Turin, Juni 1943. Nächtliche Luftangriffe der Alliierten bedrohen die Stadt. Wer kann, rettet sich mit Einbruch der Dunkelheit auf die Hügel. Corrado, Lehrer am städtischen Gymnasium und von den anderen ehrfürchtig »Herr Lehrer« genannt, hat sich schon länger dorthin verkrochen. Angezogen vom Gesang der Leute stößt er eines Abends zum Wirtshaus Le Fontane: Von hier sieht man die Stadt in Flammen aufgehen, hier wird diskutiert, was werden soll, hier formieren sich die Partisanen. Unter den Leuten auch Cate, eine frühere Liebe Corrados, und Dino, ihr Kind, das womöglich auch seines ist. Als eines Tages die Meldung vom Waffenstillstand die Runde macht, keimt kurz Hoffnung auf. Aber schnell dringen die Deutschen ins Land – und damit fängt alles erst an.
Das Haus auf dem Hügel, ein im deutschen Sprachraum noch wenig bekannter Roman Paveses, spielt in der Wirrnis jener dramatischen Sommermonate in Italien und erzählt, wie Corrados Existenz gegen starke innere Widerstände schließlich ganz und gar vom Krieg eingenommen wird.
Von Maja Pflugs stimmiger Neuübersetzung ins Heute geholt, ist das Buch eine einzigartige literarische Auseinandersetzung über die Unentrinnbarkeit des Kriegs und die Frage nach dem Sinn von politischem Handeln.
Cesare Pavese
Roman
Aus dem Italienischen
von Maja Pflug
Nachwort
von Lothar Müller
Die Publikation dieses Buchs erscheint mit freundlicher
Unterstützung des italienischen Außenministerium
für die Übersetzung. Der Verlag bedankt sich dafür.
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur
mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020
unterstützt.
Die Originalausgabe ist unter dem Titel La casa in
collina bei Giulio Einaudi Editore erschienen.
© 1967, 1983, 2014 Giulio Einaudi Editore, Turin
© 2018 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich
(für die deutschsprachige Ausgabe)
www.rotpunktverlag.ch
www.editionblau.ch
Lektorat: Daniela Koch
Umschlaggestaltung: Patrizia Grab
eISBN: 978-3-85869-785-1
1. Auflage
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Nachwort
CESARE PAVESE AUSGEWÄHLTE DATEN ZU LEBEN UND WERK
Schon zu anderen Zeiten redete man vom Hügel, so wie man vom Meer oder vom Wald geredet hätte. Aus der Stadt, die sich verdunkelte, kehrte ich abends dorthin zurück, und für mich war es kein beliebiger Ort, es war eine Auffassung der Dinge, eine Lebensart. Zum Beispiel sah ich keinen Unterschied zwischen jenen Hügeln und diesen von früher, wo ich als Kind spielte und jetzt lebe: Immer noch ein holperiges, kurviges Gelände, Felder und Wildnis, immer noch Straßen, Bauernhöfe und Schluchten. Ich stieg abends hinauf, als flüchtete auch ich vor dem nächtlichen Aufschrecken bei Alarm, wenn die Straßen von Leuten wimmelten, armen Leuten, die schreiend und diskutierend mit ihrer Matratze auf dem Fahrrad oder auf der Schulter auszogen, um womöglich irgendwo auf den Wiesen zu schlafen, unbeugsam, leichtgläubig und fröhlich.
Man ging bergan, und jeder sprach von der verurteilten Stadt, von der Nacht und den bevorstehenden Gräueln. Ich lebte schon länger dort oben und sah die Leute nach und nach abbiegen und weniger werden, und schließlich wanderte nur ich allein zwischen den Hecken und dem Mäuerchen noch weiter hinauf. Dann spitzte ich beim Gehen die Ohren, hob den Blick zu den vertrauten Bäumen, atmete den Geruch der Dinge und der Erde. Ich empfand keine Traurigkeit, ich wusste, dass die Stadt in der Nacht in Flammen aufgehen und die Leute sterben konnten. Die Schluchten, die Landhäuser und die Wege würden am Morgen ruhig und unverändert erwachen. Am Fenster zum Obstgarten würde ich wieder den Morgen sehen. Ich würde sogar in einem Bett schlafen. Die Flüchtlinge der Wiesen und Wälder würden wieder in die Stadt hinuntergehen wie ich, nur erschöpfter und fröstelnder als ich. Es war Sommer, und ich erinnerte mich an andere Abende, als ich in der Stadt lebte und wohnte, Abende, an denen auch ich spät nachts singend oder lachend hinabgewandert war, und tausend Lichter funkelten auf den Hügeln und in der Stadt unten am Ende der Straße. Die Stadt war wie ein See aus Licht. Damals verbrachte man die Nacht in der Stadt. Man wusste nicht, dass es eine so kurze Zeit sein würde. Man vergeudete Freundschaft und Tage mit den nichtigsten Begegnungen. Man lebte, oder glaubte es jedenfalls, mit den anderen und für die anderen.
Ich muss sagen – da ich mit dieser Geschichte einer langen Illusion beginne –, dass man das, was mir zustieß, nicht dem Krieg anlasten darf. Im Gegenteil, der Krieg, dessen bin ich sicher, hätte mich noch retten können. Als der Krieg ausbrach, lebte ich schon längere Zeit in der Villa dort oben, wo ich einige Zimmer gemietet hatte, doch hätte mich nicht die Arbeit in Turin festgehalten, wäre ich schon damals ins Haus meiner Eltern zu diesen anderen Hügeln zurückgekehrt. Der Krieg nahm mir nur die letzten Skrupel, mich zu verkriechen, die Jahre allein zu verbringen und mir das Herz zu zerfressen, und eines schönen Tages merkte ich, dass Belbo, der große Hund, der einzige aufrichtige Vertraute war, der mir noch blieb. Der Krieg gab einem das Recht, sich abzukapseln, in den Tag hinein zu leben, nicht mehr den verpassten Gelegenheiten nachzutrauern. Doch man könnte sagen, dass ich den Krieg schon längst erwartet und damit gerechnet hatte, ein so ungewöhnlicher und ausgedehnter Krieg, dass man sich mit wenig Mühe wegducken und ihn am Himmel über der Stadt toben lassen konnte, während man heimging auf die Hügel. Jetzt geschahen Dinge, bei denen mir das einfache Leben, ohne zu klagen, ja fast ohne darüber zu sprechen, eine Haltung zu sein schien. Dieser unbestimmte, dumpfe Groll, in dem meine Jugend geendet hatte, fand im Krieg ein Versteck und einen Horizont.
Auch an jenem Abend stieg ich den Hügel hinauf; es dämmerte, und jenseits des Mäuerchens ragten die Bergkämme empor. Belbo lag an der üblichen Stelle auf dem Pfad und wartete auf mich, und ich hörte ihn im Dunkeln winseln. Er zitterte und scharrte. Dann lief er auf mich zu, sprang an mir hoch, um mein Gesicht zu berühren, und ich beruhigte ihn, sprach auf ihn ein, bis er abließ und glücklich vorausrannte und stehen blieb, um an einem Stamm zu schnuppern. Als er merkte, dass ich nicht in den Pfad einbog, sondern weiter Richtung Wald ging, machte er einen Freudensprung und verschwand zwischen den Bäumen. Mit dem Hund über die Hügel zu wandern, ist schön: Im Gehen schnuppert er und erkennt für uns die Wurzeln, die Tierhöhlen, die Schluchten, das verborgene Leben und vervielfacht unsere Entdeckungsfreuden. Schon als Junge schien mir, ich würde, wenn ich ohne Hund durch die Wälder wanderte, zu viel vom Leben und den Geheimnissen der Erde verpassen.
Ich wollte nicht vor dem späten Abend in die Villa zurückkehren, denn ich wusste, dass meine und Belbos Hausherrinnen gewöhnlich auf mich warteten, um sich mit mir zu unterhalten und sich ihre Fürsorge und das kalte Abendessen und ihre Liebenswürdigkeit mit den verdrehten und oberflächlichen Ansichten über den Krieg und die Welt bezahlen zu lassen, mit denen ich meine Mitmenschen abspeiste. Manchmal lieferte ein neues Kriegsereignis, eine Drohung, eine Bomben- und Brandnacht den zwei Frauen einen Vorwand, um mir an der Türe, im Obstgarten, bei Tisch entgegenzutreten und draufloszureden, sich zu wundern, sich aufzuregen, mich ans Licht zu zerren, zu erfahren, wer ich bin, zu erraten, ob einer von ihnen. Ich aß gern allein zu Abend, im verdunkelten Zimmer, allein und vergessen, spitzte dabei die Ohren, lauschte der Nacht, fühlte, wie die Zeit verging. Wenn in der Dunkelheit über der fernen Stadt ein Alarm aufheulte, war meine erste Regung der Ärger darüber, dass die Einsamkeit gestört wurde, dass die Ängste, die Unruhe bis dorthinauf kamen und die beiden Frauen die schon abgedunkelten Lampen ausknipsten in der sorgenvollen Hoffnung auf etwas Großes. Wir gingen alle in den Obstgarten hinaus.
Ich zog die ältere der beiden vor, die Mutter, die mit ihrem Umfang und ihren Gebrechen etwas Ruhiges, Erdiges an sich hatte, und im Bombenhagel, konnte man sich vorstellen, würde sie genauso aussehen wie ein verdunkelter Hügel. Sie redete nicht viel, konnte aber gut zuhören. Die andere, die Tochter, eine alte Jungfer um die vierzig, war zugeknöpft, knochig und hieß Elvira. Sie lebte in der Furcht, der Krieg könne bis dorthinauf kommen. Ich merkte, dass sie voll Angst an mich dachte und sie sagte es mir auch: Sie litt, wenn ich in der Stadt war, und einmal, als die Mutter sie in meiner Anwesenheit damit aufzog, erwiderte Elvira, wenn die Bomben Turin noch weiter zerstörten, würde ich Tag und Nacht bei ihnen bleiben müssen.
Belbo lief auf dem Weg voraus und wieder zurück und wollte mich in den Wald locken. Doch an jenem Abend blieb ich lieber an einer baumlosen Biegung stehen, von wo man das weite Tal und die Hänge überblickte. So gefiel mir der mächtige Hügel, mit den welligen Linien der Kuppen und Hänge in der Dunkelheit. Früher war er genauso, aber übersät mit Lichtern, ein ruhiges Leben, Menschen in den Häusern, Erholung und Fröhlichkeit. Auch jetzt hörte man manchmal plötzlich Stimmen, Gelächter in der Ferne, aber tiefe Finsternis lastete auf allem, überdeckte es, und die Erde war wieder wild und allein, so wie ich sie als Junge gekannt hatte. Hinter den bestellten Feldern und den Straßen, hinter den Häusern der Menschen, unter den Füßen brütete das uralte, gleichgültige Herz der Erde in der Dunkelheit, lebte in den Schluchten, in Wurzeln, in verborgenen Dingen, in Kindheitsängsten. Zu jener Zeit begann ich, mich an Kindheitserinnerungen zu erfreuen. Man könnte sagen, dass ich unter dem Groll und der Unsicherheit, unter dem Wunsch, allein zu sein, den Jungen wiederentdeckte, der ich gewesen war, um einen Gefährten, einen Kollegen, einen Sohn zu haben. Ich sah diesen Ort, wo ich gelebt hatte, wieder vor mir. Wir waren allein, der Junge und ich. Erneut durchlebte ich die wilden Entdeckungen von damals. Ich litt, ja, aber mit der trotzigen Haltung dessen, der seine Mitmenschen weder wahrnimmt noch liebt. Und ich redete und redete, leistete mir selbst Gesellschaft. Wir zwei waren allein.
Wieder tönte an jenem Abend Stimmengewirr vom Hang herauf, gemischt mit Gesang. Es kam von der anderen Seite, auf der ich noch nie hinuntergegangen war, und klang wie ein Lockruf aus anderen Zeiten, wie die Stimme der Jugend. Einen Augenblick lang erinnerte es mich an die Gruppen von Flüchtlingen, die abends wie Ausflügler die Ränder des Hügels bevölkerten. Aber es wanderte nicht, kam immer von derselben Stelle. Dass in der bedrohlichen Dunkelheit, vor der verstummten Stadt, eine Gruppe, eine Familie, irgendwelche Leute sich singend und lachend das Warten verkürzten, kam mir seltsam vor. Ich dachte auch nicht, dass man Mut dazu brauchte. Es war Juni, die Nacht war schön unter dem Himmel, es genügte, einfach loszulassen; ich aber war froh, dass keine wahre Zuneigung, kein Hindernis meine Tage belastete, dass ich allein war, an niemanden gebunden. Nun schien mir, als hätte ich schon immer gewusst, dass es zu dieser Art Brandung zwischen Hügel und Stadt kommen würde, zu dieser andauernden Angst, die jedes Vorhaben auf morgen beschränkte, auf das Erwachen, und beinahe hätte ich es auch gesagt, wenn mir jemand hätte zuhören können. Doch nur ein Freundesherz hätte das gekonnt.
Belbo stand am Rand des Abgrunds und bellte gegen die Stimmen an. Ich packte ihn am Halsband, brachte ihn zum Schweigen und hörte genauer hin. Zwischen den angetrunkenen vernahm man auch klare Stimmen und sogar eine Frauenstimme. Dann lachten sie, gerieten durcheinander, und eine einzelne Männerstimme erhob sich, wunderbar.
Ich wollte schon umkehren, dann sagte ich mir: »Bist du blöd? Die zwei Alten warten auf dich. Lass sie nur warten.«
Im Dunkeln versuchte ich, genau die Stelle zu erraten, wo die Sänger sich befanden. Ich sagte mir: »Womöglich sind es Leute, die du kennst.« Ich nahm Belbo und zeigte auf den anderen Hang hinüber. Halblaut murmelte ich einen Vers aus dem Lied und sagte: »Dort gehen wir hin.« Der Hund verschwand mit einem Satz.
Daraufhin ging ich den Weg entlang und ließ mich von den Stimmen leiten.
Als ich auf der Straße herauskam und mich lauschend in der Dunkelheit umsah, ertönte jenseits der Kuppe, fast untergehend in den Stimmen der Grillen, der Alarm. Als wäre ich dort, fühlte ich, wie die Stadt erstarrte, vernahm die hastigen Schritte, das Türenschlagen, sah die Bestürzung, die menschenleeren Straßen. Hier regnete es Licht von den Sternen. Der Gesang im Tal war jetzt verstummt. Belbo bellte ganz in der Nähe. Ich eilte zu ihm. Er war in einen Hof gestürmt und sprang zwischen Leuten herum, die aus einem Haus getreten waren. Durch die angelehnte Tür schimmerte ein Licht. Jemand schrie: »Mach die Tür zu, du Dummkopf«, und sie lachten und riefen durcheinander. Das Licht erlosch.
Sie kannten Belbo schon; jemand erwähnte gut gelaunt die zwei alten Frauen, sie nahmen mich auf, ohne zu fragen, wer ich sei. Im Dunkeln liefen sie hin und her; auch ein paar Kinder waren dabei, und alle schauten nach oben. »Kommen sie? Kommen sie nicht?«, sagten sie. Sie sprachen über Turin, über Probleme, über zerbombte Häuser. Eine abseits sitzende Frau wimmerte vor sich hin.
»Ich dachte, hier würde getanzt«, sagte ich aufs Geratewohl.
»Schön wär’s«, sagte der Schatten des jungen Mannes, der zuerst mit Belbo gesprochen hatte. »Aber keiner denkt daran, die Klarinette mitzubringen.«
»Würdest du dich denn trauen?«, fragte eine Mädchenstimme.
»Der würde sogar tanzen, während das Haus in Flammen steht.«
»Ja, ja«, sagte eine andere.
»Das geht nicht, wir sind im Krieg. Italiener«, hier veränderte sich die Stimme, »diesen Krieg führe ich für euch. Ich schenke ihn euch, erweist euch seiner würdig. Ab jetzt darf weder getanzt noch geschlafen werden. Ihr müsst nur Krieg führen, wie ich.«
»Sei still, Fonso, wenn dich jemand hört.«
»Was willst du machen? Wir singen.«
Und die Stimme sang wieder das Lied von vorher, aber leise, gedämpft, fast, als fürchtete sie, die Grillen zu stören. Mädchen fielen ein; zwei junge Burschen rannten auf der Wiese hintereinanderher. Belbo fing an, wie rasend zu bellen.
»Gib Ruhe«, sagte ich zu ihm.
Unter den Bäumen stand ein Tisch mit einer Flasche und Gläsern. Der Wirt, ein älterer Mann, schenkte auch mir ein. Es war eine Art Gastwirtschaft, doch alle waren mehr oder weniger verwandt und kamen in der Gruppe aus Turin herauf.
»Vorläufig geht es so«, sagte eine Alte, »aber bei Matsch und Regen?«
»Habt keine Angst, Großmutter, für Euch ist hier immer Platz.«
»Jetzt ist es nichts, aber im Winter.«
»Im Winter ist der Krieg aus«, sagte ein kleiner Junge und lief davon.
Fonso und die Mädchen sangen, immer noch mit gedämpfter Stimme, immer noch bereit, ein Brummen, ein Dröhnen in der Ferne wahrzunehmen. Von Minute zu Minute spitzte auch ich öfter über den Chor der Grillen hinweg die Ohren, und als die Alte plötzlich die Tür wieder öffnete, rief auch ich, sie solle das Licht ausmachen.
Diese Leute, die Jugendlichen, ihre Scherze, selbst die einfache Herzlichkeit, mit der sie mich an ihrer Gesellschaft und ihrem Wein teilhaben ließen, hatten etwas, das ich kannte, das mich an die Stadt von früher erinnerte, an frühere Abende, Ausflüge an den Po, verschiedene Wirtshäuser am Stadtrand, verflossene Freundschaften. Und in der Kühle des Hügels, in jener Leere, jener Angst, die einen in Atem hielt, fand ich eine uralte, bäuerliche, ferne Erfahrung wieder. Instinktiv folgte ich den Stimmen der Mädchen, der Frauen und schwieg. Über Fonsos Bemerkungen lachte ich leise, genüsslich. Ich hatte mich im Freien zu den anderen auf einen Balken gesetzt.
Eine Stimme sagte zu mir: »Und Sie, was machen Sie? Sind Sie hier in den Ferien?«
Ich erkannte die Stimme. Jetzt, wenn ich zurückdenke, scheint es mir naheliegend. Ich erkannte sie wieder und fragte mich nicht, wem sie gehörte. Es war eine etwas kratzige, provozierende, schroffe Stimme. Sie kam mir typisch für die Frauen und den Ort vor.
Scherzhaft erwiderte ich, ich ginge mit dem Hund auf Trüffelsuche. Sie fragte mich, ob man dort, wo ich unterrichtete, Trüffel esse. »Wer hat Ihnen gesagt, dass ich unterrichte?«, fragte ich überrascht. »Das merkt man«, sagte sie im Dunkeln zu mir.
Die Stimme hatte einen spöttischen Unterton. Oder war es ein Spiel, wie hinter Masken miteinander zu sprechen? Im Nu ließ ich die vorherige Unterhaltung an mir vorbeiziehen; ich fand nicht, dass ich mich verraten hätte, und kam zu dem Schluss, dass diejenigen, die meine zwei Alten kannten, vielleicht von mir wussten. Ich fragte sie, ob sie in Turin wohne oder hier oben.
»In Turin«, antwortete sie ruhig.
Im Dunkeln ahnte ich, dass sie gut gebaut sein musste. Die Rundung der Schultern und der Knie war deutlich. Sie saß da, hatte die Hände um die Knie geschlungen und den Kopf mit träumerischer Miene zurückgelehnt. Ich versuchte, ihr Gesicht genauer zu betrachten.
»Sie wollen mich wohl fressen?«, fauchte sie mich an.
In dem Augenblick kam die Entwarnung. Eine Sekunde lang schwiegen alle ungläubig, dann ging ein Riesenradau los, und die Jungen sprangen herum, die alten Frauen dankten Gott, die Männer griffen nach den Gläsern und schlugen den Takt. »Für heute Nacht ist’s vorbei.« »Sie werden später wiederkommen.« »Italiener, das habe ich für euch getan.«
Sie hatte sich nicht gerührt. Immer noch hatte sie den Kopf an die Mauer gelehnt, und als ich stotterte: »Sie sind doch Cate. Du bist Cate«, gab sie mir keine Antwort mehr. Ich glaube, sie hielt die Augen geschlossen.
Ich musste aufstehen, weil die Leute nun heimgingen. Als ich den Wein bezahlen wollte, sagten sie: »Schon gut.« Ich verabschiedete mich, drückte Fonso und noch einem die Hand, rief Belbo und stand plötzlich wie durch Hexerei allein auf der Straße und betrachtete die bleiche Fassade.
Wenig später kam ich in die Villa zurück. Doch mittlerweile war es Nacht, tiefe Nacht, und Elvira wartete fast auf den Stufen, mit hängenden Armen und zusammengepressten Lippen. Sie sagte nur: »Heute Abend hat der Alarm Sie erwischt. Wir haben uns Sorgen gemacht.« Ich schüttelte den Kopf, beugte mich lächelnd über den Teller und begann zu essen. Stumm schlich sie im Licht um mich herum, verschwand in der Küche, schloss die Schränke. »Wäre es nur jeden Abend so«, brummte ich. Sie sagte nichts.
Während ich kaute, dachte ich an die Begegnung, an das, was geschehen war. Mehr als Cate beschäftigte mich die Zeit, es waren Jahre. Unglaublich. Acht, zehn? Es kam mir vor, als hätte ich ein vergessenes Zimmer, einen alten Schrank geöffnet und das Leben eines anderen darin gefunden, ein unbedeutendes Leben voller Gefahren. Das war es, was ich vergessen hatte. Nicht so sehr Cate, nicht die armseligen Genüsse von damals. Sondern den jungen Mann, der jene Tage erlebt hatte, den verwegenen, jungen Mann, der den Dingen auswich, weil er glaubte, sie müssten erst noch geschehen, der schon ein Mann war und sich dauernd umschaute, ob das Leben nun wirklich käme, dieser junge Mann verblüffte mich. Was hatten er und ich gemeinsam? Was hatte ich für ihn getan? Jene banalen, feurigen Abende, jene zufälligen Gefahren, jene Hoffnungen, vertraut wie ein Bett oder ein Fenster – alles wirkte wie die Erinnerung an ein fernes Land, an ein unruhiges Leben, sodass man sich beim Zurückdenken fragt, wie man es damals genießen und so verraten konnte.
Elvira nahm eine Kerze und blieb am Ende des Zimmers stehen. Sie befand sich außerhalb des Lichtkegels der Deckenlampe und sagte, wenn ich hinaufginge, solle ich sie ausmachen. Ich merkte, dass sie zögerte. Neben dem Schalter für die Zimmerbeleuchtung war der für die Außenlampe, und manchmal irrte ich mich und überschwemmte den Hof mit Licht. Schroff sagte ich: »Keine Sorge, ich passe schon auf.« Die Hand am Hals, hustete sie und tat, als würde sie lachen. »Gute Nacht.«
Aha, sagte ich mir, kaum allein, du bist nicht mehr der Junge von damals, die Gefahren von früher drohen dir nicht mehr. Diese Frau würde dir gern sagen, du sollst früher nach Hause kommen, sie würde gern mit dir reden, traut sich aber nicht, und vielleicht ringt sie die Hände, vielleicht umarmt sie ihr Kissen und betastet ihre Kehle. Sie ist nicht reizvoll, und das weiß sie genau. Doch da sie sieht, dass du allein lebst, macht sie sich etwas vor und hofft, das hier sei dein ganzes Leben, die Lampe, das Zimmer, die schönen Gardinen, die Laken, die sie dir gewaschen hat. Du weißt es, doch diese Gefahren drohen dir nicht mehr. Du willst nichts von ihr, suchst höchstens noch deine Hügel.
Unwillkürlich fragte ich mich, ob die Cate von damals sich auch solchen Illusionen hingab. Was war Cate denn vor acht Jahren? Ein spöttisches, arbeitsloses Mädchen, mager und ein wenig linkisch, rabiat. Wenn sie mit mir ausging, mit ins Kino oder auf die Wiesen kam, wenn sie sich fest bei mir einhakte und dabei die gesplitterten Fingernägel versteckte, so hieß das nicht, dass sie sich deshalb irgendwelche Hoffnungen machte. Es war das Jahr, in dem ich ein Zimmer in der Via Nizza gemietet hatte, den ersten Unterricht gab und häufig im Milchladen aß. Von daheim bekam ich Geld geschickt, so wenig stand ich damals noch auf eignen Füßen. Ich hatte keinerlei Zukunft außer der üblichen eines jungen Burschen vom Land, der studiert hat und in der Stadt lebt und sich umschaut, jeder Morgen ist ein Abenteuer und ein Versprechen. Damals traf ich viele Leute, tat mich eifrig um und lebte mit vielen. Da waren die Freunde aus den Schuljahren, da war Gallo, der dann in Sardinien von einer Bombe getötet wurde, da waren die Frauen, die Schwestern der diversen Freunde, und Martino, der Spieler, der die Kassiererin heiratete, und die Schwätzer und die Ehrgeizigen, die Bücher, Komödien, Gedichte schrieben, sie in der Tasche bei sich trugen und im Café darüber sprachen. Mit Gallo ging ich zum Tanzen und auf die Hügel – er stammte auch aus meiner Gegend –, wir redeten davon, eine Landwirtschaftsschule zu eröffnen, er würde Agrartechnik unterrichten und ich Naturwissenschaften, wir würden Ländereien pachten, Lehrgärten anlegen, den Ackerbau erneuern. Ich weiß nicht, wie Cate zu uns stieß; sie wohnte im Industriegebiet, am Rand der Wiesen, die zum Po hinunterführen. Gallo hatte andere Cliquen als wir; er spielte Billard am Ende der Via Nizza; einmal, als wir Boot fahren gingen, trat er in einen Hof und rief Cate. Im Sommer holte ich sie dann alleine ab.
Cate und ich zogen das Boot ans Ufer, stiegen aus und spielten im Gebüsch Ringkampf auf dem Gras. Viele Frauen schüchterten mich ein, aber Cate nicht. Mit ihr konnte man leicht schmollen, ohne die Initiative zu verlieren. Es war ein bisschen wie im Wirtshaus, wenn man zu trinken bestellt hat: Man erwartet keinen großartigen Wein, aber man weiß, dass er kommt. Cate saß da und ließ sich streicheln. Dann bekam sie Herzklopfen, weil sie fürchtete, dass uns jemand sehen könnte. Es gab nicht viele Worte zwischen uns, und das ermutigte mich. Es war nicht nötig, dass ich viel redete oder versprach. »Wo ist der Unterschied«, sagte ich zu ihr, »zwischen miteinander ringen und sich umarmen?« So nahmen wir uns ein-, zweimal auf dem Gras, eher unbeholfen. Es kam der Tag, an dem wir uns schon in der Straßenbahn sagten, dass wir hinausfuhren, um zusammen zu schlafen. Als uns eines Morgens kurz nach der Ankunft ein Gewitter überraschte, bedauerten wir, während wir wie verrückt zurückruderten, die verpasste Gelegenheit.
Eines Abends kam Cate die Treppe mit zu mir hinauf, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen, und diesmal liebten wir uns auf dem Bett mit mehr Lust, und sie sagte, wie schön, sich zu besuchen, wenn es regnet oder kalt ist, zusammen zu sein und sich zu unterhalten und auszutoben. Sie berührte meine Bücher, roch spielerisch daran und fragte mich, ob ich wirklich Tag und Nacht über das Zimmer verfügen könne, ohne dass mich jemand störte. Sie lebte bei ihrer Familie, zu sechst oder siebt in zwei Zimmern zum Hof. Doch dies war der einzige Abend, an dem sie mich besuchte. Manchmal dagegen kam sie in das Café, wo ich meine Freunde traf, doch obwohl auch Gallo dabei war und wir sie alle grüßten, saß sie eingeschüchtert da und hatte das Lachen verloren. Ich wiederum war hin- und hergerissen zwischen dem Stolz, ein Mädchen zu haben, und der Scham, dass sie so ungepflegt und ahnungslos war. Sie sagte zu mir, sie würde gern Maschine schreiben lernen, als Verkäuferin in einem großen Geschäft arbeiten, Geld verdienen, um zum Baden zu gehen. Ab und zu kaufte ich ihr einen Lippenstift, über den sie sich sehr freute, und hier merkte ich, dass man eine Frau aushalten, erziehen, sie leben lehren kann, aber wenn man weiß, woraus ihre Eleganz besteht, macht es keinen Spaß mehr. Cates Kleid war fadenscheinig und ihre Handtasche abgewetzt; es rührte einen, ihr zuzuhören, so groß war der Gegensatz zwischen ihrem Leben und ihren Wünschen; doch ihre Freude über den Lippenstift störte mich, ich erkannte daran, dass sie für mich nur Sex war. Plumper, lästiger Sex. Und eine Qual, zu wissen, dass sie so unzufrieden und unwissend war. Manchmal lernte sie etwas dazu, aber ihre törichten Begeisterungsausbrüche, ihr brüsker Widerstand und ihre Naivität ärgerten mich. Der Gedanke, an sie gebunden zu sein, ihr etwas zu schulden, zum Beispiel Zeit, belastete mich jedes Mal. Eines Abends, unter den Arkaden des Bahnhofs, hatte ich sie untergefasst und wollte, dass sie mit in mein Zimmer hinaufkäme. Der Sommer ging zu Ende, und am nächsten Tag kehrte der Sohn meiner Vermieterin aus dem Ferienlager zurück; wenn er in der Wohnung war, konnte man unmöglich eine Frau zu Besuch haben. Ich bat sie, flehte sie an mitzukommen, scherzte, alberte herum. »Ich fresse dich nicht«, sagte ich zu ihr. Sie wollte nichts davon wissen. »Ich fresse dich nicht.« Dieser störrische Widerstand verletzte mich. Sie drückte fest meinen Arm und wiederholte:
»Lass uns ein wenig bummeln.«
»Danach gehen wir ins Kino«, sagte ich lachend zu ihr. »Ich habe Geld.«
Und sie mürrisch: »Ich gehe nicht wegen dem Geld mit dir.«
»Aber ich«, sagte ich ihr ins Gesicht, »ich gehe mit dir, um mit dir zu schlafen.« Entrüstet sahen wir uns an, beide rot im Gesicht. Später schämte ich mich, ich glaube, allein hätte ich hinterher vor Wut geheult, wenn ich nicht so stolz und froh gewesen wäre, weil ich nun frei war. Cate weinte, die Tränen liefen ihr über die Wangen. Leise sagte sie: »Gut, dann komme ich mit.« Wortlos gingen wir bis zu meiner Haustür; sie drückte mich und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht an meine Schulter. An der Tür blieb sie stehen. Sie kämpfte mit sich, sagte: »Nein, ich glaube dir nicht«, umklammerte meinen Arm wie mit einem Schraubstock und rannte davon.
Nach diesem Abend sah ich sie nicht mehr. Ich dachte nicht viel an unsere Geschichte, weil ich glaubte, sie würde wiederkommen. Als ich aber begriff, dass sie nicht wiederkam, war die brennende Scham über meine Gemeinheit längst erloschen, mein Horizont waren erneut Gallo und die anderen Freunde, und im Grunde genoss ich schon die Lust am befriedigten Groll, an der glücklich verpassten Gelegenheit, die mir dann zur Gewohnheit wurde. Selbst Gallo sprach nicht mehr mit mir darüber, er hatte keine Zeit dazu. Als Offizier zog er nach Afrika in den Krieg, und ich sah ihn länger nicht mehr. In jenem Winter vergaß ich seine Agrarwissenschaft und die Landwirtschaftsschule, ich wurde ganz Städter und verstand, dass das Leben wirklich schön war. Ich verkehrte in vielen Häusern, redete über Politik, lernte andere Gefahren und Vergnügen kennen und kam immer heil davon. Ich begann mit einer wissenschaftlichen Arbeit. Ich traf Leute und lernte Kollegen kennen. Einige Monate lang studierte ich viel und tat so, als hätte ich eine Zukunft. Dieser Schatten eines Zweifels in der Luft, dieses allseitige Fieber, die Bedrohung, der nahende Krieg machten die Tage lebendiger und die Gefahren nichtiger. Man konnte sich hingeben und dann wieder weitermachen: Nichts geschah, und alles war schmackhaft. Morgen, wer weiß.
Jetzt passierten die Dinge, und es war Krieg. In der Nacht dachte ich daran, als ich im Lichtkegel saß und meine zwei Alten schliefen, wohlanständig, pathetisch und friedlich. Was geht einen auf dem Hügel der Alarm an, wenn alle zu Hause sind und kein Licht durch die Ritzen dringt? Auch Cate schlief in dem Haus in den Wäldern. Dachte sie noch an meine damalige Gemeinheit? Ich dachte daran, als wäre es gestern gewesen, und war nicht unzufrieden, dass unsere Begegnung so kurz gewesen war und im Dunkeln stattgefunden hatte.
Einige Tage dachte ich daran, während ich in Turin arbeitete, herumlief, abends heimwanderte und mich mit Belbo unterhielt. Eines Nachts war ich im Obstgarten, als wieder ein Alarm losging. Die Luftabwehr begann sofort zu schießen. Wir zogen uns ins Zimmer zurück, das von den Schlägen bebte. Draußen pfiffen die Geschosssplitter zwischen den Bäumen. Elvira zitterte; die Alte schwieg. Dann hörte man das Dröhnen der Motoren und die dumpfen Einschläge. Unentwegt leuchtete das Fenster grellrot und sprang auf. Es dauerte mehr als eine Stunde, und als wir bei den letzten, vereinzelten Schüssen hinaustraten, stand das ganze Tal von Turin in Flammen.
Am Morgen kehrte ich mit vielen Leuten in die Stadt zurück, während in der Ferne noch Explosionen und Getöse nachhallten. Überall liefen Menschen mit schweren Bündeln herum. Der Asphalt der Alleen war mit Löchern, Laubschichten und Pfützen übersät. Es sah aus, als hätte es gehagelt. Im hellen Licht knisterten rot und schamlos die letzten Brände.