Vorwort

Zwei Männer mittleren Alters stehen nebeneinander, sie strecken ihre Arme in triumphierender Geste so weit über ihre Köpfe hinaus, dass ihre Kleidung zwei nackte Bäuche entblößt. Pudelmütze, kariertes Hemd, Parka, Jeans und Jogginghose verraten: Es sind keine wohlhabenden Männer. Einer der beiden hält eine Farbspraydose in der Hand. Ein Graffiti-Künstler ist er nicht, denn im Bildhintergrund ist zumindest im Ausschnitt zu lesen, was er in einfachen Druckbuchstaben, dafür aber groß und gut lesbar, auf eine Hauswand gesprayt hat: »I Daniel Blake demand my appeal date before I starve and change the shite music on the phones!« Dieser Satz beinhaltet keinen Scherz und schon gar keine leere Drohung – er ist ein sichtbar gemachter Appell, adressiert an all diejenigen, deren Ohren taub für das Leid anderer Menschen geworden sind. Für das Sozialdrama I, DANIEL BLAKE (ICH, DANIEL BLAKE, 2016), aus dem der auf dem Umschlag dieses Film-Konzepte-Hefts zu sehende Screenshot stammt, erhielt Ken Loach im Jahr 2016 bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes die Goldene Palme für den besten Film im Wettbewerb. Die Jury zeichnete damit eine Arbeit aus, die an Loachs mehrere Jahrzehnte umspannendes Filmschaffen mit großer Konsequenz anschließt: Im Zentrum des Narrativs steht erneut einer jener working-class-Charaktere, wie sie uns im Œuvre des Regisseurs immer wieder begegnen. Speziell dieser jüngste Film verknüpft in auffälliger Weise sein Früh- mit seinem Spätwerk, denn wie schon in CATHY COME HOME (1966) fokussiert er ein Thema, das gestern wie heute von äußerster gesellschaftspolitischer Brisanz ist: Loach zeigt, wie Menschen unverschuldet in Not geraten können. Daniel etwa ist ein braver Bürger, der immer hart gearbeitet und seine Steuern bezahlt hat. Von seinen Freunden und Nachbarn wird er geschätzt, weil er hilfsbereit und trotz seiner nur bescheidenen Möglichkeiten freigiebig ist. Als er wegen eines Herzleidens nicht mehr arbeiten darf, fällt er durch die Raster der sozialen Absicherung und sieht sich unvermittelt einem kafkaesken Szenario bürokratischer Hürden ausgesetzt. Fortlaufend muss er soziale Degradierungen erdulden. Zunächst hat es den Anschein, man würde ihn auf zermürbende Weise in den Behörden warten lassen; dann wird offenkundig, man lässt ihn nicht warten, man lässt ihn sitzen.

Im Gegensatz zu anderen Kinematografien Europas besitzt das Filmland Großbritannien eine nahezu kontinuierliche Tradition des Arbeiterklasse-Kinos. Als Meilensteine dieses filmhistorischen Erbes sind neben John Griersons Ende der 1920er Jahre initiierter Dokumentarfilmbewegung zunächst das Mitte der 1950er Jahre entstehende Free Cinema, dann, am Ende des Jahrzehnts, die British New Wave sowie später vor allem das New British Cinema um Regisseure wie Stephen Frears, Mike Leigh und Ken Loach zu nennen. An der Entwicklung beziehungsweise starken Profilierung des sozialrealistischen Films hat, und dies ist als weiteres charakteristisches Merkmal des britischen Kinos hervorzuheben, nicht nur die Literatur, sondern auch das Fernsehen großen Anteil. Denn speziell das Fernsehen – zu denken wäre etwa an Sendeformate wie The Wednesday Play und das Play for Today – betrieb gegenüber dem sozialrealistischen Drama eine besonders aufgeschlossene Programmpolitik. So wanderte der gesellschaftskritische Film der frühen 1960er Jahre für eine gewisse Zeit fast ausschließlich in das televisuelle Konkurrenzmedium ab, um erst am Ende der Dekade auf die Kinoleinwände zurückzukehren. Loach, der bis heute zu den engagiertesten politischen Regisseuren seines Landes zählt, äußert sich im Rückblick auf diese Zeit wie folgt: »The big issue which we tried to make plain to ordinary folks who aren’t film critics was that the Labour leadership had betrayed them fifty years ago and were about to do so again. That’s the important thing to tell people. It surprised me that critics didn’t take the political point, but a rather abstruse cinematic point.«1 Gemäß dieser Stellungnahme, in der Loach der medial kommunizierten Gesellschaftskritik ein für ihn unhintergehbares Primat verleiht, zeigt sich auch seine Filmarbeit konsequent auf das Ziel fokussiert, »Partei für die Arbeiterklasse und gesellschaftlichen Außenseiter« zu ergreifen und »deren Alltagsprobleme ohne beschönigende Romantik dar(zu)stell(en)«.2 Damit beabsichtigt er, zu »einer radikalen Veränderung der Gesellschaft« beizutragen.3

Dass dieses programmatische Interesse zudem von der ästhetisch unverwechselbaren Handschrift eines Regisseurs sowie eines eingespielten Produktionsteams begleitet wird, der sich die britische social-realist tradition bis in die unmittelbare Gegenwart verhaftet zeigt, kann aus heutiger Perspektive – entgegen der vermeintlich nebensächlichen Bedeutung, die Loach dem künstlerischen Ausdruck seiner Arbeit zugestehen mag – indes nur schwer in Zweifel gezogen werden: »Ein ganzes Bündel von Maßnahmen«, resümiert unter anderem Jörg Helbig, trägt fortwährend »dazu bei, das filmische Endergebnis so gewöhnlich wie möglich aussehen zu lassen. Die ruhige Kameraarbeit (…) ist unauffällig und evoziert einen dokumentarischen Stil.« Um »den Eindruck von ungeprobter, spontaner Authentizität« zu erzeugen, setzt Loach »häufig Laiendarsteller ein« und ermutigt diese, dass sie »ihre Rollen nicht einstudier(e)n, sondern Worte und Handlungen improvisier(e)n.« Ferner wählt er häufig »Originalschauplätze« und dreht, »entgegen der üblichen Konvention, kontinuierlich, d. h. in der Chronologie der Ereignisse«.4 Mit Blick auf die Geschichte des britischen Films ist Loachs filmisches Œuvre daher in besonderer Weise dazu geeignet, um die Programmatik, aber auch das formal-ästhetische Register des New British Cinema zu konturieren.

Loachs Filmografie zählt bis dato über 70 Werke. Wiewohl sein Lebenswerk zahlreiche Themen – unter anderem Armut und Chancenlosigkeit (KES, 1969; SWEET SIXTEEN, 2002), interkulturelle Konflikte (AE FOND KISS/JUST A KISS, 2004), Revolution (CARLAS SONG, 1996; THE WIND THAT SHAKES THE BARLEY, 2006), Krieg (ROUTE IRISH, 2010), Arbeit und Migration (ITS A FREE WORLD …, 2007) sowie Arbeitslosigkeit (THE NAVIGATORS/GESCHICHTEN VON DEN GLEISEN, 2001; THE ANGELSSHARE/ANGELSSHAREEIN SCHLUCK FÜR DIE ENGEL, 2012) – umfasst, sind es fraglos insbesondere die »Lebensbedingungen und Erfahrungsweisen des Proletariats«, die seine Filme bis heute maßgeblich kennzeichnen.5 Vonseiten der Forschung ist diesbezüglich mit einigem Recht betont worden, dass Loach bei seinem making der working class meist von einem stark nostalgisch geprägten Standpunkt aus operiere. Dies ist umso bezeichnender, als speziell in der Regierungszeit Margaret Thatchers die working class, zumal in der politischen Rhetorik, schlicht abgeschafft wurde: »By rendering a particular language of class outdated and inappropriate, the dominant ideological and authorising narratives of the New Right and Thatcherism were successful in manufacturing the misperception that, as the principal social-economic group within society, the working class itself was no longer relevant.«6 Insofern lässt sich im Hinblick auf Loach, wie Kerry William Purcell vorschlägt, von einem sogenannten »reimagining« der working class sprechen,7 das in Zeiten ökonomischer Krisen an die widerständigen Kräfte und Potenziale der Klassengemeinschaft erinnert. Folglich zeichnet Loach seine working-class-Charaktere zumeist keineswegs als nur wehr- und machtlos. Vielmehr mischen sich in die filmischen Narrative immer auch wieder Momente, aus denen den Figuren zumindest temporär die Möglichkeit erwächst, sich (Handlungs-)Räume erneut anzueignen: Daniel Blake beispielsweise sehen wir in der eingangs beschriebenen Filmszene, wie er gegen die ihm widerfahrende soziale Exklusion aufbegehrt. Voller Zorn darüber, dass man ihn, statt ihn anzuhören, mit »shite music« in den endlosen Warteschleifen von Call Centern abzuwimmeln versucht, hat er an die Wand des Arbeits- und Sozialamtes geschrieben, dass es höchste Zeit wird, ihm zu helfen. Dass ein zweiter Mann mit ihm diesen Akt des Widerstandes bejubelt, und zwar so lange, bis Daniel von Polizisten in Gewahrsam genommen wird, verweist auf eine Art von Gemeinsinn, genauer: von Solidarität, deren Bedeutung Loach in seinen Filmen zu betonen nicht müde wird. Häufig verraten seine Filme – zu denken wäre besonders an THE SPIRIT OF ’45 (2013) – eine Enttäuschung über die Spaltung der beherrschten Klasse, sprich: darüber, »wie die sozialen Umstände das Bewusstsein der Arbeiter verbiegen« und wie ihnen ein vormals geschütztes Gut,8 nämlich das der Solidarität, verloren geht. In I, DANIEL BLAKE zeichnet er ein anderes Bild. Wiewohl der Staat jegliche Solidarität vermissen lässt, wird sie zwischen Bürgern, und zwar mit beträchtlichem gegenseitigem Gewinn, durchaus gelebt. Daniel, dem selbst staatliche Solidarität versagt bleibt, ist in der Art, wie er aufopfernde Nachbarschaftshilfe betreibt, ein herausragendes Beispiel dafür.

In neueren Forschungsbeiträgen zu gemeinschaftlichen Werthaltungen ist außer von Solidarität häufiger auch von Kooperation oder schlicht von Zusammenarbeit die Rede. Richard Sennett hat beispielsweise seine jüngste Studie, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält (2012), diesem Thema gewidmet und eben jene Zusammenarbeit als eine notwendige, im modernen Kapitalismus indes mehr und mehr bedrohte Kulturleistung beschrieben, die auf komplexen sozialen Fertigkeiten wie Dialogfähigkeit, Sympathie und Empathie aufsetzt. Speziell mit seinen Ausführungen zur Sympathie knüpft Sennett an Überlegungen an, wie sie bereits Adam Smith in seiner Theory of Moral Sentiments (1759) beschrieb. Smith zufolge sind Sympathie und Empathie ein Vermögen der Imagination, die es einem Einzelnen ermögliche, sich auf die Erfahrungen, Bedürfnisse und Lebensumstände eines anderen einzulassen. »Nach Ansicht von Smith«, führt Sennett erklärend aus, »vermag die Einbildungskraft solche Barrieren zu überwinden. Sie vermag einen magischen Sprung vom Unterschied zu Ähnlichkeit zu vollziehen, sodass eine seltsame oder fremde Erfahrung unsere eigene zu sein scheint.«9

Loach, wie ich ihn verstehe, agiert in seinen filmischen Arbeiten mit einem zweifachen Kalkül: Obgleich er auf der Handlungsebene häufig die Gefährdung und Erosion von Solidarität aufzeigt, entlässt er – auf der Ebene der Rezeption – seine Zuschauer keineswegs aus einer Konstellation der Kooperation. In seinen Filmen, die Begegnungen mit den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und mit Außenseitern schaffen, vollzieht er vielmehr jenen »magischen Sprung vom Unterschied zu Ähnlichkeit«, sprich: Er wirbt um Sympathie und Anerkennung.10 In diesem Sinne lässt Loach in der letzten Szene von I, DANIEL BLAKE den Zuschauer an der Beerdigung Daniels beiwohnen, der einen Herzinfarkt nicht überlebt hat. Seine von ihm verfassten letzten Worte taugen trotz und gerade wegen ihrer Schlichtheit als ein Manifest der Menschenwürde. Zugleich artikulieren sie das Credo eines Regisseurs, der mit seinem Filmschaffen für die kompromisslose Verteidigung dieser Menschenwürde einsteht: »My name is Daniel Blake. I’m a man, not a dog. As such, I demand my rights. I demand you treat me with respect. I, Daniel Blake, am a citizen, nothing more and nothing less.«

Mein Dank gilt den Autoren dieses Heftes für ihre engagierten Beiträge und ihren besonderen spirit, mit dem sie Loachs Filme vorstellen und diskutieren. Michaela Krützen, Fabienne Liptay, Johannes Wende und Michelle Koch danke ich für den inspirierenden Austausch und die vertrauensvolle Zusammenarbeit rund um die Entstehung dieser Publikation.

Ken Loach selbst, das Team von Sixteen Films, insbesondere Rebecca O’Brien und Emma Lawson, sowie Bill Shapter gaben zu jeder Zeit Rat und Unterstützung: Thank you all.

Claudia Lillge

November 2017

1 Nicholas Thomas, International Dictionary of Films and Filmmakers, Chicago 1990, S. 523. — 2 Jörg Helbig, Geschichte des britischen Films, Stuttgart 1999, S. 237. — 3 Ebd. — 4 Ebd. — 5 Hans J. Wulff, »Vom Gucken, vom Lächeln. Ein Tribut an Ken Loach«, in: f.lm (5.1.2008), www.f-lm.de/?p=1270 (letzter Zugriff am 13.11.2017). — 6 Kerry William Purcell, »Reimagining the Working Class from RIFF-RAFF to NIL BY MOUTH«, in: Looking at Class. Film, Television and the Working Class in Britain, hg. von Sheila Rowbotham und Huw Beynon, London/New York/Sydney 2001, S. 113–131, hier S. 113. — 7 Ebd. — 8 Ulrich von Thüna, »THE NAVIGATORS: Realismus à la Loach. Die Auswirkungen der Privatisierung«, in: epd Film 19 (2002), S. 36. — 9 Richard Sennett, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, Berlin 2012, S. 37. — 10 Ebd., S. 39.

Claudia Lillge

(K)eine Falkennovelle

KES

I. Von Literatur zu Film

Schon Giovanni Boccaccio wählte in einer seiner Novellen aus dem Decamerone (1349–1352) einen Falken zum zentralen Dingsymbol. Paul Heyse entwickelte später anhand dieses Tiers die sogenannte »Falkentheorie«, der zufolge jede Novelle eines zentralen Symbols bedürfe, das geeignet sei, den Mittelpunkt der Erzählung zu bilden und auf deren weitere Sinnzusammenhänge zu verweisen. Ken Loach, so könnte man meinen, hat sich diese poetische Strategie zunutze gemacht, denn im Zentrum seines frühen Films KES (1969) steht ebenfalls ein sowohl realer als auch sinnbildlicher Falke. Loachs Quelle indes liegt nicht im Mittelalter, sondern im 20. Jahrhundert. Als literarische Vorlage diente ihm Barry Hines’ 1968 erschienener Roman A Kestrel for a Knave, dessen Titel gleichwohl auf ein spätmittelalterliches Gedicht aus dem Book of Saint Albans (1486) rekurriert. In seinem Roman greift Hines auf eigene Jugenderlebnisse in den 1950er Jahren zurück, die den Leser in eines der nordenglischen Bergbaureviere führen. Dort nämlich ist die Hauptfigur des Romans, ein Junge namens Billy Casper, beheimatet, der sich einen Turmfalken fängt und abrichtet.

Was die Transformation von Literatur zu Film angeht, die schon für die Regisseure der britischen New Wave – Lindsay Anderson (1923–1994), Karel Reisz (1926–2002), Tony Richardson (1928–1991) und John Schlesinger (1926–2003) – eine beliebte Praxis war, fand Loach zweifellos eigene Wege, dennoch arbeitete er während der gesamten Dreharbeiten eng mit Hines zusammen, der neben dem Regisseur und Tony Garnett auch am Drehbuch mitschrieb. Als Filmschauplatz wählte Loach die Geburtsstadt Hines’, das in South Yorkshire gelegene Barnsley. Als sich Loach und Hines das erste Mal in dieser Stadt trafen, um über eine mögliche Zusammenarbeit zu sprechen, tauschten beide ihre Visionen zu dem geplanten Filmprojekt aus. Sie trafen sich in der Ansicht: »(I)t wasn’t a story about falconry!«1

II. Die feindlichen Brüder

Tatsächlich ist Loachs KES genau wie Hines’ Romanvorlage zunächst einmal kein Tierfilm und auch keine Tiergeschichte, sondern eine Comingof-Age-Story, die sich in einem bestimmten sozialhistorischen Klima entfaltet. Um eben dieses Klima zu beschreiben, darf einmal mehr auf den viel zitierten Satz George Orwells zurückgegriffen werden, mit dem sich Letzterer in seinem patriotisch gefärbten Essay England Your England (1941) durchaus kritisch zur Lage der Nation äußerte: »England is the most class-ridden country under the sun. It is a land of snobbery and privilege, ruled largely by the old and silly.«2 Auch Loachs filmische Diegese entwirft eine ausgesprochen rigide Klassengesellschaft, in der Klassenzugehörigkeit über eine Vielzahl von Aspekten – unter anderem Schulbildung, Arbeit, Wohnviertel und Architektur, Freizeitgestaltung und nicht zuletzt Sprache – zugewiesen und hergestellt wird. Generationenkonflikte, namentlich zwischen der Jugend der Arbeiterklasse und jenen, die »old and silly« sind, manifestieren sich vor allem in der Bildungsinstitution Schule, in der autoritäre Erziehungsmethoden – insbesondere die Prügelstrafe – zur Tagesordnung gehören.

In diesem Milieu wächst der Protagonist des Films, der 14-jährige Billy Casper (David Bradley), auf, der mit seiner Mutter (Lynne Perrie) und seinem Bruder Jud (Freddie Fletcher) in einem der Arbeiterquartiere wohnt, die bis heute das Gesicht der englischen Industriestädte auf charakteristische Weise prägen. Dass es sich um höchst beengte und bescheidene Wohnverhältnisse handelt, offenbart sogleich die Eröffnungsszene, die Billy und Jud schlafend zeigt. Obwohl der Altersunterschied zwischen den Brüdern mindestens fünf oder sechs Jahre beträgt, müssen sich beide nicht nur ein Zimmer, sondern auch ein Bett teilen. Das gemeinsame Bett ist jedoch die einzige Gemeinsamkeit, die Billy und Jud verbindet, denn als Figuren sind sie derart kontrastiv angelegt, dass sich in ihnen das bekannte Motiv der feindlichen Brüder fortschreibt.

Die Schule, mit ihren willkürlichen Züchtigungsmaßnahmen, hat zumindest im Hinblick auf Jud ganze Arbeit geleistet. In der Art, wie er seinen jüngeren Bruder schikaniert, wird deutlich, dass er die Lektion vom vermeintlichen Recht des Stärkeren bestens verstanden und habitualisiert hat. Eine literarische und filmische Präfiguration findet Jud in der Figur des Arthur Seaton aus Alan Sillitoes Roman Saturday Night and Sunday Morning (1958), der von Karel Reisz im Jahr 1960 kongenial verfilmt wurde. Ähnlich wie Seaton ist Jud ein proletarischer Epikureer, der nach einer Arbeitswoche als manual worker – Seaton arbeitet in einer Fahrradfabrik, Jud im Bergwerk – vor allem für die Vergnügungen am Wochenende lebt: für einen Besuch im Pub, für ein sexuelles Abenteuer und für Pferderennen. Mit seiner Mutter liefert sich Jud ständig heftige Wortgefechte, in denen er sich als aggressiver Rüpel präsentiert, der die vergeblichen Erziehungsversuche seiner Mutter, die ihm gelegentlich sogar Prügel androht, nur herablassend belächelt. Der Vater ist abwesend, vor Jahren schon hat er die Familie verlassen. Insofern findet Jud zumindest in seiner Familie keinen ihm gewachsenen Widerpart. Im Gegenteil: Da sich auf dem britischen Arbeitsmarkt Mitte der 1950er Jahre gerade Vollbeschäftigung durchzusetzen beginnt und er im Bergwerk einen sicheren Lohn erhält, ist auch die finanzielle Potenz auf seiner Seite, weswegen er von seiner Mutter bei wochenendlichen Besuchen im Pub gern um den ein oder anderen Drink angeschnorrt wird.

Billy wirkt gegen Jud ungleich zarter, trotzdem ist auch er auf seine Weise zäh und widerständig. Im Gegensatz zu Jud agiert Billy eher über Taktiken, die Michel de Certeau als »mikrobenhaft(e) Operationen« beschreibt, die das »Inner(e)« von Ordnungen und Strukturen »unterlaufen« und vor allem darauf zielen, günstige Gelegenheiten zu nutzen.3 Auf diese Weise verfolgt Billy ebenfalls seine Ziele, aber ihm fehlt gänzlich Juds destruktives Gebaren. Dem Tobacco-Shop-Besitzer, für den Billy allmorgendlich Zeitungen austrägt, klaut er einen Riegel Schokolade. In der Dramaturgie der Filmhandlung kann der Zuschauer darin aber nichts anderes als eine Form ausgleichender Gerechtigkeit erkennen, denn der Ladenbesitzer verdächtigt Billy allein schon aufgrund seiner working-class-Herkunft als potenziellen Dieb. Einem Lieferanten stiehlt Billy einen Karton mit Eiern und eine Flasche Milch von der offenen Ladefläche des Lieferwagens. Ob Billys augenfällig magerer körperlicher Konstitution erscheint dieser Diebstahl indes eher als Mundraub, bei dem jeder Zuschauer mit und für Billy hoffen wird, dass dieser einer Strafe entgeht. In einem Antiquariat schließlich stiehlt Billy zum dritten Mal. Und zwar ein Buch über Falknerei, das er vorher in der Stadtbibliothek nicht hatte ausleihen dürfen, weil ihm bürokratische und kleingeistige Hürden den Zugang zur Bibliothek verwehrten.

Im weiteren Verlauf der Handlung nutzt Loach vornehmlich das Konzept alternativer Welten, um Billys Charakter weiter zu differenzieren. Diese alternativen Welten wiederum stellen sehr unterschiedliche Erfahrungs- und Entwicklungsräume dar, zwischen denen Billy hin- und herwechselt: Dabei handelt es sich einerseits um die Schule, andererseits um die nahe des Stadtrands gelegene Natur.

III. Das Recht des Stärkeren

Der historische Kontext, auf den KES rekurriert, ist eine in den 1950er Jahren engagiert geführte Debatte um die Erneuerung des britischen Schulsystems, das zur damaligen Zeit noch durch die Vorgaben des Butler Education Act von 1944 geprägt war. Prinzipiell war die Idee des Konservativen Richard Austen Butler, die er mit seinen bildungspolitischen Maßnahmen umzusetzen versuchte, durchaus progressiv: Denn »(d)ieses Gesetz gestand allen Briten das Recht auf eine umfassende Bildung zu, gemäß ihrer Reife, ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten, ohne Ansehen der Person und unabhängig vom Vermögen, der Stellung oder dem Einfluß der Eltern«.4 Doch obwohl mit diesem Ansatz, erstens, eine Entkopplung von Bildung und finanzieller Zahlungskraft erfolgte, und, zweitens, eine gute und für jedermann zugängliche Schulbildung als »zentraler Faktor sozialer Mobilität« vom Staat erkannt wurde, wurden diese Prämissen in der Praxis nur unzureichend umgesetzt. Verantwortlich dafür war ein nach wie vor dreigliedriges Schulsystem, das sich in die sogenannten grammar schools (vergleichbar den deutschen Gymnasien), secondary technical schools und die secondary modern schools (vergleichbar den deutschen Realschulen) teilte.

Über den Zugang zu diesen weiterführenden Schulen entschied ein Examen, das Kinder bereits im Alter von elf Jahren (eleven plus exam) ablegen mussten, das aber leider die Ideologie der gleichen Chancen und Voraussetzungen als pure Vision entlarvte. Es zeigte sich nämlich, dass die »Schularten (…) in hohem Maße Klassenschulen (blieben); im Alter von elf Jahren wurden die Schüler selektiert, und drei Viertel davon fielen durch«. Speziell die »hohe Schwelle des eleven plus führte dazu, daß schon im Alter von sieben Jahren die Kinder in Klassen zusammengefasst wurden, die voraussichtlich die Prüfung bestehen würden, und in solche, die voraussichtlich durchfallen würden«. Besonders die secondary modern schools, die zumeist für diejenigen als Option blieben, die durch das Examen fielen, wurden dann zu regelrechten Restschulen, die insgesamt »drei Viertel« aller Kinder aufnahmen, von denen »neunzig Prozent« aus der working class stammten.5

Loachs Film zeigt eindringlich, welchen unmittelbaren Effekt eine derart rigide und frühe Beschneidung von Bildungschancen mit sich bringt: Für all diejenigen, die die eleven plus exams nicht erfolgreich absolvierten und mit 15 Jahren in die Arbeitswelt entlassen wurden, geriet die Schule vielfach zu einem toten Gleis, wo Zeit nur noch abgesessen wurde und junge Menschen mehr verwaltet als unterrichtet wurden. Auf diese Weise blieben Potenziale von Kindern häufig ungesehen und verkümmerten, weil sie keine Förderung erhielten. Loachs Protagonist, Billy Casper, stellt so ein ungefördertes Kind dar; zugleich ist er einer unter Vielen, weswegen ein Schauspieler für diese Rolle relativ schnell gefunden wurde. »One of the ideas of the film«, erklärte Loach dazu, »is that every boy and girl has huge potential without space to develop and there are pre-arranged slots ready for them as manual labourers. We thought that, if our thesis was correct, within this group of boys, there would be one who could bring Billy Casper to life.«6

Billys Schulerfahrung entwirft Loach im Wesentlichen über die Konfrontationen mit drei Lehrerfiguren: dem Schulleiter sowie dem Sport- und dem Englischlehrer. Den Schulleiter, Mr. Gryce (Bob Bowes), erlebt der Zuschauer ausschließlich als Despoten, der in seiner unbeirrbaren Art, mit der er überkommene pädagogische Ideale propagiert, zugleich durchaus komisch wirkt. Hinter seinem Rücken nennen ihn die Schüler verunglimpfend »Gryce pudding«. Keinesfalls komisch ist jedoch die Tatsache, dass er ein rigoroser Vertreter der Prügelstrafe ist, mit der er sich bei den Schülern Respekt zu verschaffen erhofft, sie stattdessen aber nur verängstigt und allenfalls temporär diszipliniert. Um Loachs Realismus-Anspruch zu exemplifizieren, wird in der Forschung häufig auf eine Szene aus KES verwiesen, in der eben dieser Schulleiter eine Gruppe von Schülern, unter denen sich auch Billy befindet, mit dem Rohrstock auf die Handflächen schlägt. Loach entlohnte seine jugendlichen Schauspieler dafür später mit einer kleinen Extragage, denn keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass es echte Hiebe geben würde. Das Entsetzen in den Gesichtern der Schauspieler und die Tränen in den Augen des Jüngsten von ihnen zeugen von einem Schock angesichts der erfahrenen und zugleich völlig unerwarteten Ungerechtigkeit. Eine Ungerechtigkeit, die, so erklärte es Loach den Kindern und Jugendlichen nach dem Dreh, indes ganze Generationen von Schülern haben erdulden müssen, weshalb es ihm in dieser Filmszene vor allem darum gegangen sei, das spezifische emotionale Gemisch in den Gesichtern der Schülergruppe hervorzubringen, das Prügelstrafe fast immer produziert: Wut und Wehrlosigkeit.

Auch Billys Sportlehrer kann als ein regelrechter Tyrann beschrieben werden, der nicht müde wird, seine Schüler zu schikanieren. Mr. Sudgen (Brian Glover) ist eine typenhafte Figur, die von einer dominanten Eigenschaft, nämlich seiner Eitelkeit, regiert wird. Zudem ist er durch ein von Willkür geprägtes kindisches Verhalten gekennzeichnet. Loach profiliert die Figur des Mr. Sudgen in einer Szene, in der ein Fußballspiel stattfindet. Dieses gibt dem Lehrer eine höchst willkommene Bühne, um die Rolle des erfolgreichen Manchester-United-Spielers Bobby Charlton zu übernehmen und sich als Spieler unter die Schülermannschaft zu mischen. Fortan operiert er in einer dreifachen Funktion, nämlich als Schiedsrichter, Mannschaftskapitän und Torjäger. Strafstöße, die er für sich selbst entscheidet, führt er auch sogleich selbst aus und erträgt dabei keinerlei Niederlage.

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Mr. Sudgen pfeift für sich einen Strafstoß