Herausgegeben von Leah Odze Epstein &
Caren Osten Gerszberg
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch
von Nina Schiefelbein
Für unsere Mütter
Odze Epstein, Leah & Osten Gerszberg, Caren (Hrsg.): Trinkende Frauen
Erste Auflage 2018
Originalausgabe:
„Drinking Diaries. Women serve their stories straight up.“
Seal Press, Berkeley, California 2012
Deutsche Ausgabe:
© 2018 Louisoder Verlagsgesellschaft mbH, München
Übersetzung: Nina Schiefelbein
Lektorat: Merle Gith
Korrektorat: Ilona Buth
Umschlaggestaltung: Regina Berg-Esmyol
Satz: Fotosatz Amann, Memmingen
Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
Printed in Germany
ISBN: 978-3-944153-44-5
eISBN: 978-3-944153-45-2
www.louisoder-verlag.de
Vorwort
Teil 1 Kindheit
Ich will keine Schokolade!
Acht Autos Schrott, eins hatte Glück
Pam Houston
In Rum getränkt
Leah Odze Epstein
Auf ewig dreizehn
Susan Henderson
Ein (fast) alkoholfreies Collegeleben
Anna Klenke
Mein Flachmann
Priscilla Warner
Teil 2 Beziehungen
Auf uns!
Wein und Selters
Elissa Schappell
Mein erster nüchterner Kuss
Adrienne Edenburn-Macqueen
Der süße Duft der Macht
Sari Botton
Es. Muss. Sein.
Becky Sherrick Harks
Runner’s High
Eva Tenuto
Teil 3 Kultur und Gesellschaft
Von Baileys bis Manischewitz
Meine Damen und Herren: die fabelhaften Slur Girls!
Laurie Lindeen
Man-o-Manischewitz!
Daphne Merkin
Veni, vidi, bibi (Ich kam, ich sah, ich trank)
Helene Stapinski
Eine chinesische Amerikanerin: Trinken in Ost und West
Emma Kate Tsai
Die Mutter aller Sünden
Asra Q. Nomani
Teil 4 Familie
Im Zugzwang
Mein Vater, mein Trinkkumpan
Ann Hood
Danke, dass ihr kifft, Kinder!
Jacquelyn Mitchard
Mein Familienerbe
Caren Osten Gerszberg
Wie der Vater, so die Tochter?
Liza Monroy
Im Blut
Joyce Maynard
Durst
Samantha Dunn
Was ist schon dabei?
Eine Lehrstunde für Schulkinder und ihre Eltern
Laura Jofre
Teil 5 Bekenntnisse
Zu viel ist kaum genug
Halb sieben
Kathryn Harrison
Die Babyparty
Lianne Stokes
Der Rückfall
Ann Leary
Mein Name ist Amy F.
Amy Ferris
Der Rübenkeller
Rita Williams
Trinken als wahrer Beruf
Jane Friedman
Nachwort
Kontake
Autorinnen
Über die Herausgeberinnen
Dank
Bitten Sie irgendeine Frau, die Sie kennen, einmal etwas tiefer in ihrer Erinnerung zu graben, und sie wird eine Geschichte übers Alkoholtrinken zutage fördern. Egal, ob man selber welchen trinkt oder nicht: Alkohol ist ein einflussreicher Bestandteil unseres Lebens, so wie Essen oder das Internet. Die Welt ist davon durchtränkt, sie schwimmt darin. Wir begegnen Alkohol, wo wir gehen und stehen – zu Hause oder bei der Firmenfeier, beim Date oder beim Mädelsabend, bei der Happy Hour oder am Spielfeldrand. Sogar da, wo Alkohol vermeintlich keine Rolle spielt, ist er oft im Hintergrund dabei – quasi in seiner Abwesenheit spürbar.
Wir trinken aus verschiedenen Gründen Alkohol: um den Durst zu stillen, um zu entspannen, weil er uns schmeckt, um ein Essen abzurunden, weil wir süchtig danach sind, zur Selbstmedikation, als Teil einer Zeremonie oder eines Rituals, um zu feiern oder um zu trauern. Wir trinken, wenn wir glücklich sind. Wir trinken, wenn wir unglücklich sind. Und dann gibt es noch die Abstinenzler, für die das Nicht-Trinken genauso ein Thema sein kann wie für andere das Trinken.
Unabhängig davon, ob wir freiwillig oder gezwungenermaßen Alkohol trinken, wird selten über seine alltägliche Präsenz gesprochen. Es ist leicht, über einen Promi zu lästern, Witze zu reißen oder unmäßiges Trinken als Krankheit zu bezeichnen. Über Extrembeispiele von Alkoholsucht – von Amy Winehouse und Lindsay Lohan zu Whitney Houston und Diane Schuler – wird ausgiebigst berichtet, mit dem Effekt, dass unsere Kultur der Anklage und Schuldzuweisung in Bezug auf das Thema Frauen und jede Art des Trinkens noch zunimmt, wie Aufstieg und Fall der Cocktail Mom beweisen: Stefanie Wilder-Taylor schrieb höchst erfolgreiche Bücher und Kolumnen darüber, dass man auch als dreifache Mutter Spaß im Leben haben und dann eben nachmittags Wein trinken kann – bis sie öffentlich bekennen musste, dass sie ein Alkoholproblem hat. Kein Wunder, dass Frauen ihre Geschichten für sich behalten.
Unser Ziel – bei dem Blog „Drinking Diaries“ genauso wie bei diesem Buch – war es, die Geschichten von Frauen aus den Besenkammern hervorzuholen. Es gibt zahlreiche Autobiografien von trockenen Alkoholikerinnen und zahllose Bücher über alle Arten von Frauenthemen – von Liebe und Ehe bis zu Familie und Karriere –, aber niemand nimmt sich des riesigen Spektrums an Geschichten zum Thema Frauen und Alkohol an. Wie beeinflussen die Erfahrungen, die eine Frau mit Alkohol gemacht hat – gute wie schlechte –, ihren Umgang mit sich selbst, mit ihrem Partner, ihren Kindern, ihren Freunden, ihrem Umfeld? Welchen Einfluss hat Alkoholkonsum – unser eigener und der von anderen – wirklich auf unser Leben gehabt?
Es liegt in der Natur der Sache, dass man diese Geschichten nicht so ohne Weiteres erfährt. Beim Small Talk kommen sie selten zur Sprache. In diesem Buch aber geht es um die Details, um die wirklich tiefgehenden Fragen, die große und grenzenlose Bandbreite an Erfahrungen mit Alkohol. Authentisch und real erzählen die Geschichten von Frauen verschiedenster Altersgruppen, Hintergründe, Perspektiven und Kulturen. Sie gehen auf alle Aspekte des Trinkens ein: die beschämenden, die flüchtenden, die befreienden, die feiernden, die sexuellen und so weiter.
Die Idee zu diesem Buch über Frauen und Alkohol entstand an einem … alkoholisierten Abend. Wir zwei sind Freundinnen und Nachbarinnen, die gern eine Flasche Wein auf den Tisch stellen, wenn die Familie zum Abendessen zusammenkommt. So fing alles an.
Leah
Als der Fotograf kam, um unsere Einschulungsfotos zu machen, zog mir meine alkoholsüchtige Mutter mein Matrosenkleid falsch herum an. Sie hörte mit dem Trinken auf, als ich neun war. Als ich vierzehn wurde, war meine Schwester auf Entzug. Ich habe meine halbe Jugend in Selbsthilfegruppen verbracht, und obwohl ich lieber mit meinen Freunden rumgehangen hätte, faszinierten mich all diese Lebensgeschichten von Absturz und Wiederauferstehung. Als Highschool-Mädchen und College-Studentin, als Schriftstellerin und Vollzeit-Mutter habe ich die ganze Bandbreite von der Abstinenzlerin bis zur Komasäuferin durchexerziert.
Caren
Ich habe nie weiter darüber nachgedacht, dass ich immer eine Flasche Wein in meinem Kühlschrank hatte, griffbereit gleich neben der Milch, genau wie meine Mutter. Für meine europäischen Eltern war Alkohol zum Abendessen selbstverständlich, und meine Mutter – eine Französin, die als „verstecktes“ Kind den Holocaust überlebte – prahlte oft damit, wie sie ihre amerikanischen Freunde mit dem Genuss eines Gläschens Wein am Nachmittag schockte. Später kamen die Kriegsdämonen meiner Mutter zurück, begannen, sie zu verfolgen, und ihr geselliges Trinken wurde zur Sucht. Seitdem treibt mich – eine Liebhaberin von Wein in Maßen – die Frage um, welche Rolle der Alkohol für mich spielt.
Gespräche über unsere Mütter führten zu Diskussionen über unseren eigenen Umgang mit Alkohol – die Höhepunkte, die Tiefpunkte und alles dazwischen. Und dann fragten wir uns: Gibt es vielleicht noch andere Frauen, die über dieses Thema reden wollen?
Also schufen wir ein offenes Forum für Frauen, die Lust hatten, ihre Geschichten mit anderen zu teilen – ohne dazu jemanden in einen von Neonröhren erleuchteten Kellerraum einer Kirche bitten zu müssen. Seit wir den Blog „Drinking Diaries“ 2009 ins Leben riefen, haben ihn mehr als eine Viertelmillion Leserinnen jeder Altersgruppe und aus allen Teilen der Welt besucht.
Was wir dabei ans Licht gebracht haben, ist ein weites Spektrum an Typen und Einstellungen hinsichtlich des Trinkens, das im großen Gegensatz steht zu der klaren Linie, die oft zwischen „den Trinkerinnen“ und „uns anderen“ gezogen wird. Es zeigt sich, dass „wir anderen“ eine sehr vielfältige Gruppe sind – Abstinenzlerinnen, Geselligkeitstrinkerinnen, leidenschaftliche Trinkerinnen; Töchter und Mütter von Alkoholikerinnen, von Abstinenzlerinnen und von angehenden Trinkerinnen; Jugendliche und Leute in den besten Jahren; Asiatinnen, Jüdinnen, Italienerinnen, Afroamerikanerinnen und Musliminnen. Die Bandbreite ist unendlich groß.
Die 28 Geschichten von bekannten wie auch unbekannten Autorinnen, die wir hier zusammengestellt haben, sind hinsichtlich ihrer Inhalte – von der Huldigung über das Familiendrama bis zur Lebensbeichte – Ausdruck dieser Vielfalt. In jedem Text hat der Alkohol seine Spuren hinterlassen.
Das Buch beginnt mit dem Teil „Kindheit“, in dem die Autorinnen der Frage auf den Grund gehen, welche Auswirkungen das Trinken – ihr eigenes oder das anderer – auf sie als Heranwachsende hatte. Kindheit und Jugend sind Zeiten, in denen man die Erwachsenen beim Trinken beobachtet und selbst beginnt, mit Alkohol zu experimentieren. In manchen Fällen schlägt die Art und Weise, wie Alkohol uns in jungen Jahren prägt, mit aller Macht ins Erwachsenenleben durch. In anderen führen wilde Teenager-Jahre zu umso größerer Reife.
Die Beiträge zum Thema „Beziehungen“ in Teil 2 zeigen, wie Alkohol die Bindungen zwischen Freunden oder Liebespaaren fördert oder behindert. Je nach Persönlichkeit wirkt Alkohol mal aphrodisierend, mal zerstörerisch. Und eine Beziehung ist nicht selten eine sehr komplexe Gleichung, bei der das Addieren oder Subtrahieren von Alkohol die Waage zum Kippen bringen und das Wesen oder Schicksal der Beziehung grundlegend verändern kann.
Kultur und Gesellschaft, um die es in Teil 3 geht, bestimmen ganz wesentlich unser Verhalten, unsere Gewohnheiten und Einstellungen – auch in Bezug auf Alkohol. Wir glauben, dass wir selbst entscheiden, was, wann, wie viel und ob wir überhaupt trinken, aber oft wird es uns durch die sozialen Verhältnisse vorgegeben. Wer in einer Umgebung aufgewachsen ist, in der Alkohol tabu war, für den ist sein eigenes Trinkverhalten später vielleicht mit Scham besetzt. Jemand, in dessen Umfeld mit Genuss getrunken wurde, hat vielleicht eine völlig sorglose Einstellung dazu, sich allabendlich sein Gläschen einzuschenken. Egal, ob täglich, hin und wieder oder nie. Ob Bier, Wein, Whiskey, koscherer Manischewitz oder Gin. Kultur und Gesellschaft spielen immer eine Rolle.
Und nicht zu vergessen die Familie, die in Teil 4 zum Thema wird. Wir lieben sie, wir fürchten sie, ahmen sie nach, finden sie peinlich, laufen vor ihr davon und kommen oft zu ihr zurück nach Hause. Egal, ob wir den Lebensstil unserer Eltern übernehmen oder ablehnen, ob wir unseren Kindern und anderen einen Weg weisen, wie sie zukünftig mit Alkohol umgehen, oder ob wir die Angewohnheiten unserer alt werdenden Eltern neu bewerten: Es ist unbestritten, dass die Familie einen wesentlichen Einfluss auf unsere Einstellung gegenüber Alkohol hat.
Den Abschluss des Buches bildet Teil 5, „Bekenntnisse“, in dem die Verfasserinnen die feine Grenze ausloten zwischen Abgeklärtheit und Abhängigkeit. Zwischen Schweben und Schwanken, zwischen Kick und Kater. Alkohol kann uns an einen besseren Ort führen, uns aus der Bahn werfen oder zum Absturz bringen. Am Ende bleibt es immer uns selbst überlassen, die Rolle zu definieren, die Alkohol in unserem Leben spielen soll.
Wenn es einen roten Faden gibt, der dieses Buch durchzieht, dann ist es die Erkenntnis, dass das Thema Alkohol bei sehr vielen Frauen emotional aufgeladen ist. Nicht unbedingt negativ, aber eben aufgeladen. Die Geschichten in diesem Buch bringen die unterschiedlichen Beziehungen zum Ausdruck, die Frauen zu Alkohol haben. Als zwei Frauen, die sich die Frage nach dem Einfluss des Alkohols auf ihr Leben gestellt haben, fühlten wir uns verpflichtet, das Projekt der „Drinking Diaries“ – vom Blog bis zum Buch – mit unseren eigenen Geschichten beginnen zu lassen. Dann baten wir andere Frauen um ihre Geschichten. Und hier sind sie nun.
„Wie die meisten Frauen erinnere ich mich an meinen
ersten Drink bis ins kleinste Detail.“
Es ist ein paar Jahre, nachdem wir von dem Haus mit dem überdachten Durchgang in Trenton in das Haus mit dem guten Rodelberg in Bethlehem umgezogen sind, das heißt, dass ich ungefähr sechs Jahre alt sein muss. Wir kommen von einem Besuch bei den Sullivans in unserer alten Gegend in New Jersey. Zirpende Grillen, Gin Tonic und das Pfffffffhhhh beim Öffnen einer neuen Dose Nussmischung von Planters zum Abendessen – wenn man wie die Sullivans sechs Kinder hat, muss jeder für sich selbst sorgen.
Ein warmer Sommerabend, wir fahren über die Staatengrenze nach Hause. Eine dunkle Nacht, kein Mond, die Fenster des Caddys (weiß mit schokoladenbraunen Sitzen) geöffnet, der süße Geruch der Heckenkirsche in der Luft. Ich liege ausgestreckt auf der Rückbank – Sicherheitsgurte waren damals noch kein Thema –, während meine Eltern sich leise über das viele Geld unterhalten, das die Sullivans haben und wir nicht. Die faltigen Augenlider meines Vaters blinzeln wie die einer Schildkröte – und fallen immer weiter zu. Kaum vorstellbar, dass er durch den Schlitz überhaupt noch etwas sieht.
Dann Stille, der Ruf eines Habichts oder einer Schleiereule – irgendeines Nachtvogels auf der Jagd –, und plötzlich werde ich auf den Boden vor den Rücksitzen geschleudert, dann hochgeworfen, sechs-, sieben-, achtmal, jedes Mal knalle ich hart auf den Huckel in der Mitte. Der scharfe Geruch von Maisstaub füllt die Luft. Das Brechen der Strünke, als der Caddy über eine letzte Feldreihe hoppelt und schließlich zehn Reihen tief in dem Maisfeld stehen bleibt, der Motor stottert, spuckt heißen Dampf, erstirbt. Und mein Vater ruft mit einer Stimme so voller Überzeugung, dass meine Mutter es nicht wagt, ihm zu widersprechen: „Hast du das gesehen? Die Straße hat einfach aufgehört. Die Straße hat einfach aufgehört. Direkt vor meinen Augen!“
Dies hier passiert an der ersten Ampel, zu der wir kommen, gleich nachdem wir den Parkplatz der Christi-Geburt-Kirche verlassen haben. Meine Mutter macht dort den Altardienst, was natürlich einerseits gut ist aus Seelenrettungsgründen, aber andererseits auch schlecht. Sie bringt es nicht über sich, den ganzen übrig gebliebenen guten (und gesegneten) Wein wegzuschütten, und kippt ihn in der Sakristei in sich rein, wenn der Pastor und die Ministranten weg sind.
Ich bin zu klein, um richtig über das Armaturenbrett gucken zu können (noch ein Jahrzehnt, bis Kindersitze im Auto Vorschrift werden), deshalb sehe ich den weißen Lieferwagen – auf dessen Seite in fröhlichen, geschwungenen Buchstaben ENTENMANN’s steht – nicht, der bei Gelb über die Kreuzung brettert und die vordere rechte Stoßstange des roten Plymouth Fury meiner Mutter wegbügelt. Unser Wagen dreht sich und dreht sich, bis er an einer Ansammlung von Pappeln im Vorgarten eines Bestattungsunternehmens zum Stehen kommt. Meine Mutter springt aus dem Auto und schreit: „Tut mir leid, tut mir leid!“ – ein so großer taktischer Fehler, dass sie vorübergehend ihren Führerschein verliert und sechs Wochen lang Fahrstunden nehmen muss, um ihn wiederzubekommen. Und das, obwohl die Nelson-McGoverns, die direkt hinter meiner Mutter fuhren und die ganze Geschichte aus ihrem Auto beobachteten, sagten, dass es mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit die Schuld des Bäckereiwagenfahrers war.
Heiligabend 1972. Woran ich mich nicht erinnern kann, ist, warum ich überhaupt mit meinem Vater in der Kneipe bin und warum meine Mutter nicht dabei ist. Ich schätze, wir sind unter dem Vorwand rausgegangen, noch ein paar Last-minute-Weihnachtsgeschenke kaufen zu müssen, und dann hier gelandet, wie so oft.
Eine Kneipe um vier Uhr nachmittags an Heiligabend hat etwas Deprimierendes. Vielleicht liegt es an dieser einen Begebenheit, dass ich Kneipen und Weihnachten nicht mag. Aber jetzt sind wir auf dem Nachhauseweg. Es ist dunkel, aber es ist noch nicht lange dunkel, vielleicht sechs Uhr. Wir haben Eisregen, natürlich. Wir haben immer Eisregen an Weihnachten in Bethlehem, Pennsylvania.
Als wir auf den Freeway auffahren, für die paar Meilen bis zu unserer Ausfahrt, ist der Boden eine einzige glänzende, schwarze Eisfläche. Ohne die vier Camparis hätte mein Vater vielleicht die Notwendigkeit erkannt, in der Kurve der Auffahrt abzubremsen, aber noch bevor wir den Freeway erreichen, schlittern wir seitwärts, über die erste Fahrbahn hinweg, die zweite, über die Böschung und durch die mickrige Leitplanke auf den Mittelstreifen, der ein paar Meter bergab führt, um mit den Fahrbahnen des Gegenverkehrs auf eine Höhe zu kommen. Dieser Abhang, in Kombination mit dem starken Seitwärtsdrall, bringt den Caddy (diesmal ein goldener mit beigefarbenen Sitzen) dazu, sich zu überschlagen, ein Mal und dann noch ein halbes Mal, den Grashang runter und auf die Gegenfahrbahn, noch ein, zwei, drei Überschläge, über den Freeway hinaus und in den Monocacy Creek hinein.
Es ist die Tatsache, dass Weihnachten ist, die – unter den irischen Polizisten und den Sanitätern – als Erklärung herangezogen wird, warum der Cadillac im Feiertagsverkehr vier Fahrbahnen überqueren konnte, ohne mit einem anderen Fahrzeug zusammenzustoßen. Und warum mein Vater und ich, obwohl der Wagen komplett zerquetscht wurde (die Front bis zum Armaturenbrett wie ein Akkordeon auf ein Drittel ihrer Länge gefaltet, alle vier Reifen zerfetzt und auch das letzte bisschen Glas zersplittert, als ob jemand mit dem Vorschlaghammer am Werk war) und keiner von uns beiden angeschnallt war, warum wir beide beinahe ohne einen Kratzer aus diesem Edelschlitten-Trümmerhaufen herausgeflext wurden. Leute in der sterbenden Stahlstadt führen es auf die gute alte Detroit-Qualität zurück. „Jedes andere Auto außer einem Caddy …“, heißt es dort bis zum heutigen Tag.
Die Sonne geht auf über den Pocono Mountains, und ich kann das sehen, weil die Morgans mich eingeladen haben, mit ihnen Ski fahren zu gehen. Sie haben drei Töchter: Greta, Anna und Hilda. Und obwohl ich Greta am liebsten mag und sie seit der zweiten Klasse meine beste Freundin ist, liebe ich sie alle: den großen amerikanischen Vater, der ein bisschen aussieht wie der Vater in The Brady Bunch, die kleine, resolute deutsche Mutter mit ihrem verschroben-liebenswerten Akzent, den wuseligen Springer Spaniel und den sandfarbenen Kater, der den Kanarienvogel im Auge behält, der die Mutter im Auge behält, während sie Brathuhn, Spätzle und Erbsen kocht. Ich traue mich nicht, es laut auszusprechen, wie sehr ich mir wünsche, dass diese Familie meine Familie wäre, aber alle wissen es, und sie lassen mich bei ihnen sein. Bei den Morgans zu Hause trinkt niemand etwas anderes als frische Milch, die von einer Molkerei in der Nähe in Glasflaschen gebracht wird.
An diesem Morgen stapeln wir uns hinten in dem großen blauen Kombi, ein Haufen aus Skijacken, Fellstiefeln, Schlauchschals und Mädchen, in regem Austausch über die aktuellen Geschehnisse bei General Hospital – einer Serie, nach der Mrs Morgan süchtig ist (ihr einziges Laster, wie sie gerne sagt, und das stimmt!). Wir dürfen sie jeden Tag nach der Schule mit ihr zusammen gucken. Auf dem Parkplatz vom Skigebiet gibt es heißen Kakao aus der Thermoskanne für uns zum Aufwärmen. Und es gibt Erdnussbutter-Bananen-Sandwiches – die Ränder abgeschnitten – und kleine Tüten Chips und Gummibärchen, denn wer will schon Skigebietspreise für einen trockenen Hamburger ausgeben?
Wir jedenfalls nicht! Wir wollen hundertmal den Hang runterdüsen, uns gegenseitig in den Wald jagen und wieder hinaus, Skilift fahren, bei Mr Morgan zwischen den Beinen mitfahren und auf dem Heimweg alle Strophen von American Pie singen. Wenn ich mit den Morgans unterwegs bin, geht nie etwas schief.
Aber jetzt folgt der Wagen einer großen S-Kurve Richtung Berge, und als er einen Straßenabschnitt erreicht, der noch im Schatten liegt, kommt er auf dem versteckten Eis (ist es jemals Sommer in Pennsylvania?) ins Rutschen, zuerst noch geradeaus, aber dann fängt er an, sich zu drehen. Mr Morgan schreit: „Haltet euch fest, Kinder!“, eindringlich, aber auch gut gelaunt wie immer, und in diesem Augenblick geraten wir richtig ins Kreiseln, einmal, zweimal, dreimal rum. Gleichzeitig werden wir langsamer, bis das Auto im zehn Zentimeter tiefen Schnee an der Böschung rückwärts zum Stehen kommt, wodurch wir die Kettenreaktion beobachten können, die unser Brems-, Dreh- und Eismanöver ausgelöst hat: Fünf Autos, zwei mittelgroße Lieferwagen, ein Sattelschlepper und ein Bus, der zu den Niagarafällen unterwegs ist, drehen sich und prallen voneinander ab wie in Zeitlupe, bevor sie in den verrücktesten Positionen liegen bleiben, über den ganzen Highway vor uns verstreut.
Nach und nach kriechen die Leute vorsichtig aus ihren Wagen hervor. Der Fahrer des Sattelschleppers kommt zu uns hochgelaufen, um zu sehen, ob wir okay sind, und sagt, dass er über Funk die Polizei gerufen hat, die schon unterwegs ist. Er und Mr Morgan sind sich einig, dass es ein Wunder sei, dass niemand verletzt wurde. Und schon fädeln sich ein paar Autos durch den Hindernisparcours, fahren einfach weiter, ein paar andere haben angehalten, um zu helfen.
Mr Morgan legt den Rückwärtsgang ein, und der schwere Wagen springt an, als wäre nichts gewesen. „Was meint ihr, Mädels, rauf auf die Piste?“
„Ja, ja!“, brüllen wir begeistert.
„Müssen wir nicht auf die Polizei warten, Jim?“, fragt Mrs Morgan. So wie sie den Namen ausspricht, klingt es, als würde ein Hund bellen.
„Wie haben niemanden angefahren“, sagt er, „keiner hat uns angefahren.“
„Wenn wir auf die Polizei warten, ist vielleicht der ganze Tag im Eimer“, meint Greta.
Mr Morgan zuckt fröhlich mit den Schultern, als könne er halt nichts mehr tun, und dirigiert den Wagen in einem riesigen U zurück auf den Highway. Ein bisschen langsamer setzen wir unseren Weg fort Richtung Berg und Skilift.
Meine Mutter hat beschlossen, meinen Vater zu verlassen. Es ist mitten in der Nacht und wir brettern auf dem Interstate 95 gen Süden, irgendwohin, vielleicht Richtung Hilton Head. Wir glauben beide nicht, dass sie es wirklich tun wird – es ist nicht das erste Mal, dass wir uns in dieser Konstellation um genau diese nachtschlafende Uhrzeit in ihrem babyblauen Mustang Cabrio befinden. Aber der Gedanke an Hilton Head hebt trotzdem unsere Laune, verspricht er doch blauweiß gestreifte Markisen, junge Männer in weißem Tennisdress, die um einen Platz auf der Setzliste wetteifern, kultivierte Fisch-Sandwiches, serviert auf der Veranda, dazu hohe, schwitzende Gläser mit Tee.
Meine Mutter ist zu betrunken, um zu fahren. Sie weiß es, und ich weiß es, aber keiner von uns erwähnt es, dieses Mal genauso wenig wie die zwanzig Millionen anderen Male. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, unser Auto – und die paar anderen Autos, die uns um diese Zeit begegnen – mit meinen Gedanken zu dirigieren; die Rehe, die auf die Idee kommen könnten, aus dem dunklen Wald vor uns auf die Straße zu springen; die Polizisten, die vielleicht bemerken, dass unser Auto manchmal die doppelte gelbe Linie streift; und selbst meine Mutter, die die ganze Nacht über zwischen Triumph und Tränen hin- und herschwankt.
Sie hat etwas in der Jackentasche meines Vaters gefunden, und obwohl sie mir so gut wie alles erzählt – viel mehr, als ich mit zwölf wissen müsste –, sagt sie mir aus irgendeinem Grund nicht, was es ist. „Es ist zu furchtbar“, ist alles, was sie dazu von sich gibt, dann wischt sie sich über die Augen und presst den Kiefer zusammen. Im Hinblick auf das, was wir schon alles erlebt haben, fällt mir nichts ein, was auch nur annähernd als „zu furchtbar“ eingestuft werden könnte und trotzdem noch in die Jackentasche meines Vaters passt. Ein String-Tanga? Ein schmieriger String-Tanga? Zehn gebrauchte Kondome? Die abgerissene Brustwarze einer fremdländischen Tänzerin?
Wir kommen an einer Polizeistreife vorbei, und in dem Moment, in dem ich mich umdrehe, um zu sehen, ob deren Scheinwerfer angehen, läuft ein Schäferhund vor den Mustang. Meine Mutter (Gott sei ihr gnädig) weicht heftig nach links aus, und der Hund bleibt verschont, aber wir fahren plötzlich auf nur noch zwei Rädern und dann, klonk!, wieder auf allen vieren, und das Auto steuert direkt auf den Wald zu. Zum Glück sind die Bäume noch jung und bereit, sich aufspalten zu lassen, in Kronen und Stämme, während wir mit der Nase voran die Böschung hinabdonnern. Die Bäume explodieren wie Popcorn um uns herum, bis der Boden auf einer sumpfigen Lichtung wieder eben wird, das Auto zitternd zum Stehen kommt und einsinkt.
„Alles gut, Kleines?“, fragt meine Mutter, wie immer, wenn so etwas passiert, und dann beginnt sie zu weinen wegen was auch immer in der Tasche meines Vaters war. Ich beschwöre den Polizisten, dass er nicht gesehen hat, wie wir von der Fahrbahn abkamen, beschwöre es, noch ein paar Stunden lang dunkel zu bleiben, damit meine Mutter nüchtern werden kann, bevor jemand die kaputten Bäume bemerkt, damit sie ihren Führerschein nicht verliert und wir es, beim nächsten Mal, vielleicht bis nach Hilton Head schaffen.
Ich bin in der Junior High School. Ich tippe auf neunte Klasse wegen meiner Kleidung, irgendwas, was meine Mutter ausgesucht hat, schmaler schwarzer Rock, schwarzer Rolli, roter Blazer. Wir sind mal wieder auf dem Heimweg an einem Altardienst-Sonntag und halten an einem Kiosk, um eine New York Times zu kaufen. Es muss Winter sein, weil meine Mutter im Auto bleiben will und den Motor des MG Midget am Straßenrand laufen lässt, während ich reingehe. Wir müssen uns beeilen, nach Hause zu kommen, bevor mein Vater vom Tennis zurück ist, um irgendwas vor ihm zu verstecken, das weggeräumt sein muss, bevor er wieder da ist; oder vielleicht nur, um mit dem Kochen anzufangen und dafür zu sorgen, dass es aus der Küche lecker duftet – ein Trick, um seinen täglichen, irrationalen Zorn nicht auf uns zu ziehen.
Mit der dicken Sonntagsausgabe unter dem Arm fasse ich nach dem Griff der Autotür und rutsche auf dem Eis aus, die Zeitung fliegt durch die Luft und segelt in Einzelteilen über den Parkplatz, während ich auf den Boden knalle. Meine Mutter lehnt sich über den Beifahrersitz, um die Tür zu öffnen und zu sehen, ob ich mich verletzt habe, und tritt dabei mit ihrem Fuß auf die Bremse. Es ist ein Glück, dass ich nicht ohnmächtig am Boden liege, halb unter dem Auto, denn was sie für die Bremse hält, ist das Gaspedal.
Der Motor des kleinen Autos heult auf, und ich beobachte auf Knien, die halbe Times schon wieder in meinen Armen, wie der Roadster den Bordstein raufspringt, einen Pferde-Schaukelautomaten mitnimmt, in den man eine Münze einwerfen muss, um eine Minute reiten zu dürfen, und ihm zur Rückseite des Geschäftes schiebt. Auf spektakuläre Weise donnert er schließlich in einen riesigen Verkaufsautomaten und erschafft eine Landschaft aus Schokoriegeln, Marshmallows, Tütensuppen und Konservendosen.
Ich bin mit meiner Freundin Sally auf dem Heimweg von der Party einer Studentenverbindung an der Lehigh University. Wir sind noch in der Mittelstufe, aber Sally hat schon einen Führerschein, und wir sind so brave Mädchen – richtige Streber sogar –, dass keiner, am allerwenigsten unsere Eltern, auf die Idee käme, uns an einem verschneiten Freitagabend im Beta-Theta-Pi-Verbindungshaus zu suchen.
Sally fährt das Familienauto, einen taupefarbenen Country Squire mit Holzbeschlägen. Ich weiß nicht, wie viel wir getrunken haben (vielleicht ein bisschen selbst gemachten Eierlikör-Punsch mit Alkohol aus der Apotheke aus einem Blechkanister?). Es kommt mir nicht so vor, als wäre einer von uns wirklich betrunken gewesen. Aber der Glatteis-Faktor spielt wieder mal eine Rolle und die Kürze der Zeit, die bleibt, bis Sally zu Hause sein muss (sie hat eine feste Zeit, ich nicht), und damit die unvernünftige Geschwindigkeit, mit der wir über die winterliche Schnellstraße fahren. Und dann sind da der verkeilt über beide Fahrspuren stehende Sattelschlepper und unsere erstaunten Gesichter, als Sally auf die Bremse tritt und der Wagen nur noch schneller vorwärtszuschießen scheint. Meine Hände sind auf dem Armaturenbrett und ihre auf zehn und zwei Uhr auf dem Lenkrad, genau so, wie der Fahrlehrer es uns beigebracht hat, der immer versucht, uns zu überreden, dass wir ihm einen blasen, während er durch die Serpentinen manövriert (das wird in der Prüfung vorkommen!). Und dann der Moment, in dem wir uns ducken müssen, gleichzeitig, als die Front des Autos unter den Auflieger schlittert, die Windschutzscheibe zersplittert und das Metall kreischt, während der Boden des Sattelschleppers das Dach des Country Squires abschält. Und dann kommt alles zu einem qualmenden, zusammengequetschten Halt, und Sally und ich blinzeln uns mit Glassplittern im Haar an und danken welchem Gott auch immer, der Jugendliche vor ihrer eigenen Dummheit schützt. Der Polizist wird später sagen: „Jedes andere Auto als dieser alte Streitwagen, und wir würden euch ungefähr genau jetzt in Leichensäcke packen.“
Wir fahren für die Zeit zwischen den Jahren mit dem neuen Cadillac (schwarz mit burgunderfarbener Innenausstattung) nach Florida, hören die Sendung „Grüße an die Lieben in der Ferne“ im Radio und lesen laut die Attraktionen vor, die auf den Schildern am Straßenrand stehen. Jetzt, da ich „in dem Alter“ bin, wie mein Vater gern sagt – obwohl meine Mutter und ich nicht wissen, was er damit meint, weil ich erst 16 bin und erst 18 werde, wenn ich mit meinem ersten College-Jahr fast fertig bin –, ist es mein Job, den Barkeeper für meine Eltern zu spielen: Eiswürfel aus dem Eisfach in den Shaker tun, den Wodka eingießen, die Wermutflasche so über die Öffnung des Shakers halten, dass nicht mehr als der Bruchteil eines Tropfens hineinfällt, schütteln, einschenken, mit Olive und Silberzwiebeln garnieren, meinen Eltern die Gläser präsentieren und das so oft wiederholen wie aufgefordert.
Meine Eltern fänden es okay, wenn ich mir selbst auch einen machen würde – sie reden mir sogar gut zu –, aber vom Geruch von Wodka wird mir schwindelig, und vom Rumhantieren mit den Silberzwiebeln wird mir schlecht. Abgesehen davon gibt es so viel Weihnachtsverkehr, den ich nebenbei noch unter Kontrolle behalten muss, dass ich es mir nicht leisten kann, abgelenkt zu sein. Plus, dass ich diejenige bin, die, wenn wir rausgewinkt werden, mit dem Polizisten flirten muss.
Als ich die vielen Bremslichter vor uns sehe, bin ich so sicher, dass mein Vater sie auch sehen muss, dass ich zunächst meinen Mund halte. Man zahlt in meiner Familie einen hohen Preis fürs Sich-vom-Rücksitz-Einmischen, was mir meinen Job als Fahrt-Kontrolleurin besonders schwer macht, weil ich jetzt auch noch meinen Vater mit meinen Gedanken dazu bringen muss, die Bremslichter wahrzunehmen, oder notfalls meine Mutter, weil sie – obwohl auch sie Angst vor ihm hat – noch eher als ich ein „Achtung, pass auf!“ rauslässt. Ein paar weitere Sekunden vergehen, ohne dass er etwas bemerkt, ohne dass sie etwas bemerkt, und mir bleibt nichts anderes übrig als „Bremsen!“ zu brüllen. Es vergeht ungefähr eine weitere Sekunde, in der mein Vater seinen Blick wieder scharf stellt und sieht, dass der Verkehr zum Stehen gekommen ist, aber es ist zu spät, und wir fahren so heftig auf das Auto vor uns auf, dass wir eine Kettenreaktion auslösen: Drei weitere Autos werden jeweils vom Hintermann getroffen, hauptsächlich Blechschäden, bis auf das Auto vor uns, das keinen Kofferraum, und unseres, das keinen funktionstüchtigen Motor mehr hat.
„Halleluja. Warum hast du nicht früher was gesagt?“, meint mein Vater, während meine Mutter erfolglos versucht, die Wodkaflasche ins Handschuhfach zu quetschen, obwohl jeder sehen kann, das sie zehn Zentimeter zu lang ist. Ich nehme sie ihr aus der Hand und stopfe sie in meinen Bad Company-Rucksack, zusammen mit den Oliven und den Silberzwiebeln, kurbele das Fenster runter und schütte den letzten Drink weg, in Erwartung des Polizisten, dessen Sirene wir jetzt hören können, während er uns auf dem Standstreifen entgegenkommt.
Das letzte Highschool-Jahr, kurz vor dem Abschluss. Greta, Anna und ich sind an einem warmen Mai-Samstag auf dem Weg ins Einkaufszentrum. Die Mädels haben das ausgemusterte Familienauto bekommen, den blauen Kombi, auf dessen Rückbank wir so viele Jahre lang gesessen haben.
„Das Ding würdest du nicht mal kaputt kriegen, wenn du damit frontal in eine Eiche fährst“, sagt Mr Morgan, als er Greta die Schlüssel überreicht. Aber es stellt sich heraus, dass er unrecht hat, denn genau das tun wir an diesem Samstagnachmittag – kein Glatteis, kein Alkohol. Unaufmerksamkeit und Unerfahrenheit sind unsere einzigen Ausreden.
Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie wir mitten auf dem frühlingsgrünen Feld gelandet sind. (Halten wir uns, wie so oft, kichernd und quiekend die Bäuche? Bin ich es, wie so oft, die Greta derart zum Lachen bringt, dass sie nicht mehr lenken kann?) Und ich erinnere mich nicht mehr daran, warum der Wagen von all den Orten, an denen er auf dem Feld zum Stehen kommen könnte, direkt in die riesige Eiche fährt. Als ob er wüsste, dass seine Tage gezählt sind und er genau auf dieser Wiese dahinrosten will, während der größte Baum des Landes anscheinend mitten aus seiner Nase herauswächst.
Ich erinnere mich nur an Gretas Gesichtsausdruck, als sie Mr Morgan vom Bauernhaus an der Ecke aus anruft (hundert Prozent traurig, nicht ein bisschen geschockt), und ich erinnere mich an das Lächeln auf seinem Gesicht, als er über das Feld auf uns zuläuft, seine Arme ausbreitet, um Greta zu umarmen, und sagt: „Ich bin so unendlich dankbar, dass euch nichts passiert ist.“
An meinem sechsten Kindergeburtstag war meine Mutter betrunken.
Wir waren kurz zuvor in ein neues Haus gezogen, neue Stadt, neue Schule, deshalb lud ich alle Mädchen aus meiner Klasse zu der Feier ein. Ich plante wochenlang und brachte meine Mutter sogar dazu, mir eine Frisur mit zwei zu Locken gedrehten Zöpfen zu machen, so eine wie mein Idol sie hatte: Cindy Brady, deren Familie auf so unvollkommene Weise vollkommen war, dass ich glaubte, es gäbe sie wirklich. Alles, was ich wollte, war eine Brady Bunch-Familie. Die Bradys hatten genau ein Problem pro Folge, das am Ende auf nette Art und Weise gelöst wurde. Leider war das bei mir zu Hause nicht der Fall, wo die Probleme meiner Mutter jeden Tag mehr und größer wurden.
Wir saßen also bei meiner Geburtstagsfeier zu zehnt in unseren hübschen Kleidern um den Esstisch herum, und mein Vater zündete die Kerzen auf der Torte an. Meine Mutter hatte sie bei ihrer Lieblingsbäckerei gekauft. Glänzende Maraschino-Kirschen thronten oben auf der Sahne der edlen und teuren Schwarzwälderkirschtorte, besprenkelt mit Schokoladenflocken.
Ich war noch zu jung, um ausdrücken oder überhaupt verstehen zu können, wie peinlich mir das Outfit meiner Mutter war, aber Jahre später erinnere ich mich noch an jedes Detail: das indianische Perlenstirnband – keins von diesen schicken, dünnen Pappagallo-Haarbändern, die zu der Zeit so modern waren, sondern eins, das sich über ihre ganze Stirn spannte. Das Jeanshemd, aufgeknöpft, sodass man quasi ihre Brüste sehen konnte. Die Schlaghose, die zwar in der Vogue in Mode war, nicht aber unter den Vorort-Hausfrauen von Bethesda in Maryland, wo wir wohnten. Mit ihrer glatten, blondgefärbten Pagenfrisur fiel meine Mutter unter den anderen Müttern ohnehin auf, die ihr Haar alle kurz und auftoupiert trugen. Und sie war so gar nicht „mama-mäßig“. Sie war dünn – zu dünn – von den vielen Zigaretten, die sie täglich rauchte.
Meine Mutter stand hinter mir, dann stieg sie auf ihren Stuhl und kletterte auf den Tisch. Sie sang: „Happy birthday to you“, und schwenkte ihre Hände wie ein Dirigent. Ich öffnete meinen Mund, um etwas zu sagen, warf einen schnellen Blick auf meine Freundinnen, machte ihn wieder zu und versuchte, mich so klein wie möglich zu machen. Meine neuen Klassenkameradinnen schielten nach oben und sangen mit, fast lautlos, ihre Münder bewegten sich kaum.
Als Lauren, der Star unter den braven, perfekten Mädchen, sich die erste Gabel voll Schwarzwälderkirschtorte in den Mund schob, sanken ihre Mundwinkel nach unten.
Was stimmt nicht?, dachte ich.
„Iiiihh!“, rief sie.
Ihre Äußerung verbreitete sich wie eine Welle unter den Mädchen am Tisch, die alle die Torte probierten und sie dann schweigend mit der Gabel auf ihren Tellern zerdrückten.
Mein Vater war genauso irritiert wie ich, weil meine Mutter die Torte ja gekauft hatte. Er probierte selbst ein Stück und legte entgeistert die Gabel beiseite. „In der Torte ist Rum“, sagte er.
„Sei nicht albern“, sagte meine Mutter und probierte von ihrem Stück. „Der ist doch beim Backen verdampft.“
Ich aß mein Stück und tat so, als würde es mir schmecken, aber die Torte war eindeutig in Rum getränkt.
Ich registrierte das nervöse Lächeln und den unruhigen Blick der anderen Mütter, als sie ihre Töchter nach der Feier abholten und mein Vater sie an der Tür empfing. Wo ist die Mutter?, haben sie sich vermutlich gefragt. Zum Glück war mein Vater so klug gewesen, meine Mutter ins Bett zu schicken, um „es auszuschlafen“. Ich stellte mir vor, wie die Mädchen ihren Eltern von dem schrecklichen Geburtstagsfest erzählten, von der komischen Mutter, der ekligen Torte.
Schon vor diesem Tag waren meine Gefühle gegenüber der Trinkerei meiner Mutter vielfältig gewesen. Als ich drei, vier und fünf Jahre alt war, äußerte sich der Wust an verwirrenden Emotionen in Form von Schwindelanfällen, Kopfschmerzen und Angst, die mich die ganze Nacht lang wach hielt.
Bis zu meinem sechsten Geburtstag war der Alkoholismus meiner Mutter ein Familiengeheimnis gewesen (oder jedenfalls glaubte ich das). Danach war ich davon überzeugt, dass jeder wusste – und jeder es jedem erzählte, der es nicht wusste –, dass ich aus einer „schlechten“ Familie kam – das genaue Gegenteil der Brady Bunch-Familie, die die einzige Familie war, die ich wirklich zu kennen glaubte. Jetzt begann ich etwas gänzlich anderes zu fühlen: Scham.
Nach meiner Feier entwickelte ich eine Abneigung gegen meinen Geburtstag und gegen Geburtstagsfeiern allgemein. Einmal war ich bei einem Mädchen eingeladen, das bei uns in der Straße wohnte. Ich verließ das Haus in meinem hübschen Kleid, aber anstatt zu ihr zu gehen, versteckte ich mich für ein paar Stunden in den Büschen neben unserem Haus, bevor ich wieder nach Hause ging. Ich wollte meine Mutter nicht mit meinen Sorgen und Ängsten belasten und stand das allein aus. Ich weiß nicht mehr, ob die Mutter des Geburtstagskindes bei uns anrief, um zu sagen, dass ich nicht bei ihnen sei. (Damals in den 1970ern sah man alles lockerer, und allein in der Nachbarschaft herumzustromern war ganz normal.) Alles, was ich weiß, ist, dass ich mich, statt zur Feier zu gehen, versteckte.
Die Trinkerei meiner Mutter – ihr unberechenbares Verhalten, ihre Traurigkeit, ihr Zorn – wurde irgendwann so schlimm, dass mein Vater ihren Schnaps wegschloss. Und schließlich, als mein Vater damit drohte, sie zu verlassen, ging meine Mutter zur Entziehungskur ins Krankenhaus.
Das Problem war, dass das Leben für meine Mutter, auch nachdem sie aufgehört hatte zu trinken, immer noch schlimm war. Schlimmer sogar. Es war ja nicht so, dass sich ihr Wesen auf magische Weise komplett veränderte, als sie mit dem Alkohol aufhörte. Sie brüllte und schrie zwar nicht mehr so viel herum, lief nicht mehr rot an oder warf mit Gegenständen. Aber mit den meisten Dingen kam sie nach wie vor nicht zurecht. „Ich schaff’s nicht“, wurde zu ihrem Standardsatz.
Manchmal murmelte sie zu Hause ununterbrochen AA-Slogans vor sich hin, was mich daran erinnerte, wie labil sie war.
„Ein Tag nach dem anderen.“
„Mach langsam.“
Obwohl sie so zerbrechlich schien, fürchtete ich mich vor ihr und ging auf Zehenspitzen, in Sorge, dass sie wieder anfangen würde zu trinken oder sich vor meinen Freundinnen lächerlich machte. Sie hatte sich nicht auf wunderbare Weise in eine klassische Vorort-Mutter verwandelt. Sie trug immer noch eine schwarze Lederjacke, fluchte und rauchte und schimpfte über diese typischen amerikanischen Mütter.
Ohne den Alkohol, der ihr half, die Dinge zu ertragen, machte sie alles nur noch mehr verrückt. Zum Beispiel mein Geburtstag. Vor allem mein Geburtstag. Aus irgendeinem Grund war der Geburtstag meiner Schwester keine so große Bürde. Vielleicht weil sie älter war und ihre Geburtstage kiffend mit ihren Freunden verbrachte.
Auslöser schien die Torte zu sein. Die in Rum getränkte Schwarzwälderkirschtorte war durch die Schwedische Obsttorte Spezial ersetzt worden, die meine Mutter selbst backte. Meine Lieblingstorte.
Ich weiß nicht, wie alt ich war, als meine Mutter zum ersten Mal an meinem Geburtstag abhaute. Aber ich kann bis heute die ganze Folge von Ereignissen wie einen Film vor meinem inneren Auge ablaufen lassen. Mit den besten Vorsätzen kündigte sie an, dass sie die Torte backen würde, und besorgte alle Zutaten. Bei ihr würde es keine künstliche amerikanische Schlagsahne aus der Sprühdose geben, keinen viel zu süßen Fertig-Zuckerguss, keine Backmischung – sie würde alles von Anfang bis Ende selbst machen. Sie stand in der Küche, rührte und mixte, backte die zwei Teigschichten, machte die Vanillecreme für dazwischen und schlug die Sahne für obendrauf. Als Nächstes wusch sie die Beeren, schnitt die Bananen in Scheiben, begann dann außen mit einem Ring Erdbeeren und arbeitete sich über Blaubeeren, Himbeeren und Bananen zur Mitte vor.
Irgendwo unterwegs lief etwas schief. Meine Mutter hatte genug vom langen Stehen. Und dann stellte ich die verhängnisvolle Frage: „Wann ist sie fertig?“
Vielleicht sah meine Mutter die Erwartung in meinen Augen und hatte Angst, sie nicht erfüllen zu können. Was auch immer der Grund war, meine Mutter warf ihre Arme in die Höhe und rief: „Ich halt es nicht mehr aus.“ Dann schnappte sie sich ihren Autoschlüssel und knallte die Tür hinter sich zu. Der Wagen verließ kreischend die Auffahrt. Ich wusste nicht, wo sie hinfuhr, und ich habe sie nie danach gefragt – ich hatte gelernt, keine Fragen zu stellen. Sie war stundenlang weg, und ich hatte Angst. Um nicht zu sagen Panik. Was, wenn sie es nun wirklich nicht mehr aushielt und beschloss, das Auto gegen einen Baum zu steuern?
Es kann sein, dass meine Mutter nur ein oder zwei Mal an meinem Geburtstag abhaute, aber in meiner Erinnerung passierte es jedes Jahr, immer auf dieselbe Weise. Bis mein Geburtstag so etwas wie ein „verfluchtes Ereignis“ wurde.
Das änderte sich erst, als ich aufs College ging. Den besten Geburtstag, den ich je hatte, verbrachte ich weit weg von zu Hause in Ithaka in New York, wo ich einen Sommerkurs besuchte. Ich wohnte in einem heruntergekommenen Apartment ohne Telefon. Ich war auf Post angewiesen und war positiv überrascht, eine Geburtstagskarte von meinen Eltern zu bekommen, genau am richtigen Tag. Wie perfekt die Karte war, mit dem Blumenstrauß vorne drauf. Wie einfach es war, genau das richtige Gefühl zu vermitteln mit einer Karte, die eine schlichte Momentaufnahme war und nicht den Einflüssen von Stress oder schlechter Laune unterlag. Den Abend verbrachte ich an diesem Geburtstag mit meinen neuen Freunden. Kein Ballast. Einfach nur Spaß.
So fand ich die Lösung meines Geburtstagsproblems: Solange ich weit genug weg war von zu Hause, konnte Geburtstaghaben okay sein. Sogar schön. Aber meine Mutter wollte meine Geburtstage mit mir verbringen. Sie hatte noch immer das Bedürfnis, es richtig zu machen.
Als ich älter wurde und selber Kinder hatte, setzten sich meine Eltern fünf Stunden ins Auto, um in einem Vorort von New York City meinen Geburtstag mit mir zu verbringen. Es war jedes Mal eine Katastrophe. Nicht wegen etwas, das jemand anderes tat oder sagte, sondern wegen etwas, das ich mir selbst antat. Im Kopf. Ich wachte schon mit Panik auf und mit dem Gefühl einer Erwartung, die niemals erfüllt werden konnte.
Auf einem Foto puste ich in einem mexikanischen Restaurant bei uns um die Ecke die Kerzen auf einem riesigen Flan aus, meine Eltern, mein Mann und meine Kinder sehen mir dabei zu. Tapfer trage ich den Sombrero auf dem Kopf, den sie mir in dem kitschigen Restaurant gegeben haben, aber ich sehe aus wie ein mürrischer Teenager, der nur darauf hofft, dass alle Leute um ihn herum, inklusive der umherwandernden Mariachi-Band, verschwinden und ihn allein lassen.
„Ich hasse meinen Geburtstag“, erzählte ich meinen Freunden, wenn das Thema darauf kam. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, an diesem Tag etwas Besonderes für mich zu planen. Ich wartete ab, bis jemand anderes etwas vorschlug, und machte dann mit – auf ewig Kind.
Einmal – lange nachdem ich dreimal die Woche auf der Couch eines Therapeuten gelegen, das Buch Wohin mit meiner Wut. Neue Beziehungsmuster für Frauen gelesen und meine destruktive Wut an allen Familienmitgliedern ausgelassen hatte – beschloss ich, um das zu bitten, was ich mir wünschte. Die Torte. Die Schwedische Obsttorte Spezial meiner Mutter, ohne Drama, ohne Flucht.
Schon in dem Moment, als ich meine Mutter anrief, bereute ich es. Ich hörte meine eigene Stimme, sie klang dünn, wie die eines Kindes – obwohl ich zu dem Zeitpunkt fast vierzig war. Es hat einen Grund, warum man uns erwachsene Kinder nennt.
Und ich hörte durch den Hörer, wie meine Mutter die Luft einsog und seufzte. War es eine Bürde für sie, die Torte zu backen, oder seufzte sie aus Erleichterung, dass ich endlich wieder darum bat, nach all den Jahren? Vielleicht hatte sie genug davon, sich für ihr früheres Verhalten schuldig zu fühlen, selbst wenn sie sich diese Last zum Teil selbst aufgeladen hatte. Jahrelang hatte sie sich abgemüht, um alles wiedergutzumachen, seit sie den Entzug geschafft hatte, als ich neun war. Das sind eine Menge Jahre der Buße.
„Ja, natürlich backe ich die Torte“, sagte sie. „Ich tue alles für meinen kleinen Engel.“ Sie war nicht dazu in der Lage, nein zu sagen, und ich hatte Angst, dass es seinen Preis haben würde, für sie und für mich.
Später, nachdem ich aufgelegt hatte, spielte ich die Sache nochmal gedanklich durch. Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte? Meine Mutter und ich sind Hunderte von Meilen voneinander entfernt. Sie ist älter und abgeklärter geworden. Sie kennt ihre Grenzen. Sie backt die Torte allein, in Ruhe – ohne meinen erwartungsvollen Hundeblick –, und dann wird sie sie mitbringen, wenn sie und mein Vater mich an meinem Geburtstagswochenende besuchen kommen.
Ich überlegte, ob ich sie noch einmal anrufen sollte, um ihr zu sagen, dass sie sich keinen Stress machen solle, dass ich die Torte selber backen würde, dass es ein Spaß wäre für mich und die Kinder, das auszuprobieren. Vielleicht könnte sie mir einfach das Rezept geben.
Aber was, wenn es ihr wichtig war, die Torte zu machen?
Es ist alles in Ordnung, beruhigte ich mich, ich bin jetzt erwachsen und habe mein eigenes Zuhause, weit weg von ihrem. Ich möchte, dass meine Kinder diese Torte probieren und wissen, wie köstlich sie ist.
Vielleicht wollte ein Teil von mir die guten Zeiten meiner Kindheit wieder zum Leben erwecken, um mich daran zu erinnern, dass es, neben dem ganzen Mist, auch glückliche Momente gab. Ich hatte vergessen, dass meine Mutter, auch wenn sie jedes Mal an meinem Geburtstag abgehauen war – oder es mir zumindest so schien –, sich schließlich zusammengerissen hatte, nach Hause gekommen war und wir die Torte gegessen hatten. Köstlich.
Ich erzählte meinen Kindern von der Torte. „Ihr werdet sie lieben“, sagte ich, „wartet nur, bis ihr sie probiert habt.“ Erstaunlich, wie ich mir die Fähigkeit bewahrt hatte, aufgeregt und voller Vorfreude zu sein. Und dann packte mich wieder die Sorge: Was, wenn sie ihnen nicht schmeckt? Was, wenn sie sie doch nicht backt? Die alten Enttäuschungen. Die Scham.