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4
Es war still an diesem Morgen. So still, dass man den Atem, der aus dem Dickicht des Waldes erklang, über den Jarun hören konnte.
Antonio Ravec lag auf dem feuchten Boden, gestern hatte es stark geschneit, und an Tagen wie diesen verfluchte er seinen verdammten Job. Aber seine neue Klientin hatte mit einem dicken Bündel voller Scheine vor ihm herumgewedelt, da konnte er einfach nicht Nein sagen.
Und nun lag er da, in dunkler Kleidung. Nass. Müde. Kurz vor dem Erfrieren. Neben ihm der kalte Jarun, genauer die Regattastrecke. Seit dem frühen Abend befand er sich in dieser Position. Regte sich nicht, um den Bewegungsmelder nicht auszulösen.
Die Klientin war bis achtzehn Uhr allein im Haus, danach war ihr Mann anwesend gewesen und Antonio hätte keine Chance mehr gehabt, unbemerkt in die Nähe des Hauses zu gelangen.
Gabrijela Vuk hatte vor wenigen Minuten das Anwesen verlassen. Sie hatte den vierundvierzigjährigen überzeugten Single mit der Observierung ihres Mannes beauftragt, und er musste diesen Auftrag ausführen, egal wie beschissen er war, schließlich hatte er verdammt viel Kohle dafür kassiert.
»Ich habe das Gefühl, da geht was nicht mit rechten Dingen zu«, hatte sie gesagt.
Antonio ging von einem Fremdgeher aus, wie in den meisten Fällen. Er fuhr das Fernglas an seine Augen und spähte durch das große Fenster ins Schlafzimmer. Perfekte Sicht. Die Zielperson schlüpfte gerade in dunkelblaue Stoffhosen, streifte sich ein weißes Hemd über und band sich anschließend eine Krawatte um. Schlurfte zum Stuhl, der vor dem Schminktisch stand, darüber thronte ein hochgezogener Spiegel. Ein dunkelblaues Sakko hing über der Lehne. Die Zielperson langte in die Innentasche und zückte eine Pistole, Kaliber neun Millimeter.
»Na, jetzt wird’s interessant«, flüsterte Antonio. »Was, zum Teufel, willst du als Restaurantbesitzer mit einer Pistole?«
Milan Vuk, die Zielperson, so hatte er recherchiert, ein stattlicher Mittfünfziger, war der Besitzer des Milan, ein angesagtes Szenenrestaurant. Er war ein in der High Society landesweit bekannter Gastronom, der es als einstiges missbrauchtes Heimkind weit gebracht hatte.
Durch das Fernglas schaute Antonio ihm zu, wie er seine Frisur in Form brachte und das Zimmer verließ. Kurz darauf kam der Beobachtete aus dem Haus und folgte schnellen Schrittes dem Steg, der zu einem Boot führte.
Damit hatte Antonio gerechnet. Gut, dass er vorgesorgt hatte. Er schnellte hoch und eilte zum Ufer, wo er gestern Abend das kleine Hartschalenboot mit sechs Pferdestärken angelegt hatte. Er streifte sich die Fischerweste über und ließ den Motor laufen. In sicherem Abstand folgte er der Zielperson über den Jarun.
5
Inspektorica Severina Herman stand auf ihrem kleinen Balkon, auf dem nicht einmal ein Stuhl Platz hatte, und blickte über die Dächer der Unterstadt. Sie liebte es, am Morgen nach dem Joggen, bevor sie ins Präsidium fuhr, einen Pfefferminztee zu trinken und auf die rotgeziegelten Dächer Zagrebs zu schauen. Ein Blick gen diesigen Himmel verhieß nichts Gutes, da braute sich was zusammen. Die Baumkronen auf der linken Seite ihres Wohnblocks schaukelten sanft im Rhythmus des Windes.
Sie schlürfte ihren Tee fertig und trat in die Zwei-Zimmer-Wohnung. Typisch für Kroatien, zierten alte Holzdielen den Boden. Bei jedem Tritt knarrte es unter ihren Füssen. Manch einen würde dieses Geräusch stören, nicht so Herman, sie liebte es. Knarrende Böden gaben ihr stets ein heimeliges Gefühl.
Sie ging ins Bad und schälte sich aus den verschwitzten Laufklamotten.
Sie ließ ihren Kopf in den Nacken sinken, schloss die Augen und genoss das warme, wohltuende Wasser. Es rieselte sanft auf sie hinab und lief über ihr Gesicht und über ihre langen braunen Haare. Sie wusch den Schweiß von ihrem Körper. Es tat gut, am Morgen zu laufen. Täglich joggte sie ihre Hausstrecke von fünf Kilometern, danach konnte sie fit in den Tag starten.
Sie hoste bequeme Jeans und ein Shirt an. Tastete sich routiniert ab. In der linken Hosentasche steckte der kreditkartenförmige Kriminalpolizeiausweis, an der Hüfte das Holster, darin die Heckler und Koch, Hermans geliebte Neunmillimeter. Hinten auf der rechten Seite baumelten die Handschellen.
Sie trat in den Hausflur und zog hinter sich die Tür zu. Eilte die Treppe hinunter, setzte sich in ihren Wagen und tuckerte los Richtung Präsidium.
Inspektorica Herman saß im Einsatzwagen, neben ihr Komisar Bruno Petar, ihr langjähriger Partner. Ein schlanker Siebenundvierzigjähriger. Begeisterter und emsiger Leser von historischen Romanen und Liebhaber klassischer Musik. Im Wagen hinter ihnen warteten Irena und Luka auf weitere Befehle ihrer Chefin. Die Blondine war ein alter Hase bei der Polizei, für Luka war es erst der dritte Einsatz. Nervös nagte er auf seiner Unterlippe herum. Irena schaute ihn von der Seite an.
»Wird schon schief gehen.«
»Hoffen wir mal nicht«, erwiderte er seufzend.
Im vorderen Wagen griff die Einsatzleiterin nach dem Funkgerät.
»Laut unseres Informanten befinden sich rund drei Dutzend Päckchen im Hinterzimmer. Team Beta, bereit?«
»Team Beta bereit für Zugriff«, erklang Irenas Stimme.
»Aber sowas von«, ertönte ein rauchiger Ton, es war die eines Ermittlers in Zivil, der im Café gegenüber des Tattoostudios saß.
Inspektorica Herman atmete einmal durch und gab den Befehl für den Zugriff.
»Luka, Sie bleiben bei Ihrem Wagen und lassen niemanden mehr durch.«
Während sich die Polizisten positionierten, beobachtete Ivan Tuzler das Geschehen an seinem Monitor. In Windeseile stopfte er mehrere Bündel Euro- und Kunascheine in eine Tasche, die Drogenpäckchen in eine andere. Sein Handy schrillte. Doktor stand auf dem Display. Für jeden seiner Geschäftspartner hatte er einen Namen.
»Warum, zum Henker, hast du mich nicht gewarnt?«, fauchte er ins Smartphone.
»Ich war nicht allein. Das ganze Viertel wimmelt nur so von Bullen. Verschwinde aus dem Keller. Die Hintertür ist besetzt. Hörst du? Du musst durch den Keller raus.«
Ivan legte auf, er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Gut, dass er vor vier Monaten das Haus nebenan gekauft hatte. Ohne, dass es irgendjemandem aufgefallen war, hatte er von seinem Studio aus einen Tunnel zum Nachbarhaus gegraben. Und dieser war jetzt sein einziger Fluchtweg. Er stürmte die schmale steile Treppe hinunter, öffnete mit einem Code die Stahltür, die er zusätzlich hatte einbauen lassen, und rannte, wie von einer Tarantel gestochen, rüber ins leer stehende Haus.
Vorhänge baumelten hinter den Fenstern, damit es von außen bewohnt aussah. Er stürmte in die Küche und riss die Kühlschranktür auf, zog eine Tasche heraus und pfefferte die Tür zu. Er zückte einen Hut, den er aufsetzte, ein Sakko, das er sich überstreifte, und eine dicke Hornbrille, wie man sie in den Siebzigern getragen hatte. Er ging zur Haustür und schnappte sich den Gehstock, den er erst vor wenigen Tagen dort platziert hatte, aus der Tasche. Er wollte stets für alle Eventualitäten gewappnet sein.
Er trat hinaus.
Die Bullen hatten das Viertel weiträumig abgesperrt, sodass ihn keine Schaulustigen stören konnten. Es war verdammt kalt draußen. Der Wind pfiff ihm um die Ohren. Er vergrub seinen Hals in den Schultern.
Ein junger Polizist kam auf ihn zu.
»Gospodine. Mein Herr, bitte. Sie müssen zurück in Ihr Haus. Hier läuft eine polizeiliche Ermittlung. Es ist zu gefährlich hier draußen.«
Kaum hatte er das gesagt, gab es einen dumpfen Knall, und er sackte zusammen. Blut rann aus dem Hinterkopf des jungen Beamten.
Ohne sich umzusehen eilte Ivan, als alter Mann verkleidet, von dannen. Der Doktor hatte ihn gerettet. Er schritt in Richtung des Jaruns, wo der Koch auf ihn wartete.
Ein paar Straßen weiter rollte ein grauer Opel neben ihm her. Er hielt an. Ivan riss die Beifahrertür auf und ließ sich in den Sitz sinken.
Der Fahrer drückte das Gaspedal durch, und Ivan zog während des Fahrens die Tür zu.
Die Ermittler stellten das komplette Haus auf den Kopf.
»Und?«, begann Herman eine Konversation mit ihrem Partner, den sie über alles schätzte. »Warst du gestern noch aus?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich hatte mich kurzerhand umentschieden und es mir mit Elise und einer Flasche Bevanda auf dem heimischen Sofa gemütlich gemacht.«
»Elise? Von der hast du mir ja noch gar nichts erzählt.«
Er rollte mit den Augen und stieß einen Seufzer aus.
»Für Elise. Ich dachte mir schon, dass du das nicht kennst. Was Klassik angeht hast du dringend Nachhilfe nötig. Aber da rede ich ja schon seit Jahren an eine Wand. Beethoven ist dir hoffentlich ein Begriff. Und nein, das ist kein Brotaufstrich. Ich meine den Komponisten. Von ihm ist Für Elise.«
»Bruno … klassische Musik ist einfach nicht meins.«
»Stell dir doch mal vor, du lernst einen gutaussehenden Mann kennen«, holte Petar aus, während er den Müll unter die Lupe nahm, »und merkst, dass du mit ihm überhaupt keine Unterhaltung führen kannst.«
»Du gibst wohl nie auf, was? Mit einem solchen Typen werde ich mich nie unterhalten, da ich mich nicht in diesen Kreisen bewege.«
»Alles sauber«, warf Oto in den Raum.
»Er ist weg«, sagte Inspektorica Herman ernüchternd. »Verdammt nochmal! Wie, zum Teufel, konnte er uns so schnell entwischen? Hier muss es einen weiteren Fluchtweg geben. Ich frag mal Luka, vielleicht hat er was gesehen.« Sie zückte ihr Funkgerät, das mit in ihrer vorderen Hosentasche eingehakt war. »Luka, hier Inspektorica Herman. Der Verdächtige ist flüchtig. Ist Ihnen etwas aufgefallen?«
Stille.
»Luka?«
Stille.
»Luka, verdammt nochmal! Antworten Sie.«
Petar eilte los, sie hinterher. Und draußen sahen sie ihn. Luka. In einer Blutlache liegend. Sie verwarf ihre Hände über ihren Kopf.
»Ne!«, schrie sie.
Petar kniete sich zum Angeschossenen nieder und suchte nach einem Lebenszeichen.
Vergebens.
Herman schluckte ihre Tränen hinunter.
»Wir finden diesen Schweinehund«, schluchzte sie. »Ruf die Spusi.« Sie trat näher an den Leichnam heran.
Bruno stimmte mit einem Brummen zu.
»Wir haben den Fluchtweg gefunden«, rief Oto aus dem Studio.
Inspektorica Herman fuhr herum.
»Ich komme gleich.«
Dann wandte sie sich wieder ihrem Partner zu.
»Seine arme Mutter. Vergangenes Jahr starb ihr Mann im Dienst und jetzt auch noch ihr Sohn.«
»Scheiße.«
»Ja, Scheiße. Ich geh dann mal zurück. Und du rufst die Spusi.«
»Mach ich.«
Herman kehrte ins Tattoostudio zurück. Ihr Kollege zeigte ihr den Keller und den Tunnel.
»Dieser verfluchte Scheißkerl!«, entfuhr es ihr, und sie schlug mit der Hand gegen die Wand. »Der kann schon überall sein.«
»Wahrscheinlich flieht er über den Jarun«, meinte einer der Kollegen. »So würde ich jedenfalls fliehen.«
Die Ermittlerin zückte ihr Diensthandy und orderte ein Boot.
Antonio stellte den Motor ab und nahm die Ruder in die Hand. Er stoppte. Schnappte sich die Fotokamera und knipste ein paar Bilder von der anderen Seite des Sees, um nicht aufzufallen. Dann hielt er auf Milan Vuk drauf und fotografierte, wie dieser an einem Steg anhielt, jedoch nicht aus seinem Boot stieg. Dieser Typ schien auf jemanden zu warten.
Ein grauer Opel tuckerte an. Kam zum Stehen. Ein älterer Mann entstieg. Kaum hatte dieser die Beifahrertür zugeworfen, fuhr der Lenker davon.
Antonio knipste weiter. Er war neugierig, wusste aber auch, dass er in Gefahr war, denn hier ging es beileibe nicht ums Fremdgehen. Hier war was viel Größeres im Busch.
Inspektorica Herman raste zum Jarun, wo bereits das georderte Polizeiboot auf sie wartete.
»Guten Tag, Kollegen«, begrüßte sie zwei Männer, von denen der massigere ihr beim Erklimmen des Bootes half.
»Guten Tag, Inspektorica Herman.«
»Sie wissen, wen wir suchen?«
Die Kollegen nickten bestimmt.
»Danke«, sagte sie zu ihrem Helfer und wandte sich im selben Atemzug an den Steuermann. »Fahren Sie einfach mal herum, ich halte Ausschau nach unserem Flüchtigen. Verdammter Mist, der könnte schon über alle Berge sein.«
Sie schipperten über den Jarun, der stetig rauer wurde. Der Wind peitschte ihr mit schmerzlicher Kälte ins Gesicht. Die Ermittlerin wippte hin und her, sie musste sich festhalten, um nicht von den Wellen zu Boden gerissen zu werden.
Den gesuchten Ivan Tuzler fanden sie nicht, dafür aber einen Mann in einem kleinen Boot, der mit seiner Fotokamera hantierte.
»Herr Privatdetektiv, was tun Sie denn hier?«
Er blickte hoch. Lächelte.
»Inspektorica Herman, welch Überraschung an diesem grauen Morgen. Das Wetter spielt verrückt. Gerade war der Jarun noch ruhig. Ich arbeite hier.«
Herman und Antonio kannten sich von der Polizeischule. Damals war er in sie verschossen, flirtete mit ihr, wo er nur konnte. Hie und da waren sie im Bett gelandet, aber seitens Herman konnte von Liebe keine Rede sein. Sie waren bis heute enge Freunde. Während Herman die Polizeischule mit Bravour gemeistert hatte, flog er heraus, weil er gerne mal einen Joint für sich gedreht hatte. Er hatte es dann geschafft, ein erfolgloser Privatdetektiv zu werden. Bis Gabrijela Vuk in seinem verrauchten Büro erschienen war.
»Hast du zufällig vor ein paar Minuten Fotos vom Treiben auf dem Jarun geschossen? Wir suchen einen Drogendealer. Er … er hat auf seiner Flucht einen jungen Kollegen erschossen.«
»Ach du Scheiße. Natürlich, du kennst mich ja. Hier.« Schelm blitzte in seinen Augen auf. Er überreichte ihr die Kamera. »Schau sie dir mal durch.«
Herman musterte die Fotos eingehend. Da war er, ihr Flüchtiger. Das Bild wurde geknipst, als Ivan Tuzler gerade einem grauen Opel entstieg. Das nächste zeigte, wie er zu einem Mann in dessen Boot stieg. Sie gab Antonio die Kamera zurück und zündete sich eine Zigarette an.
»Wolltest du nicht aufhören damit?«, feixte er.
»Ich brauche das Foto mit dem Auto. Am liebsten gestern«, brummte sie, ohne auf seinen Seitenhieb einzugehen.
»Geht klar, sende ich dir gleich per Mail zu.«
»Wen von den beiden hast du denn observiert?«
»Den im Boot. Milan Vuk. Seine Frau denkt, er ginge ihr fremd.«
»Schick mir von Vuk alles, was du hast. Bitte.«
Er nickte und schob die Kamera in die Tasche.
Mit einem Handwinken verabschiedeten sie sich. Inspektorica Herman kehrte zum Präsidium zurück.
6
Lukas Leichnam lag im Sektionssaal. Lange Neonröhren erhellten den Raum. Der erschossene junge Mann lag nackt bäuchlings auf einem der metallenen Tische.
Rechtsmedizinerin Vendi, eine schlaksige Mittfünfzigerin mit widerspenstigen, schwarzen Dauerwellen, hatte soeben die Kugel aus seinem Kopf gezogen und in einen Behälter gelegt, als Inspektorica Herman den geruchsintensiven, kühlen Raum betrat. Vorbei an einer verkohlten Leiche, an der Vendis grimmiger Kollege Mario herumdokterte. Sie rümpfte die Nase.
»Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen.«
»Ja, es ist halt nicht so wie in den Filmen, wo man sich eine dicke Schicht einer nach Pfefferminze riechenden Creme unter die Nase schmiert und keine beißenden Gerüche mehr wahrnimmt. Schau mal«, sagte Vendi mit nasaler Stimme und positionierte den Schwenkarm der Lampe, die am Kopfende des Tisches befestigt war, so, dass das Licht auf Lukas Schädel leuchtete, damit die Inspektorica einen Blick auf die Wunde werfen konnte. »Hier ist die Austrittswunde. Und hier«, sie griff nach dem Behälter, »hier, meine Liebe, ist das Geschoss.«
»Danke, ich übergebe das gleich der Kriminaltechnik.«
Die Tür schwang auf und Danijel, Vendis Praktikant, trat ein.
»Inspektorica Herman, die Mutter des Toten ist da. Sie wartet im Flur«, sagte er, ohne der Inspektorica in die Augen zu schauen.
»In Ordnung, ich komme gleich. Ach, könntest du das bitte in die Kriminaltechnik bringen? Danke.«
Er nahm den Behälter entgegen, nickte nervös und machte sich von dannen.
Herman presste ihre Lippen aufeinander und atmete schwer.
»Dann geh ich mal. Und dein Student hier, der sollte mal endlich lerne, etwas ruhiger zu werden.«
Vendi legte den Leichnam behutsam gerade hin und deckte ihn bis zum Hals zu und bedeutete Herman mit einem Kopfnicken, die Mutter reinholen zu können.
Herman fand sich vor einer gebrochenen Frau wieder. Fahler Teint, geschwollene rote Augen. Sie schluchzte.
»Frau Kopić, mein herzliches Beileid.« Sanft fuhr Herman der Mutter über den Arm.
»Heute vor zwei Jahren habe ich meinen Mann zu Grabe getragen.« Frau Kopić schnäuzte. »Und jetzt liegt mein Sohn in Ihrer Leichenhalle.«
Herman schlang ihren Arm um die Trauernde und führte sie durch die Tür.
Herman wischte sich mit dem Handrücken eine Träne ab. Obwohl sie nach all den Dienstjahren nichts mehr so schnell aus der Fassung brachte, war es immer wieder sehr schwer, trauernden Müttern gegenüberzustehen.
Sie eilte durch den langen Korridor. Ihre Schritte hallten durch das Gemäuer des Präsidiums. Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals, sie atmete schwer und ihr Magen krampfte sich zusammen. Übelkeit überrannte sie. Sie trat an eines der zahlreichen Fenster und öffnete es. Unter ihr, über dem Haupteingang, wehte die Landesfahne in einer kühlen Brise. Herman spähte gen Himmel, die Wolken verdunkelten sich. Am frühen Morgen war es noch windstill gewesen, und jetzt herrschte Weltuntergangsstimmung. Jäh schreckte sie ein kräftiger Windstoß auf. Sie schloss das Fenster und fuhr herum.
Da war sie.
Die Tür, durch die sie nun gehen musste. Hinter der ihr griesgrämiger Chef vor dessen Schreibtisch thronte.
Augen zu und durch.
7
Außer sich vor Wut schlug der korpulente, haarlose kleine Mann auf seinen Schreibtisch.
»Isuse, Herman! Was haben Sie sich nur dabei gedacht? Ein junger Polizist wurde bei diesem Einsatz erschossen.« Er schnaufte. »Und das Schlimmste ist, dass bereits sein Vater im Dienste seines Landes starb. Was, zum Henker, haben Sie sich dabei gedacht? Ohne meine Zustimmung hätten Sie nicht zugreifen dürfen, Frau Inspektorica Herman.«
»Bei allem Respekt, aber dafür war keine Zeit. Es war Gefahr in Verzug. Mein Informant hat mich erst kurz vor der Morgendämmerung kontaktiert.«
Er schnalzte mit der Zunge.
»Hat die Mutter ihren Sohn schon gesehen?«
Herman nickte.
»Ja, gerade eben.«
»Die verfluchte Presse wird sich auf uns stürzen wie hungrige Geier.« Er legte eine Pause ein und kraulte sich am Kopf. »Gehen Sie zurück an Ihre Arbeit.«
»Jawohl.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Büro.
An der großen weißen Tafel hing ein Profilbild von Ivan Tuzler. Komisar Petar war gerade dabei, ein weiteres Foto aufzuhängen, als Inspektorica Herman eintrat. Er stützte die eine Hand in die Hüfte, mit der anderen gestikulierte er wild.
»Lächeln, Severina, lächeln. Nur wer lächelt, bekommt ein Lächeln zurück.«
Ein Windstoß knallte die Bürotür zu. Beide zuckten zusammen.
»Lass doch bitte mal deine blöden Weisheiten. Was ist das für ein Bild?«
»Das hat die Spusi im Tattoostudio sichergestellt.«
Darauf war der Gesuchte zu sehen, wie er rauchend auf einer roten Brücke stand.
»Das«, fuhr Petar launig fort, »ist die Brücke im Botanischen Garten.«
»Und was will uns das Foto sagen? Dass unser Flüchtiger ein Liebhaber irgendwelcher Blumen ist?«
Empört verzog der Komisar sein Gesicht.
»Was heißt denn hier irgendwelche Blumen?« Er fuhr sich durchs Haar. »Ich darf doch wohl bitten. Im Botanischen Garten in der Unterstadt, übrigens gegründet von Antun Heiz, blühen rund zehntausend Pflanzenarten.«
Herman verdrehte gelangweilt ihre Augen. Blumen waren Blumen. Mehr nicht. Dekoration in Wohnungen alter Leute. Herman hatte es sogar mal geschafft, einen Kaktus eingehen zu lassen.
»Bruno, bitte. Ich weiß, dass du deine ganze Freizeit in diesem Garten verbringst. Aber ich hasse Grünzeugs.«
Fassungslos verwarf er seine Arme.
»Warst du überhaupt schon mal dort? So, wie du über diesen Garten sprichst, kann ich das nicht glauben.«
»Nein, ich war noch nie dort. Aber das Kino Europa, das kenne ich dafür umso besser«, meinte sie mit einem schelmischen Grinsen; sie wusste, wie sehr ihr Partner die Natur liebte und die Kinos hasste. »Und wie bringt uns das jetzt weiter?«
»Nun, Inspektorica, während du auf Leichenschau warst und ein Schwätzchen mit unserem Obersten hieltest, habe ich mich in den sozialen Netzwerken nach Tuzler umgesehen und auf Facebook interessantes Bildmaterial gefunden. Offenbar ist dieser Typ tatsächlich ein Freund der Botanik. Fast täglich postet er Fotos von Pflanzen. Erst gestern hat er die Seerose aus dem Glashaus ins Netz gestellt. Das hier.« Er trat an seinen Schreibtisch und zückte das Blatt, das auf der Ablage des Druckers lag.
Herman warf nur einen flüchtigen Blick darauf.
»Oto ist in der Nähe. Gib ihm Bescheid, er soll sich dort mal umhören. Und dir ist er nie aufgefallen? Du bist doch immer dort.«
Bruno zuckte mit den Schultern.
»Nein. So wie die Sonne auf den Fotos steht, wurden sie immer vormittags geschossen. Wenn ich am Arbeiten bin.«
»Er soll sich mal umhören. Vielleicht kennt ihn ja jemand etwas besser. Ich fahre zu Tuzlers Studio, vielleicht finde ich noch was Brauchbares. Otos Truppe ist in seinem Haus. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie dort was finden. Wenn, dann im Studio. Oder im Haus nebenan.«
»Otos Truppe? Ah, stimmt, der ist ja befördert worden.«
»Genau. Gibst du ihm dann noch Bescheid, dass er sich im Botanischen Garten umhören soll?« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Öffnete ihr Outlook. Antonios E-Mail war bereits angekommen. Sie notierte sich Milan Vuks Adresse und druckte die Fotos aus, die sie Petar zum Aufhängen in die Hand drückte.
»Schau dir diese Fotos mal an. Habe ich soeben zugeschickt bekommen.«
»Lass mich raten. Von Antonio.«
Ein Lächeln huschte ihr übers Gesicht.
»Fahre du bitte nach dem Besuch im Botanischen Garten mal zu diesem Vuk. Das ist der im Boot.«
Der Komisar nickte, schnappte seine Jacke und schritt in den Flur.
8
Ivan Tuzler und Milan Vuk legten am späten Abend an einer abgelegenen Stelle an.
»Ist alles vorbereitet?«, fragte Ivan schroff.
»Natürlich, was denkst du denn.«
»Über dich? Nicht viel. Zumindest nichts Gutes.«
Milan erwiderte nichts darauf. Das Ganze hatte er sich anders vorgestellt. Er bemühte sich doch. Aber die beiden hatten einfach keinen guten Draht zueinander. Klar, er hätte erfolgreicher nicht sein können. Mittlerweile war er sogar glücklich verheiratet. Aber eigentlich hatte er ja wegen Ivan alles hinter sich gelassen. Doch der schien kein großes Interesse an ihm zu haben.
Sie befestigten das Boot mit einem Seil und wateten durch das Gras in Richtung Wald.
Ivan war überrascht, tatsächlich eine Baumhütte drei Meter über dem Boden vorzufinden. Normalerweise war auf Milan kein Verlass, außer ein Mal, als dieser ihm das Leben gerettet hatte, aber das war nun schon ein paar Jahre her. An jenem Tag wäre er gestorben, hätte Milan ihn nur eine Minute später gefunden. Aber sonst war dieser Milan, wenn das überhaupt sein richtiger Name war, für nichts zu gebrauchen. Außer zum Kochen. Das beherrschte er wie kein anderer.
Endlich, dachte Ivan.
Endlich war der lang ersehnte und akribisch durchgeplante Tag gekommen.
Sein Tag.
Seine Zeit.
Seine Rache.
Mit der vollen Härte würde er zurückschlagen. Und zwar doppelt. Die Bullen würden im Leben nicht herausfinden, dass zwischen den beiden ein Zusammenhang bestand. Er lachte siegessicher.
Die Männer erklommen die Leiter zum Baumhaus. Es war sehr klein, aus modrigem Holz erbaut, aber es musste ja nur seinen Zweck erfüllen.
»Na, was sagst du?«, fragte Milan und breitete seine Arme aus.
Ivan schaute sich genauer um und staunte nicht schlecht. Auf dem Tisch, den Milan offensichtlich vom Sperrmüll gemurkst hatte, standen zwei Bildschirme, über denen jeweils vier Filme flackerten.
Er hasste diesen Typen, der sich eines Tages plötzlich in sein Leben gedrängt hatte. Ivan hatte ihn zunächst getestet. Vieles lief total schief mit Milan, aber im aktuellen Fall hatte er gute Arbeit abgeliefert.
»Sehr gut. Genau so habe ich mir das vorgestellt.« Er schälte sich aus seinem verschwitzten Shirt.
Auf der ganzen linken Brust bildeten unzählige weiße Narben ein Relief seiner Vergangenheit.
»Heute gab es so einiges, das mich zum Schwitzen gebracht hat. Ich hoffe, du hast an meine Bestellung gedacht.«
Eifriges Nicken.
»Natürlich.«
Tuzler bekam ein frisches Shirt in die Hand gedrückt.
»So gefällt mir das. Gute Arbeit. Scheiße, verdammt! Meine ganze Kohle ist weg! All die Päckchen … Die hätten mich reich machen können.«
Milan wies auf einen der beiden Stühle, und Ivan setzte sich. Sank in die Lehne und starrte auf drei Frauen, die sich um einen winzigen Salontisch setzten. Zwei auf der Couch, eine auf dem Boden. Sie tranken Weißwein und hatten augenscheinlich was zu lachen.
Milan holte zwei Bier aus der Kühlbox, die er gestern Abend noch schnell besorgt hatte. Sagte Ivan aber nicht, dass die Hälfte bereits fehlte.
»Prost.« Er setzte sich ebenfalls, und die beiden schauten dem Treiben im Haus zu.
Jäh durchfuhr Tuzler ein Geistesblitz. Er hatte nun alles, was er brauchte. Milan hatte gute Arbeit geleistet. Es war Zeit, sich von ihm zu verabschieden. Er musste sich nur noch einen Plan überlegen.
Aber darin war er ja der Beste.
9
Ivan Tuzler war in der dritten Klasse angelangt. Heute war ein besonderer Tag, denn heute hatte er Einladungskarten für seinen Geburtstag dabei. Seine Mutter hatte ihm ein tolles Fest versprochen. Dieses Jahr durfte er acht Freunde einladen. Obgleich Ivan keine Freunde hatte. Aber davon wusste seine Mutter nichts.
Seine Klasse war in zwei Gruppen geteilt. In der einen hatten seine Peiniger einen festen Platz, die andere bestand aus feigen Mitschülern, die zwar nicht mitmachten, aber ihm auch nicht halfen. Das waren die Gaffer, wie Ivan sie nannte. Das Pack, das sich über sein Leid ergötzte.
Da er seiner Mutter die Wahrheit verschwieg, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Drecksäcke aus seiner Klasse einzuladen.
Die Schulglocke ertönte, und die Schüler stürmten hinein. Ivan lugte hinter dem Gebüsch wartend zwischen den Ästen durch. Niemand zu sehen. Schnellen Schrittes begab er sich ins Schulgebäude, die Treppe hinunter zur Garderobe, wo er seine Jacke, die ihm Jelena auf dem Flohmarkt gekauft hatte, aufhängte.
Schüler wuselten wild umher, und Ivan zückte aus seinem Ranzen die Einladungen. Sandro stand neben ihm und bekam als Erster eine.
»Es wird leckeren Kuchen geben«, meinte Ivan und lächelte, dann verteilte er die restlichen Karten.
Lautstark übernahm Irena, die noch schlimmer war als Sandro, die heimliche Anführerin, das Wort.
»Wer an Ivans Geburtstagsparty geht, ist sein Freund. Wer sein Freund ist, ist mein Feind. Und ihr wisst, was ich mit meinen Feinden mache.« Mit bedrohlicher selbstsicherer Gelassenheit trat sie einen Schritt näher an ihn heran und zerriss in einer theatralischen Darbietung die von Ivan in Handarbeit gebastelte Karte. Die anderen taten es ihr nach und warfen die Fetzen auf den Boden.
Die Schulglocke schellte das zweite Mal. Es war Zeit, sich an seinen Platz zu setzen. Ivans Mitschüler eilten ins Klassenzimmer, während er die Papierfetzen auflas. Jemand pfefferte die Tür zu. Ivan stopfte die Schnipsel in seinen Ranzen, atmete tief durch und öffnete die Tür. Alle Augen richteten sich auf ihn. Er trat hinein und zog die Tür zu. Eine eisige Stille beherrschte das Klassenzimmer.
»Ach, sieh mal einer an. Auch unser Sorgenkind Ivan hat es zu uns geschafft.« Der Lehrer fixierte den schmächtigen Jungen für sein Schlusswort. »Schäm dich, Ivan.«
Der Magen des Drittklässlers krampfte sich zusammen. Ihm wurde speiübel.
»Spiel nicht krank, nur weil du faul bist und nicht gerne in die Schule kommst. Setz dich hin und benimm dich ein Mal wie ein ganz normaler Junge“, fauchte der Pädagoge weiter. »Ich werde deine Mutter anrufen. Also so geht das nicht weiter.«
Ein Kichern machte die Runde, und Ivan sank in den Stuhl.
Einige Jahre zuvor
Sie stand im Flur. Streifte Latexhandschuhe über ihre Finger. Auf leisen Sohlen trat sie vor die Tür.
Mit dem Gesicht ging sie näher heran. Legte das rechte Ohr an. Lauschte. Geräusche des Fernsehers drangen durch. Sie legte die Hand an den Türgriff und drückte ihn nach unten. Vorsichtig öffnete sie die Tür, nur so weit, dass ihr Körper noch durch den Spalt passte.
Lange hatte sie auf diesen Moment gewartet. Sich vorbereitet und alles akribisch geplant. Endlich war er da. Ihr Moment der Rache. Für all das, was er ihr die vergangenen Jahre angetan hatte.
Schleichend trat sie ins braungehaltene kleine Männerzimmer, wie er es stets das Wohnzimmer seines Freundes nannte. Fernseher, Sessel, kleiner runder Tisch. Die Nachtvorhänge zugezogen. Tageslicht schien zwischen ihnen durch.
Er saß auf dem hässlichen dunkelbraunen Sessel, auf dem ihr erstes Kind gezeugt wurde. Kurz darauf hatten sie ihn seinem besten Freund verschenkt.
Sie sah nur seine wenigen fettigen, zu einem Zopf zusammengebundenen Haare über die Lehne hängen.
Aus der Manteltasche zog sie ein Messer, das sie sich am Morgen im Supermarkt gekauft hatte. Durch die unzähligen Krimis, die sie geschaut hatte, wusste sie, dass sie für ihr Vorhaben keines aus ihrem Haus nehmen durfte. Und hier nach einem zu suchen, war ihr zu riskant, ihr Mann hätte sie bemerken können.
Langsam pirschte sie sich von hinten an ihn heran.
Auf den Fernseher fokussiert, bemerkte er die Schritte hinter sich nicht.
Jetzt oder nie, dachte sie. Jetzt oder nie.
Sie atmete ein. Hob ihren linken Arm und stach zu.
Beim ersten Mal kämpfte sie gegen eine unnachgiebige Haut. Doch mit jedem Eindringen in sein Fleisch wurde es leichter.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
IRENA