Schriften der Bucerius Law School
Band I/13
Doris König, Dirk Uwer (Hrsg.)
Grenzen europäischer Normgebung
– EU-Kompetenzen und Europäische Grundrechte –
Verlag:
Bucerius Law School Press
– Verlag der Bucerius Law School, Jungiusstr. 6, D-20355 Hamburg
Herausgeber dieses Bandes:
Prof. Dr. Doris König, M.C.L.
Dr. Dirk Uwer, LL.M., Mag.rer.publ.
Herausgeber der Reihe:
Prof. Dr. Michael Fehling
Prof. Dr. Thomas Rönnau
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Karsten Schmidt
1. Auflage 2015
Herstellung und Auslieferung: tredition GmbH, Hamburg
ISBN: 978-3-86381-062-7
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Grenzen europäischer Normgebung
– EU-Kompetenzen und Europäische Grundrechte –
Symposium am 19. März 2014
im Gesellschaftshaus Palmengarten, Frankfurt am Main
Die Idee für ein Symposium zu den Grundsatzfragen der Kompetenzordnung in der Europäischen Union und der Europäischen Grundrechte entstand aus der Praxis des Europarechts, konkret aus intensiven und thematisch vielfältigen Diskussionen über Umsetzungs- und Auslegungsfragen des unionalen Sekundärrechts und die Bedeutung primärrechtlicher Vorgaben kompetenzieller und materiellrechtlicher Art. Rund fünf Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und der Verkündung des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts schien es an der Zeit, dass die Praxis die Wissenschaft des Europarechts nicht nur um eine Zwischenbilanz zu diesen beiden für die europäische Rechtsentwicklung zentralen Ereignissen bittet, sondern auch darum, auf der Basis einer fundierten Bestandsaufnahme den Blick auf die Zukunft der rechtlichen Verfassung Europas zu weiten.
Wissenschaft und Praxis sehen sich gleichermaßen mit dem Befund konfrontiert, dass die Fülle europäischer Normen stetig zunimmt. Ob in der Finanzbranche, auf den Energiemärkten, im Gesundheitswesen und vielen anderen Referenzgebieten, die Rechtsetzung der letzten Jahre zeigt einen deutlichen Trend zu mehr staatlicher, vor allem aber auch supranationaler Regulierung. Diese Entwicklung wirft im legislativen Mehrebenensystem Fragen nach der Reichweite und der Durchsetzung der EU-Kompetenzordnung und zu den europäischen Grundrechten auf – elementare Fragen aus der Sicht von Unionsbürgern und nicht zuletzt von Binnenmarktteilnehmern, zumal wenn sie auf global konvergenten Märkten divergenter Regulierung unterworfen sind.
Treffender als mit der Parömie Charles de Gaulles “Nicht immer helfen in komplexen Sachfragen einfache Gedanken.” konnte daher der Nestor des Europarechts, Prof. Wernhard Möschel (Universität Tübingen), seine Key Note zur Einstimmung auf das Symposium kaum einleiten. Komplexe Sachfragen verlangen nach differenzierten juristischen Antworten, und dass diese von sechs der renommiertesten akademischen Vertreter des Europarechts vor rund 100 Vertretern aus Wissenschaft und Praxis im Festsaal des Gesellschaftshauses des Frankfurter Palmengartens gegeben werden konnten, ist zuvörderst Frau Prof. Doris König, Inhaberin des Claussen-Simon-Stiftungslehrstuhls für Internationales Recht und seinerzeit Präsidentin der Bucerius Law School sowie seit dem 2. Juni 2014 Richterin des Bundesverfassungsgerichts, zu verdanken, die als wissenschaftliche Leiterin unseres Symposiums gewonnen zu haben sich als großes Glück erwiesen hat.
Als wir im Oktober 2013 mit der Konzipierung des Symposiums begannen, war noch nicht abzusehen, wie passend der Zeitpunkt gewählt war: Am Tag vor der Veranstaltung verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der deutschen und europäischen Rechtsakte im Zusammenhang mit der Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (2 BvR 1390/12 u.a.) und setzte damit zwei Monate nach dem Vorabentscheidungsersuchen zum Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank zu Outright Monetary Transactions,1 dem ersten Vorlagebeschluss in der Geschichte des Gerichts, erneut einen weiteren Meilenstein für die verfassungs- und europarechtliche Diskussion.
In einem solchen europarechtlich historischen Moment befasste sich der erste Themenkomplex des Symposiums mit der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Die Vorträge von Prof. Christian Calliess (Freie Universität Berlin), Prof. Martin Nettesheim (Universität Tübingen) und Prof. Walter Obwexer (Universität Innsbruck) behandelten aus verschiedenen Blickwinkeln, wie der Unionsgesetzgeber nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon seine Kompetenzen genutzt und ob er dabei die ihm gesetzten Grenzen eingehalten hat. Die EU ist bekanntlich auf Grundlage des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung nur in Bereichen zuständig, die ihr in den Unionsverträgen von den Mitgliedstaaten übertragen wurden, bei denen alle anderen Kompetenzen verbleiben. Der Unionsgesetzgeber ist an dieses Prinzip gebunden und hat darüber hinaus auch die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit2 zu achten.
Ihrer Bedeutung gemäß widmete sich das Symposium mit dem Vortrag von Christian Calliess zunächst der Einzelermächtigung zur Binnenmarktharmonisierung. Art. 114 AEUV gewährt dem Unionsgesetzgeber indes keine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes. Die Binnenmarktkompetenz erfordert mehr als die Existenz unterschiedlicher Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten. Voraussetzung einer Rechtsangleichung ist, dass entweder (potentielle) Hemmnisse für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten oder aber Wettbewerbsverfälschungen bestehen. Nach der Rechtsprechung des EuGH müssen Maßnahmen, die die Bedingungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes verbessern sollen, tatsächlich dieses Ziel verfolgen, indem sie zur Beseitigung von Hemmnissen für den freien Waren- oder Dienstleistungsverkehr oder aber von Wettbewerbsverzerrungen beitragen. Harmonisierungsrechtsakte, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, sind von der Ermächtigung des Artikels 114 AEUV nicht gedeckt. Calliess arbeitete heraus, dass die EU in ihren frühen Integrationsphasen nicht über weitreichende Spezialkompetenzen verfügte, heute aber eine Vielzahl spezieller Kompetenzen existiert, deren Vorgaben und Grenzen eingehalten und eine Umgehung über Art. 114 AEUV unterbunden werden müssen. Eine politikübergreifende Generalkompetenz werde mit zunehmender Spezialisierung entbehrlich.
Auch wenn der EU nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung eine Kompetenz zur Rechtsetzung zusteht, darf sie wegen des Grundsatzes der Subsidiarität zur Harmonisierung des Binnenmarktes nur dann tätig werden, wenn die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können und wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung effektiver auf Unionsebene zu realisieren sind (Art. 5 Abs. 3 EUV). Der Subsidiaritätsgrundsatz zeigt, dass selbst bei Bestehen einer EU-Kompetenz die Handlungsprärogative bei den Mitgliedstaaten liegt, soweit diese transnationale Sachverhalte zufriedenstellend regeln können. Nach dem Protokoll Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sollen Entscheidungen in der Union so bürgernah wie möglich getroffen werden. Art. 6 dieses Protokolls sieht zudem vor, dass die nationalen Parlamente Bedenken hinsichtlich der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips vorbringen sollen (sog. Subsidiaritätsrügen). Das Bundesverfassungsgericht hat die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Bundesorgane insofern auch verpflichtet, auf eine strikte Handhabung des Subsidiaritätsprinzips hinzuwirken. Art. 5 Abs. 3 EUV ist damit mehr als nur ein politischer Programmsatz. Martin Nettesheim, der jüngst ein grundlegendes und überaus anspruchsvoll begründetes Postulat veröffentlicht hat, im Mehrebenensystem die herkömmliche Ultra-vires-Kompetenzkontrolle durch eine legitimationsorientierte Kompetenzargumentation zu ersetzen,3 betonte in seinem Referat zum Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzausübungsschranke, durch Einführung der Subsidiaritätsrüge mit dem Lissabon-Vertrag sei der Subsidiaritätsmechanismus zu einem Instrument politischer Koordination geworden. Das schließe zwar eine Rechtskontrolle nicht aus, diese sei aber nur nachgeschaltet.
Rechtsangleichung in der EU führt nicht zwingend zu einer Vollharmonisierung. Häufig wird den Mitgliedstaaten lediglich ein Mindeststandard vorgegeben, der dem Erlass strengerer nationaler Vorschriften nicht entgegensteht. Die Mitgliedstaaten sind allerdings trotz der Möglichkeit, solche Bestimmungen zu erlassen, an die Beachtung der Grundfreiheiten, insbesondere der Warenverkehrs- und der Dienstleistungsfreiheit, gebunden. Im dritten Vortrag widmete sich Walter Obwexer deshalb den Fragen, welche Arten von Harmonisierungsmaßnahmen es gibt, unter welchen Voraussetzungen Teil- und Mindestharmonisierung mit Öffnungsklauseln sinnvoll und wann Freiverkehrsklauseln erforderlich sind.
Wie der Diskussionsbericht von Dr. Moritz Rademacher (S. 77 ff.) zeigt, ist die Einordnung des Subsidiaritätsmechanismus nach wie vor einer der kontroversesten Punkte der aktuellen Debatte. Es kristallisierte sich eine überwiegende Auffassung heraus, die bei grundsätzlicher Anerkennung des Subsidiaritätsgrundsatzes als politischem Instrument, den rechtlichen Geltungsanspruch und die Notwendigkeit einer schärferen Konturierung betont. Die Einräumung einer Kompetenz könne zwar politisch motiviert sein, die Bewertung einer Kompetenzüberschreitung sei aber rechtlicher Natur und bedürfe der Justiziabilität.
Hieran konnte das Symposium nahtlos mit seinem zweiten Themenkomplex anschließen: In materieller Hinsicht werden der europäischen Normgebung durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union und die Grundrechte, die der EuGH aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten hergeleitet hat, Grenzen gesetzt. Die EU ist gegenüber ihren Mitgliedstaaten verpflichtet, diese Grenzen ihrer Kompetenzen einzuhalten. Obwohl diese Pflicht dem Grundsatz nach unumstritten ist, sind die Grenzen europäischer Normgebung in Rechtsetzung und Rechtsanwendung häufig schwer zu bestimmen, wie etwa das einige Wochen nach dem Symposium ergangene Urteil der Großen Kammer des EuGH in den verbundenen Rechtssachen C-293/12 und C-594/12 vom 8. April 2014 im Fall Digital Rights Ireland zeigt, mit dem die Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsdatenspeicherung als unverhältnismäßigen Eingriff in die durch Art. 7 und 8 der Grundrechtecharta verbürgten Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens bzw. den Schutz personenbezogener Daten für ungültig erklärt wurde.
Prof. Werner Schroeder (Universität Innsbruck) umriss einleitend die grundrechtliche Prüfungsdichte des EuGH seit dem Vertrag von Lissabon und legte dar, dass sich der Prüfungsmaßstab von der früheren Vertretbarkeitskontrolle zu einer strengeren Verhältnismäßigkeitskontrolle entwickelt habe. Bei der Beurteilung komplexer Sachverhalte räumte die frühere EuGH-Rechtsprechung dem Gemeinschaftsgesetzgeber lange Zeit einen weiten Ermessensspielraum ein und zog die Rechtswidrigkeit einer Maßnahme nur dann in Betracht, wenn diese zur Erreichung des jeweiligen Zieles “offensichtlich ungeeignet” war. Infolgedessen verlief die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit möglichen Grundrechtsverletzungen durch den EuGH häufig kursorisch und führte in manchen Fällen zu einer bloßen Evidenzkontrolle. Vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon hatte der EuGH lediglich einen Rechtsakt der EU (Fall Kadi) wegen Verstoßes gegen Unionsgrundrechte für nichtig erklärt. Seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages verfügt der EuGH über einen geschriebenen Grundrechtekatalog. Insbesondere verlangt Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Grundrechtecharta, dass Einschränkungen von Grundrechten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden dürfen, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Seither hat sich in mehreren Entscheidungen des EuGH (u.a. in den Fällen Achats, Schecke und Sky Austria) eine Intensivierung der Grundrechtsprüfung angedeutet, die im Fall Digital Rights Ireland zur vollen Entfaltung gelangt ist.
Prof. Franz Mayer (Universität Bielefeld) beleuchtete anschließend das Verhältnis der Grundrechtecharta zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Art. 6 Abs. 3 EUV bezieht auch die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten bei der Formung des europäischen Grundrechtsschutzes mit ein. Soweit die Charta der Grundrechte Garantien enthält, die auch in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verbürgt sind, sollen diese nach Art. 52 Abs. 4 der Grundrechtecharta im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt werden. Der EuGH hatte bereits in seiner früheren Grundrechtsdogmatik auf die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten Bezug genommen. Das Festhalten an den bisher aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen abgeleiteten Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts und der Verweis auf diese Überlieferungen in der Charta der Grundrechte unterstreicht deren Bedeutung für die Auslegung der Unionsgrundrechte. Mayer erläuterte, wie der EuGH diese weiterhin als Rechtserkenntnisquelle heranzieht und so die Tür zu den Entwicklungen im mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutz offen hält. Dabei gehe er im Wege wertender Rechtsvergleichung vor, bei der es nicht auf den “kleinsten gemeinsamen Nenner”, sondern auf ein hohes Schutzniveau ankomme, das er durch umfangreiche Studien vorab ermittle. Dass die Diskussion über die wechselseitigen Einflüsse der mitgliedstaatlichen und der Unionsgrundrechte einschließlich der Rechtsschutzzuständigkeiten gerade eine weitere Blüte erlebt, zeigen im Übrigen zahlreiche, teils sehr grundlegende Veröffentlichungen im zeitlichen Umfeld unseres Symposiums.4
Den abschließenden Vortrag zu Fragen des Beitritts der EU zur EMRK hielt Prof. Christoph Grabenwarter (Wirtschaftsuniversität Wien). Seit den späten 1970er Jahren war der Beitritt der EG bzw. EU zur EMRK im Gespräch.5 Mit dem Lissabon-Vertrag wurde der Beitritt schließlich obligatorisch (Art. 6 Abs. 2 EUV). Der Entwurf des Beitrittsübereinkommens wurde im April 2014 fertig gestellt. Mit großer Spannung wird derzeit die Stellungnahme des EuGH zu diesem Entwurf erwartet. Der Beitritt zur EMRK wird als ein Meilenstein in der Entwicklung des Grundrechtsschutzes in Europa angesehen. Alle europäischen Institutionen, einschließlich des EuGH, werden danach an die EMRK gebunden und der unabhängigen externen Kontrolle des EGMR unterworfen sein. Grabenwarter prognostizierte, dass durch die Zusammenführung komplexer Grundrechtsschichten der Grundrechtsschutz innerhalb der EU insgesamt profitieren werde, wobei die bislang seit dem Bosphorus-Urteil geübte Zurückhaltung des EGMR gegenüber dem EuGH nicht durchzuhalten sei.
Die anschließende, wiederum von Moritz Rademacher zusammengefasste Diskussion (S. 141 ff.) beschäftigte sich in der Konsequenz mit dem Mehrebenensystem des Grundrechtsschutzes in Europa und seinen Reibungsphänomenen. Dass eine tiefgreifende grundrechtliche Angemessenheitsprüfung auch auf europäischer Ebene zur Betrachtung der Wirkungen einer Maßnahme im Einzelfall nunmehr verankert sei, wurde einhellig begrüßt.
Doris Königs Vorgängerin im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Gertrude Lübbe-Wolff, verdanken wir den bemerkenswerten Umstand, dass die Amtliche Sammlung der BVerfG-Entscheidungen, treffenderweise in einem Sondervotum zum verfassungs- wie europarechtlich aufsehenerregenden OMT-Vorlagebeschluss vom 14. Januar 2014, nun um die rheinische Sentenz Konrad Adenauers (über vermeintliche Kompetenzanmaßungen des Bundesverfassungsgerichts) bereichert ist: „so ham wa uns dat nich vorjestellt“ (BVerfGE 134, 366 (425, Rn. 124).
Die Rückschau auf unser Symposium erlaubt mir die gegenteilige Einschätzung: Doch, genau so haben wir uns das vorgestellt, und dafür schulden die beiden Herausgeber dieses Bandes großen Dank all jenen, ohne die das Symposium nicht stattgefunden hätte und dieser Band nicht erschienen wäre: neben den Referenten und den engagierten Teilnehmern des Symposiums sind dies der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e.V. und die Philip Morris International als Förderer und die Stiftung Marktwirtschaft als Kooperationspartner. Sie alle haben unser Symposium großzügig unterstützt und sich dabei im besten Sinne mäzenatisch gezeigt, indem sie Doris König und mir völlige Freiheit bei der inhaltlichen Konturierung der Tagung und der Auswahl der Referenten ließen, und alle beteiligten Wissenschaftler ihre Beiträge ebenso autonom gehalten und verfasst haben.
Mein Kollege Dr. Moritz Rademacher hat das Symposium thematisch mit vorbereitet, die Organisation koordiniert und den Tagungsband redaktionell betreut; für seine ausgezeichnete Unterstützung danke ich ihm herzlich. Auf Verlagsseite hat Florian F. Woitek, Referent der Geschäftsführung der Bucerius Law School, die Drucklegung verantwortet. Die Organisation des Symposiums lag in den bewährten Händen des Business Development Teams von Hengeler Mueller um Dr. Alexander Thau, Astrid Peine und Kyra Wein, die mit Engagement, Umsicht und Kreativität zum Gelingen der Veranstaltung entscheidend beigetragen haben; auch dafür allen ein herzlicher Dank!
Der Weg der europäischen Integration ist bekanntlich mühevoll, mitunter steinig, und er kann es wohl auch nicht anders sein, wenn nicht das rechtsstaatliche Paradigma verloren gehen soll. Die von Prof. Udo Di Fabio kürzlich vor dem Hintergrund der europäischen Staatsschuldenkrise pointiert aufgeworfene Frage nach „Zentralität oder Zentrifugalität: Wohin treibt Europa?“,6 hin zu einem kooperierenden Europa oder hin zu den zuletzt etwa von Viviane Reding, die Ideen Victor Hugos und Richard Graf Coudenhove-Kalergis (und anderer) in Erinnerung rufend, erneut postulierten „Vereinigten Staaten von Europa“,7 ist von bleibender Aktualität. Sie zu beantworten, wäre ein zu großes Ziel für ein europarechtliches Symposium gewesen. Bestand und Perspektiven der Unionskompetenzen und der europäischen Grundrechte als die rechtlichen Bezugspunkte jeder Diskussion um die Zukunft Europas zu bestimmen, war das anspruchsvolle, aber auch realistische Ziel des Symposiums. Der kritischen Prüfung, ob es erreicht wurde, stellen sich Herausgeber und Autoren mit dem vorliegenden Sammelband.
Düsseldorf, im November 2014 Dirk Uwer
1 Teils drastische Kritik daran übend Werner Heun, Eine verfassungswidrige Verfassungsgerichtsentscheidung – der Vorlagebeschluss des BVerfG vom 14.1.2014, JZ 2014, 331 ff.; detailliert Franz C. Mayer, Rebels without a cause? Zur OMT-Vorlage des Bundesverfassungsgerichts, EuR 2014, 473 ff.
2 Dazu jüngst auch Johannes Saurer, Der kompetenzrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Recht der Europäischen Union, JZ 2014, 281 ff.
3 Martin Nettesheim, Kompetenzdenken als Legitimationsdenken, JZ 2014, 585 ff.
4 Gewissermaßen die umgekehrte Konstellation beleuchtend die sehr lesenswerte Arbeit von Jan Heuer, Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC: Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, München 2014; s. auch Ferdinand Wollenschläger, Anwendbarkeit der EU-Grundrechte im Rahmen einer Beschränkung von Grundfreiheiten, EuZW 2014, 577 ff.; Thorsten Kingreen, Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus, JZ 2013, 801 ff.; Rupert Scholz, Nationale und europäische Grundrechte: Umgekehrte „Solange“-Regel, DVBl. 2014, 197 ff. zum sich durch die umstrittene Åkerberg Fransson-Entscheidung des EuGH (C-617/10) verschärfenden Kompetenzkonflikt mit dem BVerfG; Daniel Thym, Blaupausenfallen bei der Abgrenzung von Grundgesetz und Grundrechtecharta, DÖV 2014, 941 ff., der der Auffassung ist, dass der EuGH auch mit Åkerberg Fransson keine generelle Überlagerung nationaler Grundrechte anstrebt; Jörn Griebel, Europäische Grundrechte als Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde, DVBl. 2014, 204 ff.; Heinz-Georg Dederer, Die Grenzen des Vorrangs des Unionsrechts – Zur Vereinheitlichung von Grundrechts-, Ultra-vires- und Identitätskontrolle, JZ 2014, 313 ff.; Jürgen Schwarze, Die Wahrung des Rechts durch den Gerichtshof der Europäischen Union, DVBl. 2014, 537 ff.; Friederike Lange, Verschiebungen im europäischen Grundrechtssystem?, NVwZ 2014, 169 ff.; Ferdinand Kirchhof, Nationale Grundrechte und Unionsgrundrechte, NVwZ 2014, 1537 ff.
5 Aus der umfangreichen Literatur jüngst etwa Julia Spiekermann, Die Folgen des Beitritts der EU zur EMRK für das Verhältnis der des EuGH zum EGMR und den damit einhergehenden Individualrechtsschutz, Baden-Baden 2013.
6 Udo Di Fabio, Zentralität oder Zentrifugalität: Wohin treibt Europa?, Festvortrag, 17. Deutscher Verwaltungsgerichtstag, Münster 2013, Stuttgart 2014, S. 21 ff. S. in diesem Zusammenhang auch Claudio Franzius, Demokratisierung der Europäischen Union, EuR 2013, 655 ff.
7 Viviane Reding, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, „Warum wir jetzt die Vereinigten Staaten von Europa brauchen“, Vortrag am 8. Dezember 2012 am Centrum für Europarecht an der Universität Passau, http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-12-796_de.htm.
PROF. (EM.) DR. DR. H.C. WERNHARD MÖSCHEL
Als Charles de Gaulle, damals Major in der französischen Armee, zu einer Dienstreise in den Nahen Osten aufbrach, meinte er: „Vers l’Orient compliqué je partais avec des idées simples.“1 Nicht immer helfen in komplexen Sachlagen einfache Gedanken. Die Europäische Union in ihrem gegenwärtigen Zustand zeugt davon. Es dürfte keine Übertreibung sein, wenn man sie in einer schweren Legitimationskrise sieht. Marksteine dieser Entwicklung sind das Scheitern des Verfassungsvertrages in den französischen und niederländischen Referenden vom Jahre 2005 und das anhaltende Tohuwabohu um die Europäische Währungsunion.2
Man spricht gerne von der Erfolgsgeschichte der Europäischen Union in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es kann gut sein, dass diese Aussage in einer ungewohnten Präzision zu verstehen ist: Die Erfolgsgeschichte könnte mit Ablauf des vorigen Jahrhunderts zu Ende gegangen sein.
Die Ursachen reichen tief.3
Wichtig für die Integration Europas war die politisch/militärische Bedrohung (West-) Europas aus dem Osten. Dieser Kitt ist zerbröselt. P. H. Spaak hatte Josef Stalin einmal als Vater der europäischen Einigung bezeichnet. Dieser gehört heute der Geschichte an.
Alle Mitgliedstaaten der EU sind gegenwärtig mit gravierenden innenpolitischen Problemen konfrontiert (Überalterung der Bevölkerung mit der Ausnahme Frankreichs, Gefährdung der Systeme der sozialen Sicherung, Verlust der früher eher als selbstverständlich wahrgenommenen technologischen Überlegenheit im globalen Wettbewerb). Der Anreiz, sich auf Kosten Dritter zu salvieren, nimmt zu.
Die Europäische Gemeinschaft begann als Wirtschaftsgemeinschaft. Hier gelten Soll und Haben. Die Fortentwicklung zu einer politisch aufgeladenen Gemeinschaft, die namentlich unter Jacques Delors begann, setzt eine sehr viel engere Bindung unter den Betroffenen voraus. Sonst akzeptieren Minderheiten keine Mehrheitsentscheidungen. Doch bestehen unverändert gravierende Interessengegensätze unter den Mitgliedstaaten fort. Es sei dazu nur auf den Versuch der englischen und der französischen Politik unter Lady Thatcher und Mitterrand verwiesen, die deutsche Wiedervereinigung zu hintertreiben. Der Versuch scheiterte am Widerstand der USA, dem von der Regierung Kohl vorgelegten Tempo und – vor allem – an der Neudefinition der sowjetischen Europainteressen unter Gorbatschow.
Diese Interessengegensätze erfassen selbst den Binnenmarkt als das Herzstück der Integration. Die Errichtung eines Marktes in dem Sinne, dass Hindernisse für die freie Bewegung von Gütern und Produktionsfaktoren beseitigt werden, hat handelsschaffende und insofern wohlstandssteigernde Wirkung. Die internationale Arbeitsteilung wird verbessert. Dies ist für eine liberale Sicht selbstverständlich. Man kann das auch anders sehen. So meinte der französische Industrieminister Arnaud Montebourg im vergangenen Jahr: „Der Freihandel ist der Feind der Völker.“4 Er bestätigte dies vor wenigen Wochen: „Der Colbertismus ist zurück – und das ist gut so.“5
Es ist daran zu erinnern, dass in Deutschland demgegenüber die grundsätzliche Freihandelsorientierung der Wirtschaftspolitik von allen, auch von den Gewerkschaften, immer mitgetragen wurde.
Gleiche Divergenzen im Grundsätzlichen, wo man sich keine Millimeterunschärfen erlauben sollte, bestehen im Vorverständnis der Verfassungsgebundenheit der EU. Dieser Konstitutionalismus ist historisch aus den USA nach Europa gekommen. Die Idee der EU als einer Rechtsgemeinschaft mit vorrangigem, allüberall gleichmäßig geltendem Recht ist eine unmittelbare Ausprägung davon. De Gaulle hat das schon früh mit Skepsis gesehen: „Internationale Verträge welken dahin wie die Rosen und die jungen Mädchen.“6 Er hat dies in den 60er Jahren durch die Tat – Politik des leeren Stuhles – unter Beweis gestellt, jedenfalls für den Kernbereich der Politik. Frau Lagarde, die vor ihrem jetzigen Amt im IMF französische Wirtschaftsministerin gewesen war, meinte im Kern dasselbe, als sie unlängst auf einer Konferenz ausrief: „Ich verlasse den Raum, wenn noch einmal das Wort Bundesverfassungsgericht fällt.“7
Dahinter steht ein anderes Verständnis von Politik: Allzuständigkeit der Entscheidungsträger, prioritär gegenüber Märkten, sprich den Handlungsfreiheiten der Bürger, und diskretionär im Sinne von Regelungebundenheit. Unabhängige Institutionen als Erscheinungsformen der Gewaltenteilung sind von daher grober Unfug. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an die Invektiven, die der Soziologe Bourdieu gegen das Projekt einer unabhängigen Europäischen Zentralbank vorbrachte. Gleiches gilt für die Verselbständigung der Wechselkurspolitik. Für eine „Wirtschaftspolitik aus einem Guß“ ist das schlicht ein Denkfehler. Folgerichtig lässt sich die Wirtschaftspolitik der deutschen Regierung als gemeinschaftsschädlich qualifizieren, im schlimmsten Fall sanktionieren, wenn die Exportüberschüsse des Landes zu Ungleichgewichten in den Handelsbilanzen führen. In Wirklichkeit ist dies nur die Folge von Wettbewerb auf der Ebene individueller Marktteilnehmer in einem System des grenzüberschreitenden Freihandels. Man erkennt darin letztlich das Konzept der Volkssouveränität im Sinne von Jean-Jacques Rousseau, unteilbar und nicht übertragbar. Dass Volkssouveränität faktisch nicht die Souveränität des Volkes ist, sondern die Souveränität der „classe politique“, ist dabei eine Pointe, die fast schon ermüdend wirkt.
Hinzu treten verlorene Illusionen: Die erste bestand in der Vorstellung, man könne die europäische Integration über die Köpfe der Betroffenen, sozusagen von oben herab, vorantreiben. Mittlerweile wird als Defizit deutlich: Es ist nicht gelungen, die Bürger hinreichend mitzunehmen.
Eine zweite Illusion bestand in der Idee, über eine immer engere wirtschaftliche Zusammenarbeit automatisch zu einer politischen Union zu kommen. Es gilt die Einsicht des ehemaligen deutschen Botschafters bei der UN und in Rom, Hans Arnold: „Politische Integration von Staaten lässt sich nicht erwirtschaften, sie lässt sich nur politisch erreichen.“8
Von Gewicht, mindestens in der Wahrnehmung der Bevölkerungen ist etwas, was man die technokratische Arroganz der Brüsseler Beamtenschaft nennen kann. Manches wird zwar zu Unrecht kritisiert: Bei der Normierung der berühmten Europagurke und ihrer Krümmung handelt es sich um eine sinnvolle Standardisierung. Gurken werden in Kartons gehandelt. So wird gewährleistet, dass in einem Karton eine einigermaßen gleiche Menge von Gurken enthalten ist.
Im Falle einer umgekehrten Diskriminierung (Importe aus dem Ausland ins Inland dürfen nicht durch Regulierungen behindert werden, die inländische Produktion dagegen schon) sind es häufig die inländischen Unternehmen bzw. ihre Verbände, die in Brüssel auf Harmonisierung drängen, nicht unbedingt die dortige Bürokratie. Doch gibt es abundante Zuständigkeitserschleichungen der Union. Die wohl am meisten missbrauchte Vorschrift ist m. E. Art. 114 AEUV, der frühere Art. 100a Abs. 1 EG-Vertrag. Er betrifft die Rechtsangleichung im Binnenmarkt. Vielleicht bringt hier Herr Calliess die abschließende Klarheit. Kautelen, wie die limitierte Einzelermächtigung oder das Subsidiaritätsprinzip, letzteres im Maastrichtvertrag als Placebo für die Deutschen verankert, erweisen sich bislang als von eher bescheidener Wirkungskraft. Vielleicht zeigt Herr Nettesheim energisch einen Weg nach vorne.
Die hier in Erinnerung gerufenen Begrenzungen und Schwächen tangieren die finalité européenne, die Endziele einer europäischen Integration.9
Es verwirklichte in Ablösung früherer Hegemonie- und balance of power-Konzepte eine neuartige, geniale Ordnungsidee: Kontrolle aller durch alle. Für Helmut Kohl ist die europäische Integration auch im 21. Jahrhundert unverändert eine Frage von Krieg oder Frieden. Nicht jeder wird ihm da folgen wollen, zumal die Deutschen, als unsichere Kantonisten wahrgenommen, durch die Integration längst in eine Art Käfig gesperrt sind (A. Grosser). Die Präsenz der USA auf dieser Seite des Atlantiks gilt vielen als wichtiger.
Es ist in der deutschen Diskussion unantastbar. Für die französische Tradition trifft das nicht zu. Dort setzt man spätestens seit Cardinal de Richelieu et de Périgord auf den Staat als Angelpunkt der Wirtschaft. Um noch einmal den gegenwärtigen Industrieminister Montebourg zu zitieren: „Die Regierung sieht den Staat als einen intelligenten Akteur in der Wirtschaft an, der den Interessen unserer Nation dient.“10
Die deutsche Frage, nach de Gaulle „la question européenne par excellence“,11 hat sich mit der Wiedervereinigung etwas konsolidiert.
Während man hierzulande, m. E. zu Recht, unverändert der Auffassung folgt „Deutsche Außenpolitik ist nicht möglich außerhalb von Allianzen“ (Michael Stürmer), spricht man von außen her schon einmal von der Bundesrepublik als dem Vierten Reich, z. B. im Zusammenhang der Krisenbewältigung in der Währungsunion. Was immer man davon halten mag, das Argument verliert aufgrund der demografischen Entwicklung an Gewicht. Etwa ab 2060 wird es wieder mehr Franzosen als Deutsche geben.
Zunehmender (verbaler) Beliebtheit erfreut sich das imperiale Argument: Europa müsse den Willen haben, eine Weltmacht zu werden. Dies hat eine sicherheitspolitische, eine außenhandelspolitische und eine umweltpolitische Komponente. Eine gemeinsame europäische Antwort auf hier bestehende Gefährdungen setzt freilich eine einheitliche Zieldefinition voraus. Eine solche ist nicht wirklich erkennbar. Nationale Letztverantwortung behält oberste Priorität. Mitterrand drückte dies beim Stapellauf des milliardenteuren Flugzeugträgers de Gaulle so aus: „... damit Frankreich Herr seines Schicksals bleibt.“12
Auf einige spezifische Interessenlagen sei nicht weiter eingegangen.13
Aus diesem Befund werden unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen:
Einige meinen, die Antwort könne nur eine entschlossene Bewegung hin zu „mehr Europa“ sein. Als Exponentin sei das Kommissionsmitglied Viviane Reding zitiert.14 Sie vertritt das Konzept eines europäischen Bundesstaates.
Andere treten für ein „weniger Europa“ ein, u. a. für einen Rückbau der als hypertroph empfundenen europäischen Zuständigkeiten. Dies ist die Richtung der gegenwärtigen britischen Politik. Denkbar ist auch das übliche Weiterwursteln ohne klares Konzept (Methode Monnet).
Wofür die Zeit nicht reif zu sein scheint, sind bundesstaatliche Konzepte. Ihr harter Kern besteht darin, dass das europäische Gemeinwohl im Willensbildungsprozess eines europäischen Parlaments, im power play der dort vertretenen gesellschaftlichen Kräfte gefunden würde und dass die Politikergebnisse trotz eines gegebenenfalls vorhandenen Verfassungsrahmens prinzipiell unbekannt wären. Die politische Primärverantwortung, welche gegenwärtig bei den Mitgliedstaaten liegt, ginge auf die europäische Ebene über. Einem solchen Konzept fehlen sämtliche Funktionsvoraussetzungen.
Es gibt kein europäisches Volk, welches Quelle einer demokratischen Legitimation sein könnte. Europa ist keine Erfahrungsgemeinschaft. Es wurzelt in seinen unterschiedlichen Identitäten und Kulturen. Christliche Ursprünge, das Vermächtnis der Aufklärung, Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft reichen zu einer hinreichenden Identitätsstiftung offenbar nicht aus. Was Bundespräsident Gauck unlängst als identitätsstiftenden zeitlosen Wertekanon bezeichnet hat, ist im Wesentlichen nur ein Hinweis auf universale Menschenrechte.15
Europa ist auch keine Kommunikationsgemeinschaft. Eine europäische öffentliche Meinung hat sich nicht herausbilden können. Ein gemeinschaftsweiter Diskurs, der eine Gesetzgebung kritisch begleitet und in eine Art volonté générale münden könnte, findet nicht statt.
Ein Staatsvolk setzt mehr voraus als die Gleichheit eines abstrakten staatsbürgerlichen Status. Es bedingt eine meist geschichtlich gewachsene innere Verbundenheit der Staatsbürger, welche für Minderheiten eine Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen erträglich macht. Ein europäisches Staatsvolk lässt sich nicht dekretieren. „Staaten leben von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen können.“16