Für Maddy, Oakley und Julia

Eins

Meine Schwester Greta und ich saßen an diesem Nachmittag Modell für ein Gemälde, das mein Onkel Finn von uns anfertigte, weil er wusste, dass er bald sterben würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits begriffen, dass ich, wenn ich erwachsen wäre, niemals in sein Apartment ziehen und dort für den Rest meines Lebens mit ihm wohnen würde. Und ich hatte aufgehört zu glauben, dass dieses AIDS-Ding irgendwie nur ein riesiges Missverständnis war. Als er meine Mutter das erste Mal gefragt hatte, sagte sie noch nein. Sie sagte, die Idee habe etwas Makabres an sich. Die Vorstellung, wie wir beide in Finns Apartment mit den riesigen Fenstern und dem Duft nach Lavendel und Orangen säßen, die Vorstellung, wie er uns betrachtete, als sähe er uns vielleicht zum letzten Mal, diese Gedanken ertrage sie einfach nicht. Außerdem, sagte sie, sei es eine lange Fahrt vom nördlichen Westchester bis ins Herz von Manhattan. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, sah direkt in Finns vogelblaue Augen und erklärte, dazu bleibe im Alltag einfach zu wenig Zeit.

»Wem sagst du das«, antwortete er.

Damit hatte er sie geknackt.

Jetzt bin ich fünfzehn, aber an besagtem Nachmittag war ich noch vierzehn. Greta sechzehn. Es war Ende Dezember 1986, und im vergangenen halben Jahr waren wir an einem Sonntagnachmittag pro Monat zu Onkel Finn gefahren. Immer nur meine Mutter, Greta und ich. Mein Vater kam nie mit, und er tat gut daran. Er gehörte nicht dazu.

Ich saß auf der hinteren Bank des Minivans. Greta in der Sitzreihe vor mir. Ich versuchte, es so hinzukriegen, dass ich sie anstarren konnte, ohne dass sie etwas davon mitbekam. Leute beobachten ist toll, aber man muss vorsichtig dabei sein. Man darf sich beim Anstarren nicht erwischen lassen. Wird man erwischt, behandeln sie einen wie einen Schwerverbrecher. Und vielleicht haben sie recht damit. Vielleicht sollte der Versuch, etwas zu sehen, von dem die Menschen nicht wollen, dass man es sieht, tatsächlich unter Strafe gestellt werden. An Greta beobachtete ich gerne, wie ihr dunkles, glattes Haar die Sonne reflektierte und dass die Enden der Bügel ihrer Brille aussahen wie zwei kleine verlorene Tränen, die sich hinter ihren Ohren versteckt hielten.

Meine Mutter hörte KICK FM, einen Sender für Countrymusik, und auch wenn ich Countrymusik nicht besonders mag, gelingt es den Stimmen dieser Menschen, die sich die Seele aus dem Leib singen, Erinnerungen heraufzubeschwören – an vergangene große Familiengrillfeste im Garten, an verschneite Berge mit Schlitten fahrenden Kindern und an Thanksgiving. An erbauliches Zeug. Deshalb hörte meine Mutter auf der Fahrt zu Finn gerne diesen Sender.

Während dieser Ausflüge in die Stadt redete niemand viel. Es gab nur das sanfte Dahingleiten des Autos und die schmalzige Countrymusik und den grauen Hudson River mit dem ausufernden New Jersey auf der anderen Seite des Flusses. Ich behielt Greta die ganze Zeit im Auge, weil es mich davon ablenkte, zu viel über Finn nachzudenken.

Unser letzter Besuch hatte an einem verregneten Sonntag im November stattgefunden. Finn war immer schon schmal gewesen – so wie Greta, so wie meine Mutter, so wie ich in meinen Träumen –, aber bei diesem Besuch sah ich, dass er in eine völlig neue Dimension von dünn vorgedrungen war. Alle seine Gürtel saßen zu locker, also zog er eine smaragdgrüne Krawatte durch die Schlaufen seiner Hose und verknotete sie auf Taillenhöhe. Ich starrte auf diese Krawatte und fragte mich, wann er sie wohl zuletzt getragen hatte, und ich versuchte mir gerade auszumalen, welche Gelegenheit für so etwas Leuchtendes und Irisierendes passend gewesen wäre, als Finn plötzlich von der Leinwand aufblickte, mit hoch erhobenem Pinsel, und uns mitteilte: »Es wird nicht mehr lange dauern.«

Greta und ich nickten, obwohl keine von uns beiden wusste, ob er das Gemälde oder sein Sterben meinte. Später, zu Hause, sagte ich meiner Mutter, er sähe aus wie ein Luftballon, aus dem die Luft entwichen ist. Greta sagte, er sähe aus wie eine winzige graue Motte, gefangen in einem grauen Spinnennetz. An Greta ist eben alles schöner, auch die Art, wie sie sich ausdrückt.

Jetzt war es Dezember, die Woche vor Weihnachten, und wir steckten auf Höhe der George Washington Bridge im Verkehr fest. Greta drehte sich zu mir um. Sie schenkte mir ein verschlagenes kleines Lächeln und griff in ihre Manteltasche, um ein Stück Mistelzweig herauszuholen. Das hatte sie auch die letzten zwei Jahre um die Weihnachtszeit immer gemacht – ein Stück Mistelzweig mit sich herumgetragen, um sich damit auf ihre Mitmenschen zu stürzen. Sie nahm es mit in die Schule und terrorisierte uns zu Hause damit. Ihr Lieblingstrick war, sich von hinten an unsere Eltern heranzuschleichen, hochzuspringen und ihnen dann den Zweig über den Kopf zu halten. Sie stellten ihre Zuneigung nie offen zur Schau, und genau deshalb fand Greta Vergnügen darin, sie dazu zu nötigen. Jetzt im Auto wedelte Greta direkt vor meiner Nase mit dem Zweig herum und strich immer wieder damit über mein Gesicht.

»Na warte, June«, sagte sie. »Ich halte diesen Mistelzweig gleich über dich und Onkel Finn, und was machst du dann?« Sie lächelte mich erwartungsvoll an.

Mir war klar, worauf sie hinauswollte. Ich müsste entweder unfreundlich zu Onkel Finn sein oder riskieren, AIDS zu kriegen, und sie wollte mich zu einer Entscheidung zwingen. Greta wusste, was für eine Art Freund Finn für mich war. Sie wusste, dass er mich mit in Kunstgalerien nahm, dass er mir beibrachte, wie man beim Zeichnen Gesichter weicher werden ließ, indem man mit dem Finger die Bleistiftlinien leicht verwischte. Sie wusste, dass sie bei alledem außen vor war.

Ich zuckte mit den Achseln. »Er wird mich nur auf die Wange küssen.«

Aber bereits während ich es aussprach, musste ich daran denken, wie Finns aufgesprungene Lippen nur noch aus Fetzen bestanden. Wie da manchmal kleine Risse entstanden, aus denen es blutete.

Greta beugte sich mit auf der Lehne angewinkelten Armen weiter zu mir vor.

»Klar, aber woher willst du wissen, dass die Bazillen von einem Kuss nicht durch deine Haut sickern? Wie kannst du dir sicher sein, dass sie nicht direkt durch deine offenen Poren in dein Blut schwimmen?«

Ich konnte mir natürlich nicht sicher sein. Und ich wollte nicht sterben. Ich wollte nicht grau werden.

Ich zuckte erneut mit den Achseln. Greta drehte sich wieder um, aber sogar von hinten konnte ich erkennen, dass sie grinste.

Schneeregen hatte eingesetzt, und kleine Klumpen aus nassem Eis klatschten gegen die Scheibe, während wir durch die Straßen der Stadt fuhren. Ich suchte nach einer schlagfertigen Antwort für Greta, etwas, das ihr klarmachte, dass Finn mich nie in Gefahr bringen würde. Ich dachte an die vielen Dinge, die Greta über Finn nicht wusste. Wie er mich zum Beispiel hatte wissen lassen, dass das Porträt nur ein Vorwand war. Wie er den Ausdruck in meinem Gesicht gelesen hatte, als wir mit dem ersten Modellsitzen loslegen wollten. Wie er darauf gewartet hatte, dass meine Mutter und Greta ins Wohnzimmer vorgingen, und dann in dem Moment, als nur noch wir beide in dem engen Flur hinter der Eingangstür zu Finns Apartment standen, seine Hand auf meine Schulter legte, sich vorgebeugte und mir ins Ohr flüsterte: »Wie sonst wäre ich denn zu diesen vielen Sonntagen mit dir gekommen, Krokodil?«

Aber das alles würde ich Greta niemals erzählen. Stattdessen platzte ich, als wir in der düsteren Parkgarage anhielten und aus dem Auto stiegen, heraus: »Ist doch egal, Haut ist wasserdicht.«

Greta drückte sanft die Autotür zu und tauchte dann auf meiner Seite des Vans auf. Sie stand einen Moment lang einfach nur da und starrte mich an. Meinen massigen, schwerfälligen Körper. Sie zog die Gurte ihres Rucksacks straff um ihre zarten Spatzenschultern und schüttelte den Kopf.

»Glaub doch, was du willst«, sagte sie, machte kehrt und ging Richtung Treppenhaus.

Aber das war unmöglich, und Greta wusste es. Man konnte versuchen, zu glauben, was man wollte, aber das klappte nie. Gehirn und Herz entschieden, was man zu glauben hatte, und das war’s dann. Ob es einem passte oder nicht.

Bei Onkel Finn verschwand meine Mutter stundenlang in der Küche. Sie kochte Tee für uns in einer prächtigen russischen Teekanne, die Finn gehörte. Sie erstrahlte in den Farben Gold und Rot und Blau, und rund um den Bauch der Kanne waren kleine Tanzbären eingraviert. Finn sagte, die Kanne sei reserviert für Teegesellschaften mit seinen Lieblingsmenschen. Sie wartete schon auf uns, wenn wir kamen. Vom Wohnzimmer aus konnten wir hören, wie meine Mutter Finns Küchenschränke aufräumte, Einweckgläser und Konservendosen, Teller und Becher herausnahm und sie wieder einräumte. Ab und zu brachte sie uns Tee, den wir meistens kalt werden ließen, da Finn mit Malen beschäftigt war und Greta und ich uns nicht bewegen durften. All diese Sonntage sah meine Mutter Finn kaum an. Es war offensichtlich, dass sie völlig am Boden zerstört war, weil ihr Bruder starb. Aber manchmal schien es mir, als sei da noch etwas. Auch das Gemälde sah sie nie an. Sie kam aus der Küche und stellte die Teekanne ab und ging dicht an der Staffelei vorbei, wobei sie den Kopf zur Seite drehte. Manchmal kam es mir so vor, als gehe es gar nicht um Finn. Manchmal fühlte es sich an, als versuche sie, die Leinwand und Pinsel und Farben nicht zu sehen.

An jenem Nachmittag saßen wir eineinhalb Stunden Modell. Finn hatte Mozarts Requiem aufgelegt, das er und ich so liebten. Obwohl ich nicht an Gott glaube, hatte ich meine Mutter gebeten, mich in den katholischen Kirchenchor unserer Stadt eintreten zu lassen, damit ich an Ostern Mozarts Kyrie singen konnte. Ich kann noch nicht mal richtig singen, aber wenn man die Augen schließt, während man auf Latein singt, und wenn man ganz hinten steht, sodass man eine Hand gegen die kalte Steinmauer der Kirche pressen kann, dann kann man sich einbilden, man befände sich im Mittelalter. Darum wollte ich dabei sein.

Das Requiem war mein und Finns Geheimnis. Wir mussten uns noch nicht mal ansehen, wenn er es auflegte. Wir verstanden uns blind. Er hatte mich irgendwann mal zu einem Konzert in einer wunderschönen Kirche auf der 84th Street mitgenommen und mich aufgefordert, beim Zuhören die Augen zu schließen. Damals habe ich es zum ersten Mal gehört. Damals habe ich mich in diese Musik verliebt.

»Es pirscht sich an einen heran, nicht wahr«, hatte er gesagt. »Es lullt dich ein, du hältst es für vergnüglich und harmlos, es summt so vor sich hin, und auf einmal, wumm, erhebt es sich drohend vor dir. Lautes Trommeln und schrille kreischende Geigen und tiefe dunkle Stimmen. Und dann zieht es sich genauso schnell wieder zurück. Verstehst du, Krokodil? Verstehst du das?«

Den Namen Krokodil hatte Finn sich für mich ausgedacht, weil ich, wie er sagte, wie etwas aus einer anderen Zeit war, das auf der Lauer lag, beobachtete und abwartete, bevor ich mich für etwas entschied. Ich liebte es, wenn er mich so nannte. Er saß in dieser Kirche und wollte unbedingt, dass ich die Musik begriff. »Verstehst du?«, wiederholte er.

Und ich verstand. Zumindest bildete ich mir das ein. Vielleicht tat ich auch nur so, denn das Letzte, was ich wollte, war, dass Finn mich für dumm hielt.

An jenem Nachmittag schwebte das Requiem über all den schönen Dingen in Finns Apartment. Seine weichen Orientteppiche. Den alten Zylinder aus Seide, der mit der abgetragenen Seite zur Wand hing. Das große alte Glas von Mason, das randvoll gefüllt war mit Gitarren-Plektren in allen möglichen Farben und Mustern. Gitarren-Pickles nannte Finn sie, weil er sie in diesem Einweckglas aufbewahrte. Die Musik schwebte durch den Flur, an Finns Schlafzimmertür vorbei, die geschlossen war, wie immer. Meiner Mutter und Greta schien nicht aufzufallen, wie sich Finns Lippen zur Musik bewegten – voca me cum benedictis … gere curam mei finis … Sie hatten keine Ahnung, dass sie gerade einem Totenlied lauschten, und das war auch gut so, denn wenn meine Mutter gewusst hätte, was das für Musik war, hätte sie sie sofort ausgemacht. Sofort.

Nach einer Weile drehte Finn die Leinwand zu uns um, damit wir sehen konnten, was er gemalt hatte. Das war ein großer Moment, denn er ließ uns das Gemälde zum ersten Mal anschauen.

»Seht es euch genau an, Mädchen«, sagte er. Während er arbeitete, sprach er kein Wort, deshalb klang seine Stimme, als er schließlich etwas sagte, dünn und raspelnd, so als flüstere er. Ein Hauch von Verlegenheit erschien in seinem Gesicht, dann griff er nach einer Tasse kaltem Tee, trank einen Schluck und räusperte sich. »Danni, du auch – komm her, sieh es dir an!«

Meine Mutter antwortete nicht, also rief Finn noch mal Richtung Küche: »Komm schon, nur eine Sekunde. Ich will wissen, was du denkst.«

»Später«, rief sie zurück. »Ich bin gerade beschäftigt.«

Finn blickte immer wieder zur Küche, als hoffe er, sie würde ihre Meinung ändern. Als klar war, dass sie das nicht tun würde, runzelte er die Stirn, drehte sich um und starrte wieder auf die Leinwand.

Er hievte sich aus dem alten blauen Stuhl hoch, in dem er immer malte, und zuckte zusammen, als er sich einen Moment lang daran festhielt, um das Gleichgewicht zu finden. Er trat einen Schritt zurück, und mir fiel auf, dass das einzige bisschen Farbe, das Finn an sich hatte – außer der grünen Krawatte um seine Taille –, kleine, auf seinem weißen Kittel verteilte Farbsprengsel waren. Meine und Gretas Farben. Am liebsten hätte ich mir seinen Pinsel geschnappt, um Finn einzufärben, ihn wieder mit seinem alten Ich anzumalen.

»Gott sei Dank«, sagte Greta, streckte die Arme hoch über den Kopf und fuhr sich durch die Haare.

Ich starrte das Porträt an. Ich sah, dass Finn mich leicht in den Vordergrund gestellt hatte, obwohl wir gar nicht so saßen, und ich lächelte.

»Es ist noch nicht fertig … oder?«, fragte ich.

Finn stellte sich neben mich. Er neigte den Kopf und begutachtete das Porträt, die gemalte Greta und dann mein gemaltes Ich. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er direkt in die Augen meines anderen Ichs. Er beugte sich vor, bis sein Gesicht beinahe die feuchte Leinwand berührte, und ich spürte, wie ich Gänsehaut bekam.

»Nein«, sagte er kopfschüttelnd, den Blick unverwandt auf das Porträt gerichtet. »Noch nicht ganz. Siehst du das? Da fehlt noch etwas. Vielleicht im Hintergrund … vielleicht ein bisschen mehr Betonung der Haare. Was meinst du?«

Ich atmete aus, der Druck in meiner Brust löste sich, und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Ich nickte bestimmt. »Das finde ich auch. Ich finde, wir sollten noch ein paar Mal wiederkommen.«

Finn erwiderte mein Lächeln und rieb sich mit der blassen Hand über die blasse Stirn. »Ja. Ein paar Mal.«

Er fragte uns, wie uns das Bild bis jetzt gefiele. Ich sagte, es sei fantastisch, und Greta sagte gar nichts. Sie drehte uns den Rücken zu. Sie sah sich das Gemälde noch nicht mal an. Sie hatte beide Hände tief in den Hosentaschen vergraben, und als sie sich langsam zu uns umdrehte, war ihr Gesichtsausdruck völlig leer. Das ist das Verrückte bei Greta. Sie kann alles, was sie denkt, verbergen. Und bevor ich mich versah, hatte sie den Mistelzweig hervorgeholt und hielt ihn mit einer Hand hoch. Sie zog damit einen Bogen über unsere Köpfe, als schneide sie die Luft, als halte sie mehr in der Hand als ein Stückchen Ast aus Weihnachtsgrün und Beeren. Finn und ich blickten beide nach oben, und mein Herz zog sich zusammen. Für einen kurzen Augenblick, der vielleicht so lang währte wie ein Sandkorn im Stundenglas oder ein Tropfen in einem undichten Wasserhahn, trafen sich unsere Blicke, und Finn, mein Onkel Finn, durchschaute mich – zack – einfach so. In diesem winzigen Sekundenbruchteil erkannte er, dass ich Angst hatte, und er senkte meinen Kopf leicht nach unten und küsste mich mit einer so sanften Berührung auf den Scheitel, dass es sich eher anfühlte wie ein landender Schmetterling.

Auf der Heimfahrt fragte ich Greta, ob sie glaube, dass man sich über die Haare mit AIDS anstecken könne. Sie zuckte mit den Achseln, drehte sich weg und starrte für den Rest der Fahrt aus dem Fenster.

An diesem Abend wusch ich mir die Haare drei Mal. Dann hüllte ich mich in Handtücher, kroch unter die Bettdecke und versuchte zu schlafen. Ich zählte Schäfchen und Sterne und Grashalme, aber nichts davon funktionierte. Ich musste einfach immer und immer wieder an Finn denken. An den sanften Kuss. Ich dachte daran, wie für einen Augenblick, als er sich zu mir herunterbeugte, AIDS und Greta und meine Mutter aus dem Zimmer verschwunden waren. Für diesen winzigsten aller winzigen Augenblicke gab es nur Finn und mich, und bevor ich es mir verkneifen konnte, fragte ich mich bereits, wie es wohl wäre, wenn er mich richtig auf die Lippen küssen würde. Ich weiß, wie eklig das ist, wie abstoßend, aber ich will bei der Wahrheit bleiben, und die Wahrheit lautet, dass ich in dieser Nacht im Bett lag und mir Finns Kuss ausmalte. Ich lag im Bett und dachte über all diese Dinge in meinem Herzen nach, die möglich und unmöglich, richtig und falsch, sagbar und unsagbar waren, und als diese Gedanken vorbei waren, blieb nur einer übrig: wie furchtbar ich meinen Onkel Finn vermissen würde.

Zwei

Allein in den Wald zu gehen ist das beste Mittel, um sich vorzustellen, man lebe in einer anderen Zeit. Es klappt auch nur, wenn man allein unterwegs ist. Ist jemand dabei, erinnert man sich zu schnell daran, wer man wirklich ist. Der Wald, in den ich gehe, fängt direkt hinter der Middle- und der Highschool an. Er fängt dort an, erstreckt sich aber kilometerlang gen Norden, bis Mahopac und Carmel, und noch weiter bis hin zu Orten, deren Namen ich nicht kenne.

Sobald ich im Wald bin, hänge ich als Erstes meinen Rucksack an den Ast eines Baumes. Dann laufe ich los. Damit es funktioniert, muss man so weit laufen, bis man überhaupt keine Autos mehr hört, und genau das mache ich. Ich laufe und laufe, bis ich nur noch das leise Knacken und Brechen der Äste und das Murmeln des Baches höre. Ich folge dem Bach bis zu einer zerfallenden Bruchsteinmauer und einem Ahornbaum, an dem etwa auf Kopfhöhe ein verrosteter Eimer festgenagelt ist, mit dem Saft aufgefangen wird. Das ist meine Stelle. Dort bleibe ich stehen. In dem Buch Die Zeitfalte steht, dass Zeit wie eine große alte zerknitterte Decke ist. Ich würde gerne in einer dieser Falten sitzen. Darin versteckt. Verborgen in einem kleinen festen Knick.

Normalerweise versetze ich mich ins Mittelalter. Meistens nach England. Manchmal singe ich mir selbst Passagen aus dem Requiem vor, obwohl ich weiß, dass das Requiem nicht aus dem Mittelalter stammt. Und ich nehme alles genau unter die Lupe – Felsbrocken, abgefallene Blätter, tote Bäume –, als hätte ich die Macht, diese Dinge zu deuten. Als würde mein Leben davon abhängen, genau zu verstehen, was der Wald zu sagen hat.

Ich habe immer ein altes Gunne-Sax-Kleid von Greta dabei, das sie trug, als sie zwölf war. Es ist mir viel zu klein, deshalb muss ich darunter eine Bluse anziehen und die Knöpfe auf dem Rücken offenlassen. Das Kleid sieht eher aus wie eine Anziehsache aus Unsere kleine Farm statt mittelalterlich, aber ich improvisiere, so gut ich kann. Und dann sind da noch meine Mittelalterstiefel. Es war echt schwierig, die richtigen Schuhe zu finden. Eine ganze Weile hatte ich nur schlichte schwarze Keds, und ich habe mich gezwungen, bloß nicht nach unten zu schauen, da sie das ganze Outfit ruiniert haben.

Die Stiefel aus schwarzem Wildleder mit einer Zickzack-Schnürung aus Lederbändern hat Finn mir auf dem Mittelalter-Festival im The Cloisters geschenkt. Das war im Oktober, als Finn bereits seit vier Monaten an dem Porträt malte. Wir waren zum dritten Mal auf dem Festival. Das erste Mal war es seine Idee gewesen, aber die beiden anderen Male hatte ich es mir gewünscht. Sobald sich die Blätter braun verfärbten und zusammenrollten, lag ich ihm damit in den Ohren.

»So langsam wirst du eine richtige Mediävistin, Krokodil«, sagte er. »Was habe ich da bloß angerichtet?«

Er hatte recht. Es war seine Schuld. Finn liebte mittelalterliche Kunst, und über die Jahre hinweg hatten wir viele Stunden lang gemeinsam seine Bücher angeschaut. Bei unserem dritten Festivalbesuch war Finn bereits dünner geworden. Es war kalt genug für zwei Wollpullover, und Finn trug auch zwei, einen über dem anderen. Wir tranken heißen Most, und es gab nur uns beide, allein mit dem fettigen Gestank nach Grillschwein am Spieß und Lautenmusik und dem Gewieher eines Pferdes, das an einem nachgestellten Ritterturnier teilnehmen würde, und dem Bimmeln einer Falknerei-Glocke. An diesem Tag entdeckte Finn die Stiefel und kaufte sie für mich, weil er wusste, dass sie mir gefallen würden. Er blieb mit mir an dem Schuhmacherstand stehen und schnürte wieder und wieder die rauen Ledersenkel, als gäbe es nichts, was er lieber täte. Wenn die Stiefel nicht richtig saßen, half er mir dabei, sie wieder auszuziehen. Manchmal streifte dabei seine Hand meinen Knöchel oder mein nacktes Knie, und ich wurde rot. Ich weihte ihn nicht ein, dass ich mir dieses Paar Schuhe absichtlich zwei Nummern zu groß aussuchte. Es war mir egal, wie viele Socken ich darin anziehen musste. Ich wollte niemals aus diesen Stiefeln herauswachsen.

Hätte ich viel Geld, würde ich mir einen Wald kaufen. Ich würde eine Mauer um ihn errichten und dort wie in einer anderen Zeit leben. Vielleicht würde ich jemanden finden, nur eine Person, die dort mit mir zusammenlebt. Jemanden, der gewillt ist, ein Gelübde abzulegen, niemals mehr über irgendetwas aus der Gegenwart zu sprechen. Ich zweifle selbst daran, so jemanden zu finden. Bis jetzt bin ich noch niemandem begegnet, der diese Art Versprechen ablegen würde.

Einem einzigen Menschen habe ich jemals erzählt, was ich im Wald tun würde, und zwar Finn, dabei hatte ich das gar nicht vorgehabt. Wir hatten uns Zimmer mit Aussicht im Kino angesehen und waren auf dem Rückweg zu seinem Apartment. Finn begann darüber zu reden, wie amüsant er die Figuren fand, weil sie so fest verschnürt waren und es so schön war, ihnen dabei zuzusehen, wie sie versuchten, sich gegenseitig auszupacken. Das sei so romantisch. Er sagte, er wünsche sich, es wäre heute auch noch so. Ich wollte ihn wissen lassen, dass ich ihn verstand – dass ich alles dafür tun würde, um in die Vergangenheit zu reisen –, also erzählte ich ihm vom Wald. Er lachte und rempelte mich mit der Schulter an und nannte mich einen Geek, und ich nannte ihn einen Nerd, weil er die ganze Zeit nur übers Malen nachdachte, und dann lachten wir, weil wir wussten, dass wir beide recht hatten. Wir wussten, dass wir beide die größten Nerds auf Erden waren. Jetzt, wo Finn weg ist, weiß niemand mehr, dass ich nach der Schule in den Wald gehe. Manchmal glaube ich, dass sich sogar niemand mehr daran erinnert, dass es diesen Wald überhaupt gibt.

Drei

Das Porträt wurde uns nie überreicht. Nicht offiziell. Nicht begleitet von Worten.

Weil es nie vollendet worden war. Zumindest sah Finn das so. Wir hätten nur noch für eine einzige weitere Sitzung und noch eine nach dieser vorbeikommen müssen. Niemand hatte was dagegen außer Greta, die sonntags nicht mehr mit zu Finn fuhr. Wenn Finn nur noch am Hintergrund arbeite, sagte sie, brauche er uns nicht alle drei vor Ort. Sie sagte, sie könne ihre Sonntagnachmittage mit anderen, interessanteren Dingen verbringen.

An einem kalten Januarmorgen, dem ersten Schultag nach den Weihnachtsferien, warteten wir vor unserem Haus auf den Schulbus. Unser Haus befindet sich in der Phelps Street, einer der letzten Straßen auf der Route des Busses. Wir wohnen am südlichen Ende der Stadt, und die Schule liegt ein bisschen außerhalb gen Norden. Mit dem Auto sind es gut drei Kilometer, nimmt man aber den Weg hinten über die Gärten und kommt durch den Wald – was ich manchmal mache –, ist es kürzer.

Weil unser Haus erst ganz zum Schluss dran ist, weiß man nie genau, wann der Bus kommt. Im Lauf der Jahre haben Greta und ich da draußen viel Zeit mit Warten verbracht und mit starrem Blick die aneinandergereihten Vorgärten betrachtet. Die Phelps Street besteht aus einer Mischung von Cape-Cod-Häusern mit eineinhalb Stockwerken und ebenerdigen im Ranch-Stil, mal abgesehen von dem Tudorhaus der Millers, das auf einem kleinen Hügel am Ende der Sackgasse liegt. Natürlich handelt es sich um nachgebauten Tudorstil, denn während der Tudorzeit lebte in Westchester niemand außer den Mohegan-Indianern, deshalb weiß ich wirklich nicht, wen die Millers damit zum Narren halten wollen. Wahrscheinlich niemanden. Wahrscheinlich ging das den Millers nie durch den Kopf. Aber mir. Jedes Mal, wenn ich das Haus sehe. Unseres ist das hellblaue im Cape-Cod-Stil mit schwarzen Fensterläden und einem ausufernden Rot-Ahorn im Vorgarten.

An diesem Morgen lief ich auf der Stelle, um warm zu bleiben. Greta lehnte am Ahornbaum und inspizierte ihre neuen Wildlederstiefel. Sie setzte immer wieder ihre Brille auf und ab, hauchte die Gläser an und rieb sie anschließend wieder sauber.

»Greta?«

»Was ist?«

»Mit was für anderen, interessanteren Dingen verbringst du denn deine Sonntage?«

Ich war mir gar nicht sicher, ob ich es wirklich wissen wollte. Ich schlang die Arme um meinen Mantel, damit er enger anlag.

Greta wandte sich langsam zu mir, lächelte mich schmallippig an und schüttelte den Kopf. Dann riss sie die Augen weit auf.

»Dinge, die du dir noch nicht mal vorstellen kannst.«

»Ja, klar.«

Greta ging auf die andere Seite der Einfahrt.

Ich schätze, sie meinte Sex. Vielleicht aber auch nicht, weil ich mir Sex durchaus vorstellen konnte. Ich wollte nicht, aber ich konnte.

Sie nahm erneut ihre Brille ab und färbte die Gläser mit ihrem Atem weiß.

»Hey«, rief ich zu ihr hinüber, »wir sind wieder Waisen. Es ist wieder die Zeit der Waisen.«

Greta wusste, was ich meinte. Sie wusste, dass ich die Zeit der Steuerwaisen meinte. Es war jedes Jahr das Gleiche. Erst kam der Weihnachts- und Silvester-Trubel, und dann verschwanden unsere Eltern während der schlimmsten Wintermonate voll und ganz. Sie verließen morgens um halb sieben das Haus und waren an den meisten Abenden nicht vor sieben Uhr zurück. So fühlt man sich als Nachwuchs zweier Buchhalter. So war es, seit ich denken kann.

Während der Steuersaison, wenn unsere Eltern wegmussten, bevor der Bus kam, sorgten sie dafür, dass Mrs Schegner von gegenüber von ihrem Wohnzimmerfenster aus auf uns aufpasste. Die neunjährige Greta wartete mit meinem siebenjährigen Ich auf den Bus. Obwohl wir wussten, dass Mrs Schegner da war, kam es uns trotzdem so vor, als wären wir allein. Greta legte dann einen Arm um meine Schulter und zog mich zu sich heran. Manchmal, wenn es richtig lange dauerte, bis der Bus da war, oder wenn es zu schneien begann, fing Greta an zu singen. Etwas aus dem Muppet Movie oder dann und wann den James-Taylor-Song »Carolina in My Mind« von dem Greatest-Hits-Album meiner Eltern. Schon damals hatte sie eine gute Stimme. Wenn sie sang, schien sie ein anderer Mensch zu sein. Als verstecke sich da eine völlig andere Greta in ihr. Sie sang und hielt mich fest an sich gedrückt, bis sie den Bus um die Ecke biegen sah. Dann sagte sie zu mir, oder vielleicht auch zu sich selbst: »Siehst du, ist doch gar nicht so schlimm, oder?«

Ich wusste nicht, ob Greta sich noch daran erinnerte. Selbst wenn sie gemein zu mir war, brauchte ich sie nur anzusehen, und schon erinnerte ich mich daran, wie wir mal waren.

Greta sah kurz zu mir herüber und versuchte möglichst desinteressiert zu wirken. Versuchte so zu tun, als wäre es ihr egal. Sie stemmte beide Hände in die Hüften. »Ach herrje, was für ein Drama, June. Unsere Eltern arbeiten bis spätabends. Du wirst es überleben.« Sie wirbelte herum und drehte mir den Rücken zu, bis der Bus die Straße hochgefahren kam.

Ich besuchte Finn noch dreimal mit meiner Mutter. Wir gingen jetzt jede zweite Woche statt einmal im Monat zu ihm. Und nicht immer nur sonntags. Ich wäre wahnsinnig gerne allein hingefahren, so wie früher, zumindest ab und zu. Ich wollte ein gutes, langes Gespräch mit Finn führen. Aber jedes Mal, wenn ich davon anfing, meinte meine Mutter nur: »Vielleicht nächstes Mal. Einverstanden, Junie?«, was keineswegs als Frage gemeint war. Sie sagte mir klipp und klar, wie wir es machen würden. Und langsam aber sicher fühlte es sich so an, als würde sie mich und das Porträt als Ausrede benutzen, um in die Stadt fahren und Zeit mit Finn verbringen zu können. Mir kam es nie so vor, als stünden die beiden sich sehr nahe, und ich dachte, sie würde vielleicht anfangen, das zu bedauern. Jetzt war ich so etwas wie ein Trojanisches Pferd, in dem meine Mutter zu ihm nach Hause reiten konnte. Das war nicht fair, und dahinter lag, ausgebreitet wie Treibsand, die Tatsache verborgen, dass es nicht mehr sehr viele nächste Male geben würde. Ohne es je laut auszusprechen, wurde klar, dass wir zwei um die letzten Stunden mit Finn kämpften.

An dem Sonntag, der schließlich zum letzten Sonntag unserer Besuche bei Finn werden sollte, saß Greta an ihrem Schreibtisch und lackierte sich die Fingernägel in zwei Farben. Sie wechselte sie ab – einen lila, einen schwarz, einen lila, einen schwarz. Ich saß auf der Kante ihres ungemachten Bettes und sah ihr dabei zu.

»Greta«, sagte ich schließlich, »weißt du, es wird nicht mehr lange dauern. Mit Finn, meine ich.«

Ich musste sichergehen, dass sie genau kapierte, worum es ging. Meine Mutter sagte, das sei wie mit dem Band einer Kassette, die man nie wieder zurückspulen konnte. Sich beim Anhören der Kassette daran zu erinnern, dass man sie nicht zurückspulen konnte, sei eben schwierig. Also vergaß man es und ging mit der Musik mit und hörte zu und dann, ohne es zu merken, war die Kassette plötzlich zu Ende.

»Natürlich weiß ich das«, sagte sie. »Ich wusste von Onkel Finns Krankheit lange, bevor du irgendwas mitbekommen hast.«

»Warum begleitest du uns dann nicht?«

Greta stellte den schwarzen und den lilafarbenen Nagellack zurück auf ihr kleines Make-up-Regal aus Holz. Dann griff sie nach einem Fläschchen Dunkelrot und schraubte es auf. Sorgfältig strich sie den Pinsel am Flaschenrand ab, zog die Knie an die Brust und lackierte sich die Fußnägel, beginnend mit dem kleinen Zeh.

»Weil er dieses Porträt so oder so fertig malen wird«, sagte Greta und machte sich nicht mal die Mühe, mich anzusehen. »Und außerdem weißt du genauso gut wie ich, dass er mich, wenn es nach ihm gegangen wäre, gar nicht erst mit aufs Bild genommen hätte. Es wäre nur sein Liebling Junie drauf gewesen, sonst niemand.«

»So ist Finn nicht.«

»Wie auch immer, June. Es interessiert mich noch nicht mal. Es spielt keine Rolle. Irgendwann wird das Telefon klingeln und du wirst erfahren, dass Finn tot ist, und dann hast du ein ganzes Leben voller Sonntage vor dir, an denen du jammern kannst. Was machst du dann, hm? Es spielt keine Rolle. Ein Sonntag mehr oder weniger. Noch nicht mal das kapierst du, oder?«

Ich sagte nichts. Greta schaffte es immer, dass ich den Faden verlor. Sie schraubte den Deckel wieder auf das Nagellackfläschchen und spreizte ihre frisch lackierten Zehen. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder mir.

»Was ist?«, fragte sie. »Hör endlich auf, mich anzustarren.«

Vier

In der Steuersaison roch es immer nach Eintopf. Meistens ließ meine Mutter ihren senfgelben Schmortopf auf dem Herd zurück, in dem unser Abendessen vor sich hin köchelte. Völlig egal, was sich darin befand – Huhn, Gemüse, Bohnen –, abends roch alles nach Eintopf.

Es war vier Uhr, und Greta nahm an den Theaterproben in der Schule teil. Sie hatte eine der wichtigen Rollen in South Pacific, die der Bloody Mary, die sie bekommen hatte, weil sie wahnsinnig gut singen kann und weil sie ein ziemlich dunkler Typ ist. Also zumindest die Haare und die Augen, also müssen sie ihr nur noch dunkle Schminke und Eyeliner verpassen, damit sie wie eine Polynesierin aussieht. Uns hatte sie gesagt, sie müsse fast jeden Abend bis spät in der Schule bleiben.

Es war allgemein bekannt, dass von allen Schulen in der Gegend unsere Schule die besten Musicals aufführte. In manchen Jahren hatten sogar Leute aus der Stadt unsere Shows gesehen. Theaterleute, Choreographen, Regisseure, solche Leute eben. Es gab das Gerücht, dass einmal, vor ungefähr zehn Jahren, sogar ein Choreograph im Stück gewesen war und eine unserer Abschlussklassenschülerinnen so gut fand, dass er ihr nach dem Examen eine Rolle in A Chorus Line verschafft hatte. Jedes Jahr macht diese Geschichte die Runde, und obwohl alle behaupten, kein Wort davon zu glauben, sieht man ihnen an, dass sie es doch tun. In Wirklichkeit wollen alle glauben, dass so ein Märchen für sie wahr werden kann.

Seit einigen Tagen war die Temperatur weit unter minus zehn Grad gefallen, also zu kalt für den Wald, deshalb saß ich allein zu Hause am Küchentisch, als das Telefon klingelte.

»Mrs Elbus?«, fragte eine männliche Stimme, die undeutlich klang. Verheult.

»Nein.«

»Oh … klar. Tut mir leid. Ist Mrs Elbus da?« Die Stimme klang nicht nur verheult, sondern hatte einen Akzent. Britisch vielleicht.

»Sie ist noch nicht zu Hause. Kann ich ihr etwas ausrichten?«

Es blieb lange still. »June?«, sagte er dann. »Bist du das, June?«

Der Mann, mit dem ich noch nie zuvor gesprochen hatte, kannte meinen Namen, und es fühlte sich an, als würde er durch das Telefonkabel einen Finger in meine Richtung ausstrecken.

»Rufen Sie später noch mal an«, sagte ich und legte hastig auf.

Ich dachte an diesen Film, in dem ein Mädchen als Babysitterin arbeitet und ständig von jemandem angerufen wird, der sagt, er könne sie sehen und dass sie nach den Kindern schauen solle, und sie flippt immer mehr aus. So hat sich dieser Anruf angefühlt. Obwohl der Typ gar nichts Gruseliges gesagt hat, ging ich durchs Haus und machte alle Fenster zu und sperrte die Türen ab. Dann setzte ich mich neben dem Kühlschrank auf den Fußboden und machte eine Dose Yoohoo-Kakao auf.

Dann klingelte das Telefon erneut. Es klingelte und klingelte, bis der Anrufbeantworter ansprang. Und da war dieselbe Stimme wieder.

»Es tut mir leid, wirklich sehr leid, wenn ich dir Angst eingejagt habe. Ich rufe wegen deines Onkels an. Onkel Finn. Ich versuche es später noch mal. Das war’s schon. Tut mir leid.«

Onkel Finn. Er kannte Onkel Finn. Mein ganzer Körper wurde eiskalt. Ich stand auf und goss den Rest Kakao ins Spülbecken. Dann ging ich auf den braunen Linoleum-Fliesen in der Küche auf und ab. Finn war tot. Ich wusste, Finn war tot.

Ich nahm den Hörer ab und wählte seine Nummer, die ich auswendig konnte. Es klingelte zweimal, und sobald ich das Klicken hörte, als der Anruf entgegengenommen wurde, weitete sich meine Brust vor Freude.

»Finn?« Am anderen Ende blieb es stumm, und ich wartete. »Finn?«, wiederholte ich. Ich hörte selbst, wie Verzweiflung sich in meine Stimme schlich.

»Leider … leider nein. Er ist nicht …«

Ich legte schnell auf. Es war dieselbe Stimme. Es war derselbe Mann, der die Nachricht auf unserem Anrufbeantworter hinterlassen hatte.

Ich rannte nach oben in mein Zimmer, das mir noch nie so winzig vorgekommen war. So geschrumpft. Ich sah mich um, und mein Blick fiel auf die dämlichen unechten Kerzen und meine umfangreiche bescheuerte 1000 Gefahren – Du entscheidest selbst-Büchersammlung, meine knallrote Bettwäsche mit den aufgedruckten Stickbildern. New York schien tausende Kilometer weit weg zu sein. Als hätte die Stadt ohne Finn nicht mehr das Gewicht, um an Ort und Stelle zu bleiben. Als würde sie einfach davonschweben.

Ich verkroch mich unter meinem Bett und machte die Augen fest zu. Zwei Stunden blieb ich so liegen und atmete den abgestandenen Eintopfgeruch ein. Zwei Stunden lang tat ich so, als sei ich etwas Uraltes und Begrabenes, und wartete auf das Geräusch der sich öffnenden Hintertür, damit ich mir rechtzeitig die Hände fest auf die Ohren pressen konnte, bevor ich mir noch einmal anhören musste, wie jemand diese blöde Nachricht auf dem Anrufbeantworter abspielte.

Fünf

Gretas Spruch – dass sie lange vor mir von Onkel Finns Krankheit wusste – stimmte wahrscheinlich. Sie war nicht da, als ich es herausfand. An dem Tag, an dem ich es erfuhr, sollte ich eigentlich mit meiner Mutter zum Zahnarzt gehen, aber dann bog sie ohne ein Wort an der Main nach links statt nach rechts ab, und bevor ich mich versah, standen wir vor dem Mount Kisco Diner. Dass das Ganze seltsam war, hätte mir von Anfang an auffallen müssen, weil Greta und ich immer zusammen zum Zahnarzt gingen und weil es diesmal nur meine Mutter und ich waren. Vielleicht hatte sie gehofft, dass die Erleichterung darüber, nicht zum Zahnarzt zu müssen, die Neuigkeiten über Finn weniger schlimm machte. Damit lag sie falsch. Ich gehe gerne zum Zahnarzt. Ich mag den Geschmack des Fluorid-Gels, und ich mag es, dass während der zwanzig Minuten in Dr Shippees Behandlungsstuhl meine Zähne das Allerwichtigste auf der Welt sind.

Wir setzten uns in eine Nische, was bedeutete, dass wir eine Jukebox hatten. Bevor ich fragen konnte, gab meine Mutter mir eine Vierteldollarmünze und trug mir auf, ein paar Songs auszusuchen.

»Was Gutes, ja?«, sagte sie. »Was Fröhliches.«

Ich nickte. Da ich nicht wusste, über was wir gleich reden würden, suchte ich »Ghostbusters«, »Girls just wanna have fun« und »99 Luftballons« aus. In der Jukebox gab es sowohl die deutsche als auch die englische Version von Nenas Song. Ich entschied mich für die deutsche, weil ich dachte, das sei cooler. Meine Mutter bestellte eine Tasse Kaffee, aber nichts zu essen. Ich bestellte ein Stück Zitronenbaiserkuchen und Kakao.

»Ghostbusters« begann zu laufen, während ich mich durch die Songs der Jukebox drückte. Ich schaute mir die Platten an und las einen Titel nach dem anderen und grübelte, ob ich die beste Wahl getroffen hatte. Dann lag plötzlich die Hand meiner Mutter auf meiner.

»June.« Sie sah aus, als würde sie gleich weinen.

»Ja?«

Sie sagte etwas, aber so leise, dass ich nichts verstand.

»Was?« Ich beugte mich über den Tisch zu ihr vor.

Sie wiederholte, was sie gesagt hatte, aber ich sah nur die Bewegung ihrer Lippen, als würde sie gar nicht wollen, dass man sie verstand.

Ich schüttelte den Kopf. In der Jukebox verkündete Ray Parker Jr singend, wieso er keine Angst vor Geistern hatte.

Meine Mutter zeigte auf den Platz neben sich, und ich umrundete den Tisch. Sie nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und zog mich ganz nah zu sich ran, so dass ihr Mund quasi mein Ohr berührte.

»Finn wird sterben, June.«

Sie hätte sagen können, dass Finn krank war, schwer krank. Doch das sagte sie nicht. Sie sagte mir geradeheraus, dass Finn sterben würde. Normalerweise war sie kein Freund brutaler Wahrheiten, aber diesmal musste sie sich überlegt haben, dass auf diese Weise weniger geredet, weniger erklärt werden musste. Denn wie sollte sie so etwas erklären? Wie sollte irgendwer so etwas erklären? Sie zog mich näher zu sich heran, und so blieben wir einen Moment lang sitzen. Keine von uns beiden wollte der anderen in die Augen sehen. Es fühlte sich an, als hätte ich einen Verkehrsstau in meinem Gehirn. Hundert unterschiedliche Dinge, die ich jetzt eigentlich sagen müsste.

»Zitronenbaiser?«

Die Kellnerin stand plötzlich mit meinem Stück Torte in der Hand vor mir, und ich musste mich von meiner Mutter lösen und nicken. Ich starrte auf diese lächerlich fluffige, fröhliche Meringue und konnte nicht glauben, dass ich vor ein paar Minuten noch ein Mädchen gewesen war, das sich so etwas gewünscht hatte.

»Woran wird er sterben?«, brachte ich schließlich heraus.

Ich beobachtete, wie meine Mutter mit dem Zeigefinger über die Tischplatte fuhr. AIDS, schrieb sie. Dann, als wäre die Tischplatte eine Tafel, als könne sie behalten, was sie aufgeschrieben hatte, wischte sie das Wort mit der flachen Hand wieder weg.

»Oh.« Ich stand auf und ging zurück auf meine Seite des Tisches. Der Kuchen stand da und verhöhnte mich. Ich rammte meine Gabel in diese dumme hoffnungsfrohe Meringue und demolierte sie. Dann rutschte ich näher an die Jukebox heran und presste mein Ohr gegen den Lautsprecher. Ich schloss die Augen und versuchte, den ganzen Diner verschwinden zu lassen. Als »99 Luftballons« anfing, wartete ich darauf, dass Nena »Captain Kirk« sang, die einzigen beiden Worte in diesem Lied, die ich verstand.

Sechs

Auf Finns Beerdigung war der Sarg nicht geöffnet, und alle waren dankbar dafür. Vor allem ich. Ich hatte mir seine geschlossenen Augen vorgestellt. Seine dünnen Augenlider. Ich hatte mich gefragt, wie ich es mir verkneifen könnte, sie sanft mit den Fingern zu berühren und aufzuschieben. Nur um Finns blaue Augen noch einmal zu sehen.

Die Beerdigung fand genau eine Woche nach dem Anruf statt. An einem Donnerstag, und wir versäumten deshalb nachmittags den Schulunterricht. Ich war mir ziemlich sicher, dass Greta einzig und allein aus diesem Grund zugestimmt hatte mitzukommen. Und es war einer der wenigen Tage in meinem Leben, an dem meine Eltern während der Steuersaison beide am selben Tag freigenommen hatten.

Meine Mutter brachte das Porträt mit, dass Finn von uns beiden gemalt hatte, weil sie die Idee hübsch fand, es aufzustellen und so zu beweisen, was für ein netter Mann Finn gewesen war, aber als wir am Parkplatz des Bestattungsinstituts ankamen, änderte sie ihre Meinung.

»Er ist da«, sagte sie. Ihre Stimme klang wie eine merkwürdige Mischung aus wütend und panisch.

Mein Vater parkte ein und sah aus dem Fenster. »Wo?«

»Gleich da drüben, siehst du ihn denn nicht? Ganz allein, da drüben auf der Seite.«

Mein Vater nickte, und ich folgte seinem Blick. Auf einer niedrigen Steinmauer saß ein in sich zusammengesunkener Mann. Ein großer, schlaksiger Typ, der mich an Ichabod Crane aus Die Legende von Sleepy Hollow erinnerte.

»Wer ist das?«, fragte ich und zeigte mit dem Finger an der Scheibe auf ihn.

Meine Mutter und mein Vater drehten sich beide zu mir auf der Rückbank um. Greta stieß mir mit dem Ellbogen in die Seite und sagte mit ihrer fiesesten Stimme: »Halt die Klappe.«

»Halt doch selbst die Klappe«, entgegnete ich.

»Ich stelle ja keine blöden Fragen Sie rückte ihre Brille zurecht und sah weg.

»Ruhe da hinten. Beide«, sagte mein Vater. »Das alles ist schon schwer genug für eure Mutter.«

Für mich auch, dachte ich, behielt es aber für mich, da ich wusste, dass die Traurigkeit, die mich erfüllte, die falsche Art Traurigkeit für eine Nichte war. Da ich wusste, dass Finn mir nicht wirklich so gehörte, dass ich derartig traurig hätte sein dürfen. Jetzt, wo er tot war, gehörte er meiner Mutter und meiner Großmutter. Sie waren diejenigen, die den Leuten leid taten, obwohl es so schien, als hätte keine der beiden ihm richtig nahegestanden. Für die Leute auf der Beerdigung war ich nur die Nichte. Ich starrte aus dem Fenster und erkannte auf einmal, dass ich mich an einem Ort befand, an dem niemand wusste, was in meinem Herzen vor sich ging. Niemand hatte die leiseste Ahnung, wie viele Minuten ich täglich damit verbrachte, an Finn zu denken, und Gott sei Dank hatte niemand die leiseste Ahnung, um welche Art von Gedanken es sich dabei handelte.

Meine Mutter hatte dafür gesorgt, dass die Beerdigung in einem Bestattungsinstitut in unserem Ort stattfand und nicht in der Stadt, wo Finns Freunde wohnten. An dieser Entscheidung gab es nichts zu rütteln. Es kam mir so vor, als wolle sie ihn vereinnahmen. Als versuche sie, ihn ganz für sich zu behalten.

Mein Vater sah zu meiner Mutter. »Also, soll ich es im Kofferraum lassen?«

Sie nickte schmallippig. »Lass es bloß drin.«

Letztendlich war mein Vater in die Stadt gefahren, um einen Tag nach Finns Tod das Porträt abzuholen. Er machte sich abends auf den Weg, und keiner von uns bot ihm an, ihn zu begleiten. Meine Mutter besaß einen Schlüssel zu dem Apartment, den Finn auf ein Stück rotes Seidenband gefädelt hatte. Der Schlüssel befand sich seit Jahren bei uns, aber ich bin mir nicht sicher, ob ihn irgendwer jemals benutzt hatte. Meine Mutter sagte, es sei so ein »Für den Fall der Fälle«-Ding. Dass Finn es so wollte.

Mein Vater kam erst spät in der Nacht wieder. Als er ins Haus kam, schlug er die Tür zu, und ich schnappte das Gespräch zwischen ihm und meiner Mutter auf.

»War er da?«, fragte sie.

»Danni …»

»War er da?«

»Natürlich war er da.«

Ich bildete mir ein, meine Mutter daraufhin weinen zu hören.

»Gott! Allein der Gedanke an ihn … Es hätte doch wenigstens ein bisschen gerecht zugehen können. Nur ein bisschen.«

»Schschsch, Danni, du musst loslassen.«

»Ich will aber nicht. Ich kann nicht.« Dann war es kurz still, und dann: »Also, wo ist es jetzt? Du hast es doch, oder?«

Er muss genickt haben, weil das Gemälde am nächsten Morgen in einem schwarzen Müllsack auf dem Tisch stand. Ich stand als Erste auf und entdeckte es dort. Ich umkreiste den Tisch, dann streckte ich die Hand aus, um den Müllsack zu berühren. Ich presste meine Nase auf die Außenseite, auf der Suche nach Finns Geruch, aber da war nichts. Ich öffnete den Müllsack und reckte meinen Kopf hinein, atmete einmal tief ein, aber der chemische Plastikgestank unterdrückte alles, was sich vielleicht mal auf der Leinwand abgesetzt hatte. Ich schloss die Augen und atmete tiefer, langsamer und zog den Müllsack fest um meinen Hals zu.

»Na, du Vollidiot. « Ich bekam einen harten Schlag auf den Rücken. Greta. Ich befreite mich aus dem Müllsack.

»Ich werde dich nicht aufhalten, wenn du mit allem abschließen willst, aber lass einfach das Bild intakt für uns zurück. Es ist auch ohne die Geschichte über eine weitere Leiche eklig genug.«

Leiche. Finn war eine Leiche.

»Mädchen?« Meine Mutter war auf halbem Weg die Treppe hinunter stehengeblieben und band ihren gesteppten Bademantel zu. Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen zu uns hinunter. »Ihr macht doch keinen Quatsch mit dem Gemälde, oder?«

Wir schüttelten beide den Kopf. Dann lächelte Greta.

»Eine von uns wollte mit dem Müllsack Selbstmord begehen, das ist alles.«

«Was?«

»Halt den Mund, Greta«, sagte ich, aber das schaffte sie nicht. Sie konnte nie den Mund halten.

»Hab sie hier unten entdeckt, mit dem Kopf im Müllsack.«

Meine Mutter eilte zu mir und nahm mich so fest in den Arm, dass ich befürchtete, sie würde mich ersticken. Dann löste sie sich von mir und sah mir tief in die Augen.

»Ich weiß, wie sehr du Finn mochtest, und ich möchte, dass du weißt, Junie, dass du jederzeit, jederzeit, wenn du reden willst …»

»Ich habe nicht versucht, mich umzubringen.«

»Ist ja gut«, sagte sie. »Du musst jetzt nichts sagen. Wir sind alle da. Ich, dein Vater, Greta. Wir alle lieben dich.« Hinter dem Rücken meiner Mutter riss Greta die Augen auf und zog Grimassen, als würde sie sich gerade mit einer Schlinge um den Hals aufhängen.

Streiten war sinnlos, also nickte ich einfach nur und setzte mich an den Tisch.

Meiner Mutter schnappte sich den Müllsack und nahm ihn mit nach oben. Sie meinte, wir bräuchten mal für eine Weile eine Pause von dem Porträt und dass sie es irgendwo sicher aufbewahren würde. Da hatte ich es zum letzten Mal gesehen, bis zur Beerdigung.

AIDS

Ich beschloss, Letzteres zu glauben. Es ist verdammt schwer zu beschließen, eine Sache zu glauben und eine andere nicht. Aber ich zwang mich dazu, weil die Vorstellung, dass Finn ein so großes Geheimnis vor mir gehabt hätte, Brechreiz in mir auslöste.

Die Feier war zu Ende, und die Trauergäste verließen der Reihe nach das Gebäude. Ein paar Besucher unterhielten sich noch kurz in der Eingangshalle, aber ich ging direkt hinaus und suchte nach dem kleinen blauen Auto. Es war nirgends mehr zu sehen. Genau wie der Mann. Es schneite jetzt stärker, und die Straßen und Rasenflächen wurden weiß und makellos. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke so hoch wie möglich, dann blickte ich die Straße entlang nach rechts und nach links, aber da gab es nichts zu sehen. Er war verschwunden.