichtung in Paris von zeitgenössischen Künstlern der Metropole illustrieren ließ, lag darin ein Programm. Auf diese Weise wollte er sich mit seiner Dichtung in die Präsenz der modernen Kunst einschreiben. Die lyrische Abstraktion eines Pierre Soulages stand ihm dabei am nächsten. Mit ihm diskutierte er über die Affinität dieser Kunst zur schwarzafrikanischen Ästhetik. Soulages war auch in dem Ausstellungszyklus französischer Klassiker der Moderne vertreten, den Senghor in den 1970er Jahren im Wechsel mit den jährlichen Salons für einheimische Künstler veranstaltete. Für einen solchen Dialog der Kulturen hatte er das «Dynamische Museum» als eine Kunsthalle für internationale und lokale Kunst in Dakar geschaffen. Als er die letzte Picasso-Ausstellung eröffnete, die noch zu dessen Lebzeiten stattfand, gab der Präsident seiner Rede den Titel «Picasso en Nigritie».
Das dritte Kapitel ist der Kulturpolitik Senghors gewidmet. Mit ihr suchte er ein Modell für den Dialog der Kulturen zu schaffen. Dafür war das Erste Weltfestival der Negerkünste im April 1966 in Dakar ein triumphaler Auftakt, aber es blieb, wie sich bald zeigte, auch bereits der Höhepunkt. Es vereinte nicht nur – vielleicht zum letzten Mal – fast alle neuen Nationen Afrikas, sondern auch Vertreter der Diaspora in Übersee. Festspielort war das neue Theater, in dem Aimé Césaires düsteres Drama La Tragédie du Roi Christophe, ein Menetekel der postkolonialen Zukunft, erstmals in Afrika aufgeführt wurde. In dem Theater, dem Standort des nationalen Balletts, dominierte aber der Tanz, der als panafrikanische Kunstform auch von vielen auswärtigen Ensembles zelebriert wurde. Damals wurde auch das Musée Dynamique mit der Ausstellung der Art Nègre eröffnet, in der alle großen internationalen Museen mit Leihgaben vertreten waren. Bei der Eröffnung sah André Malraux, damals Kultusminister in der Regierung de Gaulles, sein Konzept einer «Metamorphose der Götter», welche diese im Museum fänden, eindrucksvoll verwirklicht. Das hatte er in den ethnologischen Museen noch nie erlebt. Damals führte er mit Senghor ein langes nächtliches Gespräch, bei dem die Probleme in dessen Kulturpolitik offen zur Sprache kamen. Mit der Neugründung der Kunstakademie und einer Manufaktur für Kunstgewerbe verband der Präsident das Projekt einer «Schule von Dakar». Mit ihr wollte er den Künstlern zu einer sozialen Existenz und im Ausland zu einer Geltung verhelfen, wie sie das nationale Ballett bereits besaß. Aber am Ende seiner Regierungszeit konzentrierte er sich ganz auf den Tanz, den er als zentrale afrikanische Kunstform verstand. Deshalb rief er die Tanzschule Mudra Afrique ins Leben, um dem panafrikanischen Tanz in Senegal eine Heimat zu geben. Für den Tanz waren einst die Masken gemacht worden, wie er glaubte. Im Tanz sah er auch in der Moderne «den Ruf Afrikas, Land des Tanzes» (l’appel de l’Afrique, terre de la danse).[41]
I.
1 Jeune Afrique, Sonderausgabe 11, 2006, zum 100. Geburtstag von Senghor