Verlag C.H.Beck
Die dreißig Jahre zwischen 1618 und 1648 haben millionenfachen Tod, Verwüstung und Barbarei über Mitteleuropa gebracht und die politischen Verhältnisse durcheinandergewirbelt. Georg Schmidt schildert in diesem Band Ursachen, Abläufe und Wirkungen der großen Krise des 17. Jahrhunderts vom böhmischen Ständekonflikt bis zum Westfälischen Frieden und erörtert dabei insbesondere die Bedeutung der Ereignisse für die historische Entwicklung der deutschen Frage. Ein kommentierter Wegweiser durch die wissenschaftliche Literatur ergänzt diese Einführung in eine der dramatischsten Epochen der Neuzeit.
Georg Schmidt ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Jena. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zur Sozial-, Verfassungs- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit vorgelegt, darunter vor allem Der Städtetag in der Reichsverfassung (1984), Der Wetterauer Grafenverein (1989), Geschichte des Alten Reiches (1999), Wandel durch Vernunft (2009) und zuletzt Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges (2018).
Meinen Enkeln Runa, Marius und Kaja
I. Einleitung
II. Fluchtpunkt Krieg?
Deutschland im konfessionellen Zeitalter
1. «Kleine Eiszeit», Wirtschaftskrise und soziale Konflikte
2. Konfessionalisierung und deutsche Nation
3. Steuerungsprobleme
III. Integration durch Krieg?
Vom böhmischen Ständekonflikt zur gesamtdeutschen Betroffenheit (1618–1629)
1. Um die Macht in Böhmen
2. Von Böhmen nach Mecklenburg
3. Das Restitutionsedikt
IV. Um Deutschland und Europa?
Habsburg, Schweden und Frankreich (1630–1643)
1. Gustav Adolf und die schwedische Intervention
2. Deutschland unter schwedischer Hegemonie
3. Der Prager Frieden und die nationale Rhetorik
4. Der Krieg beginnt von vorn
V. Durch Krieg zum Frieden?
Um «deutsche Libertät» und Entschädigungen (1643–1648)
1. Unübersichtliche Fronten
2. Die Friedensverhandlungen
3. Der Westfälische Frieden
VI. Wandel oder Stillstand durch Krieg?
1. Die Soldaten
2. «Alltag», Not und Gewalt
VII. Ein deutscher Krieg und ein deutscher Frieden?
1. Die Neujustierung des Reichs-Staates
2. Die Nation im Krieg
3. Die Rezeption des Friedens
Nachwort
Literaturverzeichnis
Register
Wo Freyheit ist und Recht, da ist das Vaterland,
Dis ist uns aber nun und wir ihm unbekannt
Daniel von Czepko, 1632
Der Anfang war kein «deutscher Krieg» und das Ende kein «nationales Unglück». Die dreißig Jahre dazwischen haben Deutschland und die Deutschen dennoch kräftig in Atem gehalten, millionenfachen Tod, Verwüstung und Barbarei über Mitteleuropa gebracht und die politischen Verhältnisse gehörig durcheinander gewirbelt. Doch die scheinbar so tiefgreifenden Veränderungen erwiesen sich als wenig beständig: Der Westfälische Frieden restaurierte 1648 die verfassungspolitischen Verhältnisse, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eingependelt hatten. Behutsame Korrekturen sorgten dafür, dass das System «Kaiser und Reich» funktionsfähig blieb. Mit dem Krieg und durch den Frieden wurde die Integration Niederdeutschlands in das «oberdeutsche» Reich abgeschlossen. Erst jetzt bildete der gesamte Raum zwischen den Alpen und den Küsten von Nord- und Ostsee ein Gemeinwesen – keinen Staat im klassischen Sinne, aber ein politisches Mehrebenensystem, in dem viele aufeinander bezogene Entscheidungszentren zusammenwirkten, um «gesamtstaatliche» Aufgaben wie die Außenverteidigung oder die Rechts- und Friedenswahrung erfolgreich zu bewältigen. Die 1648 eingeführte konfessionelle Parität sowie die Diskriminierungs- und Kriminalisierungsverbote gegenüber reichsrechtlich legitimierten Andersgläubigen haben das Konfliktpotential entschärft, das den Krieg mit verursacht und immer wieder neu entfacht hatte.
Damit ist die Perspektive dieses Bändchens genannt: die Verknüpfung von Ursachen, Abläufen und Wirkungen im Horizont der deutschen Geschichte. Aufgabe des Historikers ist es, einzelne Handlungsstränge aus der Gesamtheit des vergangenen Geschehens so miteinander zu verbinden, dass bestimmte Merkmale und Prozesse erkennbar werden. In diesem Sinne gelten als sinnstiftende Ordnungsmuster für den Dreißigjährigen Krieg: «Konflikt zweier Machtblöcke», «Staatsbildungskrieg», «Kampf um eine ständisch-republikanische oder eine absolutistisch-monarchische Herrschaft», «Konfessionskrieg». Sie verweisen auf Probleme, die in Deutschland wie beinahe überall in Europa zur offenen Austragung drängten. Sie schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich und helfen, das Geschehen in langfristige Entwicklungsprozesse einzuordnen.
Eine Antwort auf die banale Frage nach der Dauer des Dreißigjährigen Krieges ergibt sich keineswegs von selbst. Eine logisch zwingende Einheit bilden die Ereignisse und Entwicklungen zwischen dem Prager Fenstersturz 1618 und dem Westfälischen Frieden 1648 nicht. Dieser Zeitraum lässt sich in zahlreiche Einzelkriege und Friedensschlüsse unterteilen. Die gegnerischen Mächte oder Mächtegruppen veränderten sich in diesen Jahren ebenso wie ihre Ziele. Zum «Dreißigjährigen Krieg» wurden die verwirrend unübersichtlichen und disparaten Handlungsstränge erst durch gedankliche Verknüpfungen zeitgenössischer Beobachter und analysierender Historiker.
Neben der Reformationszeit gehört dieser Krieg zu den am häufigsten behandelten Epochen der frühneuzeitlichen deutschen Geschichte. Erinnert sei nur an die heute noch lesenswerten Arbeiten Friedrich Schillers, Moriz Ritters oder C.V. Wedgwoods sowie an die neueren Synthesen – beispielsweise von Langer, Parker mit seinen Koautoren, Barudio, Schormann, Burkhardt und Asch, zuletzt von Kampmann, Arndt, Münkler und Wilson, dessen monumentale Darstellung in der Tradition der älteren historischen Großerzählungen steht. Aus den Veröffentlichungen des Jubiläumsjahres 1998 ragt der dreibändige Katalog der Ausstellung in Münster und Osnabrück heraus. Hinzu kommen die neueren und älteren Quelleneditionen, eine unübersehbare Fülle von Einzelstudien wie Siegrid Westphals Westfälischer Frieden oder Sammelbänden sowie die Gesamtdarstellungen zur deutschen und europäischen Geschichte wie das voluminöse Werk von Joachim Whaley.
Gekämpft wurde im 17. Jahrhundert nicht nur in Deutschland: Die Neuformierung der alteuropäischen Gesellschaft und ihres Staatensystems verlief auch andernorts alles andere als konfliktfrei. Die frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesse mit ihrer Tendenz zur Formierung und Disziplinierung führten zu zahllosen Transformations- und Anpassungskonflikten. Angelsächsische Historiker sprachen von der «allgemeinen Krise des 17. Jahrhunderts». Sie erinnerten unter anderem an den englischen Bürgerkrieg, die großen Volksaufstände in Frankreich, den niederländischen Freiheitskampf, die Revolten in Katalonien, Andalusien, Portugal und Neapel sowie an den tiefen Einschnitt des «deutschen» Krieges. Schon die Zeitgenossen haben diese Ereignisse parallelisiert und nach den tieferen Ursachen ihres Zusammentreffens gefragt. Sie fanden Antworten in der Bedrohung durch teuflische Mächte, im zürnenden und strafenden Gott und in Hinweisen auf das angeblich unmittelbar bevorstehende Jüngste Gericht.
Im Mittelpunkt der «Krisendiskussion» stehen ökonomische und politische Erklärungsmuster. Marxistische Historiker sahen in der Krise Begleiterscheinungen des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus. Ihre nichtmarxistischen Kollegen bestreiten zwar keineswegs die wirtschaftlichen Hintergründe des Krieges, machen dafür aber die unkontinuierliche Preisentwicklung oder die «kleine Eiszeit» verantwortlich – eine Periode spürbar niedriger Temperaturen seit etwa 1560 mit geringeren Ernteerträgen und latenten Hungerkrisen. Neuere Forschungen zeigen, dass sich in den 1560er und in den 1590er Jahren die Revolten häuften und die ökonomische Krise die verschiedenen Teile Europas zu ganz unterschiedlichen Zeiten ergriff.
Das Erklärungsmuster «allgemeine Krise» verweist nur am Rande auf Deutschland. Der große Krieg stellte hier seit eh und je das Raster zur Ordnung des 17. Jahrhunderts bereit. Angesichts der gewaltigen regionalen Unterschiede in Europa stießen zudem alle einheitlich-systematisierenden Erklärungsansätze schnell an ihre Grenzen. Die Krisensymptome sind allerdings auch in Deutschland unverkennbar: Um 1600 – so Heinz Schilling – war der im Ganzen optimistische Zug des 16. Jahrhunderts verflogen. Die disziplinierenden obrigkeitlichen Eingriffe bedrückten die Menschen und machten ihnen Angst: «Konkurrenzdruck und Zusammenbrüche einst berühmter Handelshäuser, Ernährungsnöte selbst bei der Mittelschicht, Pauperismus, Vagabondage, Elend, Hunger und Krankheit bei den Unterschichten und dem wachsenden Heer der Bettler und Vagabunden. Vor allem aber wirkten beängstigend und lähmend die fanatische Feindseligkeit, die nervöse Unversöhnlichkeit, die unerbittliche Konfrontation der Konfessionen und konfessionell gesteuerter Blöcke im neuen Europa der Mächte» (Schilling 1988, 372).
Es ist vorgeschlagen worden, die angeblich zu sehr auf Deutschland bezogene Kategorie «Dreißigjähriger Krieg» durch offenere Benennungen wie «Epoche europäischer Kriege und Krisen» oder «allgemeine Krise des 17. Jahrhunderts» zu ersetzen. Doch was wäre damit gewonnen? Die Geschichtsschreibung tut gut daran, am rein formalen, gerade deswegen aber einprägsamen Begriff «Dreißigjähriger Krieg» festzuhalten, weil
– er zeitgenössisch ist und bis heute etwas vom damaligen Schrecken und Entsetzen transportiert,
– sich das politische, konfessionelle und militärische Geschehen zwischen 1618 und 1648 im Wesentlichen in Deutschland verknüpfte und an den deutschen Verhältnissen stets von Neuem entzündete,
– der Krieg sich als eine tiefe Zäsur vor allem in das kulturelle Gedächtnis der Deutschen eingegraben hat und bis ins 20. Jahrhundert als Urkatastrophe und nationales Trauma begriffen wurde.
Die Betonung der deutschen Perspektive heißt freilich nicht, die soziokulturellen Begleitumstände und die europäischen Dimensionen des auf Mitteleuropa konzentrierten Geschehens zu ignorieren. Die jüngsten Versuche, den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden radikal zu europäisieren, führen jedoch in die Irre. In England, Italien und in vielen anderen europäischen Ländern sind diese Ereignisse im historisch-kulturellen Gedächtnis nicht präsent. In Frankreich verweist die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts weniger auf eine Leidenszeit als auf den Beginn nationaler Größe (Wilson 2009, 4f.). Eine gemeinsame europäische Erinnerung, die diese nationalgeschichtlich gedachten Vergangenheiten integriert, gibt es nicht, und sie lässt sich wohl auch nicht ad hoc konstruieren. Der Dreißigjährige Krieg war nicht das «Inferno», das Europa durchschreiten musste, um in der Moderne anzukommen (Schilling 2007, 417ff.). Auch Kampmann (2008, 1) behauptet lediglich, dass es «heute wohl unstrittig» sei, diesen Krieg als «europäischen Konflikt» zu charakterisieren. Seine auf machtpolitische Fragen konzentrierte Darstellung bleibt jedoch ganz dem Geschehen in Deutschland verhaftet.
Die anderen großen Kriege dieser Epoche besaßen ihre eigenen Ursachen, Signaturen und Zäsuren. Dies gilt für den niederländischen Freiheitskampf wie für den erst 1659 beendeten französisch-spanischen Krieg oder die schwedisch-polnischen Auseinandersetzungen. Die dänischen, schwedischen und französischen Interventionen sind zudem nur noch sehr vermittelt mit den böhmischen Ursprüngen des Dreißigjährigen Krieges in Verbindung zu bringen. Statt das auf Deutschland, Österreich und Böhmen bezogene und von der zeitgenössischen Terminologie entsprechend gedeutete Geschehen («teutscher Krieg» – «teutscher Frieden») als ein europäisches zu deklarieren – ein europäischer Krieg auf dem Boden des Reiches (Arndt 2009, 12) –, sind die nationalen Dimensionen in europäischen Kontexten zu deuten. Erst die historische Selbstvergewisserung über die disparate und alles andere als einheitliche, gleichwohl aber gemeinsam erfahrene und als deutsche wahrgenommene Geschichte ermöglicht deren feste Verankerung in einem künftigen historischen Gedächtnis Europas.
Begreift man das konfessionelle Zeitalter, also die Zeit nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555, nur als Vorgeschichte des großen Krieges, entsteht eine fragwürdige Zielgerichtetheit: In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als die Staaten Westeuropas in langwierige Religions- und Bürgerkriege verstrickt waren, hatte das Reich den Konfessionsstreit politisch neutralisiert. Diese Leistung muss zunächst einmal als großes Verdienst der auf Ausgleich und Konsens gegründeten Reichsverfassung gewürdigt werden – unabhängig von dem angeblich zwangsläufigen Kriegsausbruch 1618.
Im Zuge der frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesse hatte die Herrschaft vielfältige und neuartige Disziplinierungs-, Integrations- und Identitätsprobleme zu lösen und musste zugleich auf knapper werdende Ressourcen (Bevölkerungsanstieg, Wirtschaftskrise), staatliche oder ständische Differenzierungsprozesse und sich verhärtende religiöse Fronten (Konfessionalisierung) reagieren. Diese Anpassungskonflikte sind in Deutschland ebenso bewältigt worden wie in den westeuropäischen Staaten. Das vergleichsweise erfolgreiche Krisenmanagement stieß hier erst nach 1580 an seine Grenzen, als sich die protestantischen Stände so in die Defensive gedrängt sahen, dass schließlich ein Teil von ihnen alle Hoffnung auf einen «Befreiungsschlag» setzte.
Ein in Europa um 1560 einsetzender Klimaumschwung, die «kleine Eiszeit», führte zu geringeren Erntemengen, zu Hunger- und schließlich zu allgemeinen Wirtschaftskrisen. Auch morgen noch genügend Nahrung zu finden, wurde zur größten Sorge vieler Menschen, zumal sich der Bevölkerungsanstieg bis um 1620 fortsetzte. Immer mehr Menschen – für Deutschland zu Beginn des Krieges werden 15 bis 18 Millionen geschätzt – mussten von einer Landwirtschaft ernährt werden, die ihre Erträge nur extensiv, über die Nutzung von Randertragszonen (Gebirge, Sümpfe etc.) steigern konnte. Gerade dort lohnte sich bei ungünstiger Witterung der Anbau jedoch nicht mehr und wurde eingestellt.
Obwohl die Versorgung der frühneuzeitlichen Bevölkerung nicht allein nach marktgesellschaftlichen Prinzipien erfolgte, zwangen die hohen Getreidepreise insbesondere die städtischen Handwerker, einen immer größeren Anteil ihrer Einkünfte für Nahrungsmittel aufzuwenden. Auch Klein- und Mittelbauern profitierten nicht von den steigenden Erzeugerpreisen, da sie kaum Überschüsse für den Markt erwirtschafteten und jede Missernte ihre Subsistenzgrundlage gefährdete. Die Mehrheit der Bevölkerung benötigte alle verfügbaren Ressourcen für Nahrungsmittel – Gewerbeprodukte wurden entsprechend weniger gekauft. Einkommensverluste und Arbeitslosigkeit in den Massenhandwerken (Schuster, Schneider, Maurer etc.), aber auch bei Tagelöhnern, Knechten und Mägden waren die Folge. In Deutschland verschärften die Verlagerung der Handelswege vom Mittelmeer zum Atlantik und die hohen Türkensteuern die Krise zusätzlich.
Während der größere Teil der Gesellschaft tendenziell verarmte, zeitweise sogar hungerte, machten Grundherren, Großbauern, Händler, aber auch Müller, Bäcker und Metzger glänzende Geschäfte. Die Schere zwischen «Reich» und «Arm», zwischen «Oben» und «Unten» öffnete sich weiter. Wilhelm Abel hat nachgewiesen, dass Fleisch und Butter vom Tisch des «gemeinen Mannes» fast verschwanden, selbst Brot, Grütze und Grobgemüse häufig durch minderwertigere Produkte bis hin zu gekochtem Gras ersetzt werden mussten. Für die selbst hungernden Bauern war es doppelt bitter, wenn sie mitansehen mussten, wie das von ihnen erzeugte, über ihre Abgaben an die Herrschaft gelangte Getreide mit höchsten Profiten vermarktet wurde. Der arme Mann in Stadt und Land erlebte eine dramatische Einbuße an Lebensqualität: Um 1600 gehörten Hunger oder zumindest die Angst davor zu seinen alltäglichen Erfahrungen.
Während des Krieges änderte sich daran wenig. Erst die Überlebenden und die beiden folgenden Generationen fanden wieder günstigere Lebensbedingungen vor. Die alte Angst, dass die Erde die auf ihr lebenden Menschen nicht ernähren könne, war allgegenwärtig. Epidemien, Kriege oder Naturkatastrophen schienen die von Gott gesandten Reiter der Apokalypse, um regulierend einzugreifen und die Bevölkerungsgröße an den Nahrungsspielraum anzupassen. Diese zynische und so sicherlich auch fragwürdige These könnte immerhin erklären, warum in Deutschland im Gegensatz zu anderen Teilen Europas die gewalttätigen Volksaufstände fehlen. Auch hier waren Angst, Neid und Hass an die Stelle optimistischer Zukunftserwartungen getreten und hatten zu immer neuen Spannungen geführt. Spontan und gewaltsam entluden sie sich aber nur in den sog. Kipper- und Wipperunruhen zu Beginn der 1620er Jahre.
Die Bevölkerung reagierte damit an manchen Orten auf die durch massive Münzmanipulationen («kippen und wippen») hervorgerufene galoppierende Inflation. Hatte diese die Wirtschaft zunächst stimuliert und geholfen, manche Kriegsanleihe zu finanzieren, änderte sich die Situation 1621/22 grundlegend: Erzeuger und Händler verweigerten die Annahme der wertlosen kleinen «bösen» Münzen und banden die Preise an Nahrungsäquivalente. Es gab genügend Lebensmittel, doch die meisten Menschen konnten die hohen Preise nicht bezahlen. Dies widersprach ihren Vorstellungen von einer «sittlichen Ökonomie» (Thompson 1980), in der jede Ware und jede Leistung an einen gerechten Preis gebunden war und in der niemandem aus übertriebenem Profitstreben das Recht auf Leben, also auf Brot, verweigert werden durfte.
Auch die fürsorglich-paternalistisch regierenden Obrigkeiten fühlten sich diesem Sozialpakt «sittliche Ökonomie» verpflichtet. In Krisenzeiten versuchten sie, mit Ausfuhrverboten, Preis- und Marktkontrollen die Versorgung sicherzustellen. Diese lokal oder regional orientierte Versorgungspolitik funktionierte in den kleinräumigen Herrschaftsgebieten des Reiches vor allem deswegen, weil keine Metropolen wie Paris oder London vorrangig versorgt werden mussten, denn mit Unruhen dort war sofort die Gefahr eines politischen Umsturzes verbunden.
1621/22 machten auch in Deutschland aufgebrachte Menschenmengen nicht nur Händler, Münzmeister und Geldwechsler, sondern auch «untätige» Obrigkeiten für die Not verantwortlich. In Magdeburg wurden Ende Februar die Häuser von 16 angeblichen Münzbetrügern zerstört. Bei den Tumulten sollen nicht weniger als 200 Menschen umgekommen sein. Ähnliche, jedoch weit glimpflicher verlaufene Unruhen sind aus Spandau, Halle, Halberstadt, Eisleben, Bayreuth, Augsburg, Biberach, Speyer und Lich überliefert. Die Revoltierenden reklamierten das Recht auf Selbsthilfe und wollten durch die Bestrafung der «Schuldigen» die «gerechte Ordnung» wiederherstellen. In einem ordnungspolitischen Kraftakt sondergleichen gelang es den reichsständischen Regierungen 1623/24, also mitten im Krieg, die Währung zu sanieren – ein Indiz dafür, dass das Reichssystem auch in Krisenzeiten funktionieren konnte.
Um die Rückgewinnung der «gerechten» Ordnung und die Abwehr einer tödlichen Gefahr für die christliche Gemeinschaft ging es auch den Nachbarn und Mitbürgern, die vielfach erst mit ihren Tumulten und Aufruhrdrohungen die im deutsch- (sprachig)en Raum besonders schweren Hexenverfolgungen auslösten. Mit der Beschuldigung «Hexe» oder «Hexenmeister» sollten die angeblichen Verursacher ansonsten unerklärlicher Unglücksfälle ausgeschaltet und Wiederholungen vermieden werden. Man glaubte darüber hinaus, so die Kirchengemeinde und den Nachbarschaftsverband «rein» halten und den offensichtlich zürnenden Gott gnädig stimmen zu können.
Der Hexenwahn, der seinen Höhepunkt im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts erreichte, war auch eine Reaktion auf die Wirtschaftskrise und den durch sie ausgelösten sozialen Wandel. Er war vor allem aber eine Folge der vielfältigen Ängste und Psychosen einer Zeit, die den Einzelnen einer immer stärkeren Kontrolle aussetzte und mit rigoros disziplinierenden Landes-, Polizei- und Kirchenordnungen alle bisherigen Freiräume und Ausbruchsmöglichkeiten systematisch einengte. Auch die im konfessionellen Streit verhärteten Kirchen vermochten mit ihren Aufrufen zu Buße und Reue, ihren Endzeitvisionen und Drohungen mit der Strafe Gottes keine Auswege aus den vielfältigen Miseren zu zeigen. Um sich aus ihrer bedrückenden Ohnmacht zu befreien, konstruierten die Menschen einen Zusammenhang zwischen Unglück und Schuld und sahen überall den Teufel und die mit ihm im Bund stehenden Hexen am Werk.
Im Gegensatz zu den in Deutschland allerdings marginalen Subsistenzprotesten und den tumultuarischen Begleitumständen mancher Hexenverfolgungen verliefen die sich häufenden sozialen Konflikte zwischen Bauern und Herrschaft meist friedlich. Im Vergleich mit den vielen gewalttätigen Exzessen in England oder Frankreich (Einhegungen, Croquants) erscheinen Konfliktverhalten und Regelungsmechanismen in Deutschland erstaunlich rational, ja ausgesprochen modern. Als Reaktion auf die negativen Erfahrungen des Bauernkrieges waren in Deutschland die eigenmächtigen, nichtstaatlichen Gewaltanwendungen kriminalisiert, die Klagemöglichkeiten der Bauern und Bürger aber erheblich erweitert worden. Das Reichskammergericht und der Reichshofrat wurden zu höchsten Schiedsinstanzen für die Konflikte an der Nahtstelle der Agrargesellschaft zwischen Bauern und Herrschaft.
Die «Rechtsweggarantie» an ein von der eigenen Obrigkeit weithin unabhängiges Reichsgericht galt zwar vor allem für die Untertanen der kleineren Reichsstände, doch die Prozesse haben insgesamt einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung einer vergleichsweise modernen Rechtskultur in Deutschland geleistet. Das Gefühl, als Rechtspartei der eigenen Herrschaft gleichgestellt zu sein, und die Erfahrung, dass sich das staatliche Gewaltmonopol ebenso gegen die Grund- und Gerichtsherren wenden konnte, machten den Rechtsweg populär und drängten die traditionellen Formen gewalttätiger Entscheidungsfindung in den Hintergrund. Da dem «gemeinen Mann» in Deutschland ein institutionalisierter Weg der Konfliktaustragung offenstand, prägten überlegtes und zweckrationales Handeln, nicht spontane oder gar gewalttätige Aktionen seinen konfliktrelevanten Erfahrungshorizont. Der rechtliche Krieg geriet um 1600 in den kleinteiligen Gebieten des Reiches, an Rhein, Main und Donau, zur beinahe alltäglichen Form bäuerlichen Widerstandes.
Die Verrechtlichung sozialer Konflikte schärfte aber auch das politische Bewusstsein der Bauern und ließ sie zu einer potentiellen Kraft der Reichsverfassung werden: Bei allen Entscheidungen mussten die Herren mögliche Reaktionen der Untertanen einkalkulieren. Darüber hinaus wirkten die Untertanenprozesse positiv auf den Zusammenhalt des Reiches deutscher Nation: Den klagenden Bauern aus Schwaben oder aus Ostfriesland wurde stets von neuem vor Augen geführt, dass es neben ihrer Herrschaft ein übergeordnetes Ganzes gab: Es waren «Kaiser und Reichsgerichte», die den Bauern gegen den dezidierten Willen so manches Fürsten zu ihren Rechten verhalfen. Dass das Reich deutscher Nation über alle Stürme des Krieges hinweg von den Untertanen als Einheit wahrgenommen wurde, ist auch eine Folge ihrer alles in allem positiven Erfahrungen mit dem gemeinsamen Rechtssystem.
Mit dem Augsburger Religionsfrieden wurde 1555 das unbefristete Nebeneinander zweier Varianten des christlichen Glaubens in einem Gemeinwesen geregelt. Es war ein Frieden von den Reichsständen und für die Reichsstände. Ihnen wurde nicht nur das vor dem Passauer Vertrag von 1552 säkularisierte Kirchengut garantiert, sie konnten auch die Konfession ihrer Untertanen bestimmen: cuius regio, eius religio wurde diese Regelung später genannt. Für die katholischen geistlichen Fürsten galt dies allerdings nicht: Sie mussten im Falle einer Konversion zurücktreten. Dieser «geistliche Vorbehalt» verstieß nach Ansicht der protestantischen Stände gegen den Gleichheitsgrundsatz und wurde zur Quelle unzähliger Konflikte wie dem Kölner Krieg oder dem Straßburger Kapitelstreit. Der Kaiser besaß nach 1555 im Reich keine kirchenpolitischen Kompetenzen mehr. Untertanen durften auswandern, wenn sie der Glaubenswahl ihrer Obrigkeit nicht folgen wollten. Dieses Emigrationsrecht war das erste schriftlich fixierte Grundrecht, das alle im Reich deutscher Nation lebenden, dem katholischen oder dem Augsburger Bekenntnis zugehörenden Deutschen beanspruchen konnten. Da es zudem die Sicherheit des Eigentums einschloss, also die Mitnahme oder den Verkauf, wurde es zum Ausgangspunkt rechtlicher Deutungen, die noch vor dem Dreißigjährigen Krieg nicht nur Gewissensfreiheit und Toleranz, sondern auch eine weitreichende Eigentumssicherheit einklagten. Politiker wie der kaiserliche Feldhauptmann Lazarus von Schwendi (1522–1583) oder der Reichspfennigmeister Zacharias Geizkofler (1560–1617) forderten die Duldung der unterschiedlichen Konfessionen im Reich, weil sie sich davon eine größere Einigkeit und Abwehrbereitschaft gegen die Türken versprachen.
Der Religionsfrieden erwies sich als richtungweisend und zukunftsträchtig, gerade weil er ein politischer Kompromiss war, der die theologische Wahrheitsfrage ausklammerte. Während im Reich die Parität galt, wurde in den Territorien die konfessionelle Einheitlichkeit zur Norm. Dies hat die Konfessionsbildung, die bewusste Ausformulierung der theologischdogmatischen Grundsätze sicherlich gefördert. Sie erfolgte für die Katholiken mit dem Ende des Trienter Konzils, für die Calvinisten mit dem Heidelberger Katechismus (beide 1563) und für die Lutheraner mit der Konkordienformel (1577) und dem Konkordienbuch (1580).
Das einheitliche Bekenntnis gehörte zu den wichtigsten Konstitutionsbedingungen frühneuzeitlicher Flächenstaaten. Es wurde zum nach außen abgrenzenden und nach innen Identität stiftenden Integrationsfaktor. Die konfessionelle Rivalität gab zudem wichtige Impulse für den Ausbau der staatlichen Verwaltung und des Schul- und Bildungswesens. Visitationen, Kirchen- und Eheordnungen einerseits, Landes- und Polizeiordnungen andererseits sorgten bei fließenden Übergängen für die Disziplinierung der Untertanen – nach Norbert Elias der Beginn des neuzeitlichen «Zivilisationsprozesses», nach Gerhard Oestreich der frühneuzeitlichen «Sozialdisziplinierung».
Der geistliche Vorbehalt mit seiner Bestandsgarantie für die katholische Reichskirche gewährte dem alten Glauben die Pause, die er zur Regeneration dringend benötigte. Neben dem Tridentinum wurden die Jesuiten zum Symbol der katholischen Erneuerung und der Gegenreformation, die im Eichsfeld, in Fulda und Würzburg erste sichtbare Spuren hinterließ. Vor allem der Erfolg der bayerischen Wittelsbacher im sog. Kölner Krieg wirkte motivierend und signalisierte den Beginn einer Gegenoffensive. Unter Herzog Maximilian (1573–1651) wurde Bayern zum Zentrum des katholischen Deutschland.
Confessio Augustana