Hans-Christian Dany, geb. 1966 in Hamburg, lebt dort als Künstler und Autor.
Amphetamin ist als Pharmazeutikum die normalste Sache der Welt: Kinder und Soldaten bekommen Amphetaminpräparate legal zugeteilt, um zu leisten, was von ihnen erwartet wird. Als Crystal Meth alias Pep, Yaba oder Speed hingegen wird es als »Killerdroge« für den jüngsten Anstieg an HIV-Infektionen verantwortlich gemacht.
Das Buch stellt die schillernde Wirkung dieser Droge in ihrem Zwiespalt dar, indem es die Entwicklungsgeschichte des Amphetamins vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nacherzählt, von seiner extremen Leistungssteigerung bis zur schnellen Abhängigkeit und Zerstörung.
Durch die Ausleuchtung der gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenhänge wird deutlich, warum das ehemalige Asthmamittel von der deutschen Wehrmacht als Stimulans für Soldaten genutzt werden konnte und nach Kriegsende als erstes Antidepressivum vermarktet wurde. Detailliert untersucht der Autor den Einfluss der Droge auf die Arbeiten von Künstlern wie Judy Garland, Philip K. Dick, Jean Paul Sartre, Andy Warhol, Elvis Presley oder Johnny Rotten.
EDITION NAUTILUS
Verlag Lutz
Schulenburg Schützenstraße 49 a
D-22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus 2007
Originalveröffentlichung
Erstausgabe Februar 2008
Umschlaggestaltung:
Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
Print ISBN 978-3-89401-569-5
E-Book EPUB ISBN 978-3-86438-006-8
Ihr Blick schwenkt von der Kante hinab in eine Winterlandschaft, die sich im Rund eines dunkel abgehängten Filmstudios ausbreitet. Was am Boden wie gefallene Flocken liegt, schimmert weiß und eben nicht weiß, weil es etwas anderes ist. Vorsichtig schüttet ihre Hand ein wenig von der kristallinen Substanz aus der schwarzen Kleinbildfilmdose. Was da liegt, zerdrückt sie mit einer flachgelegten Scheckkarte. Das Knacken gröberer Brocken weicht einem gleichmäßigen Schaben. Zwischen den Fingern kippt sie die Karte senkrecht, kehrt das Pulverisierte in eine schmale Bahn und streicht deren ausgefranste Seiten gerade. Jetzt putzt die Frau ihre Nase, betrachtet die Absonderungen, zerknüllt das Papiertaschentuch, wirft es weg, nimmt einen Schein aus dem Geldbeutel, rollt ihn bleistiftdick, führt das Röhrchen zum Nasenloch und beugt den Oberkörper nach vorn. Der papierene Rüssel setzt am Ende der Linie an und saugt die Straße mit einem Zug hinauf in die Schleimhäute. Als sei es nicht genug gewesen, befeuchtet sie ihren Zeigefinger mit der Zunge, tupft auf, was wie eine Staubspur liegen geblieben ist, und bewegt den Finger zur Nase: Es riecht nach Geranienblättern und einer kaputten Batterie. Sie leckt das Bitterschmeckende ab.
Eine Viertelstunde vergeht mit Zigaretten, als Muskeln beginnen, die Lunge zu weiten. Sie wird unruhig, atmet tief. Ein Gefühl der Enge stellt sich ein, der Wunsch, Platz zu schaffen. Sie greift nach Dingen, die auf dem Tisch stehen, und ordnet sie. Das geht schneller, als sie gedacht hätte. Sie setzt ihr Tun in der Küche fort, wechselt ins Bad, richtet die Betten, bis der Drang vor dem offenen Schlafzimmerschrank abrupt verschwindet.
Für das, was sie jetzt sieht, braucht sie ihre Augen nicht mehr. Entspannt wiegen sich ihre Gedanken. Ohne lange zu unterscheiden, durchdringt ihr Blick die Dinge. Ihre seifige Nase glaubt, das Gehirn zu riechen. Flüssigkeit sinkt durch das Dach des Oberkiefers und verbreitet im Gaumen den Geschmack frisch gewaschener Wäsche. Gedachte Worte fließen wie ein Gebirgsbach. Da keiner zuhört, nuschelt sie zu sich selbst.
Lässt die Wirkung nach, wiederholt sich alles: Sie baut wieder eine Straße und beugt sich über den Tisch. Mal fröstelt sie, und es fühlt sich an, als ob kühles Metall an einem empfindlichen Zahn entlangschrammt, Sekunden später massiert etwas Warmes die Nerven unter ihrer Haut. Von erhöhter Körpertemperatur nassgeschwitzt und durch ständige Toilettengänge entwässert, befeuchtet sie ihre staubigen Lippen mit einer Handfläche, die sich vom Schweiß klamm anfühlt. Dabei glänzen ihre Augen, während ihr Herz schlägt, als sei ihr ein zu schnell eingestellter Schrittmacher implantiert worden.
Vor dem Fenster geht zum dritten Mal die Sonne auf. An Schlaf in der Zwischenzeit kann sie sich nicht erinnern. Eine Stimme sagt, es sei jetzt an der Zeit für eine längere Wanderung. Sie nickt. Als ihr Körper beginnt, sich zu bewegen, wirkt die Haut wie in Benzin getränkt, ein Funken würde reichen, ihn in eine Stichflamme zu verwandeln.
Das Mittel zur Überwindung des vertrauten Verhaltens von Körper und Geist hat ein Chemiestudent schon 120 Jahre zuvor entdeckt. In brodelnden Glaskolben stellt der Rumäne Lazar Edeleanu in einem Experimentalseminar der Berliner Humboldt-Universität am 18. Januar 1887 eine bis dahin unbekannte organische Verbindung her. Für den angehenden Techniker ist es nur einer von vielen Versuchsaufbauten für seine Doktorarbeit Über einige Derivate der Phenylmetacrylsäure und Phenylisobuttersäure.
Der 25-Jährige ahnt nicht, was sich mit dem von ihm im Reagenzglas hergestellten 1-Phenylpropan-2-amin praktisch anstellen lassen wird. Er erkennt die Formel eines Kunststoffs, etwas damals noch weitgehend Unbekanntes. Aber er hat nicht die geringste Idee davon, dass er etwas entdeckt hat, das einmal den Namen »Speed« tragen wird – den Namen des Zustands, den die Menschen des kommenden Jahrhunderts für den erstrebenswertesten halten werden.
Statt einer neuen Vorstellung von Geschwindigkeit erkennt er ein chemisches Konstrukt mit der Masse von 135,21 g/mol, das in wässriger Lösung alkalisch reagiert und bei 203° Celsius siedet. Die formale Perspektive seiner Promotion bietet ihm gar nicht den Rahmen, sich mit der Wirkung des Stoffes auf das Nervensystem zu beschäftigen. Als alles danach aussieht, dass weder Substanz noch Formel über das Akademische hinaus einen Nutzen haben könnten, dokumentiert er die Experimente und legt sie im Archiv ab.
Jahrzehnte bevor Edeleanus Formel zu einer anwendbaren Technologie mit dem Namen Amphetamin wird, wird der Chemiker durch eine andere Entdeckung reich und berühmt. Er entwickelt mit dem Schwefeldioxid-Extraktionsprozess ein Raffinerieverfahren, das für die Erdölindustrie eine technische Revolution bedeutet. Diesmal ahnt er, dass er eine Goldader entdeckt hat, und gründet die Allgemeine Gesellschaft für Chemische Industrie, aus der später die Uhde Edeleanu hervorgeht. Edeleanu wird zu einem erfolgreichen Industriellen.
Erst ein halbes Jahrhundert später verwandelt sich Amphetamin in einen populären Gebrauchsgegenstand, der viele Namen trägt und in unterschiedlicher Form auftritt: als Pulver, Flüssigkeit oder Tablette. Aber nicht nur die Form, auch die Motive, den Kunststoff zu nutzen, sind vielfältig: Mal dient er zur Flucht aus der Wirklichkeit, mal hilft er, den Ansprüchen des Alltags gerecht zu werden.
Wie bei allen Drogen handelt es sich auch bei Amphetamin um eine chemische Verbindung, die nach ihrem Eintritt in den menschlichen Stoffwechsel auf das zentrale Nervensystem wirkt. Je nach Dosis und Darreichungsform löst der Fremdkörper dabei höchst unterschiedliche Reaktionen aus.
Die Vielfalt der Gebrauchswerte von Amphetamin hat aber nicht allein biochemische Ursachen, sondern wird stark durch die Umgebung bestimmt, in der Amphetamin zum Einsatz kommt. Diese gibt im hohen Maße vor, ob die Benutzer es als Medikament, Rauschmittel, Waffe oder Medium wahrnehmen.
Der für Amphetamin zentrale Wirkungsaspekt, den Schlaf aufzuschieben, findet sich schon bei einer im Gebrauch verwandten, jedoch wesentlich milderen Droge, die lange vor Edeleanus Mischung in Europa populär wird. Angeregt durch seinen Freund Johann Wolfgang Goethe, gelingt es dem deutschen Künstler und Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge 1819, den zentralen Wirkstoff der Kaffeebohne, das »Koffein«, zu isolieren. Die wissenschaftliche Leistung erregt Aufsehen, entwickelt sich Kaffee doch gerade zu einem erfolgreichen Anregungsmittel. Eine der Hauptursachen für das gesteigerte Interesse der Europäer an der in Äthiopien schon seit Jahrhunderten bekannten psychoaktiven Droge liegt im Wandel der Schlafgewohnheiten weiter Teile der arbeitenden Gesellschaft. Die Menschen schlafen anders, seit die Arbeitsbedingungen durch die erste industrielle Revolution radikal neu organisiert wurden. Endete die Nachtruhe bis dahin mit dem Aufgang der Sonne, und legte man sich nach ihrem Untergang wieder zu Bett, setzt sich nun die Annahme durch, die Umwälzung der Produktionsmittel erfordere vom vertrauten Rhythmus abweichende Wachzustände. Was der schlaftrunkene Körper an Widerstand gegen das fremdbestimmte Aufstehen leistet, soll das in kochendem Wasser verflüssigte Koffein auflösen.
Nicht nur als zielgerichteter Wirkstoff erfüllt der Kaffee seine Aufgabe, die braune Brühe erweist sich darüber hinaus bald als preisgünstiges Genussmittel, mit dem sich das Gefühl des kleinen Luxus zwischendurch vermitteln lässt. Beides zusammen macht den Kaffee zu einem der beliebtesten Mittel für die Fortsetzung der Arbeit. Der anhaltende Erfolg des Kaffees überrascht, da die Industrialisierung immer schneller arbeitende Werkzeuge hervorbringt, für die immer schneller arbeitende Menschen gebraucht werden, während Chemiker immer stärkere Antreiber für die Werktätigen entdecken.
Ein besonders wirksamer Beschleuniger des Menschen heißt »Kokain«, eine Substanz, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur großen Drogenentdeckung während der zweiten industriellen Revolution wird. Kokain ähnelt dem später entdeckten Amphetamin in der Wirkung. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich aber doch deutliche Unterschiede: Kokain wirkt schneller, aber kurzfristiger – Amphetamin bleibt dafür länger im Körper bioaktiv und greift nachhaltiger in das Nervensystem ein.
Im Gegensatz zum synthetischen Amphetamin, einer chemischen Verbindung, die bis heute nicht in der Natur nachgewiesen werden konnte, basiert das industriell verfeinerte Kokain auf einem nachwachsenden Rohstoff. Ein weiterer Unterschied der beiden Drogen liegt darin, dass Kokain uneinheitlich auf das Nervensystem wirkt. Neben der anregenden Funktion lähmt es die sensorischen Nerven der Körperperipherie, weshalb es in der Augenheilkunde zur örtlichen Betäubung genutzt wird. Amphetamin hingegen drängt nur ein allgemeines Gefühl von Schmerz im Bewusstsein zurück, während es beim Benutzer die Wahrnehmung der zur Verteidigung notwendigen Körperfunktionen stärkt.
Trotz deutlicher Unterschiede in der Wirkung dient auch Kokain zur Leistungssteigerung arbeitender wie kämpfender Körper, als Mittel zum Entzug von anderen Drogen oder als Schlüssel zu schnellen Hochgefühlen. Funktional kann es daher als Vorläufer von Amphetamin gelten.
Die von den Ureinwohnern als magisch verehrten Wirkungen der Blätter des Kokastrauchs kannten die Zauberärzte in den lateinamerikanischen Anbaugebieten schon seit Jahrhunderten. Forschungsreisende berichteten begeistert davon. Im 16. Jahrhundert wird die Pflanze erstmals nach Europa gebracht. Zu einer intensiveren Nutzung kommt es aber erst nach 1860, als Albert Niemann die Abtrennung der gezielt auf das zentrale Nervensystem wirkenden Alkaloide des Kokastrauchs gelingt. Von den Auswirkungen seiner Anstrengung, einer Übertragung des Wissens der lateinamerikanischen Ureinwohner in industrielle Strukturen, erfährt der 25-jährige Chemiker aus Göttingen nur noch wenig. Er stirbt im Jahr darauf an den Folgen einer Vergiftung, die er sich bei Experimenten mit Senfgas, einer späteren C-Waffe, zuzieht. Genutzt wird der veredelte Stoff aus den Kolonien in den Industrieländern bald für die in den Anbaugebieten schon lange bekannten Möglichkeiten. Nur die magischen wie rituellen Nutzungen bleiben ausgeklammert. Sie lassen sich nicht in die industrielle Wertschöpfung einbinden.
Auf die Möglichkeiten der Leistungssteigerung durch Kokain weist nachdrücklich Theodor Aschenbrandt hin. Heimlich mischt der Militärarzt die Droge 1883 Soldaten der bayerischen Armee in ihre Wasserflaschen. Gespannt beobachtet er, wie selbst Schwerverwundete, nachdem sie einen kräftigen Schluck davon genommen haben, wieder aufstehen und weiterkämpfen.
Ein junger Wissenschaftler, der Aschenbrandts Veröffentlichungen über die erstaunlichen Zombiekrieger liest, glaubt, darin eine Perspektive für seine eigene Karriere zu erkennen. Ihn quält seine unterbezahlte Arbeit als Assistenzarzt in einem Wiener Spital. Die wissenschaftliche Beschreibung einer zu diesem Zeitpunkt wenig bekannten Droge, hofft er, wäre eine Möglichkeit, seine akademische Laufbahn in Gang zu bringen. Kokain scheint ihm dafür vielversprechend, weil die Psychiatrie zu diesem Zeitpunkt zwar schon über eine Reihe von Mitteln verfügt, eine erregte Nerventätigkeit zu dämpfen, jedoch über kaum eines, die Reizleitungsorgane zu beleben. Er ordert eine kleine Portion bei dem führenden deutschen Kokainfabrikanten, der Firma Ernst Merck, und stürzt sich in die Arbeit. Für die Studie benötigt er nur wenige Wochen. Selbstversuche mit dem erfrischenden Pulver beschleunigen sein Schreibtempo.
Was Sigmund Freud als Abhandlung mit dem Titel Über Cocain aus der Feder fließt, fasziniert allein durch seine ungewöhnliche Form. Der zum Zeitpunkt der Niederschrift 28-Jährige findet in dem Text erstmals zu seinen literarischen Qualitäten und einer zentralen Geste seines Denkens, dem in der Wissenschaft unüblichen Einsatz der subjektiven Perspektive. Unter Einfluss von Kokain hält sich Freud für einen »wilden Mann«, wie er sich seiner Verlobten Martha Bernays in einem Brief ankündigt. Begeistert saugt er alle Texte zum Thema auf, an die er herankommen kann. Seine gehetzte Stimmung lässt ihm aber keine Zeit, das Vorgefundene lange zu prüfen. In seiner Eile verwechselt er Werbung mit Forschung und verwendet die Detroit Therapeutic Gazette, ein Anzeigenblatt des USamerikanischen Kokainherstellers Parke, Davis & Company als Quelle. Lässt die wissenschaftliche Gründlichkeit der Arbeit auch zu wünschen übrig, gelingt Freud eine stilistische Glanzleistung, die das bisher über Kokain Bekannte zusammenträgt und aufwertet. Der Text empfiehlt Kokain als Medikament bei Hypochondrie, jenem komplizierten Bereich von eingebildeten Krankheiten, Teilnahmslosigkeit, Magenbeschwerden, körperlicher Auszehrung und Melancholie.
Als Über Cocain im Sommer 1884 im Wiener Zentralblatt für gesamte Therapie erscheint, stößt der vierzigseitige Artikel auf großes Interesse. Es melden sich aber auch skeptische Stimmen, wie die des Chemikers Erlenmeyer, der Freud vorwirft, mit Kokain, nach Alkohol und Morphium, »die dritte Geißel der Menschheit« zu verbreiten. Um das Gegenteil zu beweisen, überprüft Freud eine seiner zentralen Behauptungen, Kokain sei für den Entzug von Morphium geeignet, an einer Versuchsperson. Der Nachweis der These mit Hilfe seines abhängigen Freundes Ernst von Fleischl-Marxow verläuft zunächst erfolgreich. Nach einigen Wochen kommt es aber zu einem Rückfall. Fleischl-Marxow nimmt nun nicht nur die Ersatzdroge, sondern auch wieder Morphium. Im Jahr darauf stirbt er an dem die Organe überlastenden Mischkonsum. Freud trägt das tragisch gescheiterte Therapiekonzept den Spott ein, Erfinder des »Speedballs« zu sein – eines Cocktails aus einem Opiat und Kokain. Die Karriere von Kokain als Entzugsmittel findet kurz darauf ihr Ende. Amphetamin hält sich später wesentlich länger als Entzugshilfe von Morphium und Alkohol.
Trotz der Anfechtungen, die Freud in späteren Veröffentlichungen zu »Cocawirkung« oder »Cocainfurcht« fast unberücksichtigt lässt, entwickelt sich die Auseinandersetzung mit der Droge zu einem Meilenstein auf seinem Weg zum Ruhm und markiert seinen Wechsel von der Physiologie zur Psychologie. Dem Begründer der Psychoanalyse gefällt diese Einschätzung gar nicht, er bemüht sich, die Kokainepisode als Jugendsünde kleinzureden und entwickelt eine regelrechte Abneigung gegen das, was ihn einmal so bezaubert hat. Schuldgefühle am Tod des Freundes dürften ein Grund dafür sein. Vor allem ist der deutliche Einfluss, den die Kokainerfahrung auf Freuds Traumdeutung hat, nur schwer zu übersehen. Die chemische Wirkung passt aber nicht in das von Freud entworfene Theoriegebäude einer verdeckten Mechanik der menschlichen Psyche. Zwar formuliert Freud seine Verhaltenslehre mit Wortbildern aus der industriellen Revolution wie der direkt aus der Dampfmaschine abgeleiteten »Verdrängung«, außerhalb der sprachlichen Übertragung kommt die Wirklichkeit der Maschinen bei ihm aber nicht vor. Grund dafür dürfte die Vorstellung sein, dass die chemischen Körpertechnologien den psychoanalytischen Entwurf verunreinigt hätten. Um den sauberen Glanz seiner wissenschaftlichen Behauptung zu wahren, verdrängt der Baumeister des spätmodernen Subjektbegriffs die Rolle des Stoffs, der ihm das Unbewusste zu erschließen half.
Das Mittel, mit dem Freud eine Zeit lang seinen verdeckten Wünschen ans Licht geholfen hat, befindet sich mittlerweile in den USA auf dem Weg zur gesellschaftlichen Ächtung. Firmen wie Coca-Cola haben den Kokainanteil ihres Erfrischungsgetränks schon durch das erheblich mildere Koffein ersetzt.
70 Jahre später untersucht der Freud-Experte und Drogenforscher Jürgen vom Scheidt die Kokainepisode Freuds ausführlich. Nicht weiter vertieft wird dabei, dass Freuds Verständnis des Subjekts durch die Übernahme einer Verbesserungsmethode des soldatischen Körpers, jenes von Militärarzt Aschenbrandt empfohlene Aufstehpulver, angeregt wurde.
Die Sehnsucht der Menschen, sich zu verbessern, liefert ein Motiv, das mit Amphetamin perfekt zusammenpasst. Tiefer durchatmen, gezielter denken, schöner geformt sein, schärfer schießen und schneller arbeiten – das sind Wünsche, die mit dem Stoff in Erfüllung gehen sollen. Der bizarre Drang, alles und jedes zu verbessern, bildete schon den Hintergrund, vor dem die Voraussetzungen für eine Entdeckung der Möglichkeiten von Amphetamin geschaffen werden.
Im Jahr 1908 kommt eine Reihe von Modernisierungsschüben in Gang, die den Boden für den zukünftigen Gebrauch von Amphetamin bestellen. Edeleanus schon 20 Jahre alte Formel liegt noch unerkannt im Archiv, als in Paris Paul Poiret die Damenmode mit einer ungewohnt schlanken, gerade geschnittenen Form auf den Kopf stellt. Was der Modeschöpfer zum Stil verdichtet, ersetzt die Wespentaille und damit die bisherige Betonung von Hüften und Po durch eine hochtaillierte, flachbrüstige Empirelinie. Mit dem neuen, praktischen Schnitt kommt es aus der Mode, korpulent zu sein. Moderne Frauen können und sollen nun ihren Körper zu einer dynamischen Form disziplinieren, um die von der Industrialisierung erzeugten Anforderungen physischer Selbstkontrolle nach außen zu repräsentieren.
Poirets Entwürfe verkörpern den industriellen Fortschritt und knüpfen zugleich an den Empirestil der Ära Napoleon Bonapartes an. Begleitete die gerade Linie 100 Jahre zuvor eine Phase der militärischen Mobilisierung, dringt der gefasste Körper nun offensiv ins Zivilleben ein. In den Zwanzigerjahren wird die Empirelinie durch die Einführung von Konfektionsgrößen und deren Massenfertigung für eine wachsende Zahl von Frauen tragbar. Ab den Dreißigerjahren hilft Amphetamin, der Pflichtfigur durch neurochemisch gezähmten Hunger nachzukommen.
Die Konzepte der Verbesserung des als unzureichend erkannten Menschen erfassen nicht nur den Körper, sondern zielen auch auf den Kopf. Zu einem Vorstoß in die bis dahin höchst geheimnisvollen Phänomene des Gehirnstoffwechsels kam es schon am Ende des gerade vergangenen Jahrhunderts, als dem japanisch-amerikanischen Chemiker Jokichi Takamine 1900 erstmals die Isolation des Botenstoffs Adrenalin gelingt. Künstlich nachbaubar wird damit ein »Stresshormon«, das vorwiegend im Nebennierenmark gebildet wird. Zwei Jahre später bringt der Drogenhersteller Parke, Davis & Company ein synthetisches Adrenalin auf den Markt, das aufgrund seiner Wirksamkeit bei Asthmaanfällen schnell erfolgreich wird.
»Hormon« leitet sich vom altgriechischen »hormãn« ab, das »in Bewegung setzen« oder »antreiben« bedeutet. Die modernen Pioniere der Gehirnstoffwechselforschung vermuten, solche körpereigenen Stoffe würden Reize im Nervensystem übertragen. Noch haben sie aber nur eine grobe Vorstellung der chemischen Vorgänge, die das Nervensystem steuern.
In London wird die Entdeckungsreise in die unsichtbaren Gefilde des Nervensystems 1908 fortgesetzt, als im Labor der Pharmafirma Burroughs, Wellcome & Co. ein gewisser Henry Hallett Dale die Arbeit aufnimmt. Nach dem Studium hatte der junge Physiologe allen auf ihn gesetzten Hoffnungen zum Trotz keine akademische Karriere eingeschlagen, sondern sich für die Industrie entschieden, wo er einen Arbeitsplatz bekommt, der es ihm erlaubt, sich auf die Untersuchung der Speichermechanismen von Gewebehormonen zu konzentrieren. Nach nur zwei Jahren Forschung veröffentlicht er gemeinsam mit seinem Mitarbeiter George Barger den bahnbrechenden Aufsatz Chemical Structure and Sympathomimetic Action of Amines.
Eine Beobachtung, auf die sich die Studie stützt, liegt in der chemischen Ähnlichkeit des von Edeleanu synthetisierten Amins mit dem Hormon Adrenalin. Für Barger und Dale bedeutet die Entdeckung der Analogie aber nur einen Zwischenschritt auf dem Weg zu ihrem Ziel, der Absonderung des Botenstoffs Acetylcholin, einer weiteren Substanz, die, so vermuten sie, wesentlich dazu beiträgt, die Nervenreize im Körper weiterzuleiten.
Der Beweis des zunächst nur angenommenen Steuerungsvorgangs durch die chemischen Boten gelingt erst Jahre später, nachdem der deutsche Forscher Otto Loewi experimentell die Impulsübertragung innerhalb des Nervensystems im Labor nachgestellt hat. Im Anschluss an Loewi kann Dale beweisen, dass chemische Mechanismen die Impulse im Nervensystem übertragen. Doch schon mit der Hypothese der chemischen Mechanismen erscheint die Vorstellung vom Gehirn als einem durch spezifische Stoffe gesteuerten System – und damit einer Haushaltung, die durch synthetische Drogen beeinflusst werden kann.
In Rom ruft 1908 eine von den Wundern des industriellen Fortschritts besessene Künstlergruppe die neue Moral-Religion der Geschwindigkeit aus. Berauscht von den Möglichkeiten der Technik drängt es die Futuristen, nicht nur deren Bediener zu sein, sondern mit dem Auto oder am liebsten gleich mit allen Maschinen zu verwachsen. Ihr größter Wunsch ist, sich selbst in »Menschmaschinen« zu verwandeln. Nichts trifft für die jungen Männer die Möglichkeiten ihrer Zeit so genau wie diese sprachliche Verschmelzung zu einem märchenhaften Halbwesen aus zwei Polen.
Rund um ihr in zahllosen Bildern ausgemaltes Verständnis eines Lebens als Bastard aus Mensch und Maschine fantasieren die Futuristen eine ästhetische Welt, in der die Mächtigeren diejenigen sind, die die Herrschaft über die Geschwindigkeit erlangen. Das Traumgespinst der künstlerischen Avantgarde findet seine Verwirklichung in einem totalitären Universalismus, als sich Benito Mussolini 13 Jahre später zum Herrscher Italiens aufschwingt und Wirklichkeit werden lässt, was die Futuristen gemalt und gedichtet haben: Selbst einen hochtourigen Sportwagen der Marke Alfa Romeo fahrend, versorgt der Diktator seine Untertanen mit langsameren Kleinwagen von Fiat.
Im Zeichen einer ähnlichen, aber noch tiefer in die Ordnung der Körper eingreifenden Idee von der Zukunft bringt die kleine Detroiter Ford Motor Company 1908 ein auf das Allernotwendigste reduziertes Automobil auf den Markt. Hat der Konstrukteur und Unternehmer Henry Ford den Prototyp in monatelanger Handarbeit allein in einem Schuppen zusammengeschraubt, stehen ihm bald Hunderte von Mitarbeitern in seiner Fabrik in Highland Park zur Seite, die das schwarze Modell T in Serie herstellen.
Fünf Jahre später senkt das Unternehmen noch einmal radikal die Herstellungskosten, als es die Montage der Einzelteile des Serienwagens am laufenden Band einführt. Den Unternehmer lassen die Vorstellung neuer Eliten und das Rauscherlebnis der Geschwindigkeit im fahrenden Auto kalt. Seine Vision einer Verbesserung des Menschen durch Maschinen zielt in erster Linie auf die Beschleunigung und die Steigerung der Leistungsfähigkeit. Mit der erhöhten Herstellungsgeschwindigkeit des Fließbandes will er seine Vorstellung vom Auto für alle verwirklichen: »I will build a motorcar for the great multitude.«
Fords aus Metall geformter Traum eines serienproduzierten Wagens für die breite Masse wird zum Sinnbild einer ganzen Epoche. Die Maschine gibt den Arbeitern den Rhythmus ihrer mechanisch wiederholten Bewegungen vor. Jeder Fließbandarbeiter bekommt eine winzige Handlung in der Aufeinanderfolge der langgestreckten Menschmaschine zugewiesen, die er am laufenden Band bis in den Dämmerzustand der Trance wiederholt.
Die Methode der Arbeitsteilung hat sich der Sohn eines Bauern auf den Schlachthöfen in Chicago abgeguckt. Dort rollten an einem Seil tote Körper an den Schlachtern vorbei. Jeder Metzger hat einen bestimmten Handgriff zu tun. Einer nimmt die Eingeweide heraus, ein anderer schlägt die Beine ab. Die Demontage der Tiere überträgt Ford auf die Montage von Autos. Dass erst die Zusammensetzung von Autos am laufenden Band, bei dem es sich zuerst um ein Seil handelte, den Begriff »Fließbandproduktion« prägt, wird nur in der englischen Sprache verständlich. »Assembly line production« leitet sich technisch präzise von »assemble«, »zusammensetzen«, ab.
Assembly, das Verfahren des Zusammensetzens, stellt zunächst nichts Neues dar, sondern entwickelt die von Eli Whitney erfundene Methode der Schusswaffenherstellung aus Einzelteilen weiter. Fords Leistung liegt darin, die Montage der vorgefertigten Elemente in eine ununterbrochene Bewegung zu überführen. Die für die Beschleunigung der Herstellungskette entscheidende Teilung der Arbeit nimmt vom Menschen jeweils nur den benötigten Körperteil. Auf die Zahl genau kann Ford vorrechnen, wie das Ineinandergreifen der Faktoren Mensch und Maschine funktioniert und wie viele Körperteile die Apparatur für die einzelnen Schritte der Herstellung eines Autos benötigt. Erforderlich sind mehrere Tausend verschiedene Arbeitsgänge. 949 davon lassen sich als Schwerarbeit bezeichnen, für die gesunde, kräftige Männer benötigt werden. 670 Arbeits-Vorgänge können von Beinlosen, 2637 von Einbeinigen, zwei von Armlosen, 715 von Einarmigen, zehn von Blinden verrichtet werden.
In welchem Ausmaß hinter Fords Zahlenbild die Vorstellung vom Menschen als Teil eines Ornaments steht, zeigt sich in einer Verschwendung, die sich der sparsame Fabrikant zu seinem fünfzigsten Geburtstag gönnt. Mitten am Tag gibt er die Anweisung, alle Maschinen abzuschalten. 12.000 Männer verlassen ihre Arbeitsplätze und versammeln sich auf dem Hof zwischen den Fabrikhallen, um sich gemeinsam mit dem Geburtstagskind für ein Foto aufzustellen. Kein Sockel hebt Ford aus dem Aufmarsch von Arbeitern hervor, die sich auf dem Foto schnell in helle Punkte verwandeln. Sichtbar wird ein gleichförmiges Muster, in dem der Einzelne verschwindet. Die Unterbrechung der Arbeit für das Gruppenbild kostet Tausende Arbeitsstunden und lässt es zu einem der teuersten Fotos seiner Zeit werden.
Nach der Teilung der Arbeit durch ihre Zerlegung am laufenden Band beschleunigt Ford das Tempo der Herstellung zusätzlich durch das »forcing« – eine Vokabel aus dem Sport, die den ununterbrochenen Angriff bezeichnet. Immer wieder stellen rechnende Kontrolleure mit gezückten Stoppuhren jeden kleinen Handgriff des Arbeitsablaufes unter Beobachtung und prüfen, wo noch etwas »Speed« herauszukitzeln ist.
In der Summe sind die Verbesserungen beeindruckend: Vor den Augen der staunenden Welt verkürzt die Ford Motor Company die Zeit, die die Arbeiter täglich in der Fabrik verbringen müssen, von zehn auf acht Stunden und verdoppelt den Lohn eines Tages auf fünf Dollar. Die Arbeiter sollen den Serienwagen, dessen Preis auf 500 Dollar sinkt, nicht nur zusammenbauen, sondern am Ende des Bandes kaufen. So gelingt es Ford, den Wunsch der Maschinenbediener nach Teilhabe an den Erträgen der Industrialisierung zu lenken, indem er die bis dahin mit dem Allernotwendigsten überlebenden Arbeiter zu Kunden und Autobesitzern aufsteigen lässt.
Durch seine höhere Geschwindigkeit verkürzt das Fließband die Dauer der Arbeit. Seine Bediener verfügen jetzt über mehr Freizeit. Das Wochenende wird erfunden. Eine Möglichkeit, die ungewohnte Freizeit zu füllen, liefert der Rausch. Sprachlich betrachtet, dringt der Rausch über den Gehörsinn in die Wahrnehmung ein. Die Windungen hinter dem Ohr wirken von seinem Krachen, Sausen und Schwirren erfüllter, wodurch der Lärm der eigenen Schritte in der Leere zumindest übertönt werden kann. Während der alte Rausch vor allem die Wahrnehmung von Geräuschen in Unschärfe versenkte, kommt mit Kokain nun ein neuer Rausch hinzu, der sich gerade daraus nährt, eine erfrischende Klarheit zu erzeugen, scharf zu überzeichnen, schmutzig Brummendes zur Seite zu fegen und jede Ermüdung, jedes ablenkende Rauschen herauszufiltern.
Ein Gedichte schreibender Arzt nimmt 1910 in einem Prosatext mit dem Titel Unter der Großhirnrinde melancholisch Abschied vom Schlaf und fühlt sich abgeführt in einen Zustand unbehauster, überheller Dauerwachheit: »Es ist schön zu denken, dass wir mal im Laube gewohnt und uns in Erdlöchern gewärmt haben. Und dass wir mal geschlafen haben, wo man gerade stand und müde war, vielleicht an einer Baumwurzel wie die Iltisse. Ich denke manchmal, es wird eine Zeit kommen, da schlafen die Menschen nicht mehr. Denn das ist doch das Letzte aus der anderen, der stummen getriebenen Welt: eine Negation des Intellekts, ein Überzug über die Großhirnrinde, ein Zurückgebrachtwerden an die niederen Zentren, an das Reflektorische, an alles das, was nicht zu Bewusstsein gesteigert werden kann. Alles andere haben wir ja schon verlassen. Dies Letzte wird auch verlassen werden.«
Mögen über dem von Gottfried Benn beschworenen Abschied vom Schlaf bedrohliche Wolken schweben – nichts wirkt aufregender als das, was kommt. Aufschieber des Schlafs, wie Kokain und das erst Jahre später verfügbare Amphetamin, sind auf dem Weg, das Hirn blankzulegen, um das Leben in einen rationalisierten Rausch zu überführen, hin zu unermüdlicher Aufmerksamkeit und strahlendem Licht.
Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 spaziert ein junger Mann durch Paris. Ein Geschäft für Künstlerbedarf hat er bereits mehrmals aufgesucht. Jedes Mal hält er sich lange in den Verkaufsräumen auf und besieht dabei so viele unterschiedliche Waren, dass die Angestellten gar nicht mehr erraten können, was er eigentlich kaufen will. Sprechen sie ihn an, bekommen sie zu hören, er wisse sich schon selbst zu helfen.
Bei einem weiteren Besuch scheint er genau zu wissen, was er haben möchte. Er kauft dreimal die gleiche Druckgrafik. Die dekorativen Blätter zeigen in konventioneller Darstellung entlaubte Bäume an einem verschneiten Ufer. Vom Laden geht der Käufer zielstrebig zum Bahnhof. Dort steigt er in einen Zug und fährt in Richtung der Kleinstadt Rouen. In der vor dem Fenster vorbeiziehenden Landschaft beginnt sich das Licht des Tages schon zu verabschieden. Im Halbdunkel greift der Fahrende zum Pinsel, um zielsicher einen Eingriff auszuführen. Er färbt einen Lichtpunkt in der Grafik rot und einen anderen grün. Eine Farbwahl, die die Erkennungszeichen französischer Apotheken wiederholt.
Marcel Duchamp, wie der fahrende Künstler heißt, schafft durch den minimalen Eingriff in den gekauften Druck ein Schlüsselwerk der konzeptuellen Kunst. Er nennt es Pharmacie, worunter damals ein chemischer Gemischtwarenladen verstanden wird. In solchen Läden gibt es Sonderangebote, Ladenhüter, Geheimtipps und Tausende von Substanzen mit noch viel mehr Wirkungen.
Pharmacie wird zum Prototyp einer ganzen Serie von Objekten, den Readymades, bei denen Duchamp wenig tut und gleichzeitig viel geschehen lässt. Die »Fertiggestellten« formulieren, wie Dinge, Handlungen oder Wesen in einem zugewiesenen Sinnzusammenhang stehen und durch ihn ihre Bedeutung erlangen. Und dass sich diese Zuschreibung ändert, wenn das Ding in eine andere Umgebung verschoben wird.
Zeitgleich mit Pharmacie kommt es zur Kriminalisierung der außermedizinischen Verwendung von Drogen. Die gleiche Droge kann nun in der Apotheke oder der englischen »pharmacy« legal verwendet werden, ihr Genuss in einem Zusammenhang ohne ärztliche Aufsicht aber eine Straftat bedeuten. Der Harrison Narcotic Tax Act von 1914 formuliert nicht das erste moderne Drogengesetz, schon 1868 hat das britische Parlament mit dem Pharmacy Act ein Gesetz zur Kontrolle des Drogenverkaufs erlassen, um den Handel mit Opium einzudämmen. Erstmals benennt das US-amerikanische Gesetz aber die Zweckentfremdung von Drogen als »Missbrauch« und stellt sie unter Strafe. Damit wird juristisch die Unterscheidung zwischen dem zulässigen und unzulässigen Gebrauch einer Körpertechnologie eingeführt.
Wie vieles, das die Drogengeschichte weiterschreibt, ist das staatliche Regulativ die Folge eines Krieges. Nach dem Sieg über Spanien im Krieg um die Herrschaft in Kuba sind den USA auch die Philippinen zugefallen. Da der ostasiatische Inselstaat eine zentrale Rolle im Opiumhandel spielt, sehen sich die neuen Herrscher durch ihre Kriegsbeute unter dem Druck anderer Kolonialmächte, eine Strategie gegen den unkontrollierten Handel mit Drogen zu entwickeln. Aus der diplomatischen Zwangslage geben die USA den Anstoß zur ersten Opiumkonferenz und schaffen damit 1912 in Den Haag die Voraussetzungen für eine internationale Drogengesetzgebung, für die sie in ihrem Machtraum mit dem Harrison Narcotic Tax Act eine Grundlage formulieren. Dabei geht es darum, Drogen mit Steuern zu belegen und sie so an den kontrollierten Geldfluss anzuschließen. Der Handel mit Drogen, an dem der Kolonialherr und seine Gesundheitsindustrie nicht mitverdienen, soll durch Kriminalisierung ausgetrocknet werden.
US-amerikanische Finanzämter richten kurz darauf eigene Abteilungen ein, die sich auf die Eintreibung von Steuern aus Drogenverkäufen spezialisieren, woraus später das Bureau of Narcotics hervorgeht. Die Mittel zum Rausch werden eine Angelegenheit der Verwaltung, die so einen größeren Zugriff auf den Körper und auf die weit entfernte Landwirtschaft in den Kolonien bekommt.
Ein weiteres Motiv des neuen Gesetzes lässt sich nur schwer übersehen. Zu plump personifizieren die Propagandisten des Gesetzes die drohende Gefahr im »negro cocainist«, einer Figur, die belegen soll, in jedem harmlos dreinschauenden »Onkel Tom« lauere ein gefährlicher Wilder, den die Droge entfessele und in einen gewalttätigen Verbrecher verwandele.