Über dieses Buch
Der Icherzähler ist Schriftsteller und reist in ein Schweizer Städtchen, um eine Schulklasse eine Woche lang in kreativem Schreiben zu unterrichten. Im einzigen Kebabladen des Orts trifft er Safir, den Wirt. Die zwei pflegen ihre Sehnsucht nach dem Dorf, erzählen sich Geschichten, und allmählich erfährt der Erzähler Safirs Geschichte. Safir und seine Frau Narin hatten einst die Homosexualität ihres Sohnes Beyto nicht akzeptieren wollen und ihn im Heimatdorf überraschend mit einer Cousine verheiratet. Aber Beyto hat sich aus dem für ihn vorgesehenen Leben abgesetzt und lebt heute in London.
Verschiedene Erzählebenen flechten sich ineinander. Geduldig hört der Erzähler zu, wie Safir gelernt hat, mit der Homosexualität seines Sohnes zu leben, und er hat ein Ohr für seine emanzipierte b & b-Gastgeberin Regine Dalcher, die ihr Leben ganz auf ihren behinderten Bruder ausgerichtet hat. Behutsam begleitet er die Schüler in ihren Versuchen, mit ersten Texten dem eigenen Leben Ausdruck zu geben.
Als der Erzähler wieder nach Hause reist, schickt ihm Safir eine sms nach: «Wenn du meine Geschichte schreiben willst, stell sie so dar, als wäre sie auch deine eigene.»
Yusuf Yeşilöz
Die Wunschplatane
Roman
Limmat Verlag
Zürich
Foto EJY/Limmat Verlag
Yusuf Yeşilöz, geboren 1964 in einem kurdischen Dorf in Mittelanatolien, kam 1987 in die Schweiz. Heute lebt er mit seiner Familie in Winterthur und arbeitet als freier Autor, Übersetzer und Filmemacher. Seine Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen die Romane «Hochzeitsflug» und «Soraja» sowie der Geschichtenband «Kebab zum Bankgeheimnis».
Endlich schien die Sonne. Ich öffnete die Fensterläden meines Schlafzimmers und schaute hinaus in den blauen Himmel. Wo waren all die dichten und schwarzen Wolken vom Vorabend?
Meinen Kaffee trank ich stehend vor dem offenen Küchenfenster. Ich schaute in den Garten und sog die frische Luft ein. Die neue Frauenstimme vom Staatsradio verkündete in meinem Rücken mit Begeisterung, dass die ganze Woche sonnig und warm werde und den wärmsten April verspreche, seit es Messungen gebe.
Die Narzissen leuchteten goldgelb in der Morgensonne. Zwei Amseln saßen dicht nebeneinander auf einem dünnen Ast in der alten Platane. Sie schauten auf eine dritte hinunter, die unter dem Baum eifrig in der Erde wühlte.
Der Baum fragte die Amsel, was sie sich wünschen würde, wenn sie ein Pfund Gold fände.
«Mit der Hälfte kaufte ich Weizenkörner», antwortete diese.
«Und mit der zweiten Hälfte?»
«Auch mit der zweiten Hälfte kaufte ich Weizenkörner.»
Als die drei Amseln wegflogen, schloss ich das Fenster.
Der Zug hatte um die Vormittagszeit keine Verspätung, mein Waggon in der Mitte des Zugs war zu zwei Drittel leer. Keine Spur von Dichtestress, dem Wort des Jahres, ich hatte ein Abteil für mich allein.
Ein privates Gymnasium in einer kleineren Schweizer Stadt hatte mich eingeladen, eine ganze Woche lang eine Klasse beim Schreiben zu betreuen. «Wir wollen unsere Kids, die ständig am Smartphone hängen, motivieren, von Hand auf Papier zu schreiben», stand in der ersten Mail der Schule. Der Termin war bereits vor über acht Monaten vereinbart worden, der Vertrag beiderseits unterschrieben. Neben meinem Honorar stand auch darin, dass ich exakt dreiundzwanzig Schreibende in der Klasse haben würde, falls auch im nächsten Semester noch alle diese Schule besuchten. Die Schülerinnen und Schüler seien fünfzehn bis siebzehn Jahre alt. Außerdem informierte mich die Rektorin Frau Kahn im beiliegenden Brief, dass, falls bis dahin eine Schülerin oder ein Schüler aus irgendeinem Grund nicht mehr in der Klasse sein sollte, die Klassenlehrpersonen, Herr Jürgen Amato und Frau Jolanda Kissling Amato, das Paar, das sich eine Hundertprozentstelle teile, mich rechtzeitig informieren würde. Dass das Paar sich eine Stelle teilte, war in Klammern gesetzt, dazu die Mitteilung, das Paar teile sich die Stelle nicht etwa, um die eigenen Kinder zu betreuen, sondern um die zwei Enkelkinder zu hüten.
Diese Information fand ich rührend.
Danach hatte Frau Kissling Amato das Zepter übernommen und mir einmal pro Woche eine Mail geschrieben. Sie hatte immer gute Gründe zu schreiben: Einmal fragte sie, ob ich in acht Monaten noch in der Schweiz leben würde. Ich antwortete, dass ich doch eingebürgert sei, worauf sie zurückschrieb, dass dies eine wunderschöne Nachricht sei. Ein anderes Mal schrieb sie, in der vereinbarten Woche seien in meinem Wohnkanton doch hoffentlich keine Schulferien. Sie wolle nicht riskieren, dass ich als Familienvater dann meiner Familie fehlen würde. Sie schrieb mir noch viele Mails zum Organisatorischen, unter anderem zur Frage, ob ich Wasser mit oder ohne Kohlensäure wolle. Von fehlenden Schülern schrieb sie nie, also nahm ich an, dass ich mit dreiundzwanzig jungen Menschen Schreibübungen machen würde, und zwar von Montagmittag bis Donnerstagnachmittag, sieben halbe Tage. Am Freitag würden die Schreibenden ihre Texte den Lehrern, Schülern und auch ihren Angehörigen vortragen, danach würden wir bei einem Stehimbiss im Schulhof verpflegt mit einem Apéro riche. Es seien auch vegetarische Häppchen für diejenigen, die kein Pork – sie schrieb das genauso – äßen, bestellt worden. All das hatte mir Frau Kissling Amato rund vier Monate vor dem Anlass mitgeteilt.
Ich suchte auf meinem Smartphone die Adresse des B & B Adler, wo das Schulsekretariat mir ein Zimmer für vier Nächte reserviert hatte, es schien nicht weit vom Bahnhof zu sein. Dann suchte ich mit dem Stichwort «Kebab» ein Esslokal für die vier Tage. Zu meiner Überraschung fand ich nichts. Eine Schweizer Kleinstadt ohne Kebabladen? Das gabs doch nicht!
«Was mache ich fünf Tage ohne Kebab?», stöhnte ich.
«Vegetarisch und gesund essen!», sagte eine Männerstimme. Erst jetzt bemerkte ich, dass inzwischen ein Ehepaar nebenan Platz genommen hatte. Die Frau versuchte mich zu trösten und meinte, dass der Kebabladen vielleicht unter einem anderen Begriff im Telefonbuch eingetragen worden sei.
«Kebabläden sind für mich wie ein Magnet, obwohl ich gar nicht so viel Fleisch esse», sagte ich, als müsse ich mich rechtfertigen.
Einmal hatte mich jemand gefragt, ob ich mehr Museen oder mehr Kebabläden besucht hätte, seit ich hier wohne. Natürlich sagte ich Museen und schämte mich im Stillen ein wenig wegen meiner Unehrlichkeit.
«Unsere Kinder lieben Döner Kebab!», sagte der Mann mit einem Dreitagebart im schmalen Gesicht.
Als ich ausstieg, wünschten mir die beiden guten Appetit.
Der massige Taxifahrer in kariertem und kurzärmligem Hemd und einer Dächlikappe mit der Reklame für eine einheimische Käsesorte auf dem Kopf war sichtlich enttäuscht, mich nicht als Fahrgast zu bekommen.
«Heute will kein Schwein Taxi fahren», beklagte er sich, «nicht einmal Betagte! Sie wollen die Sonne genießen und sich die Beine vertreten.»
Er erklärte mir dennoch, ziemlich uninteressiert und ohne mich dabei anzuschauen, dass ich die eine Gasse hochgehen solle, dann rechts, nach fünfzig Metern wieder rechts, dann geradeaus. Dort sei das Beyto Kebab House. Das war schon mal vielversprechend, ich suchte meine Pension auf.
Mein Zimmer war noch nicht bereit. Man habe der Schulleitung mitgeteilt, dass ich nicht vor vierzehn Uhr einchecken könne, ob das nicht so kommuniziert worden sei, fragte mich die Frau in einem weißen Hemd und einem bunten Tuch um den Hals. Sie vertrete die Chefin, Frau Dalcher, in ihrer Pause. Das nahe gelegene Restaurant Sternen sei ausgezeichnet und preiswert, ich könne die Zeit bis vierzehn Uhr dort verbringen, fügte sie hinzu in einem Schweizer Dialekt, den ich keinem Kanton zuordnen konnte. Das Gepäck durfte ich in der Rezeption abstellen.
Das Beyto Kebab House war im Parterre eines unscheinbaren, grauen Wohnhauses aus den Sechzigerjahren untergebracht. Davor standen drei junge Frauen an einem Stehtisch, die in ihre Döner bissen. Alle drei trugen enge Bluejeans und schwarze Leibchen, und sie hatten lange Haare, die über die Schultern reichten. Alle drei hielten in einer Hand einen Döner, in der zweiten das Smartphone. Ihre beiden Daumen tippten so flink auf das Display ein wie Meisen, die Körner picken.
Der Dönerladen hatte einen seitlichen Anbau mit Wänden aus Glas. Der provisorische Anbau grenzte an eine Autogarage. Der starke Geruch nach frittierten Pommes stach mir in die Nase wie eine Nadel.
Die obligaten Fotos der Menüs waren an der Spiegelwand über der Theke angebracht. Fotos und Preise sind in jedem Dönerladen die gleichen, egal in welcher Gasse in welchem Dorf der Schweiz. Sie mussten alle aus dem Computer eines einzigen Grafikers stammen.
Ein blonder, schmächtiger Junge – hätte ich ihn auf der Straße gesehen, hätte ich angenommen, er sei der Assistenztrainer einer Quartierfußballmanschaft – nahm meine Bestellung entgegen. Nach dem Namensschild zu schließen, Lukas, war er ein Schweizer. Zu meiner Überraschung ratterte er denselben Fragenkatalog herunter, mit demselben fehlerhaften Deutsch wie überall: Kebab im Täschebrot, im Fladenbrot, Kebab mit alles, mit Zwieble, mit Joghurtsauce, mit Cocktailsauce, mit Scharf, mit ooni Scharf, Kebab zum da Ässe, Kebab zum Mitnehmen und so weiter.
Ich bestellte Kebab «mit ooni Zwieble, mit ooni Cocktailsauce, sonst mit alles» und begab mich an einen Stehtisch. Nach drei Minuten servierte Lukas mir Döner im Täschebrot auf einem weißen Teller. Es duftete nach gebratenem Fleisch und Knoblauch, ich begann sofort zu essen. Die Joghurtsauce lief mir aus den Mundwinkeln, ich verbrauchte mindestens vier Servietten. Ob das Kebab mir besonders schmeckte, konnte ich gar nicht sagen, der Geschmack war mir ja zweitrangig. Mir war es mehr darum gegangen, in dem Städtchen auf Spuren meiner Landsleute zu stoßen.
Der schmächtige Lukas rief von der Theke, ob ich einen Kaffee wolle, aufs Haus. Ich bedankte mich und sagte Nein. Den Espresso wollte ich später trinken und verlangte die Rechnung, Frau Kissling Amato hatte mir einen «sehr guten Kaffee» im Lehrerzimmer angekündigt.
Lukas sagte etwas verlegen, dass er die Kasse nicht bedienen dürfe, er müsse den Chef holen.
«Wie heißt denn dein Chef?»
«Safir!», sagte er und sprach den Buchstaben S wie ein Z.
Ich war glücklich, dass hinter dem Laden doch ein Landsmann stand und nicht fremde Vögte in den wichtigsten Geschäftsbereich meiner Landsleute eingedrungen waren. Umgehend kam der Wirt aus der Küche, ein Mann von etwa eins achtzig und breit wie eine Tür. Eigentlich wie es von einem Wirt zu erwarten war. Er trug einen orangen Arbeitskittel und war halb ergraut, hatte aber nicht den bei meinen Landsleuten beliebten Schnauz im frisch rasierten Gesicht.
Was ich gegessen hätte, fragte er auf Deutsch. Einen Sprachfehler konnte ich in seinem Satz nicht ausfindig machen. Als ich auf Türkisch antwortete «Einen Döner und ein Wasser», schaute er mich überrascht an, nahm seine Finger von der Kasse und fragte, ob ich Türke sei.
«Ich kann Türkisch.»
Er lachte laut. Ich sah mindestens zwei Zahnlücken in seinem Mund.
«Bist du Kurde?»
«Ja, das bin ich.»
«Früher hätte deine Antwort meine nationalistische Ader geritzt. Ich habe mich, Gott sei Dank, daran gewöhnt, dass Kurden sich nicht als Türken bezeichnen.»
«Ich wollte keine Politik machen. Aber weil du nach der Ethnie fragtest, hab ich so geantwortet.»
«Kein Problem, Bruder, kein Problem. Du hast richtig geantwortet.»
«Wann hast du deinen Gesinnungswandel vollzogen?»
«Erst, nachdem ich in meinem Leben einen Erdrutsch erlebt habe. Er hat meine Augen und mein Herz geöffnet, und vor allem bin ich dadurch mitfühlender gegenüber den anderen geworden. Die Erschütterung spülte mich wie ein Stück morsches Holz im Fluss von einer Seite auf die andere.»
«Und was war das für ein Ereignis, das dich so erschüttert hat?»
«Eine lange Geschichte, Bruder, eine lange Geschichte! Der ganze Tag reichte nicht aus, sie zu erzählen. Wenn der Allmächtige uns die Zeit schenkt, werde ich sie dir erzählen.»
«Ich will nur zahlen und gehen!», sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln.
«Hast du einen Kaffee getrunken?»
«Danke. Der Junge hat mir zwar einen angeboten. Ich muss aber gehen.»
«Warum diese Eile, Landsmann, die Sonne läuft dir nicht davon!»
«Weil ich um zwei Uhr in der Schule mit meiner Arbeit beginne.»
«Du hast ja noch Zeit. Bist du der Putzmann oder der Hauswart?»
«Weder noch.»
«Was bist du denn? Du machst es aber spannend!»
Ich fragte ihn, wie viel ich zu zahlen hätte, obwohl ich im Kopf die Rechnung schon gemacht hatte. Aber er wollte nicht kassieren, mit der Begründung, in diesem Städtchen gäbe es wenige Landsleute und diese tauchten bei ihm nur selten auf. Er sei glücklich, dass ich seinen Laden betreten hätte und er mich einladen dürfe. Der Junge habe das Essen sowieso noch nicht eingetippt.
Ich war nicht einverstanden, und es entstand ein Disput zwischen uns, wir wurden so laut, dass die wenigen Gäste im Laden auf uns aufmerksam wurden. Schließlich fanden wir eine Lösung: Ich durfte das Essen zahlen, und er lud mich zu einem Espresso ein. Er akzeptierte meinen Vorschlag nur widerwillig und erst, nachdem ich beim heiligen Buch geschworen hatte, dass ich seinen Laden nie mehr betreten würde, wenn er nicht kassierte. Zum Glück wusste er nicht, dass ich keine Zeile des heiligen Buchs kannte und ich einem Kebabladen ohnehin nicht widerstehen konnte. Eigenhändig machte Safir mir einen Espresso, nachdem er die weiße Tasse lange unter warmes Wasser gehalten hatte. Er brachte ihn mir an die Stehbar.
«Ich habe dich hier noch nie gesehen, Bruder. Bist du neu im Land?»
«Im Land nicht, aber ich bin das erste Mal in diesem Städtchen.»
«Was machst du denn hier in der Schule?»
Ich zögerte. Vielleicht sollte ich dem Landsmann nicht verraten, dass ich schreibe, weil ich manchmal enttäuscht war, wenn sie nichts von meiner Schriftstellerei gehört hatten. Einmal aß ich im Laden eines Kebabverkäufers, der keine Ahnung davon hatte, dass eine Zeitung in seinem Ständer just an jenem Tag ein Porträt von mir veröffentlicht hatte. Landsleute, die mich irgendwo in einer Zeitung gesehen hatten, wollten mich aber immer und unbedingt zum Döner einladen.
Ich brachte doch noch über die Lippen, dass ich Bücher schreiben und in der Schule eine Woche lang eine Klasse beim Schreiben betreuen würde.
«Oho, wir haben es mit einem Berühmten zu tun!», rief Safir.
«Berühmt bin ich gar nicht und will es auch nicht sein», gab ich zur Antwort, etwas überrumpelt von seiner ironischen Bemerkung.
«Vielleicht insgeheim ja doch? Wie ist dein voller Name?» «Berühmter als ein Kebabverkäufer werde ich jedenfalls nie!»
Safir lachte laut.
Ich reichte ihm meine Visitenkarte, die ich aus der Brusttasche meines Cordsakkos zog. Er holte aus einer Schublade seine Lesebrille hervor, betrachtete die Karte aufmerksam und murmelte meinen vollen Namen vor sich hin, wobei er jede Silbe betonte. Er wandte sich mir zu und sagte, dass er glaube, den Namen schon mal von einem Kunden gehört zu haben.
«Schreibende freuen sich sehr, wenn selbst Dönerladenbesitzer ein Buch von ihnen gelesen haben.»
«Es essen auch nicht alle einen Döner, Bruder! Ein Buch lesen, das mache ich vielleicht noch in meinem Leben!», lachte Safir und gab Lukas meine Visitenkarte mit der Aufforderung: «Luki, google mal!»
Auf meine Frage, warum er einen Schweizer Jungen beschäftige, was mich überrascht habe, erzählte mir Safir, dass Luki aus der Schule geworfen worden sei, weil er nur unregelmäßig dorthin gegangen sei. Er wollte lieber neue Maschinen erfinden, die kein Öl und keinen Strom brauchten. Jetzt mache er bei ihm ein inoffizielles Beschäftigungsprogramm, er sei ihm von Fachleuten, die bei ihm äßen, vermittelt worden.
«Lukas ist aber ein Superjunge!» Den letzten Satz sagte er auf Deutsch.
Lukas hatte inzwischen recherchiert und reichte seinem Chef das Smartphone. Safir strich mit dem Zeigefinger vorsichtig über das Display, als würde er Bienen berühren, und sprach, ohne seinen Blick vom Telefon zu lösen: «Du hast einiges gemacht, Bruder, jetzt erinnere ich mich genau an die Kundin, die mir von meinem schreibenden Landsmann erzählte, wahrscheinlich meinte sie dich. Du hast mich aber wirklich beleidigt, weil du unbedingt dein Essen bezahlen wolltest. Gewähre mir die Ehre, dich einzuladen!»
Er schaute mich an. Sein Blick war streng, als hätte ich etwas sehr Schlimmes verbrochen. Er forderte Lukas auf, mir das Geld aus der Kasse zurückzuzahlen. Ich trat einen Schritt zurück und schwor diesmal beim Grab meines Vaters, dass ich das Geld nicht zurücknehmen würde.
«Ich bin die nächsten vier Tage hier und komme sicher zu einem Tee vorbei.»
«Nicht nur zum Tee! Ich nehme dich beim Wort», sprach er, während er sich der Kasse zuwandte, um von den letzten Gästen das Geld zu kassieren. Er war mit ihnen per Du, es schienen seine Stammgäste zu sein, ein Mann mit Krawatte und Glatze und eine Frau mit kurzen Haaren im grauen Anzug, beide um die vierzig.
Ohne mich zu fragen, goss Safir hinter der Theke aus einem Samowar Schwarztee in schmale Gläser, kam hinter der Theke hervor, in jeder Hand ein Glas Tee, und bat mich an einen Tisch am Fenster. Er drehte sich eine dicke Zigarette und fragte, ob ich auch eine wolle. Statt sie anzuzünden, roch er an dem gelben Tabak.
Seit wann er hier lebe, fragte ich ihn, um das Gespräch wieder aufzunehmen. Wir fanden heraus, dass er drei Jahre vor mir in die Schweiz gekommen war, also vor einunddreißig Jahren.
Warum er in diesem Städtchen gelandet sei, ob die inzwischen stillgelegte Industrie hier Menschen aus der Türkei angezogen habe, wollte ich noch wissen.
«Es ist eine lange Geschichte, Bruder, eine lange Geschichte, warum ich in diesem Städtchen gelandet bin!», sagte er mit einem tiefen Seufzer. Er schaute nicht mich an, sondern blickte in die silberne Tabakbüchse vor sich.
Ich wechselte das Thema, und er erzählte, dass er in einem Dorf in Kappadokien, in der Region mit den berühmten Feenkaminen, aufgewachsen sei.
«Im schönsten Dorf der Welt, inmitten von Reben und Granatapfelbäumen.»
«Warum bist du damals ausgewandert, Safir?»
«Der lockere Hosenschlitz meines Bruders hat mich in die Fremde verschlagen.»
«Erzähl mir mehr darüber, wie ein Hosenschlitz einen Menschen zur Auswanderung bewegt, damit ich verstehe.»
«Das ist auch eine lange Geschichte, Bruder. Sagen wir, ein Südwind hat mich hierher in den Norden geblasen.»
«Metaphern sind schön, Safir, aber nur für die Klugen, die sie verstehen.»
«Also, nur kurz und dir zuliebe: Es bedeutet, dass mein Bruder Mamdoh das Vermögen der Familie für Raki ausgegeben hat, den er aus dem Bauchnabel der Frauen trank. Und ich musste für die große Familie viel Geld verdienen. Weil das in unserem Land unmöglich war, ging ich in die Fremde, die einen schon vom ersten Tag an melancholisch macht.»
Ich war überrascht, schaute ihn wortlos an.
«Erzähl mir mehr darüber, Safir, wie das Vermögen der Familie als Schnaps aus dem Bauchnabel der Frauen getrunken wird?»
«Wenn der Allmächtige es dir einmal gönnt, dich mit meinem Bruder Mamdoh zu befreunden, zeigt er dir sehr genau, wie das geht. Nimm aber in diesem Fall viel Kohle mit!»
Wir lachten.
Safir fragte, ob meine Auswanderung damals politisch motiviert gewesen sei.
«So ist es.»
«Wie ist es zu deiner Flucht gekommen?»
«Ein Brief meines Vaters hat mich in die Fremde verschlagen.»
«Sag mehr darüber!»
«Nur kurz und dir zuliebe: Ich lebte im Untergrund und arbeitete unter einem falschen Namen auf der Baustelle einer Pipeline in der Südtürkei, in der Provinz Adana. Vater schickte mir einen Brief, um mir die Freudenbotschaft zu überbringen, dass von unseren zweihundert schwangeren Schafen dreißig Zwillinge geboren hatten. Ein einmaliges Ereignis in seinem Leben. Den Brief schickte er mir leider an meinen richtigen Namen.»
«Warum warst du versteckt, Bruder?»
«Weil ich Bücher in meiner verbotenen Muttersprache verfasst hatte. Es wäre aber eine lange Geschichte, wenn ich dir erzählen sollte, warum ein Buch für einen Staat mit einer achthunderttausend Mann starken Armee zu gefährlich war. Eines Tages erzähle ich dir dann alles.»
«Wie du willst, Bruder, dazu zwingen kann ich dich ja nicht!»
Ich nahm mein Glas in die Hand, der Tee war zu heiß. Ich hatte noch etwas Zeit. Wohl, um die Stille zu durchbrechen, summte Safir eine Melodie, die ich von früher, aus der Türkei kannte, aber in diesem Augenblick nicht einordnen konnte.
«War diese Melodie das bekannteste Lied in dem Jahr, als du dein Land verlassen hast, Safir?»
Eine Minute lang schwiegen wir. Ich war mir sicher, dass auch er einen Spaziergang in seine Kindheitserinnerungen machte.
Er wusste nicht, ob das Lied damals ein Hit war. Er singe immer nur dieses Lied, obwohl vielleicht hunderttausend andere Lieder komponiert worden seien, seit er aus dem Land weg sei, denn sein Kopf, also seine Erinnerungen an die Musik, seien vor einunddreißig Jahren stecken geblieben.
«Was ist das für ein Lied?»
«Ein Lied von Manço.»
Und er begann flüsternd zu singen:
Es sind schon Jahre,
dass ich aus dem Dorf bin.
Viele Jahreszeiten dahin,
seit wir uns nicht gesehen haben.
Keine Nachricht von dir,
seit du weg bist.
Hast du mich vergessen?
Bist du mir böse?
Gestern träumte ich von dir.
Ich hatte Tränen in den Augen.
Meine süßen Tage sind Erinnerungen.
«Und welches Lied singst du immer wieder?», fragte Safir. Ohne auf meine Antwort zu warten, fügte er hinzu: «Eure Lieder waren ja im Radio und Fernsehen nicht erlaubt! Wir hatten im Dorf eine kurdische Nachbarin. Ihr Mann hatte in ihrer Heimat, die tausend Kilometer weit entfernt war, Militärdienst geleistet und sie in unser Dorf gebracht, richtig gesagt: die Schönheit aus ihrer Familie entführt. Wenn sie die Fenster des Lehmhauses schloss und die Vorhänge zog, ahnten wir, dass sie Lieder aus ihrem Dorf sang.»
«Wie hieß sie?»
«Sare.»
«So hieß auch meine Großmutter, Safir.»
Sivan Perwers Kassette, die mit dem Lied «Hawar, Hawar, Hilfe, sie besetzten meine Heimat, nahmen mich als Geisel in meinem eigenen Netz» begann, war in meiner früheren Heimat die meistverkaufte Schmuggelware. Das Lied wurde als Tanz- und Schlaflied gesungen. Ich hatte über das Thema während zwei Jahrzehnten mehrere Texte geschrieben, deren Inhalt immer ähnlich war, weil das Problem ja auch immer dasselbe blieb.
Mit Safir wollte ich nicht politisieren, ich sagte ihm, dass ich mich an die Liebeslieder aus dem Dorf erinnern würde. Meistens seien diese Lieder entstanden, weil ein junger Mann und eine junge Frau ihre Liebe nicht leben durften. Bevor ich mich für die große Welt und die Politik zu interessieren begonnen habe, seien das meine liebsten Lieder gewesen.
«Heute, im Alter von bald fünfzig Jahren, singe ich nicht mehr. Und von Manço habe ich das lustige Lied, ‹Mein Freund Esel› in Erinnerung. Ich konnte mich nicht satthören, wenn er im Schwarz-Weiß-Fernseher meiner Eltern ‹Mein Freund Esel› sang.»
«Ich erinnere mich, jetzt, wo du davon sprichst. Wie war der Text?», fragte Safir.
«Mein Freund Es, mein Freund El, mein Freund Esel.»
Wir lachten beide.
«Das haben die Hirten meines Dorfes, die ihre sechzehn Stunden des Tages auf der Weide mit Eseln befreundet waren, sehr gemocht. Die Strophe ‹Wenn ich auf das Wasser schreibe, kann die Spur stehen bleiben?› finde ich sehr poetisch.»
«Wir vermissen diese Vergangenheit!», meinte Safir.
«Wir brauchen vielleicht diese Sehnsucht, um die Nabelschnur zu ihr nicht zu verlieren», behauptete ich und fragte ihn, ob er auch einen Sänger aus seinem neuen Land so gut kennen würde.
Safir überlegte einen kurzen Moment.
«Nicht wirklich. Manchmal lese ich diese farbige Zeitung, die dort im Ständer steht, die ist ja voll mit solchen Namen, aber ich kenne keine Strophe eines Musikers auswendig.»
«Denkst du, dass du dich hier zu Hause fühlst, Safir?»
«Meinst du, ob ich mich mit meinen sechzehn Stunden am Tag, die ich im Kebabladen verbringe, irgendwo zu Hause fühle?»
«Ich weiß es nicht. Ich kenne dein Leben hier zu wenig.»
«Lebst du von deinen Büchern?», fragte Safir mich nach einer kurzen Stille.
«Das ist auch eine lange Geschichte!», antwortete ich ausweichend und fragte, ob er mit seinem Leben hier im Laden zufrieden sei.
Er stöhnte.
«Heißt das, dass es dir hier im Laden nicht gefällt?»
«Eine lange Geschichte, mein Bruder. Zufriedenheit und Glück sind etwas anderes, sind wie ein schöner Schmetterling, den du zufällig einmal gesehen hast und auf den du ein Leben lang wartest.»
«Ich habe diese Metapher noch nie gehört.»
«Zu Recht, weil sie außer mir niemand kennt.»
Wir rührten lange im Teeglas. Ich warf einen Blick auf meine Uhr.
«Es gibt aber auch Menschen, die das Leben in vollen Zügen genießen können.»
«Das sind nicht die Menschen, die wie ich kaum an der Sonne sind, Bruder, ich bin sechzehn Stunden am Tag hier. Was rieche ich den ganzen Tag?»
«Momentan riechen wir nur heißes Öl.»
«Genau, das und der Zwiebelgeruch dazu haben auf meine Lunge gepisst!»
Ungewollt laut lachte ich auf. Safir entschuldigte sich umgehend für das Unwort.
«Hast du keinen anderen Ausweg?», fragte ich.
«Ausgaben, Löhne, Schulden, meine Familie, mein K …»
Ich dachte, jetzt würde er über seine Kinder erzählen. Mehr kam aber nicht. Stattdessen sagte er, dass seine Frau Narin ihn um vierzehn Uhr hier ablösen werde, er gehe dann einkaufen für den Laden. Wenn ich wolle, könne er mit mir später in ein Café gehen, in ein Café mit Blick auf den Fluss, man könne dort zusammen ein Backgammon spielen.
«Gibt es hier tatsächlich ein Café, wo wir Backgammon spielen können?»
«Das gibt es natürlich nicht. Das war ein Spruch in unserem Dorf, wenn zwei Männer ins Dorfcafé Tee trinken gingen. In den Cafés in diesem Städtchen spricht man leise, isst Kuchen und liest Zeitungen.»
Ich schaute auf die Uhr, sagte ihm, dass ich bald in der Schule sein müsse, und stand auf.
«Ich hoffe, du besuchst mich in diesen Tagen», sagte er, bevor er mir die Hand gab. Er rief Lukas zu sich, erklärte ihm, dass ich in diesen Tagen nichts zu bezahlen hätte.
«Ja klar, wenn der Chef es sagt!»
«Zu deiner Gastfreundschaft hab ich wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden», mischte ich mich ein.
«Das gilt in diesem Fall nicht!», antwortete Safir, betonte das türkische Wort für «gelten» – geçersiz –, indem er es melodisch in die Länge zog. Er begleitete mich hinaus.
Dann wollte er mich unbedingt mit seinem Auto, das vor dem Gebäude geparkt war, die fünfhundert Meter zur Schule fahren. Es entstand wieder eine Diskussion. Wir gerieten fast in Streit, ich sagte am Schluss klipp und klar, dass ich nicht mit so einem großen Wagen zur Schule gefahren werden wolle. Ich gewann den Streit, er resignierte mit dem Satz: «Du bist ein eigensinniger Ziegenbock, der nicht erlaubt, von einem Landsmann, der sich über deinen Besuch freut, bedient zu werden!»
Ein paar Meter zu gehen an der frischen Luft würde auch ihm guttun, meinte er und begleitete mich. Die Straße war verkehrsreich und lärmig, ich verstand ihn kaum, wenn er sprach.
«Meine ja nicht, Bruder, dass ich wie Leim an dir klebe, weil ich dich nicht gehen lasse. Dein Besuch hier freut mich einfach.»
«Leim bist du nicht, Safir! Ich habe mich auch gefreut, dich hier zu treffen.»
«Ich verkehre nicht im Kreis der Landsleute, die hier im Vergleich zu den größeren Ortschaften ohnehin sehr wenige sind. Wir sind von einer größeren Stadt hierher gezogen, vor vier Jahren.»
«Warum der Wechsel in diesem Alter?»
«Eine lange Geschichte, Bruder, eine lange, wie ich dir schon mal sagte.»
Ich entschuldigte mich für meine Neugier. Er pausierte, wir liefen etwa fünfzig Meter weiter.
«Dort habe ich ein starkes Erdbeben überlebt!»
«Seit ich in der Schweiz bin, habe ich nie von einem starken Erdbeben hier gehört.»
«Ein Erdbeben in anderem Sinn. Wenn der Allmächtige uns die Zeit schenkt, können wir darüber reden. Heute reicht es nicht.»
«Versteh mich nicht falsch, ich will nicht wissen, was du mir nicht erzählen willst.»
«Ich weiß schon, dass du nicht wie ein Geschwätziger ausschaust!»
Safir blieb stehen und zündete die Zigarette an, die er schon im Laden gedreht hatte. Bevor er sie in den Mund steckte, bot er sie mir an. Er war erstaunt, dass ich Nichtraucher war.
«Mir ist, als sei die Sonne im Westen aufgegangen, ein Landsmann, der nicht raucht!»
«So überraschend sollte das nun auch nicht sein. Ich kenne andere Landsleute, die nicht rauchen. Mein Vater rauchte täglich drei Packungen, das war mir eine Lektion für das ganze Leben.»
«Das war aber eine gute Lektion. Ich wünsche dir eine gute Zeit mit den jungen Menschen», sagte er und verabschiedete sich mit einem kräftigen Händeschütteln. Er ließ meine Hand erst los, nachdem ich ihm versprochen hatte, dass ich nach der Schule bei ihm vorbeikommen würde. Zur Sicherheit schrieb er meine Telefonnummer auf, obwohl sie auf der Visitenkarte stand.
«Es würde mich freuen, wenn du mich mit deinem Besuch beehrtest», schrie er mir laut nach.
Jolanda Kissling Amato wartete vor dem vierstöckigen Schulhaus auf der Eingangstreppe aus altem Granitstein. Ihr scharfer Blick erkannte mich gleich, schon aus dreißig Metern Entfernung kreischte sie vor Freude. Ihre Stimme zitterte beim Vorstellen, sie erwähnte ihren Doppelnamen gleich zweimal. Sie hatte hellgrüne, warme Augen und Falten im breiten Gesicht. Sie war sicher einen Meter achtzig groß und hatte dunkel gefärbte Haare, der orange Pullover mit V-Ausschnitt stand ihr gut. Sie trug einen bläulich gemusterten Schal um den Hals, wahrscheinlich aus Seide. Ich fand, dass die junge Großmutter eine sehr schöne Erscheinung war.
Als Erstes erklärte sie den Grund ihrer Aufregung. Vor einem Jahr sei eine Autorin, die die gleiche Arbeit hätte machen sollen wie ich, genau einen Tag vor Kursbeginn erkrankt. So kurzfristig habe man keinen Ersatz gefunden.
«Das war aber Horror im wahrsten Sinne des Wortes, diese wilden Kids eine Woche lang zu beschäftigen», sagte sie mit einem gezwungenen Lachen.
«In diesem Fall schenken Sie mir die Freude, eine Woche lang mit den wilden Kids zu arbeiten?»
«Nein, nein. Keine Angst, so wild sind sie auch wieder nicht. Sie müssen aber immer beschäftigt sein. Das sage ich Ihnen aus Erfahrung!»