Maja Gerber-Hess
wurde 1946 in Zürich geboren und ist seit 1978 schriftstellerisch tätig. Sie schreibt Erzählungen und Kurzgeschichten für Kinder und Erwachsene. Sie arbeitet als Filmsachverständige des Kantons Zürich. Seit einigen Jahren lebt sie in einem kleinen Dorf im Kanton Thurgau, wo sie in aller Ruhe schreiben kann. Maja Gerber-Hess hat zahlreiche Kinder und Jugendbücher sowie Kurzgeschichten veröffentlicht, die auch in den Medien grosse Beachtung fanden.
eISBN 978-3-03864-216-9
Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung,
Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form,
einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien,
der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung
und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.
Lektorat: Horst u. Fritz Eibl (A)
Umschlaggestaltung: Agentur flin, unter Verwendung
einer Illustration von Bert Silberstein (A)
Copyright © 2017 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich, Freudenstadt, Tucson
(Der Jugendbuch-Bestseller von Maja Gerber-Hess „Das Jahr ohne Pit“ ist zum ersten Mal 1989 beim Rex Verlag, Luzern erschienen. Die neue ARAVAIPA-Ausgabe wurde von der Autorin überarbeitet.)
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30. Juli 2017
Letzte Nacht habe ich wieder denselben Traum geträumt. Am Morgen war ich völlig zerschlagen, hockte beim Frühstück und hätte am liebsten geheult. Mam hob den Kopf von der Zeitung und sah mich an.
„Wieder geträumt?“, fragte sie bloß.
Ich nickte.
„Du müsstest alles mal aufschreiben“, schlug sie vor. „Dir von der Seele schreiben. Vielleicht hilft das. Manchmal gewinnt man zu einem Problem Abstand, wenn man alles schön schwarz auf weiß, aus Distanz, lesen kann. Versuchs doch wenigstens einmal, Niki!“
Als ich dann von der Schule zurückkehrte, lag dieses Buch erneut auf meinem Schreibtisch. Mam hatte es mir bereits vor Wochen geschenkt. Ich habe es aufs Regal gelegt. Die vielen weißen Seiten… fast fürchtete ich mich davor. Jetzt weiß ich, weshalb: weil ich, wenn ich alles aufschreibe, nicht mehr denken kann, es ist nicht wahr.
Und es ist wahr.
Manchmal weiß ich nicht, wie ich mit dieser Wahrheit leben soll. Ständig versuche ich, sie wegzuschieben, nicht daran zu denken. Wie aber soll ich dies schaffen, wenn ich in der Schule täglich seinen leeren Platz ansehen muss!
Niemand will sich auf seinen leeren Stuhl setzen, hinter seinen Tisch. Noch immer sind ein paar Flecken von Kerzenwachs darauf, niemand kratzt sie weg. Nur das Fach mit seinen Heften und Schulbüchern, das hat irgendwann einmal jemand geleert.
Wir waren damals kribbelig wegen der Matheprüfung.
„Pit hat’s“, seufzte Noldi neidisch. „Er liegt warm eingemummelt in seinem Bett und kann sich verwöhnen lassen. Und wir müssen uns hier zu Tode schuften.“
Genau so sagte er es: zu Tode schuften. - Was für eine Ironie!
Pit war seit zwei Tagen krankgemeldet. Ich hatte ihn noch nicht besucht, weil ich wusste, dass mich seine Eltern nicht sonderlich mochten. Klar, so ganz passte ich nicht in diese Akademikerfamilie. Ich fühlte mich nicht wohl dort, wenn Pit mich hin und wieder zu sich nach Hause nahm. Nicht nur, weil alles blitzsauber glänzte, ein Dienstmädchen und eine Putzfrau sorgten dafür, nicht nur, weil kostbare Möbel herumstanden, wertvolle Teppiche die Tonplatten auf dem Boden bedeckten. Bilder von bekannten Künstlern an den Wänden hingen. Auch nicht, weil ich nur die Tochter einer geschiedenen Sekretärin bin. Ich weiß eigentlich selbst nicht, was es war.
Am 14. Dezember betrat unser Klassenlehrer das Schulzimmer. Wir merkten sogleich, dass irgendetwas geschehen war. Reto stieß mich bereits hoffnungsvoll an:
„Vielleicht fällt die Matheprüfung ins Wasser! Schau dir Steiner an, der ist doch krank!“
Steiner sagte nichts, er schaute bloß über unsere Köpfe hinweg. Plötzlich drehte er sich zum Wandschrank und nestelte darin herum, und zu unserer Verblüffung hielt er schließlich eine Kerze in der Hand. Er trug sie zu Pits Platz und stellte sie auf seinen Tisch. Dann suchte er umständlich nach seinem Feuerzeug und zündete die Kerze an.
Ich glaube, wir alle wussten sogleich, was geschehen war. Die Kerze flimmerte still im Klassenzimmer. Niemand sprach. Fassungslos starrten wir ins Licht. Mein Herz hämmerte, dröhnte, schien mir den Brustkorb sprengen zu wollen. Dorli, sonst die Stillste, flüsterte dann plötzlich für alle hörbar: „Nein, nein, nein!“
Aber Steiner brachte immer noch kein Wort heraus. Erst nach langem Schweigen sagte er in die drückende Stille hinein: „Heute morgen früh ist euer Mitschüler Pit Arens gestorben.“
Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Ihr werdet es ja ohnehin erfahren. Er hat sich umgebracht. Erschossen.“
Jetzt habe ich es aufgeschrieben. Ich kann nicht mehr denken: Es ist nicht wahr, ich träume. Der Satz steht hier. Wenn ich nun jeweils dieses Buch aufschlage, werde ich jedes Mal lesen müssen: Pit Arens ist gestorben. Er hat sich umgebracht. Erschossen.
Acht Wochen sind vergangen seither. Um mich herum ist ein eisiger Panzer gewachsen. Ich denke kaum noch, fühle kaum noch, höre kaum noch.
Irgendwie, irgendwann sind die Weihnachts- und Neujahrstage an mir vorbeigeflossen, haben mich kaum berührt. Und nun fällt der Schnee, hartnäckig, leise.
Ich war nie an Pits Grab. Ich wäre auch nicht zur Beerdigung gegangen, wenn nicht unsere ganze Klasse und alle Lehrer hätten gehen müssen.
Verkehrschaos in der Stadt.
Draußen ein Schneesturm, der Wind scharf wie eine Sichel. Der Pflug kommt kaum nach. Ich wünschte, der Schnee würde alles lahm legen. Dann müsste ich auch nicht mehr zur Schule gehen. Würde daheim den Tag verbummeln, viel schlafen. Ich habe ein enormes Schlafbedürfnis. Wenn am Morgen der Wecker schrillt, kriege ich kaum die Augen auf. Manchmal scheint mir, als läge auch tagsüber ein Teil von mir in Schlaf, als bewegten sich bloß meine Glieder. In der Schule stehe ich zurzeit mies. Es ist mir egal, selbst wenn ich sitzen bleibe. Ständig schauen sie mich alle fragend an. „Wie geht’s? Alles okay?“
Natürlich meinen sie es gut. Aber ehrlich: Ich ertrage kaum Karin, und sie ist mir doch die liebste Freundin.
Nun hat sie ein fast mütterlich besorgtes Getue. Hakt mich beim Gehen unter, als fürchte sie, ich könnte ohne ihre Stütze fallen.
Sie sollen mich doch alle in Ruhe lassen!
Heute hat mich der Deutschlehrer vor die Tür gebeten.
„Die Zeit heilt Wunden, Monika.“
Diese Phrase!
„Ein bisschen müssten Sie sich aber doch zusammenreißen. Ihre Leistungen haben in allen Fächern markant nachgelassen!“
Na und? Ich hätte ihm fast ins Gesicht gelacht. Merkwürdigerweise habe ich das nun oft: unbeherrschte Lachanfälle, auch dann, wenn gar nichts lustig ist.
Nur, es kommt mir alles dermaßen absurd vor. Was nützt es, sämtliche historische Daten aus dem Dreißigjährigen Krieg, die chemische Formel von Nitroglyzerin zu kennen? Wenn ich weiß, wie eine Blüte aufgebaut ist, wie man die Logarithmentabelle liest?
Pit war einer der Besten in unserer Klasse. Genützt hat’s ihm offensichtlich nichts. Nur uns: Wir durften jeweils in letzter Minute seine Hausaufgaben abschreiben. Uns hat er mal erklärt, was wir trotz Mathe-Steiners intensivsten Bemühungen nicht kapiert hatten. Uns hat er heimlich Vergil von Latein ins Deutsch übersetzt.
Als könnte er alles einfach aus dem Ärmel schütteln.
Mir ist kalt. Mam hat mir den Elektroofen ins Zimmer gestellt, da ich ständig friere. Gestern Abend, als ich Musik hörte, klopfte sie leise an meine Tür. „Darf ich mal reinkommen oder möchtest du allein sein?“, hat sie gefragt. Aber sie hat meine Antwort gar nicht abgewartet, hat sich zu mir aufs Bett gesetzt und sich die Beine unter den Rock gezogen. Mam wirkt noch nicht alt, dabei ist sie über vierzig. Ich habe sogar schon gemerkt, dass immer noch Männer hinter ihr her sind.
Pit hat oft gesagt: „Ich finde deine Mutter absolut super. Und gut sieht sie aus, ehrlich!“
Das habe ich gestern auch gedacht, wie ich sie angeschaut habe. Sie hatte sich mit geschlossenen Augen an die Wand gelehnt und „Rondo Veneziano“ zugehört. Mam hat ein wahnsinnig schönes Gesicht. Große, dunkle Augen und braunes, glattes Haar. Meist fasst sie es im Nacken zu einem Schwanz zusammen. Die Figur - na ja, für ihr Alter ganz passabel. Manchmal dünkt mich trotzdem, sie kleide sich allzu jugendlich, kurze Jupes, Jeans und so. Aber wenn’s ihr Spaß macht, soll sie. Man hat uns sogar schon für Schwestern gehalten. Mam hat’s natürlich gefreut.
„Die wollen dir nur schmeicheln!“, habe ich patzig zu ihr gesagt. Da hat sie mich angeschaut, so verständnisvoll - das kann sie selbst dann, wenn sie nichts versteht. Das ist ihre Stärke.
Jetzt bin ich gemein.
Auch gestern hat sie plötzlich ihre Augen auf mich gerichtet, eben mit ihrem Mutter-Blick, und gesagt: „Niki, ich hoffe bloß, dass du dich nicht noch mit Selbstvorwürfen quälst. Dass du dir nicht noch Schuldgefühle auflädst!“
„Brauchst dir keine Sorgen zu machen, Mam“, beruhigte ich sie. Ich denke über all das so wenig wie möglich nach.“
Da legte Mam den Arm um meine Schultern und meinte vorsichtig: „Ob es gut ist, wenn du alles verdrängst? Vielleicht musst du da hindurch, mal heulen, die Traurigkeit zulassen. Du kommst mir seit Pits Tod wie versteinert vor.“
Bin ich auch, dachte ich ungerührt. Und Mams besorgten Blick fand ich zum Kotzen und ihr Arm schloss sich wie eine Falle um meine Schultern und im Hals war plötzlich alles rau, als hätte ich Glaspapier statt Schleimhäute in der Kehle. Ich wand mich frei und stieß ärgerlich hervor: „Nun lasst mich doch alle in Ruhe mit eurer Fürsorge, verdammt noch mal!“
Das „Rondo Veneziano“ war längst verstummt, der Plattenspieler drehte leer. Mam sah mich zögernd an, stand dann auf.
„Wenn du magst, so kannst du jederzeit mit mir sprechen. Vergiss das nicht!“
Und dann ging sie aus dem Zimmer, und ich war endlich wieder allein.
Das hat sie schon nach Pits Beerdigung gesagt.
Nun, jederzeit kann ich nicht mit ihr sprechen. Tagsüber arbeitet sie im Büro. Und abends ist sie auch oft unterwegs, jetzt besucht sie neuerdings noch die Volkshochschule. Soziologie studiert sie dort. Hin und wieder geht sie mit Rolf weg oder er bleibt mal hier über Nacht. Die beiden haben eine seltsame Beziehung, ich sehe da nicht durch. Nach Pits Beerdigung hat sie Rolf weggeschickt.
„Heute bleibst du nicht hier“, hat sie zu ihm gesagt. „Heute nicht!“
Dabei, mir hätte es nichts ausgemacht, wenn Rolf damals über Nacht bei Mam geblieben wäre. Die Beerdigung war ohnehin scheußlich gewesen und ich wollte nichts als früh zu Bett und schlafen, schlafen, schlafen, am liebsten wäre ich in einen Winterschlaf gesunken.
Zuerst verlangten die Lehrer, dass wir am offenen Grab ein Lied singen sollten, da haben wir aber alle protestiert. So ein Kitsch! So etwas von Heuchelei! Das „Largo“ von Händel in der Abdankungshalle, das hat gereicht. Alle haben sie die Taschentücher hervorgezogen und geschnuffelt, sich die Augen gewischt. Sogar unsere Französischlehrerin, Frau Mann. Sie heißt wirklich so: Frau Mann. Wenn wir von ihr reden, nennen wir sie Mannsweib, sie ist nämlich ein maskuliner Typ, ich glaube, sie muss sich sogar rasieren. Vermutlich stimmt da mit den Hormonen etwas nicht.
Aber als Lehrerin ist sie gut und Pit war einer ihrer Lieblinge. Kunststück, so ein Superschüler.
An der Beerdigung hat selbst das Mannsweib ihre Tränen abgewischt und ich weiß noch, dass mir dies sehr eigenartig vorgekommen ist: Das Mannsweib heulte, während Pits Eltern bewegungslos dasaßen, als hätte man sie in Bronze gegossen. Vorne, unter einem Blumenmeer, der Sarg. Ich mochte einfach nicht denken: Dort liegt er. Tot. Nie mehr seine Hand in meinem Haar. Nie mehr sein Lachen, seine bohrenden Fragen, seine Ungeduld, seine Launen. Nie mehr seine Wärme, die dann jeweils doch so plötzlich wieder in Kälte umschlagen konnte.
Um den Sarg nicht ansehen zu müssen, sah ich hinauf zur Kuppel. Barock, dachte ich. Das nahmen wir gerade in Kunstgeschichte durch.
Draußen dann aber, auf dem Friedhof, da konnte ich nicht mehr wegsehen. Wie mit Stricken zog es meinen Blick zur leeren Grube. Ich musste zusehen, wie zwei Träger den Sarg langsam in die Tiefe gleiten ließen. Ich hörte das Knarren der Seile. Und später das Poltern der gefrorenen Erdschollen auf den Sarg. Jeder nahm ein Häufchen Erde und warf es in die Grube, und als ich an die Reihe gekommen war, vermochte ich meine Finger nicht zu lösen. Die krallten sich um den kleinen Erdhaufen in meiner Hand, ließen ihn nicht los. So trat ich vom Grab zurück. Zu Hause fand ich dann Erdkrümel in meiner Manteltasche. Ich habe sie in einer Dose aufbewahrt. Klar, ich weiß, es ist lächerlich, aber manchmal, wenn ich die Dose öffne und die inzwischen staubig gewordene Erde sehe, so tröstet mich das ein bisschen, als wäre doch noch etwas von Pit zurückgeblieben.
Was Mam gemeint haben mag, wegen der Schuldgefühle, die ich mir nicht machen soll? Pit hat sich nicht meinetwegen umgebracht, das weiß ich genau. Nur: Weshalb denn bloß?
Ich finde das Leben auch nicht immer schön, ohne Schule könnte ich’s sowieso aushalten; und damals, als meine Eltern sich scheiden ließen, nun, das war keine lustige Zeit. Trotzdem war ich nie so tief gefallen, dass ich mich hätte umbringen wollen. Warum nur hat Pit nicht mit mir telefoniert, als er nicht mehr weiterwusste? Wann hat er das Vertrauen verloren zu mir? Elf Monate lang haben wir doch alles zusammen besprochen.
Glaubte ich wenigstens.
Ich habe mich getäuscht.
Die Großeltern waren zum Essen hier. Ich mag sie ja ganz gern, auch wenn sie mich manchmal mit ihrem Erziehungstick gewaltig nerven. Immer diese Vergleiche mit ihrer Jugend, die vor mehr als fünfzig Jahren stattgefunden hat! Wenn sie überhaupt stattfand. Sobald sie nämlich erzählen, hat man das Gefühl, als wären beide bereits als Säuglinge erwachsen gewesen. Es hat sich doch alles verändert in diesen Jahrzehnten - was kann ich dafür, dass Großmutter noch eine Schürze über dem Kleid tragen und Großvater nach der Schule auf dem Postamt mithelfen musste.
Das Theater damals, als die beiden Leutchen herausbekamen, dass ich einen Freund habe!
„Wirklich, Monika“, sie nennen mich bei ihren Belehrungen hartnäckig Monika, „du bist erst sechzehn, das gehört sich einfach nicht in deinem Alter. Statt im Schwimmbad herumzufaulenzen, könntest du deiner Mutter behilflich sein. Es ist nicht selbstverständlich, dass sie im Büro arbeitet, um dir die Mittelschule zu ermöglichen. Zu meiner Zeit nannte man Mädchen, die sich mit Jungen herumtrieben… ach, nein, das mag ich gar nicht aussprechen, das ist ein allzu hässlicher Ausdruck!“
Mam kam mir dann meistens zu Hilfe.
„Lass sie doch, Vater, das bisschen Spaß in der Freizeit mag ich ihr gönnen, die Jungen haben es nicht leicht heutzutage.“
Womit sie natürlich das Verkehrteste sagte. Denn nun legte sich Großvater erst recht ins Zeug.
„Dass ich nicht lache! Wie stellst du dir denn vor, dass es früher war? Ein Zuckerschlecken? Ich habe jeden Morgen, noch bevor ich in die Schule ging, für alle das Frühstück zubereitet, den Ofen angefeuert, die Schuhe geputzt, jawohl. Und wenn wir in der Schule nicht gehorchten, setzte es Schläge. Die heutigen Jungen lümmeln ja bloß herum in der Freizeit, in Spielkasinos und Kinos, in Discos und Kneipen. Und nun lässt du die Monika doch tatsächlich mit einem Jungen herumziehen, wirklich, Ruth, ich verstehe dich nicht!“
Seit das mit Pit geschehen ist, sind Großmutter und Großvater sehr unsicher geworden, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollen. Selbstmord bei Jugendlichen, das gab’s wohl noch nicht zu ihrer Zeit. Da war man hart im Nehmen, da schlich man sich nicht feige davon! Auf jeden Fall sagte Großvater kürzlich etwas in dieser Richtung, als Mam aus der Zeitung vorlas, in unserm Land hätten wir fast die höchste Selbstmordrate von Europa.
„Wo es die Menschen doch so gut haben wie noch nie!“, wunderte sich die Großmutter. „Da gibt’s kaum noch Armut, jeder hat seine Wohnung, seinen Fernseher, sein Auto. Und die Menschen bringen sich um!“
„Eben!“, meinte Mutter trocken.
Und da sagte Großvater den Spruch mit dem hart im Nehmen und Mam bekam ihre steile Falte zwischen den Brauen, die sie immer bekommt, wenn sie sich ärgert.
„Es gibt nicht nur eine materielle Armut, Vater!“, sagte sie scharf. Und ich bin ganz sicher, sie hat ihm beschwörend zugeblinzelt und auf mich gedeutet, weil Großvater dann abrupt das Thema wechselte, sich leutselig an mich wandte und sich nach der Schule erkundigte, und die Großmutter stellte die Teller zusammen und sagte: „Was haben wir denn da für ein trauriges Gespräch, wo wir es doch so schön haben!“
Mam seufzte und sah mich verschwörerisch an.
Dass Mam geschieden ist, gehört sich auch nicht für die Familie Küfer. Das lassen die Großeltern immer mal wieder durchblicken. Ehrlich, so nett die beiden sind scheint mir, sie hätten trotz ihrer siebzig Lebensjahre noch nichts kapiert.
Als sie sich vorhin verabschiedeten, drückte mir Großvater zwanzig Franken in die Hand.
„Setz dich mal wieder mit einer Freundin in ein Café und stopf dich mit Süßigkeiten voll, die magst du doch so gern. Du wirst immer dünner, Kind!“
Ich habe mich bedankt, ihn umarmt - und musste plötzlich ganz böse denken: Warum lebt er in seinem Alter noch gesund und munter und Pit mit seinen siebzehn Jahren ist tot?
Ich bin selbst erschrocken über diesen Gedanken. Was kann denn Großvater dafür, dass Pit sich erschossen hat?
Jetzt schreibt sich das schon ganz leicht, - vielleicht hatte Mam Recht, als sie meinte, mit Schreiben gewinne man Distanz zu einem Problem.
Das Geld brauche ich eigentlich nicht. Ich gehe nie mehr in ein Café, ins Kino bin ich auch schon lange nicht mehr gegangen, in eine Disco schon gar nicht. Meist hocke ich daheim und lese, höre Musik oder schaue mir eine Fernsehsendung an. Und dann gehe ich früh in die Klappe, um alles wegzuschlafen. Ich habe oft so ein merkwürdiges Gefühl auf der Brust. Oder im Bauch. Im Kopf.
Mit Pit habe ich mich meistens im Café Sereno getroffen. Mein Gott, ich erinnere mich noch gut, wie aufgeregt ich war, als er mich damals, wie ich im Schulzimmer meine Siebensachen zusammenpackte, fragte: „Hast du Lust auf ein Eis? Wir könnten im Sereno noch eines essen?“
Später haben wir oft gelacht darüber: Mitten im Winter setzten wir uns ins Sereno und bestellten beide einen Eisbecher, obschon weder er noch ich Lust auf etwas Kaltes hatten. Pit wusste nur nicht, wie er mich einladen könnte, und ich wagte nicht, etwas anderes zu bestellen, weil ich dachte: Er hat mich zu einem Eis eingeladen.
Draußen wirbelte der Schnee und wir saßen hinter einem Berg von Vanille- und Schokoladeneis und suchten verlegen nach Worten. Vor Aufregung war mir ohnehin fast schlecht. Später, auf dem Heimweg, trug Pit meine Schultasche. Und bei der Niederdorfstraße kaufte er noch dreihundert Gramm heiße Maroni.
Jede Einzelne schälte er für mich, bevor er sie mir reichte.
Die Letzte dann presste er in meine Hand und schloss die seine darüber.
„Damit du keine kalten Hände zu haben brauchst“, meinte er. Dabei jagten mich Hitzeschauer. Und mein Herz trommelte unter den Rippen, als würde ein Afrikaner im Busch Alarm schlagen.
Hand in Hand schlenderten wir durchs Niederdorf. Pits Haar bekam einen Spitzensaum von Schnee.
Beim Bellevue musste ich in die Straßenbahn. Als ich wegfuhr und Pit noch zuwinkte, da spürte ich schon zum ersten Mal etwas wie einen Schmerzstich im Herzen.
Es war der erste, aber ganz und gar nicht der letzte.
Wenn ich ins Schulzimmer trete, spüre ich jedes Mal: Die haben über dich gesprochen. Grüppchen lösen sich sogleich auf, alle wenden sich mir zu, grüßen, mustern mich prüfend. Seit sie zusammen im Skilager waren, haben sich meine Mitschüler noch mehr zu einer Einheit verriegelt, ich gehöre da nicht mehr dazu. Ich komme mir wie auf den Mond geschossen vor. Dass ich keine Lust auf Skifahren und Blödelabende habe - das müssten sie doch verstehen, denke ich. Früher, da bildeten wir eine so lustige Clique. Eigentlich wären Jungs und Mädchen in Zürich in den Oberstufen getrennt. Als Versuch hat das Schulamt in unserm Schulhaus erstmals gemischte Klassen bewilligt. Uns hat das von Anfang an gepasst. Es läuft einfach mehr jetzt. Karin, Bäbs und ich fanden in Noldi und Tonio sogleich Superkollegen. Später kam dann noch Pit dazu. Aber so ganz hat er den Schritt zu uns nie gemacht, da war immer so etwas wie eine Grenze, und ich glaube, die andern haben ihn vor allem toleriert, weil er mein Freund war. Zu sechst gingen wir ins Schwimmbad, verbrachten gemeinsam Diskutierabende oder hockten uns mal in ein Kino. Pits Tod hat alles verändert.
Karin hat ihren Du-armes-Kind-Blick nun verloren, Bäbs ihr Katastrophengesicht abgelegt, Tonios Krankenwärterstimme klingt wieder normal und Noldi - ja, der weicht mir sogar aus. Sie haben mich, will’s mir scheinen, wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen. Am liebsten würde ich mit der Schule aufhören. Ich will ja sowieso nicht studieren, was brauche ich da die Matura.
Das habe ich heute Morgen beim Frühstück Mam gesagt. Sie saß so kuschelig verschlafen hinter dem Tisch und schlürfte ihren Kaffee, genau der richtige Zeitpunkt, um ihr mitzuteilen, dass ich vom Gymnasium will, um zu arbeiten - sie müsste eigentlich froh sein, wenn ich bald einen Beruf habe und nicht mehr so teuer bin - Paps braucht ja für seine neue Familie enorm viel Geld und steuert für uns wenig bei. „Ich glaube, Mam, ich werde aus der Schule austreten und eine Buchhändlerlehre machen“, sagte ich also.
Und Mam, die eben noch so schön verschlafen war, setzte ihre Kaffeetasse so brüsk ab, dass der Kaffee über den Rand schwappte und ihren weißen Morgenrock versaute. Aber das schien ihr gleichgültig zu sein.
Ruhig sagte sie: „Das kommt nicht in Frage. Du wirfst nicht alles hin, dieses Jahr bringst du jetzt über die Runden. Und wenn du danach noch Buchhändlerin lernen willst - okay.“
Okay, so wie sie das immer sagt, in ihrem Tonfall, ärgert es mich. Soll wohl jugendlich wirken. Vermutlich hätte ich gar nicht viel erwidert, wenn sie nicht eben diesen Ausdruck verwendet hätte, dieses lässige Okay.
„Das ist mein Leben!“, wandte ich zornig ein. Stimmt doch auch.
„Vorläufig bist du noch meine minderjährige Tochter und ich habe da auch mitzureden“, beharrte Mam.
Idiotisches Argument, das kann sie doch in dieser Zeit einfach nicht mehr bringen, das gehört in die Großmutter/Großvater-Zeit. Morgen schon hätte ich wohl einen Job und könnte mir sogar ein Zimmer mieten, das weiß sie ganz genau. Und gerade wollte ich ihr dies alles mit Schwung vor die Nase knallen, da meinte sie gelassen: „Du kannst, auch wenn du die Schule verlässt, nicht vor dir selbst davonlaufen. Dich musst du nämlich mitnehmen, auch in eine Buchhandlung oder sonst in einen Job, der dir vielleicht vorschwebt.“
Neuerdings ist Mam auf einem Psychologietrip. Sie glaubt, sie könnte mir mit einer Lupe in die Seele schauen, bloß, weil sie ein paar Psychologiebücher gelesen hat und einige Kurse besucht. Das Eklige ist, dass ich ihr nicht gewachsen bin, wenn sie mit diesem Kram kommt.
Ich werde dann nur aggressiv:
„Grübelst du wieder in meiner Seele herum?“, fragte ich spöttisch. „Hinterfrag doch erst mal dich selbst, bevor du deine Tochter sezieren willst, verdammt noch mal!“
Dann bin ich aufgestanden, die gemütliche Stimmung war ohnehin zum Teufel, und Mam rieb mit einem Lappen an ihrem Morgenrock herum und sagte schließlich ruhig: „Du fühlst dich doch ganz einfach in deiner Klasse nicht mehr wohl, das ist der Punkt. Es ruft dich niemand mehr an, es besucht dich keiner mehr, offenbar machst du es mit deinen Freunden wie mit mir: Du lässt niemanden mehr an dich ran, blockst alles ab, bist kalt und abweisend wie ein Eisberg.“
In diesem Moment hätte ich Mam schlagen können. Ich schmetterte die Tür hinter mir zu und setzte mich in mein Zimmer. Wenigstens dort fühle ich mich meist noch wohl. Mein Nest. Meine Burg. Der flauschige Teppich, die bunten Vorhänge, der Bettüberwurf, den ich selbst gehäkelt habe. Meine Stofftiere auf dem Schrank und die Poster von Phil Collins an der Wand.
Und über dem Schreibtisch zwei der Bilder, die Pit gemalt hat. Nichts sonst: nur seine Bilder.
Pits Zimmer sah völlig anders aus, karg und lieblos wie eine Mönchszelle. Dabei schwimmen seine Eltern in Geld. Als ich es zum ersten Mal sah, bin ich erschrocken: eine Matratze am Boden, schneeweiße Wände, kein Teppich, keine Vorhänge. Auf seinem Schreibtisch jedoch ein wüstes Durcheinander. In der hellsten Ecke beim Fenster eine Staffelei und daneben, auf Zeitungspapier, Farbtuben und Büchsen.
„Möchtest du es dir nicht etwas gemütlicher machen?“, habe ich Pit gefragt. Da hat er sich in seinem Zimmer umgesehen.
„Nein“, hat er schließlich gesagt. „Du machst dich nur abhängig mit Komfort, mit zu vielen persönlichen Dingen.“
Ich habe das zwar nicht so recht begriffen, ihm dann aber natürlich doch zugestimmt aus Angst, er könnte mich sonst kindisch finden.
Pits Bilder an der Wand - merkwürdig, er ist tot, doch seine Bilder hängen über meinem Schreibtisch, als wäre nichts geschehen. Dass Malen sein Hobby war, wusste die ganze Klasse. Ich glaube bald, er war so etwas wie ein Universalgenie. Im Zeichnen war er sehr begabt, der Münger konnte sich nicht satt sehen an seinen Werken.
Wenn ich jetzt darüber nachdenke, war dies vielleicht eines von Pits Problemen. Er wollte auf die Kunstgewerbeschule gehen, seine Eltern sahen ihn aber als Mediziner. Da gab’s keine Diskussion. Als ich mal mit Pit darüber geredet habe, sagte er resigniert: „Na, ich werde wohl Medizin studieren müssen.“
Da bin ich fast aus der Haut gefahren, weil ich mir absolut nicht vorstellen kann, dass Mam mich in einen Beruf zwingen würde, der mir keinen Spaß macht. Sie hat andere Fehler, aber diesen sicher nicht.
„Mensch, Pit, wenn du lieber in die Kunstgewerbeschule gehen möchtest, dann sag das doch deinen Eltern einfach!“, wunderte ich mich. „Die können dich doch nicht zwingen, Arzt zu werden!“
Pit hat mich bloß angesehen. Plötzlich sagte er brüsk: „Das kannst du nicht verstehen, Niki, reden wir lieber über etwas anderes!“
Ehrlich, ich begreife es nicht, auch jetzt noch nicht. Ich habe dann später einmal mit Mam darüber gesprochen. Sie kann gut zuhören, unterbricht einen nicht ständig, überlegt, bevor sie antwortet, während ich immer hitzig dreinfahre. Sie meinte nachdenklich: „Doch, das kann ich irgendwie verstehen. Ich habe Pits Eltern schon an Elternabenden erlebt, sie wirken ungeheuer stark und dominierend. Ein sensibler Mensch kann da leicht unter die Räder geraten. Pit scheint labil zu sein, er hat wohl einfach nicht die Kraft, sich gegen die zwei aufzulehnen. Vielleicht kannst du ihm helfen dabei?“
„Wenn ich das jetzt niederschreibe, beschleicht mich ein eigenartiges Gefühl. Pit helfen… habe ich das getan? Habe ich überhaupt wahrgenommen, dass er Hilfe brauchte? Selig verliebt habe ich ihn durch Galerien und Museen begleitet, habe ich mich über die verschiedenen Kunstrichtungen aufklären lassen, habe ich ihm Modell gesessen, wenn er malen wollte, mal im Profil, mal von vorn, mal nackt, damals, als seine Eltern auf einem Kongress waren. Allein, das durfte niemand wissen. Die hätten sich sonst was weiß ich vorgestellt. Dabei: Pit hat konzentriert vor seinem Block gesessen, während ich fröstelnd auf seiner Matratze lag und mir blöd vorkam, vielleicht hatte ich gedacht - oder gehofft -, dass er mich wenigstens schön finden würde, ein bisschen streicheln oder so, aber Pit betrachtete mich, als wäre ich eine Puppe, manchmal kniff er sachlich die Augen zusammen und nahm mit dem Bleistift Distanz, und als mir der Arm einzuschlafen begann und ich jammerte und die Stellung verändern wollte, da wurde er sogar ärgerlich. Nichts von Romantik oder Erotik. Nach einer Stunde erst sagte er kühl: „Du kannst dich wieder ankleiden.“ Und dann setzte er sich zu mir auf die Matratze und zeigte mir seine Zeichnung. Ich fand sie enorm, aber er war nicht zufrieden mit sich.
„Was ich noch alles lernen muss!“, seufzte er. Und plötzlich warf er den Zeichenblock in die Ecke. „Nichts muss ich lernen!“, brüllte er. „Nichts! Außer Physik, Chemie und Anatomie!“
Ich habe mich nie an Pits Stimmungswechsel gewöhnen können. Auch damals zog ich mich sogleich erschreckt zurück, doch als Pit mich dann so verstört dahocken sah, nahm er mich in die Arme, strich mir das Haar aus der Stirn und begann mich zu küssen. Und schließlich lagen wir auf der Matratze, draußen rauschte der Wind in den Bäumen, es war schön, mein Gott, es war gut, und wenn ich nicht meine Tage gehabt hätte, hätten wir wohl schon damals zum ersten Mal miteinander geschlafen.
Diese Erinnerungen - sie schleichen sich durch Hintertüren immer wieder in meinen Kopf, in mein Herz. Ich will sie nicht haben. Manchmal schlage ich mit der Stirn an die Wand, bis es schmerzt. Vergessen, alles vergessen!
Und nun kommt Mam also plötzlich mit ihren autoritären Ideen.
Ich soll die Matura machen, nochmals ein, zwei Jahre in diese Scheißklasse gehen. Was ist bloß mit ihr los? Das ist sonst nicht ihre Art. Verhält sie sich letztlich nicht genau gleich wie Pits Eltern, die von ihrem Sohn eine Akademikerlaufbahn erwarteten? Pit wäre gerne Grafiker geworden und durfte nicht. Ich würde gerne aus der Mittelschule austreten und darf nicht. Voila! Mit diesem Argument kann ich Mam vielleicht kleinkriegen. Schließlich fand sie das Verhalten von Pits Eltern auch nicht in Ordnung. Ich muss Mam mit Logik begegnen, mir jeweils vor einem Gespräch überlegen, was ich sagen will.
Oder es Rolf stecken. Um mir zu schmeicheln, verbündet er sich oft mit mir.
Nein, ich glaube, das nützt auch nichts. Ich muss das ohne Hilfe durchboxen: Ich will nicht mehr länger zur Schule gehen.
Weg von dieser Klasse, die mich ausgestoßen hat. Weg von Pits leerer Bank mit den Kerzentropfen.
Einfach weg, am liebsten würde ich mich quer durch die Erdkugel buddeln und in Australien dann wieder auftauchen, weit weg von allem und allen.
Paps hat angerufen. Was ich mir zum Geburtstag wünsche. Übermorgen habe ich Geburtstag. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Eigentlich wünsche ich mir nichts; oder: Was ich mir wünsche, kann Paps mir nicht schenken.