Andreas Guski
Dostojewskij
Eine Biographie
C.H.Beck
Mit «Schuld und Sühne» hat Dostojewskij, so Thomas Mann, «den größten Kriminalroman aller Zeiten» verfasst. Kaum weniger fesselnd als seine großen Romane ist sein von äußeren und inneren Dramen geprägtes Leben. Der Slawist Andreas Guski legt die erste Biographie in deutscher Sprache seit über 25 Jahren vor. Anschaulich erzählt er Dostojewskijs Leben und erschließt sein gewaltiges Œuvre im Kontext der Zeit.
Buchstäblich über Nacht wird Dostojewskij mit 24 Jahren zum Star der Petersburger Literaturszene. Als er mit 27 Jahren aus politischen Gründen verhaftet wird, entgeht er seinem Todesurteil nur in allerletzter Minute. Nach zehn Jahren in Sibirien kommt er als gewandelter Mensch zurück und beginnt sein literarisches Comeback. Später flieht er vor seinen Gläubigern ins Ausland und vor der materiellen Not ins Glücksspiel. Andreas Guski verfolgt Dostojewskijs politische Wandlungen zwischen Revolte und Reaktion, seine Versuche, als professioneller Schriftsteller zu überleben, und seinen Kampf um den Leser. Während Dostojewskij selbst auch psychisch oft am Limit lebte, leuchtet er in seinen Werken noch die geheimsten Winkel der menschlichen Seele so gnadenlos wie feinfühlig aus. Seine Auseinandersetzung mit der modernen Welt machte ihn zum «Propheten des 20. Jahrhunderts» (Albert Camus). Dostojewskijs Romane und Erzählungen, die mit unerhörter Spannung aufgeladen sind und gleichzeitig von bohrender Sinnsuche zeugen, gehören bis heute zu den meistgelesenen Werken der Weltliteratur und werden in dieser neuen Biographie glänzend erschlossen.
Andreas Guski ist em. Professor für Slavische Philologie an der Universität Basel. Er ist einer der besten deutschen Kenner von Dostojewskijs Werk, zu dem er vielfach publiziert hat.
Vorwort
Hinweise
Einleitung
«Dostojewskij-Trip»
Grenzen
1: Aufbrüche und Abstürze
(1821–1849)
Eine Moskauer Kindheit
Lehrjahre
Der Weg in die Literatur
Ein Senkrechtstart: «Arme Leute»
Kritik und Kränkung
Wie soll man schreiben?
Dostojewskij und die Petraschewzen
Das Imperium schlägt zurück
«Wiedergeburt»
2: Das erste Exil: Sibirien
(1850–1859)
Im Totenhaus
Soldat Dostojewskij
Heimkehr mit Hindernissen
3: Literarische Auferstehung
(1860–1867)
Neuanfänge
Das Comeback: «Die Erniedrigten und Beleidigten»
Wieder in der Erfolgsspur:
«Aufzeichnungen aus einem Totenhaus»
Unruhige Zeiten
Europa für Fortgeschrittene
Neue Krisen
Irr- und Leidenswege einer «Beziehung»
1864 – Annus horribilis
Hamlet als beleidigte Maus:
«Aufzeichnungen aus einem Kellerloch»
Ein riskanter Plan
Hasard in Roulettenburg: «Der Spieler»
Spaltungen: «Schuld und Sühne»
Wieder auf Freiersfüßen
4: Das zweite Exil: Europa
(1867–1871)
Touristen wider Willen
Arbeiten oder spielen?
Genf, die «gemeine Republik»
Ein russischer Christus: «Der Idiot»
Italien und Dresden: «Der ewige Gatte»
Auf slawophilem Kurs
Die letzten Monate in Europa.
Wunderbare Heilung von der Spielsucht
Ein Vaudeville der Teufel: «Die Dämonen»
5: Ankünfte
(1871–1876)
Die Heimkehr
Werden und Scheitern eines Kapitalisten: «Der Jüngling»
«Wie Bienenschwärme wimmelt es von Paradoxen»:
Das «Tagebuch eines Schriftstellers»
6: Auf dem Gipfel
(1876–1881)
Land und Kinder. Neue Pflichten.
Vom Richtplatz zum Marmorpalais
Ein Denkmal, zwei Propheten.
Die Puschkin-Feier von 1880
Das literarische Vermächtnis: «Die Brüder Karamasow»
Tod und Verklärung
Anhang
Anmerkungen
Vorwort
Einleitung
1 Aufbrüche und Abstürze (1821–1849)
2 Das erste Exil: Sibirien (1850–1859)
3 Literarische Auferstehung (1860–1867)
4 Das zweite Exil: Europa (1867–1871)
5 Ankünfte (1871–1876)
6 Auf dem Gipfel (1876–1881)
Literaturhinweise
In den Anmerkungen verwendete Abkürzungen
Deutsche Übersetzungen der besprochenen Werke Dostojewskijs
in chronologischer Reihenfolge
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
«Das alles wird mir, hoffe ich, an die fünfzehntausend Rubel
einbringen – aber was ist das für eine Zuchthausarbeit!»
Dostojewskij an Katkow, 14.4.1865
«Anhaltendes Schreiben ermüdet wie Erdarbeit.»
Robert Walser, «Der Spaziergang»
Dostojewskij ist ein Autor der Krise. Für die Helden und Handlungen seiner Romane gilt dies ebenso wie für die Konjunkturen seiner Rezeption. In Deutschland wurde er zuerst im zeitlichen Umfeld des Ersten Weltkriegs entdeckt. Wer ihn lese, schrieb Eduard Thurneysen, sehe «plötzliche Wildheit vor sich aufgehen» und werde hinausgeführt «über die letzten Grenzpfähle der bekannten Menschheit».[1] Niemand ahnte so kurz nach diesem Krieg, dass solche Wildheit sich nur zwei Jahrzehnte später noch apokalyptischer wiederholen sollte. Ebenso wenig vorhersehbar war nach dem Inferno des Zweiten Weltkriegs, dass die Übersichtlichkeit der Nachkriegsordnung mit Beginn des 21. Jahrhunderts abrupt in eine neue Unübersichtlichkeit umschlagen könnte, begleitet von Wildheiten unvorstellbaren Ausmaßes. So wie Dostojewskij die kulturellen Krisen Russlands und Europas im 19. Jahrhundert literarisch auf den Punkt gebracht hat, treffen seine Werke noch immer wunde Stellen unserer (post)modernen Welt: das Verhältnis von Wissen und Glauben, von Leib und Seele, von Individuum und Gesellschaft, von Gesellschaft und Gemeinschaft, von nationaler und transnationaler Identität, um nur einige zu nennen. Dostojewskij passt ins Krisenklima auch unserer Tage. Wie sonst wäre es zu erklären, dass die deutsche Neuübersetzung seiner Romane durch Swetlana Geier so großes Interesse fand, dass Frank Castorf an der Berliner Volksbühne so erfolgreich fast das gesamte Werk Dostojewskijs inszeniert hat und viele seiner Kollegen ihm darin gefolgt sind?
Wenn also Dostojewskij im 21. Jahrhundert kaum etwas von seiner Aktualität verloren hat, sollte dies den Versuch des vorliegenden Buches rechtfertigen, sein Leben und Werk im Kontext seiner Zeit neu darzustellen. Dabei wird das «persönliche Leben» des Autors nicht – wie von Karl Nötzel, einem seiner ersten deutschen Biographen – als «meist peinliches, nur leider unentbehrliches Anhängsel an sein eigenes Werk»[2] betrachtet. Vielmehr steht es im Mittelpunkt der Geschichte, die hier erzählt wird. Besonders akzentuiert werden neben der persönlichen Entwicklung Dostojewskijs die materiellen Bedingungen seiner Arbeit: sein Selbstverständnis als Schriftsteller, seine Position auf dem russischen Buchmarkt, sein Kampf um den Leser, seine Rolle im «Feld der Literatur» wie im «Feld der Macht» (Pierre Bourdieu) und nicht zuletzt seine Bedeutung als nationaler «Prophet».
Mein Dank geht an Dr. Stefanie Hölscher vom Verlag C.H.Beck für ihre Geduld, ihre Kritik und ihre Anregungen sowie an Petra Rehder und Beate Sander für die kompetente redaktionelle Betreuung des Manuskripts. Dieses Buch wäre nicht entstanden ohne die jahrelange Ermunterung und kritische Begleitung meiner Frau, Hannelore Guski (1944–2015). Ihrem Gedenken ist es gewidmet.
Berlin, im Oktober 2017
Russische Namen und Begriffe werden im Text in der leserfreundlichen, leicht modifizierten Duden-Umschrift, ohne Sonderzeichen, wiedergegeben. Bibliographische Angaben hingegen folgen der wissenschaftlichen Transliteration des Russischen.
Alle Zitate aus Dostojewskijs Werken wurden vom Verfasser nach der 30-bändigen Gesamtausgabe übersetzt. Auf Quellenverweise wurde in diesen Fällen verzichtet.
Dostojewskijs Briefe werden jeweils in Klammern mit dem betreffenden Datum belegt. Zitate daraus folgen ebenfalls der 30-bändigen Gesamtausgabe.
Die Zahl der Anmerkungen wurde auf ein überschaubares Maß beschränkt.
Die Moskauer rieben sich die Augen, als sie im Juni des Jahres 2010 erstmals die neue Metro-Station «Dostojewskaja» in Augenschein nehmen durften. Die Wände des neuen Bahnhofs präsentierten auf kostbarem italienischen Marmor großformatige Szenen aus den Romanen Fjodor Michajlowitsch Dostojewskijs: Raskolnikow schwingt die Axt über dem Haupt seines zweiten Mordopfers; Rogoschin lauert mit gezücktem Dolch dem Fürsten Myschkin auf, und Nastasja Filippowna schleudert Rogoschins 100.000 Rubel ins Kaminfeuer. Jeder halbwegs belesene Russe kennt diese Szenen. Auch wenn solche eher bescheidenen Blüten postsowjetischer Kunst am Bau nicht die ungeteilte Zustimmung des Publikums fanden, zeigten sie doch: Dostojewskij ist wieder da! Nicht nur hier, nahe seinem Geburtshaus im etwas abgelegenen Stadtteil Marina Roschtscha (Marienhain), sondern auch im lärmenden Zentrum der Metropole vor dem monumentalen Komplex der Russischen Staatsbibliothek, dem größten Büchertempel Europas. Bis 1992 trug sie den Namen Lenin-Bibliothek. Der große Umsteigebahnhof der Metro, von dem man zur Bibliothek gelangt, heißt noch immer so. Statt des früheren Lenin-Monuments erwartet den Besucher vor der Bibliothek heute jedoch die Skulptur eines sitzend in sich gekehrten, fast zerbrechlich wirkenden Mannes. Eine in Bronze gegossene Vita contemplativa, die den wuchtigen Gestus des klassischen Lenin-Denkmals konterkariert. Die 1997 hier enthüllte Dostojewskij-Skulptur des Bildhauers Alexander Rukawischnikow, von der seit 2006 eine Dublette vor dem Dresdner Kongress-Zentrum steht, deutet einen kulturpolitischen Kurswechsel Russlands an, von dem der Verewigte nicht zu träumen gewagt hätte.
Dostojewskij-Denkmal von A. Rukawischnikow vor der Russischen Staatsbibliothek in Moskau
Ob 1990 wirklich ein fundamentaler Neuanfang in Russland stattgefunden hat, sei dahingestellt. Auf der Ebene des symbolischen Handelns jedoch, das in den öffentlichen Räumen Russlands schon immer eine größere Rolle gespielt hat als in Westeuropa, ist ein Richtungswechsel unübersehbar. Er zeigt sich in den vielen Dostojewskij gewidmeten Denkmälern, Museen, Gedenktafeln, Straßen und Plätzen ebenso wie in den mehr als zwanzigtausend seither restaurierten oder neu errichteten Klöstern und Kirchen, nicht zuletzt aber auch in der ostentativen Frömmigkeit, mit der die Kreml-Elite neuerdings bei hohen Kirchenfesten, so wie einst die politische Klasse des Zarenreiches, den orthodoxen Ritus zelebriert. Inzwischen beherrscht sie dieses Ritual jedenfalls sicherer als seinerzeit Boris Jelzin, dem es noch schwerfiel, Ostern und Weihnachten auseinanderzuhalten. Mehr als alle anderen Politiker seiner Generation steht für diesen Wandel im postsowjetischen Russland Wladimir Putin. Nachdem er 1996 seine Töchter aus der brennenden Familiendatscha gerettet hatte, fand man in den verkohlten Trümmern das unversehrte Kreuz seiner gläubigen Mutter, das Putin seither auf seiner vielleicht auch deshalb so gerne öffentlich entblößten Brust trägt. Putins Erweckungserlebnis soll George W. Bush, seinen früheren politischen Gegner und religiösen Bruder im Geiste, tief bewegt haben. Es hätte auch Dostojewskij bewegt, denn das Damaskus-Erlebnis der inneren Umkehr ist das Schlüsselmotiv seiner literarischen Helden und seines eigenen Lebens.
Es hat lange gedauert, bis Dostojewskij ins öffentliche Leben Russlands zurückgekehrt ist. Lenin hielt ihn für einen lausigen Schriftsteller («Für so einen Mist habe ich einfach keine Zeit»[1]). Die Bolschewiki haben Dostojewskij ins Ausland oder in den Untergrund vertrieben und an seinem Werk einzig das «humanistische Pathos», sein Mitleid mit den «Erniedrigten und Beleidigten» des russischen Großstadtproletariats gelten lassen, also nur den frühen Dostojewskij. Sein religiöser Eifer war ihnen genauso verdächtig wie seine Fortschrittsskepsis und sein Hass auf Juden und Sozialisten. Nicht zuletzt irritierte sie das komplizierte Seelenleben seiner literarischen Figuren, das sich so wenig mit der Geradlinigkeit, dem Kämpfertum und dem Optimismus des von der Revolution erhofften neuen Menschen vertrug. Maxim Gorkij war fasziniert von Dostojewskijs «bösem Genie» und zugleich abgestoßen von der Psychologie und Amoral des «Karamasowtums».
Während man sich gleichwohl in der Sowjetunion der 1920er Jahre wissenschaftlich noch intensiv mit Dostojewskijs Werk beschäftigen konnte und herausragende Leistungen wie die großen Dostojewskij-Studien Leonid Grossmans, Arkadij Dolinins und Michail Bachtins möglich waren, wurde er in den stalinistischen 1930er bis 1950er Jahren zur Persona non grata. Dafür erkor sich die russische Emigrantenszene in Berlin, Prag und Paris Dostojewskij zum Schutzheiligen. Je nach ideologischem Standpunkt machte sie ihn entweder zum Propheten der Revolution oder zum Vorläufer des modernen Existentialismus. Dass drei der bedeutendsten russischen Exilanten des 20. Jahrhunderts, Lew Schestow, Iwan Bunin und Vladimir Nabokov, ein eher distanzierteres Verhältnis zu ihm hatten, tat dem Dostojewskij-Kult der russischen Emigration keinen Abbruch.
Im politischen Tauwetter der Chruschtschow-Ära konnte Ende der 1950er Jahre eine zehnbändige Gesamtausgabe der literarischen Werke Dostojewskijs erscheinen. 1959 wurde nach jahrzehntelanger Unterbrechung des Projekts der letzte Band einer schon in den 1920er Jahren begonnenen Edition der Briefe vorgelegt. In ein neues Stadium trat die russische Dostojewskij-Rezeption mit einer zwischen 1972 und 1990 erschienenen 30-bändigen Gesamtausgabe der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Obwohl in 200.000 Exemplaren aufgelegt, waren die belletristischen Bände dieser Ausgabe, also die Romane und Erzählungen, so rasch vergriffen wie sonst nur verbotene Literatur. Bis hinein in die Zeit der Perestrojka hatte Dostojewskij in Russland den Ruch des Subversiven und ebendeshalb des Exotischen und Interessanten.
Inzwischen gilt in der Forschung auch die mit beträchtlichem wissenschaftlichen Aufwand erstellte 30-bändige Werkausgabe als dringend revisionsbedürftig, da ihre Kommentare über weite Strecken noch den Geist der Sowjetunion atmen. Seit Mitte der 1990er Jahre arbeitet ein Team der Universität von Petrosawodsk unter Leitung von Wladimir Sacharow an einer neuen kritischen Gesamtausgabe, die bisher unveröffentlichtes Textmaterial und neue, entsowjetisierte Kommentare enthält, aber auch Orthographie und Interpunktion der Texte originalgetreu rekonstruiert. Letzteres hält Sacharow schon deshalb für angezeigt, weil in der 30-bändigen Ausgabe gemäß sowjetischer Orthographie «Gott» klein-, «Satan» dagegen großgeschrieben wird.[2] Dass Professor Sacharow, der das Neue Testament zur Erschließung von Dostojewskijs Texten wichtiger findet als alle Sekundärliteratur,[3] für seine editorischen Verdienste den vom Moskauer Patriarchat gestifteten Orden des heiligen Sergej von Radonesch bekam, mit dem auch Politiker wie Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko geehrt wurden, unterstreicht einmal mehr den engen Zusammenhang zwischen dem Wiedererstarken der russisch-orthodoxen Kirche, dem neuen nationalen Diskurs und der Dostojewskij-Renaissance in postsowjetischer Zeit.
Mit dem Ende der Sowjetunion im Jahre 1991, der Abrechnung Russlands mit seiner sozialistischen Vergangenheit und der Aufarbeitung verschütteter Traditionszusammenhänge ist der subversive Reiz Dostojewskijs verflogen. Inzwischen ist er als Klassiker im Zentrum nicht nur Moskaus, sondern auch des russischen Literaturkanons angekommen. In den Lehrplänen von Schulen und Universitäten steht er heute mindestens gleichrangig neben den vier anderen Großen der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts: Puschkin, Gogol, Tolstoj und Tschechow. Klassiker aber sind Stolpersteine der Avantgarde. Der neue Dostojewskij-Kult provoziert gerade jüngere Künstler und Intellektuelle zu Gesten der Abstandnahme. So haben Studenten der leicht gequält dasitzenden Dostojewskij-Skulptur vor der Russischen Staatsbibliothek den Spott-Titel «Sprechstunde beim Proktologen» verpasst. Dem Autor Wladimir Sorokin dient in seinem Theaterstück «Dostojewskij-Trip» von 1999 der Roman «Der Idiot» als Vorlage für ein Spiel verbaler Obszönitäten und körperlicher Grausamkeiten, das Dostojewskijs «Idee des schönen Menschen» grotesk verzerrt. Und die Ausstellung «Achtung, Religion!» von 2003 im Moskauer Sacharow-Zentrum zeigte ein Triptychon, auf dem Dostojewskij als unheilige Dreifaltigkeit ins Bild gebracht wird: links als engelgleich geflügeltes Wesen, in der Mitte mit einer aufgerichteten Axt in den gefalteten Händen, rechts einen Vogelbauer umfangend. Über dem Triptychon schwebte ein echter Vogelkäfig, in dem sich statt eines Singvogels eine Dostojewskij-Büste befand, vermutlich eine Anspielung auf das Symbol des gefangenen Adlers in Dostojewskijs «Aufzeichnungen aus einem Totenhaus». Wie es scheint, hat sich Walerij Schetschkin, der Schöpfer dieser Installation, Sigmund Freuds Urteil zu eigen gemacht: «Dostojewskij hat es versäumt, ein Lehrer und Befreier der Menschen zu werden, er hat sich zu ihren Kerkermeistern gesellt.»[4] Kurz nach der Vernissage wurde die Ausstellung von ultrarechten Aktivisten gestürmt, die mit dem Schlachtruf «Seid verdammt, Feinde der russischen Orthodoxie!» mehrere Objekte zerstörten und die Wände mit Hassparolen besprühten. Die Staatsduma gab den frommen Bilderstürmern recht und kritisierte die Ausstellung wegen Herabsetzung religiöser Gefühle und Beleidigung der russisch-orthodoxen Kirche.
Auf einer Anhöhe im Ural macht der Vierspänner vor einem kleinen Obelisk mit zwei schwarzen Richtungspfeilen Halt. «Asien» steht in weißer Schrift auf dem einen, «Europa» auf dem anderen. Diesen Punkt hat der Passagier vor einem Jahrzehnt schon einmal passiert: damals, als Kettensträfling, bei Schneesturm und klirrendem Frost in entgegengesetzter Richtung. Jetzt, an einem Spätsommertag des Jahres 1859, ist er ein freier Mann, der dem anderen Pfeil der Grenzmarkierung folgen wird: «Europa». Nein, Russland! Hinter ihm liegt der lange Weg von Semipalatinsk nach Ekaterinburg, Hunderte Kilometer kasachische Steppe, Hitze, Staub, Wind. Hinter ihm liegen vier Jahre Zuchthaus und fünfeinhalb Jahre Dienst als gemeiner Soldat im 7. Sibirischen Linienbataillon. Hinter ihm liegt, schon in weiter Ferne, sein literarischer Ruhm. Hinter ihm liegt seine Jugend. In wenigen Monaten wird sich, mit Gottes Hilfe, sein achtunddreißigstes Lebensjahr vollenden. Mit vierzig ist man schon fast ein alter Mann. Es ist fünf Uhr nachmittags. Noch steht die Sonne hoch am Himmel. Hier aber im Wald ist es schattig und kühl. Es riecht nach Harz und feuchter Erde, nach Pilzen und Erdbeeren. Es riecht nach Russland. «Wir verließen», schreibt er später, «den Reisewagen, und ich bekreuzigte mich, weil der Herr mich endlich das gelobte Land hatte sehen lassen.» (23.10.1858)
Das metaphorische Wort «Lebenslauf» verdankt sich dem Urbild des Weges. Die wichtigsten Stationen dieses Weges passiert man nach einem Fahrplan, den die Kultur dem Menschen vorgibt. Jede Etappe steht – idealerweise – für einen bestimmten Zugewinn an Wert oder wenigstens doch an Erfahrung. Was den Wert eines Menschen ausmacht, lässt sich letztlich erst würdigen, wenn seine Lebensreise beendet ist. Daher die Verwandtschaft von Curriculum Vitae und Nachruf. Dem alten Russland war der Glauben an die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen aus eigener Kraft und ausweislich überzeugender Kraftproben fremd. Den wahren Wert eines Menschen würde erst das Jüngste Gericht erweisen. Das irdische Leben war nur Vorbereitung aufs himmlische und der Tod nicht das Ende, sondern ein Durchgangspunkt auf dem Weg zum ewigen Leben.
Wie viele andere Gewissheiten geriet im Russland des 18. Jahrhunderts auch diese ins Wanken. Peter der Große unterwarf die russisch-orthodoxe Kirche rigoros den Interessen seines Staates und führte im Sinne des vom ihm als Staatsräson propagierten «Gemeinwohls» 1722 die sogenannte Rangtabelle ein. Damit schuf er eine Laufbahnordnung, die bis zur Oktoberrevolution gültig blieb. Die Tabelle umfasste vierzehn Dienstgrade, beginnend beim Kollegienregistrator und aufsteigend bis zum Wirklichen Geheimen Staatsrat Erster Klasse. Peters Ziel war es, den russischen Adel als Elite des Reiches statt wie bisher durch Geblüt und Stammbaum künftig durch Fähigkeit und Leistung zu legitimieren. Zugleich schuf die Rangtabelle die Voraussetzung für die Beschleunigung von Lebensläufen. Zumindest in den politisch-kulturellen Zentren des Reiches war der Traum vom persönlichen Glück fortan eng mit dem zügigen Voranschreiten innerhalb eines Lebensmusters, der Karriereleiter, verbunden, das es in Russland so bisher nicht gegeben hatte.
Das Wort «carrière» bürgert sich im Russischen rasch ein und verselbständigt sich. Im 19. Jahrhundert kann man auch außerhalb des Staatsdienstes «karjera» machen, oft sogar sehr viel schneller. Dies ist bei allen Risiken der Vorteil der sogenannten freien Berufe: des Kaufmanns wie des Börsenhändlers, des Architekten wie des Anwalts, des Arztes wie des Erfinders, des Pianisten wie des Schauspielers und, nicht zuletzt, des Schriftstellers. Literat zu sein «ist zwar kein Staatsdienst, aber trotzdem eine Karriere», lässt Dostojewskij in den «Erniedrigten und Beleidigten» den naiven Gutsverwalter Ichmenjew zum Dichter Iwan Petrowitsch sagen, einem fiktiven Doppelgänger des Autors. «Selbst hohe Persönlichkeiten werden das lesen.»
Auch Dostojewskij hatte von einer literarischen Karriere geträumt, und er träumt noch immer von ihr. Jetzt, im Spätsommer des Jahres 1859, sogar mehr denn je. Zugleich hat er Zweifel an dieser Lebensform, zu deren dunkler Seite jener Ich-Verlust durch gesellschaftlichen Anpassungsdruck gehört, dem sich die literarischen Helden Stendhals und Balzacs ebenso ausgesetzt sehen wie Herr Goldjadkin, der Held von Dostojewskijs Erzählung «Der Doppelgänger». Zudem verbindet sich mit dem Begriff Karriere nicht nur die Vorstellung von kometenhaftem Erfolg, sondern auch ein typisch westliches Lebensideal: ein faustischer Erkenntnis-, Erlebnis-, Erfolgstrieb, ein Drang zum Titanischen, wie ihn vor allem Napoleon verkörpert: «Et toute ma politique c’est le succès!» (Und meine ganze Politik ist der Erfolg!) Napoleon, der sich vom kleinen korsischen Leutnant zum Herrscher Europas emporgeschwungen hat, ist ein ständiger Begleiter der russischen Intelligenzija des 19. Jahrhunderts, so auch Raskolnikows in «Schuld und Sühne». Mit ihm vergleicht, an ihm misst sich Dostojewskijs Held. Hätte sich Napoleon dazu erniedrigt, unter das Bett einer Wucherin zu kriechen, wie er, Raskolnikow, es tat, um nach Geld und Wertsachen zu suchen? Niemals! Als Ausnahmemensch und neuer Lykurg beanspruchte Napoleon, geltendes Recht zu brechen und neues zu setzen. Darin will ihm Raskolnikow folgen. Die 3000 Rubel, die er bei der alten Wucherin zu finden hofft, sollen ihm «die ersten Schritte seiner Karriere» ermöglichen, von der er sich die Erlösung der Menschheit verspricht.
Aus Raskolnikows Karriere wird jedoch das Gegenteil. Sie wird zum «Leidensweg», so wie sich auch Dostojewskijs in den 1840er Jahren begonnene Karriere in einen Leidensweg verwandelt hat. Karriere ist Fortschritt ohne Transzendenz. Dagegen bedeutet das Muster des Leidensweges ein Leben in der Nachfolge Christi. Als Lohn dafür winken Auferstehung und ewiges Leben. Was war sein, Dostojewskijs, Abstieg in die Hölle des «Totenhauses», sein Wandel vom europäisch gebildeten Intellektuellen zum einfachen Sträfling, seine Begegnung mit den Niedrigsten der Niedrigen – was war dies anderes als ein Leben in der Nachfolge Christi? Gewiss, er hatte Zuchthaus und Verbannung nicht freiwillig gewählt, so wie der Menschensohn den Tod am Kreuz. Doch hatte er sein Schicksal nicht ebenso demütig angenommen wie Jesus Christus den Spruch des Synedrions? Hatte er sein Schicksal damit nicht zum Objekt seines eigenen Willens gemacht? Und war er nicht deshalb jener Auferstehung teilhaftig geworden, über die in den «Aufzeichnungen aus einem Totenhaus» sein Alter Ego nach verbüßter Haft frohlocken kann: «Freiheit, neues Leben, Auferstehung von den Toten … Was für ein herrlicher Augenblick!»?
Was aber bedeuten in einem diesseitigen, nichtmetaphysischen Sinne «Auferstehung» und «neues Leben»? Sind es Leitsterne einer neuen Lebensführung oder nur Metaphern, Worte? «Alle fünfeinhalb Stunden wird er ‹wiedergeboren›, ‹beginnt ein neues Leben›», ätzt Sir Galahad alias Bertha Eckstein-Diener, die unversöhnliche Dostojewskij-Gegnerin.[5] Bereits nach der Scheinhinrichtung auf dem Petersburger Semjonow-Platz im Dezember 1849 war Dostojewskij überzeugt, am Beginn eines neuen Lebens zu stehen: «Nun, da sich mein Leben verändert hat, werde ich auf neue Weise wiedergeboren.» Schon damals hatte er sich geläutert gesehen, so wie jetzt, nachdem er seine Strafe verbüßt hat, an der Grenze zwischen Europa und Asien. Die revolutionären Hirngespinste seiner Jugend, sie sind längst verflogen. Aus dem Sozialisten der Vierzigerjahre ist ein glühender Patriot und bekennender Verehrer des Zaren geworden. Eine «Metanoia», eine doppelte Umkehr also, sittlich und politisch.
Aber reicht das wirklich aus für ein neues Leben? Natürlich nicht, denn nur allzu bewusst ist ihm, dass «die Flamme seiner Begierde nach dem Himmlischen», wie es bei dem von ihm so geschätzten Thomas von Kempen heißt, «nicht rein ist vom Rauch der sinnlichen Neigung». Und er weiß auch und spürt mit jeder Faser seines Körpers, dass es unmöglich ist, sich der eigenen Natur zu widersetzen. Sein Leben so radikal umzustellen wie Lew Tolstoj, der die Feder mit dem Pflug vertauschen wird, um im härenen Bauerngewand seine Äcker zu bestellen – das ist Dostojewskijs Sache nicht. So verdächtig wie die Lebensform der Karriere, so ausgeprägt ist seine Skepsis gegenüber einem heiligmäßigen Leben, das die eigene Natur vergewaltigt. «Jagst du Natur zur Tür hinaus, kommt sie durchs Fenster in dein Haus», besagt ein russisches Sprichwort, das er in den «Brüdern Karamasow» zitiert und an anderer Stelle paraphrasiert: «Alles, was anormal, was gegen die Natur ist, rächt sich am Ende.»
Stärker als der Wunsch nach einem «neuen Leben» ist in ihm hier und jetzt, an der Schwelle zweier Kontinente und zweier Epochen seines Lebens, der Durst nach Leben überhaupt. Hinter ihm liegen fünf Jahre Festungshaft und Zuchthaus, Hunger, Krankheit, Demütigungen, Abgründe des menschlichen Seins. Hinter ihm liegen weitere sechs bleierne Jahre in einer russischen Provinzstadt am Ende der Welt. Hinter ihm liegt ein elfjähriger Leidensweg. Genug der Leiden, zurück ins Leben! Auch dort gibt es Grenzen, zu denen er noch nicht vorgestoßen ist. Denn dies vor allem scheint sein Schicksal zu sein: «Immer und in allem gehe ich bis an die äußerste Grenze, mein ganzes Leben lang habe ich diese Linie überschritten.» Der Ural ist keine äußerste Grenze. Eine äußerste Grenze war das Totenhaus. Erst heute hat es ihn wirklich entlassen.
Zur Feier des Abschieds von Asien genehmigen sich die Reisenden einen Schluck Pomeranzenschnaps der Marke «Striedter» aus Dostojewskijs Reisetasche. Sie vertreten sich die Beine und wechseln ein paar Worte mit dem Grenzwächter, einem Kriegsveteran, der aus seiner Hütte herübergehumpelt ist, um mit ihnen anzustoßen. Danach schwärmt man aus, um im Wald Erdbeeren zu pflücken. An solche fast vergessenen Köstlichkeiten war in der kasachischen Steppe nicht zu denken gewesen. Dann geht die Fahrt weiter. Die nächste Station wird Kasan an der mittleren Wolga sein, dann folgt Twer, dann Moskau und schließlich, fast auf den Tag genau zehn Jahre nachdem Dostojewskij es verlassen hat: Sankt Petersburg, die Hauptstadt des Russischen Reiches.
1
Kinder spielen eine Schlüsselrolle in Dostojewskijs Werk, doch über seine eigene Kindheit schweigt er beharrlich. Überhaupt gibt er wenig von sich preis. Tolstoj war besessen von der Idee, vor sich selbst, vor anderen, möglichst vor der ganzen Welt Rechenschaft über sich abzulegen. Seine Tagebücher füllen Bände. Dostojewskij wäre nie auf die Idee gekommen, ein persönliches Tagebuch zu führen. Im Gegensatz zu vielen seiner Helden waren ihm Selbstentblößungen zuwider. Auch das Briefeschreiben, außer mit engsten Vertrauten, lag ihm nicht sonderlich. Sollte er dereinst in die Hölle kommen, scherzte er einmal, so werde ihm vermutlich als Buße für seine Sünden das Schreiben von zehn Briefen täglich auferlegt.
Das meiste, was wir von Dostojewskijs Kindheit wissen, verdanken wir den Erinnerungen seines jüngeren Bruders Andrej. Auch für seine Herkunft hat sich Fjodor Michajlowitsch nicht sonderlich interessiert. Erst seine Witwe, Anna Grigorjewna, hat sich eingehender mit dem Stammbaum ihres Mannes befasst. Ihr zufolge geht die väterliche Linie der Dostojewskijs auf ein Bojarengeschlecht zurück, das zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit dem Dorf Dostojewo belehnt wurde, im damaligen Großfürstentum Litauen nahe der Stadt Brest gelegen. Schon die folgende Generation machte den Orts- zum Familiennamen. Seitdem gibt es das Geschlecht der Dostojewskijs. Im 16. Jahrhundert tritt ein «Herr Fjodor Dostojewskij» im Gefolge des Fürsten Andrej Kurbskij auf. Ehedem engster Waffengefährte Iwans IV. («des Schrecklichen»), hatte sich Kurbskij zum erbitterten Gegner des Zaren gewandelt und war 1564 nach Litauen geflohen, wo ihm besagter Fjodor Dostojewskij als juristischer Ratgeber diente. Im 17. Jahrhundert verliert sich die Spur der litauischen Dostojewskijs. Erst gegen Mitte des 18. Jahrhunderts tauchen sie in der damals zu Polen gehörigen nordwestlichen Ukraine wieder auf. Genealogisch genauer greifbar werden sie mit der Person Andrej Grigorjewitsch Dostojewskijs, dem vermutlich 1756 geborenen Großvater des Schriftstellers.
1782 zum Priester der Unierten Kirche geweiht, konvertiert Andrej Dostojewskij, dessen Heimatdorf Bojtowzy nach der Zweiten polnischen Teilung (1793) an Russland fällt, zur russisch-orthodoxen Kirche. Auch für seinen um 1785 geborenen ältesten Sohn Michail sieht Andrej Grigorjewitsch die Priesterlaufbahn vor. Der aber wechselt 1809 vom Priesterseminar im ukrainischen Schargorod-Nikolajew zur Kaiserlichen Chirurgischen Akademie in Moskau, in der Militärärzte ausgebildet wurden. Der Abschluss dieser Fachhochschule bot für einen ehrgeizigen jungen Mann wie Michail Dostojewskij deutlich bessere Berufsperspektiven als die Stelle eines Dorfpopen. Als Napoleon im August 1812 Smolensk erobert und die militärische Front der alten Hauptstadt bedrohlich nahe rückt, wird die Akademie ins östliche Hinterland evakuiert. Bei der Schlacht von Borodino im September 1812, die auf russischer Seite eine bisher nie gesehene Zahl von Toten und Verletzten fordert, und bei der Bekämpfung der Typhusepidemie, die nach der Schlacht wegen der vielen unbestatteten Leichen ausbricht, werden Dozenten wie Studenten der Akademie als Ärzte und Sanitäter eingesetzt. Erst nach dem Abzug der Grande Armée kann Michail Dostojewskij seine medizinische Ausbildung fortsetzen. 1813 wird er als Regimentsarzt beim Borodino-Infanterieregiment eingestellt, 1818 folgt seine Ernennung zum Stabsarzt am Moskauer Militärhospital zu Lefortowo, ein Jahr später an gleicher Stelle die Beförderung zum Oberarzt zweiter Klasse mit einem Jahresgehalt von 600 Rubel.
Die Eltern des Schriftstellers: Michail A. Dostojewskij und Maria F. Dostojewskaja
1820 heiratet Michail Dostojewskij, nunmehr einunddreißig Jahre alt, in der Kapelle des Militärhospitals die zehn Jahre jüngere Maria Fjodorowna Netschajewa, deren Vater Fjodor Timofejewitsch Netschajew einem Kaufmannsgeschlecht aus der Stadt Kaluga entstammte; sein florierendes Tuchgeschäft war 1812 durch den großen Brand von Moskau ruiniert worden. Marias Mutter, Warwara Michajlowna Kotelnizkaja, war die Tochter eines Geistlichen, der die berühmte Slawisch-Griechisch-Lateinische Akademie zu Moskau absolviert hatte, bis zur Gründung der Universität Moskau im Jahre 1755 Russlands erste Bildungsadresse. Als Korrektor der Synodal-Druckerei verkehrte er mit der Creme der Moskauer Intelligenzija. Sein Sohn Wassilij, Marias Onkel, war Ordinarius, zeitweilig auch Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Moskau, ein Spezialist für die Geschichte der Medizin, aber gleichermaßen bewandert in allgemeiner Geschichte. Als Staatsrat war Wassilij Kotelnizkij, der stets Uniform und einen Dreispitz mit Plumage trug und sich nur in einer Equipage durch Moskau bewegte, eine Zelebrität, auf die man in der Familie Dostojewskij stolz war. Das kinderlose Ehepaar Kotelnizkij besuchte die Dostojewskijs alle zwei Monate zum Tee und lud die drei älteren Dostojewskij-Buben regelmäßig zu Ostern in sein kleines Holzhaus am Smolensker Platz ein. Dort versammelten sich auch am Neujahrstag, der mit Wassilij Kotelnizkijs Namenstag zusammenfiel, die Dozenten und Studenten der Medizinischen Fakultät.
Repräsentieren die Kotelnizkijs mütterlicherseits den akademischen Zweig der Familie, so wird deren kaufmännische Linie fortgesetzt von Maria Fjodorownas älterer Schwester Alexandra, die so etwas wie die gute Fee der Familie Dostojewskij werden sollte. 1814 heiratet Alexandra den reichen Moskauer Geschäftsmann Alexander Kumanin, dessen Vater ein bis nach China reichendes Handelsimperium begründet hatte. Da die Ehe kinderlos bleibt, übernimmt Alexandra Kumanina die Taufpatenschaft für alle sieben Kinder ihrer Schwester Maria Dostojewskaja. Das herrschaftliche Palais der Kumanins im südlich des Kreml gelegenen Kaufmannsviertel Samoskworetschije sollte nach Michail Dostojewskijs Tod zum zweiten Elternhaus seiner verwaisten kleineren Kinder werden. Auch sonst springen die Kumanins immer wieder ein, wenn sich die Dostojewskijs in Geldnot befinden. Trotzdem spielen Kaufleute in den Romanen des künftigen Schriftstellers Dostojewskij als ungebildete, geldgierige und bigotte Pfeffersäcke fast durchweg eine negative Rolle.
Am 13. Oktober 1820[1] bringt Maria Dostojewskaja ihr erstes Kind zur Welt, einen Knaben, der auf den Namen des Vaters getauft wird: Michail Michajlowitsch. Wenig später quittiert ihr Ehemann den Militärdienst, um im Frühjahr 1821 eine Stelle im Moskauer Marienspital zu übernehmen. Dort wird am 30. Oktober 1821 Fjodor Michajlowitsch geboren. Das Marienspital hat seinen Namen vom nahen Marienhain, der in der russischen Literatur oft besungen wurde. Wassilij Schukowskij, einer der bedeutendsten Vertreter der russischen Frühromantik, hat ihm 1809 eine populäre Novelle gewidmet, die das Wäldchen als ein mit Lindenduft und Nachtigallenschlag gesättigtes Idyll beschreibt. In Wirklichkeit war der Marienhain alles andere als ein bukolischer Ort. Am nördlichen Moskauer Stadtrand, eigentlich schon jenseits der Stadtgrenze nahe dem Lazarus-Friedhof gelegen, auf dem lange Zeit Verbrecher und Selbstmörder bestattet wurden, entwickelte das Wäldchen sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zu einem Moskauer Naherholungsort, wo sich an Fest- und Feiertagen das einfache Volk verlustierte, wo gezecht, gesungen, gerauft wurde und fahrende Puppenspieler, Moritatensänger und Bärenführer auftraten. Näher an der Wirklichkeit als Schukowskij liegt wohl der Schriftsteller Michail Sagoskin, der den Marienhain als einen Ort «wilder Lustbarkeiten und Zechgelage» beschreibt, «der umgeben ist von Friedhöfen. Im Marienhain kocht das Leben und gemahnt zugleich alles an den Tod. Hier erklingt zwischen alten Grabstätten der ausgelassene Chor von Zigeunerinnen, dort stehen auf einer Grabplatte Samowar und Rumflaschen und veranstalten russische Kaufleute ein Zechgelage.»[2]
Vorgänger des Marienspitals war ein im 17. Jahrhundert gegründetes Kranken- und Sterbeasyl für Arme, das während der großen Pest von 1771 geschlossen wurde. 1804 legte man hier auf Betreiben der aus Deutschland stammenden Zarenmutter Maria Fjodorowna den Grundstein für ein Krankenhaus, das der armen Bevölkerung Moskaus kostenlos Heilung und Pflege nach modernsten medizinischen Standards bieten sollte. 1806 fand die feierliche Eröffnung des von Giovanni Gilardi im klassizistischen Stil errichteten, palastähnlichen, mit Portikus, Ehrenhof und eigener Kapelle ausgestatteten Monumentalbaus statt. Als einem der wenigen Russen des von einem Deutschen geleiteten Ärzteteams wird hier im März 1821 auch Doktor Dostojewskij eine Dienstwohnung zugewiesen. Im Marienspital wird sein Zweitgeborener Fjodor die prägenden Jahre seiner Kindheit verbringen.
Das Moskauer Marienspital mit dem Dostojewskij-Denkmal von S. D. Merkurow (1911–1913)
In der kleinen Parterrewohnung befindet sich seit 1928 das Moskauer Dostojewskij-Museum, das mit Möbeln und Einrichtungselementen des frühen 19. Jahrhunderts den biedermeierlichen Originalcharakter der Wohnung liebevoll zu rekonstruieren sucht. Die Räume wirken heute repräsentativer, als sie ursprünglich waren. Andrej Dostojewskij, der jüngere Bruder des Autors, beschreibt das elterliche Zuhause in seinen «Erinnerungen» folgendermaßen:
Verglichen mit heutigen Dienstwohnungen fällt auf, dass solche Einrichtungen früher wesentlich bescheidener waren. Tatsächlich bezog unser Vater, der damals eine vier- bis fünfköpfige Familie und den Dienstgrad eines Stabsoffiziers hatte, eine Wohnung, die außer Küche und Vorraum eigentlich nur aus zwei richtigen Zimmern bestand. Im Eingangsbereich befand sich ein Korridor mit einem Fenster (zum Vorderhof). Im hinteren Teil dieses recht langen Korridors lag, abgetrennt durch eine nicht ganz bis zur Decke reichende Bretterwand, das nahezu finstere Kinderzimmer. Dann schloss sich der Saal an, ein ziemlich großer Raum mit zwei zur Straße und drei zum Vorderhof gehenden Fenstern. Dann kam das Wohnzimmer mit zwei Fenstern zur Straße, von dem ebenfalls mittels einer Bretterwand ein halbdunkler Verschlag als Schlafraum der Eltern abgetrennt war. Das war die ganze Wohnung![3]
Die Wohnsituation wird noch prekärer, als den Söhnen Michail und Fjodor fünf weitere Kinder folgten: 1822 Warwara, 1825 Andrej, 1829 Wera, 1831 Nikolaj und 1836 Alexandra. So dürftig wie ihr Zuschnitt war die Einrichtung der Wohnung. Die Wände waren mit einfacher Leimfarbe gestrichen. Kleidung, Wäsche und Utensilien wurden in Truhen und Kisten verstaut, auf denen zum Teil auch geschlafen wurde. Schränke und Tapeten gab es nicht. Die Amme und das Kindermädchen nächtigten in einem fensterlosen Verschlag, der vom elterlichen Schlafraum abgeteilt war, die Babys in Wiegen neben den Eltern. Der Diwan im Wohnzimmer wurde nachts zum Bett für die älteren Töchter. Die einzigen Luxusgegenstände der Wohnung waren eine Chiffonnière, ein Bücherregal und zwei L’Hombre-Tische, an denen die Kinder unterrichtet wurden und ihre Schulaufgaben machten.
Die Enge dieser Behausung, besonders das fensterlose Gelass der beiden älteren Brüder, hat Spuren in Dostojewskijs Werk hinterlassen. Makar Dewuschkin, Held des Debütromans «Arme Leute», haust in einer winzigen, weder gegen Blicke noch gegen Geräusche und Gerüche geschützten Kammer direkt neben der Küche seiner Wirtin. Raskolnikow in «Schuld und Sühne» bewohnt einen winzigen Verschlag, «der mehr einem Schrank oder einer Truhe» gleicht. Und in den «Dämonen» erhängt sich Stawrogin, der reiche Besitzer eines Stadtpalais, zuletzt in einer winzigen Mansarde. Unüberbietbar gesteigert wird die Enge dieser sargähnlichen Räume in Holbeins Gemälde des toten Christus, das in Dostojewskijs imaginärem Museum (s. unten S. 287) einen zentralen Platz einnimmt.
Für einen Stabsarzt, der seit 1832 den Rang eines Hofrats hatte und damit dem Erbadel angehörte, war die Wohnung im Moskauer Marienspital mehr als bescheiden. Vielleicht spielt deshalb weder in Dostojewskijs Briefen noch in seinen literarischen Texten das Elternhaus als Heim und Schutzraum eine so prägende Rolle wie in den Werken von Lew Tolstoj, Sergej Aksakow oder Iwan Gontscharow. Neben Enge gehört Armut zu Dostojewskijs prägenden Kindheitserfahrungen. Sein Vater wird nicht müde, sich als armen Schlucker zu bezeichnen und den Söhnen zu prophezeien, dass sie nach seinem Tod am Bettelstab gehen würden. Das hindert ihn nicht daran, sich bei Patientenbesuchen, die ihm teilweise stattliche Honorare einbringen, den Luxus einer Kalesche und eines Dieners in Livree zu leisten. Zudem erwirbt er zu Beginn der 1830er Jahre für 12.000 Silberrubel die etwa 150 Kilometer südöstlich von Moskau im Gouvernement Tula gelegenen Dörfer Darowoje und Tscheremoschnja, wo die Familie die Sommermonate verbringt. Wirtschaftlich betrachtet ist dieses Projekt ein Fehlschlag. Für den Kauf von Tscheremoschnja muss der Arzt eine Hypothek auf das zuvor erworbene Darowoje aufnehmen. Zudem werfen die Ländereien wenig ab. Wegen wiederholter Dürreperioden in den 1830er Jahren mindern sich die Ernteerträge zusätzlich. Ein Jahr nach dem Kauf brennen das Dorf Darowoje und das kleine Gutshaus der Dostojewskijs fast vollständig nieder. Hinzu kommt ein längerer Flurstreit mit einem benachbarten Gutsbesitzer.
Der Nutzwert des bald wieder mit einem bescheidenen Wohnhaus ausgestatteten Landsitzes scheint vor allem darin bestanden zu haben, dass die wachsende Familie hier vom Frühjahr bis zum Herbst mehr Platz hatte als daheim in Moskau. Davon profitieren vor allem die Kinder, denen in Moskau das Spielen im nahen Marienhain untersagt ist, während sie in Darowoje die freie Natur für sich haben. Die Sommerferien auf dem Lande waren vermutlich die einzige wirklich unbeschwerte Zeit in Dostojewskijs Kindheit, da der Vater beruflich in Moskau festgehalten war und sich deshalb nur selten auf seinem Landsitz blicken ließ. In Darowoje ist die Mutter, die sich trotz ihrer städtischen Herkunft bald zur geschickten Landwirtin wandelt, Oberhaupt der Familie, und ihr Regime ist liberaler als das des Vaters. Hier können sich die drei älteren Jungen Michail, Fjodor und Andrej nach Herzenslust austoben, Teiche anlegen, Hütten bauen, im Freien übernachten und im Wald Indianer oder Robinson Crusoe spielen.
Ganz anders der Erziehungsstil des Vaters. Kinder sind für ihn kleine Erwachsene. Karten-, Brett- und Ballspiele sind ihnen verboten. Im Park des Armenspitals, dem einzigen Ort, an dem sie sich außerhalb des Hauses aufhalten dürfen, ist ihnen jedes Gespräch mit den Patienten, die dort in braunen Kitteln und weißen Papiermützen umhergehen, streng untersagt. Statt zu spielen, «spazierten wir artig mit unserer Kinderfrau Aljona Frolowna oder saßen auf einer Bank und verbrachten so Stunde um Stunde».[4] Noch im Alter von siebzehn Jahren dürfen Michail und Fjodor nicht allein ausgehen; der Vater hält dies für unschicklich.