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Tod in Connecticut

von Wilson Collison

Aus dem amerikanischen Englisch
von Johanna von Koppenfels

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Collison, Wilson: Tod in Connecticut

Erste Auflage 2018

Originalausgabe: „Expensive Women“

Robert M. McBride & Company, New York 1931

Deutsche Ausgabe:

© 2018 Louisoder Verlagsgesellschaft mbH, München

Übersetzung: Johanna von Koppenfels

Lektorat: Nina Schiefelbein

Korrektorat: Ilona Buth

Umschlaggestaltung: Regina Berg-Esmyol

Satz: Fotosatz Amann, Memmingen

Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Printed in Germany

ISBN: 978-3-944153-46-9
eISBN: 978-3-944153-47-6

www.louisoder-verlag.de

Dem
29. November 1919
gewidmet

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Intermezzo

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Finale

Kapitel 27

Tod in Connecticut

Prolog

1

Die Wintersonne schien hartnäckig durch das Fenster und fiel über den kühlen, grauen Teppich. Ein einzelner Sonnenstrahl tanzte auf der Spitze von Nolya Noyes’ jadegrünen Pumps mit unverschämt hohen Absätzen.

Ganz still saß sie auf einem breiten und bequemen Stuhl in der hinteren Ecke von Doktor Banfields ziemlich düsterem Wartezimmer. Zwanzig Minuten waren verstrichen. Der junge Doktor Banfield war mit einer Patientin beschäftigt, einer weinerlichen Dame mittleren Alters, die über und über mit Schmuck behängt war und deren Kopf eine neumodische Bob-Frisur zierte.

Nolya starrte vor sich hin. Ihre Augen fixierten den munteren Sonnenstrahl, der über ihre Schuhspitze tanzte … Augen, die genauso düster waren wie der Rest des Zimmers, in dem sie saß, und in denen sich Licht und Schatten auf seltsame Weise spiegelten. Wieder und wieder hatte sie sich gesagt, dass es nichts gab, worüber sie nachdenken musste. Absolut nichts.

Sie war nicht zum ersten Mal bei Doktor Banfield. Und sie fragte sich, ob es das letzte Mal sein würde. Wieder einmal drängten sich die Gedanken an den unsteten Verlauf ihres Lebens in ihr Bewusstsein. Sie beunruhigten sie zwar nicht, aber sie ärgerten sie durchaus, weil sie so hartnäckig schadenfroh waren. Sie besaß einen Schutzpanzer für ihre Seele. Ihr Verstand konnte sich hinter Mauern verschanzen. Doch dieser Zwang zu denken, über das Leben nachzudenken … und dann dieser teuflische Impuls, allem ein Ende zu setzen. Na ja, es war sowieso alles ein ziemliches Kuddelmuddel.

Ihre feinen roten Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln, während sie sich halb auf ihrem Stuhl umdrehte. Sie beugte sich vor. Jetzt tanzte der muntere Sonnenstrahl auf ihrem dunklen Haar. Ihr Hut lag auf dem Tisch an ihrem Ellbogen. In letzter Zeit gab es häufiger Momente, wenn Hüte ihr lästig waren. Wie Gewichte, tote, schmerzhafte Gewichte, drückten sie auf ihren empfindsamen Kopf. Oder drückten sie auf ihr Gehirn?

Vorgebeugt drehte sie sich noch ein wenig weiter auf ihrem Stuhl, ihr Kinn in eine Hand gestützt, so dass sie aus dem Fenster schauen konnte, hinab auf die Straße unter ihr. Der Verkehrstrubel, das Heulen der Motoren … der allgegenwärtige Tumult der Großstadt … New York – das Zentrum wovon? Wo sie geboren worden war. Lächerliche Geschäftigkeit ihres körperlichen Selbst … Anrennen gegen eine Wand aus Applaus … den gedämpften Applaus des Lebens, der sie anfeuerte, auslachte und ihr hämisch zurief: „Ich bin die Bühne, und du bist nur ein zerbrechliches Menschenkind, das auf meinen knarzenden Brettern tanzt.“

Ihr ständiges Tasten nach verborgenen Dingen, die immer wiederkehrenden düsteren Gedanken, dieses Labyrinth aus verwirrten Gefühlen … Wozu war das gut?

Unten auf der Straße drängten sich die Menschen auf den vollen Gehwegen, ein endloses, gefährliches Wirrwarr aus menschlichem Fleisch und Blut. Sie drängelten, waren geschäftig, alle unterwegs irgendwohin. Menschen … alle unterwegs irgendwohin.

Ein großer, gutaussehender junger Mann mit dunklen Augen und in einem braunen Mantel betrat das Zimmer. Er wirkte sehr zurückhaltend, war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er sah erschreckend krank aus, trug jedoch Züge finsterer Entschlossenheit um den Mund. Oh nein, er hatte noch nicht mit allem abgeschlossen. Er wollte weitermachen. Es gab etwas, für das es sich zu leben lohnte.

Die effiziente Sprechstundenhilfe des Doktors nahm den Namen des jungen Mannes mit einem mechanischen Lächeln entgegen und schrieb ihn schwungvoll in ihre Unterlagen. Sie schaute kaum zu dem neu angekommenen Patienten auf. Es war nicht ihre Aufgabe, Leute anzuschauen. Letztendlich sahen sie doch alle gleich aus.

Der junge Mann nahm sich einen Stuhl, setzte sich und schlug die Beine übereinander. Den Hut legte er auf seinem Knie ab. Er begann, auf den Boden zu starren. Ein unverwandtes Starren, das eine gewisse Launenhaftigkeit und Kummer in sich trug.

Wie jung er aussieht … und seine Haut ist so weiß wie ein Blatt Papier, dachte Nolya ganz hinten, in den dunklen Winkeln ihres Kopfes.

Die Sprechstundenhilfe kam in ihrem weißen Kittel ins Zimmer und sagte zu Nolya: „In ein paar Minuten, Miss Noyes.“

In ein paar Minuten. Alles wiederholte sich so, wie es bei früheren Besuchen abgelaufen war. Diese kühle und beiläufige Untersuchung ihres Körpers. Dieser Hülle, dieser physischen Maschine, die sich so tapfer bemühte, allen Anforderungen des Geistes gerecht zu werden.

Sie schaute wieder zu dem jungen Mann hinüber. Er war tiefer in seinen Stuhl gerutscht. Gerade dachte er … Ja, was dachte er wohl?

Menschen … Menschen … Sie bedeuteten ihr letztlich so wenig. Selbst Freunde … auf eine distanzierte Art und Weise … Freunde. Aber Menschen und Freunde hatten versucht, einen Kreis um sie zu ziehen, eine Mauer zu errichten, die ihr Leben darauf beschränken würde, einem endlosen Kreislauf der Konventionen zu folgen. Sie verlangte doch lediglich, ihre Intelligenz frei nutzen zu dürfen, mehr nicht. Menschen und Freunde wurden mit einem gewissen Status geboren und veränderten sich so wenig. Sie standen fest zu ihren Moralvorstellungen und eingefahrenen Denkmustern. Und Nolyas Unwille, solche vorgegebenen Verhaltensmuster zu akzeptieren …

Der junge Mann hatte geseufzt. Er saß jetzt kerzengerade auf seinem Stuhl, den Blick auf ein Bild geheftet, das über einem lackierten Tischchen hing.

Sie folgte seinem Blick. Doktor Banfields Geschmack ist erschütternd, dachte sie. Er hatte die falsche Frau geheiratet. Gnadenlos stand er unter dem Zwang, Geld zu verdienen. Männer verloren ihren Geschmack, ihre Ideale und ihre Träume, wenn sie unter Zwang standen.

Der junge Mann auf dem Stuhl pulte nervös an einem seiner Fingernägel herum. Stillzusitzen war reine Folter für die menschliche Rasse, dachte Nolya mit einem Anflug von Humor. Sie spürte plötzlich einen starken Drang, den jungen Mann zu fragen, wovor er denn Angst hatte. Verstand er Lachen und Tränen, und konnte er das Zeichen auf der Stirn der Verdammten sehen?

Er blickte scharf zu ihr herüber, aus irgendeiner unbekannten Regung heraus. Seine Augen bohrten sich in ihre. Und beide erblickten im anderen das vollkommene Abbild von etwas halb Vergessenem, das sie irgendwo verloren hatten.

„Entschuldigung“, murmelte er, mit einem Anflug vorgetäuschter Heiterkeit. Er riss seinen Blick von ihren schönen, umschatteten Augen los.

Ein netter Junge, dachte sie flüchtig. Sie hatte die schlanken, weißen Hände vor sich gefaltet, während ihr Blick wieder zu den Spitzen ihrer jadegrünen Pumps wanderte. Der kleine Lichtreflex war weitergezogen, hatte sich auf Entdeckungsreise begeben. Da war er wieder, glitzerte teuflisch auf einer von Doktor Banfields chinesischen Vasen, die auf einem Tisch aus glänzend poliertem Mahagoni stand.

Und wieder diese Gedanken … eine wirre Prozession … kleine hartnäckige, kampferprobte Erinnerungssoldaten, die sich trotzig formierten. War sie nicht glücklich gewesen? Hatte sie nicht gelebt? Gab es denn nicht Liebe oder Treue für jemanden? Irgendjemanden. Und warum? Wo ihr Menschen und Freunde immer wieder vorgeworfen hatten, nur auf der Jagd nach Gefühlen zu sein. Gefühle. Was bedeuteten sie den Langweilern oder auch ihr selbst denn schon? War sie sich jemals eines Gefühls voll bewusst gewesen, nachdem es wieder vorbei war? Ein kurzes Strohfeuer … eine Explosion … ein unendlich kleines Atom auf seinem Weg durch eine gefühlsleere Atmosphäre.

Wo blieb nur Doktor Banfield? Dieses Warten war nicht gut für ihre Nerven. Außerdem hatte sie versprochen, sich mit Elaine Larne im Ritz zum Tee zu treffen. Tee, endloses Geplauder, schweigende Langeweile … Elaine war eine verheiratete Frau, ausgestattet mit all dem glatten Überschwang der Dummheit.

Wie viele Tage oder Wochen war es her, seit sie Arthur das letzte Mal gesehen hatte? Oh, eine Ewigkeit. Ein dumpfer Schmerz über ihre Trennung, aber auch das schreckliche Wissen darum, wie fragil und ahnungslos diese Liebe gewesen war.

Der junge Mann auf dem Stuhl hatte sich eine Zeitschrift vom Tisch genommen. Gelangweilt blätterte er die Seiten durch, in dem Versuch, seine Unruhe in den Griff zu bekommen.

Da glitt der Doktor geräuschlos aus einer Dunkelheit hervor, die die Tür seines Sprechzimmers zu umgeben schien. Er war ein großer, alterslos wirkender Mann, dessen schmales, sensibles Gesicht kaum Farbe hatte.

Diese Männer, die beruflich mit dem Tod zu tun haben, dachte Nolya, früher oder später ähneln sie ihm.

„Es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten, Miss Noyes“, sagte Doktor Banfield mit seiner tiefen, klaren Stimme. Und zu dem jungen Mann auf dem Stuhl: „Es wird ungefähr zwanzig Minuten dauern, Barry – wenn es Ihnen nichts ausmacht?“

Der junge Mann erwiderte, es mache ihm nichts aus. Beiläufig schaute er zu Nolya herüber und blätterte dann wieder in seiner Zeitschrift. Er sank tiefer in seinen Stuhl und atmete nur ganz flach, so als ob ein inneres, erstickendes Gefühl ihn dazu zwang.

„Na dann“, sagte Nolya, während sie sich mit einem schwachen Lächeln erhob. Sie streckte ihre Hand aus. „Schrecklich nett von Ihnen, Dicky, dass Sie die juwelengeschmückte Dame zur Hintertür hinauskomplimentiert haben.“

Banfield lachte. Er hielt Nolyas kühle, kraftlose Hand und schaute in ihre abgründigen Augen. Mein Gott, dieses wunderbare Mädchen … Ich fürchte, ich werde sie nicht retten können, es sei denn, sie rettet sich selbst …

Laut sagte er: „Mrs Carlsmith ist eine ziemliche Nervensäge. Hat Probleme mit der Leber. Isst zu viel und sitzt zu viel – der Fluch der Zivilisation und von zu viel Geld.“

„Ich fühle mich auch schrecklich schlecht“, erwiderte Nolya ernst. Sie durchquerte das Wartezimmer in Richtung der Schatten, die wie ein böser Vorhang, wie ein Leichentuch über der Tür hingen … ein feiner Dunst, abschreckend und verführerisch zugleich.

Dann der Gang durch die Tür … dieses einzigartige Gefühl, wie auf Zehenspitzen aus der sonnenbeschienenen Wirklichkeit ins Dämmerlicht zu treten, der beißende Geruch von Medikamenten, diesen bitter schmeckenden Waffen der Menschen gegen Krankheit und das böse Ende. Wie die Menschen kämpften, um zu leben … dieses Ringen darum, zu atmen, auf den eigenen zwei Beinen zu stehen, um sich dem Sonnenaufgang zu stellen und beim Sonnenuntergang ein bisschen zu erschaudern.

Sie lächelte matt, als sie sich in den Stuhl fallen ließ, den Banfield ihr hinschob. Der Doktor fand, dass es ein blasses, blutleeres Lächeln war … erschöpft. Aber das Schimmern in diesen wunderbaren Augen bewies, dass es doch ein lebendiges Lächeln war, noch nicht hoffnungslos. Nicht im Entferntesten.

„Wissen Sie“, sagte Nolya, während sie ihre Handtasche öffnete und dieser ein Zigarettenetui entnahm, „ich fühle mich wie ein kleiner Zinnsoldat, umgeworfen, wieder aufgerichtet und hierhergebracht, um gelötet zu werden.“ Sie zündete ihre Zigarette mit einem Feuerzeug an, das sie zwischen zwei schlanken Fingern hielt, nahm einen tiefen Zug und blies kleine Rauchkringel aus. Dann hustete sie ein wenig und klopfte sich mit einem Finger auf die Brust, während sie Banfield auf eine vollkommen entwaffnende Weise anlächelte.

Er dachte: Diese Mädchen, die ihr Leben auf der Überholspur leben, diese wunderbaren Kreaturen, ausgestattet mit Schönheit, Intelligenz und Geld … und dann ihre Genusssucht, zum Teufel damit. Würden sie nie begreifen, dass der Körper lediglich eine Maschine war, um die man sich kümmern musste? Aber nein, das Leben war eine fröhliche rosarote Blase, in die man bedenkenlos und andauernd hineinstechen konnte …

Sie las seine Gedanken mit erstaunlicher Gelassenheit. Er war einfach zu beeindruckend ernst.

Dann sagte sie: „Natürlich sind alle Frauen Närrinnen und auf der Jagd nach dem Regenbogen. Egal zu welchem Preis. Wir bestehen eben darauf, große Leinwände mit kleinen, unordentlichen Pinselstrichen anzumalen.“

Banfield fühlte sich plötzlich ein wenig erschöpft und melancholisch, angesichts der absurden Situation, in der er sich befand. Er hatte das Gefühl, dass ihm sein eigenes Wissen über Leben und Tod aus den Händen genommen wurde.

Er strich sich mit einer Hand über die Augenbrauen, eine unwillkürliche Geste des Unbehagens. Er hatte dagestanden und sie mit dem Blick des Arztes betrachtet – und gleichsam mit dem Blick eines Mannes. Sie ist einfach zu schön, um zu sterben, dachte er. Aber die Art, wie sie sich verausgabt hat …

Plötzlich wurde es dämmerig im Zimmer, so als hätte sich das Tageslicht mit schmerzlichem Widerwillen zurückgezogen. Banfield schaltete eine Lampe ein, die Nolyas Gesicht seltsam weiß schimmern ließ. Dann durchquerte er fast geräuschlos das Sprechzimmer und ging zu einem hohen, weißen Schrank.

Während er sich darüber beugte, sagte sie mit ihrer ruhigen Stimme, in der eine kühle Erschöpfung mitschwang: „Ich glaube, ich sollte nicht mehr hierher zu Ihnen kommen, Dicky. Sie nehmen das alles so schrecklich leicht. Was glauben Sie denn wirklich, wie lange ich noch zu leben habe?“

Banfield drehte sich um. Es war, als hätte ihm jemand die Spitze eines schmalen, scharfen Messers in den Rücken gestoßen. Er stand da, einen Arm auf die halb geöffnete Tür des großen weißen Schrankes gestützt, in der anderen Hand das Stethoskop. Er dachte: Sie ist eine Fatalistin; sie weiß es, und ihr weiblicher Mut macht es mir unmöglich, sie hinters Licht zu führen. Laut sagte er jedoch mit einem halb ernstgemeinten Lächeln: „Noch Jahre, Miss Noyes, wenn Sie auf sich achtgeben.“

Sie blickte ihn an, während sie entspannt auf ihrem Stuhl saß, eine qualmende Zigarette zwischen den Fingern. In ihren Augen lag der Ausdruck eines mürrischen Gefängnisinsassen, für den eine Flucht nicht in Betracht kam, der stattdessen vielmehr über den zweifelhaften Wert der Freiheit nachdachte. Wenn sie sie haben konnte … würde sie sich dafür entscheiden?

Er zog einen Stuhl heran, setzte sich ihr gegenüber und sagte: „Ich würde gern Ihr Herz abhören.“

Sie gehorchte auf eine distanzierte Weise, öffnete ihr Kleid und machte ihre feste, weiße Brust frei.

Der Doktor beugte sich vor, setzte das Stethoskop auf und lauschte ihrem Herzschlag. Er war sich ihres Körperkontaktes bewusst. Schmerzlich bewusst. Das ärgerte und verstörte ihn.

Sie saß da und hatte eine Hand auf der Armlehne ihres Stuhls abgelegt. Zwischen den Fingern der anderen Hand qualmte weiterhin die Zigarette vor sich hin.

„Der Rauch steigt Ihnen ja in die Augen.“ Sie lachte, als amüsiere sie diese Tatsache. Dann drückte sie die halbgerauchte Zigarette in einem Aschenbecher neben ihrem Stuhl aus.

Als sie sich bewegte, sah er, wie sich ihre volle, weiße Brust vor ihm hob … und wieder senkte, als Nolya sich zurücklehnte und entspannte.

Er machte sich Vorwürfe. Sein Interesse an ihrem Körper hatte für ihn auch etwas Beängstigendes.

Nolya hatte das Gesicht von ihm abgewandt. Sie zuckte ein wenig zusammen. Atmete tief ein. Lachte kehlig.

„Es tut weh … genau da“, sagte sie. „Höllisch tut es weh. Aber fahren Sie ruhig fort, wenn es Ihnen Spaß macht, mir einzureden, dass es mir schon besser geht.“

Er hob den Blick, und sie schauten einander an. In ihren Augen lag etwas Herausforderndes. Augen wie Brunnen aus flüssigem Licht, die manchmal feurig loderten, dann wieder matt schimmerten.

Banfield war verunsichert. Das gestand er sich innerlich ein. Er war ein guter Arzt, hatte eine große und sehr angesehene Praxis. Beneidenswert. Für die gehobenen Schichten der Gesellschaft. Frauen, die sich am großen Wettlauf des Lebens beteiligten und sich schließlich doch geschlagen geben mussten. Und Männer, die darum kämpften zu verhindern, dass ihre Torheiten und Unbesonnenheiten ans Licht kamen, indem sie sie unterdrückten, mit dem Mäntelchen der medizinischen Wissenschaften zudeckten … und am Ende ebenfalls frustriert waren.

Frauen waren für ihn Maschinen. In Gedanken legte er sie nackt auf einen Tisch und nahm sie auseinander. Sie hatten nichts Feminines an sich. Körper, sie waren einfach nur Körper. Aber dieses Mädchen … sie war für ihn nicht einfach nur ein Körper. Sie war aus Fleisch und Blut, warm, pulsierend, lebendig. Sie war durchgeschlüpft, in ihn eingedrungen. Sein medizinischer Geist, sein ärztlicher Schutzpanzer war geknackt worden. Einen Augenblick lang war er verblüfft.

Doch dann hatte er wieder einen klaren Kopf. Er schob seinen Stuhl zurück, erhob sich und schaute zu ihr herab. Es war ihm völlig klar, dass seine Pflicht darin bestand, jetzt deutlich und offen mit ihr zu sprechen, sogar ein wenig brutal. Er war sich seiner Verunsicherung bewusst und ärgerte sich darüber.

Dann schwand der Impuls. Das Gefühl, versagt zu haben, kehrte zurück. Was konnte er denn zu diesem wunderbaren Geschöpf sagen, so jung, so reizend? Sie war wie eine bildschöne Blume mit einem verborgenen Makel. Trotzdem großartig, trotzdem von überwältigend perfekter Schönheit. Obwohl sie verwelkte, verwelkte und verging.

Sie regte sich in ihrem Stuhl. „Oh, es geht mir schon besser. Eigentlich geht es mir bestens“, sagte sie mit einem kurzen fröhlichen Lachen. Sie machte eine ausladende Handbewegung, und bevor er noch ahnte, was da kam, hatte sie seine Hand ergriffen, hielt sie fest und schaute mit einem halb spöttischen Lächeln zu ihm auf.

„Also“, begann sie, „Sie sind ein wunderbarer Arzt, Dicky. Und gute Ärzte sollten keine schlechten Lügner sein. Sie wissen ganz genau, dass ich auf dem Weg in die graue Ewigkeit bin, und Sie wollen es mir einfach nicht sagen. Sie wollen es sich nicht einmal selbst eingestehen.“

„Ja“, murmelte er. „Ich finde es schrecklich, mir das selbst einzugestehen.“ Wütend ballte er eine Faust. Ein Gefühl aus seinem tiefsten Innern blitzte in seinen Augen auf. „Warum? Warum sind Sie so ein dummes Mädchen gewesen? Wissen Sie nicht, dass das Leben kostbar ist? Und dass Männer Teufel sind? Sie nehmen sich alles in ihrer animalischen Gier, und dann lassen sie euch Frauen alleine klarkommen. Und Ihr fallt immer wieder darauf herein, meine Güte, immer wieder!“

Er drehte sich um und stampfte hinüber zu dem weißen Schrank.

Nolya beobachtete ihn mit einem amüsierten Gesichtsausdruck. Sie hatte sich wieder eine Zigarette angezündet und wurde plötzlich ganz munter. Ihre Augen funkelten, als sie sich erhob und lachte. Ein fröhliches Lachen, das den Raum erfüllte.

Fasziniert sah er sie an. Er ging auf sie zu, blieb dicht vor ihr stehen, die Hände in den Taschen vergraben und mit mürrischem Gesicht. Er gab keinen Laut von sich. Er sah sie einfach nur an.

„Nehmen Sie meine Medikamente?“, fragte er scharf und biss sich auf die Unterlippe.

„Es ist doch alles so hoffnungslos, Dicky“, sagte sie mit einer ihrer typischen Handbewegungen. „Ich mache eine Geste mit meiner Hand. Auch dass ich hierherkomme, ist eine reine Geste. Ich versuche, meinen Freunden eine Freude zu machen. Denn natürlich sollte man versuchen, seinen Freunden eine Freude zu machen. So ist das Leben, Freud und Leid, Leuten gefallen und sie hassen. Na ja, wir beide wissen das, nicht wahr? Wir sind richtig nette Leute und wir verstehen einander. Sie sehen also, es ist alles völlig hoffnungslos.“

„Natürlich!“, sagte er plötzlich, ganz sanft. „Jetzt hab ich es. Sie sind verliebt und haben Angst davor.“

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Nur einen Augenblick lang, dann lachte sie wieder. Sie nahm seine Hand. Die extreme Kälte ihrer Finger schockierte ihn.

„Ihr Männer seid doch alle gleich“, sagte sie launig. „Ihr nennt uns Närrinnen, liebt uns aber gerade dafür, Närrinnen zu sein. Bringen Sie mich bitte zur Tür. Bis nächste Woche dann. Ich fahre übers Wochenende aufs Land. Eine dieser hohlen Veranstaltungen – Tratsch, Eifersüchteleien und belangloses Geplapper. Aber ich ertrage es nicht, untätig herumzusitzen.“

Mit einem merkwürdigen Schweigen ging sie durch das Wartezimmer. Sie warf einen Blick auf den jungen Mann. Er saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl, das Kinn war ihm auf die Brust gesunken. Kranke Menschen schlafen sehr viel, wollen aber immer geweckt werden, dachte sie.

Ein schuldbewusstes Unbehagen glomm in Banfields Augen, als er sie durch den Korridor zum Fahrstuhl gehen sah. Schlanke, schöne Beine … die sanften Kurven eines überaus anziehenden Körpers … wunderschön … wie sie den Hafen verließ … felsige Küste … hohe Wellen … plätscherndes, schäumendes Leben … wohin?

Die letzten Eindrücke … hohe Absätze, jadegrüne Pumps … schlanke Fesseln … der Gong der Fahrstuhltür. Die klare Stimme seiner Sekretärin hinter ihm.

Närrinnen, diese Frauen, Närrinnen! Sie spielten mit Himmel und Hölle. Männer liebten sie und heirateten sie und litten unter ihnen.

An seine Sekretärin gewandt sagte er: „Sorgen Sie bitte dafür, dass Miss Brent mir eine neue Flasche Kaliumjodid bringt.“ Und zu dem jungen Mann auf dem Stuhl: „Kommen Sie herein, Barry. Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Montags ist immer viel los …“

2

Nolya Noyes ging in strahlender Laune nach Hause. Ihre besseren Momente nannte sie immer Launen und bezeichnete sie als strahlend. Sie hätte jetzt eigentlich ins Ritz gehen sollen, um mit Elaine Larne Tee zu trinken. Aber sie ging nach Hause.

Irgendwie wollten die Menschen am Ende doch immer nach Hause, dachte sie, als sie ihren Wagen bestieg und Hoffer durch die Sprechanlage Instruktionen gab.

Sie würde Elaine anrufen und sich entschuldigen. Ein humorvoller Seufzer entfuhr ihr, als sie sich zurücklehnte und eine Zigarette anzündete.

Durch das Fenster schaute Nolya in die frühe Dämmerung dieses Winterabends, die sich über die Stadt legte, und betrachtete sie mit einem seltsam ironischen Blick und einem Lächeln.

Merkwürdiger Typ, dieser Dicky Banfield. Er hasste es, ihr weh zu tun, ihr eine unabänderliche Wahrheit zu sagen. Und da wurden immer die Frauen als Lügnerinnen bezeichnet – Männer waren doch keinen Deut besser, allerdings viel weniger gewitzt. Wenn sie logen, kam dabei meistens nur etwas Kahles, seltsam Farbloses heraus.

Es beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl – das Gefühl, gerade aus dem Schatten eines riesigen Monsters entwischt zu sein, das in unendlicher Finsternis über ihr aufragte. Das Brummen des großen Motors klang fast wie eine leise geträllerte Melodie.

Sie schloss die Augen und versuchte sich daran zu erinnern, was sie für den Rest der Woche noch geplant hatte. Sie wollte auf jeden Fall ständig beschäftigt sein. Freunde und Gesellschaft waren lästige Verpflichtungen. Aber sie füllten die Tage. Öde Tage … noch ödere Nächte.

Sie lehnte sich zurück, träumte, blieb sich aber der absurden Wirklichkeit ihrer Existenz schmerzhaft bewusst. Eigentlich sollte sie desillusioniert sein. War sie aber nicht. Kein bisschen. Denn sie war sich absolut sicher, dass sie nie irgendwelche Illusionen gehabt hatte. Sie hatte einfach gelebt, auf ihre Weise, und mit fünfundzwanzig schaute sie darauf zurück. Die meisten Frauen hätten getrauert, sich vielleicht sogar selbst bemitleidet. Frauen hatten so eine Art, sich selbst zu bemitleiden, wenn das gnadenlose Schicksal zuschlug und ihnen die Zukunft verbaute. Frauen hassten Vergangenheit und Schnee von gestern. Weiterzumachen, nach etwas zu streben, das faszinierte sie am meisten.

Wenn ich mir die Männer so ansehe, kann ich keine Abneigung spüren, ich schaffe es nicht einmal, traurig zu schauen, dachte sie mit einem schwachen Lächeln. Und auch mein eigenes impulsives Verhalten kann ich nicht verachten, das mich so ins Verderben geführt hat.

Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Vater, während das Auto sich im Schneckentempo die Avenue hinauf durch den Verkehr schlängelte. Es war in diesen Momenten, wenn sie an ihren Vater dachte … dann verachtete sie sich dafür, keine normale, durchschnittliche Frau geworden zu sein … sondern die Rebellin, die ihr Geist gefordert hatte. Sie hatte sich seinem Andenken nicht als würdig erwiesen. Er hätte gewollt, dass sie eine andere Art Frau geworden wäre. Er hatte ihr eine Erbschaft hinterlassen: golden, aristokratisch und elegant.

Vage und verschwommen fragte sie sich, was für ein Mädchen sie ohne all das Geld wohl geworden wäre. Eine blasse, geschminkte Verkäuferin mit schamlosem Blick und rauer Stimme? Hätte sie sich als Gespielin an Männer verkauft? Willig ihren Körper hingegeben für ein paar Krümel unechten Glücks? Nun ja, sie hatte Geld, Luxus und sozialen Status. Und war so frei und rebellisch gewesen, wie jedes dieser armen, billigen Geschöpfe, deren Leben daraus bestand, unerreichbaren Dingen hinterherzuträumen … Mädchen, die für ein paar kaputte und schäbige Brocken mit ihrem Körper bezahlten … süchtig nach Tinnef.

Sie verspürte ein schmerzliches Bedauern, wenn sie an ihren Vater dachte. Sie war alleingelassen worden, umringt von Bergen materiellen Reichtums, und hatte sich selbst ebenso verschleudert wie all das Geld um sie herum.

Und sie war so schrecklich unzufrieden, wenn sie an ihren Vater dachte. Eine Noyes. Sie war eine Noyes. Nur eine Noyes konnte es sich erlauben, so zu leben, wie sie es getan hatte … und wurde noch immer mit Respekt und Anstand behandelt.

Sie dachte an das riesige Mausoleum in Woodlawn, wo die sterblichen Überreste ihres Vaters in feuchter Düsternis und Einsamkeit lagen. Die Sonne, der Mond und die Sterne, sie alle kamen und gingen hoch über ihm, und er lag da und nahm nichts mehr davon wahr. Friedlichkeit? Ja.

Sie dachte an den Tag, als sie ihn zur letzten Ruhe gebettet hatten, mit seinem blassen Gesicht, den langen Wimpern, die die Wangen berührten, die Augen geschlossen. Diese Augen, die das Abbild der ihren gewesen waren … hohe Wangenknochen und schmale Lippen … das Gesicht eines strengen Gentleman. Eines Noyes.

Er war gestorben, als sie fünfzehn gewesen war. Vor zehn Jahren. Sie erinnerte sich noch, wie er immer zu ihr gesagt hatte: „Du teuflischer kleiner Wildfang, genau wie deine Mutter.“ Und seine Augen waren vor Liebe dahingeschmolzen, hatten sich dann aber verdunkelt vor Schmerz. Was für Erinnerungen hatte er wohl an ihre Mutter?

Einem plötzlichen Impuls folgend beugte sie sich vor, ergriff das Mundstück der Sprechanlage und sagte: „Hoffer, wo ich gerade daran denke, morgen um zehn Uhr fahren wir nach Woodlawn.“

Dann lehnte sie sich wieder zurück in die weichen Kissen. Ihre Stimmung verflog. Heute würde sie alleine zu Abend essen. In ihrer Wohnung. Und dann würde sie den ganzen Abend lang lesen. Sie hatte da diesen Roman von dem schüchternen blonden jungen Mann, den sie letzte Woche bei den Bextons kennengelernt hatte. Das Buch hieß irgendetwas wie Verhangener Mond. Es klang fürchterlich banal und entsprechend modernistisch. Die Bextons hatten diesen ernsthaften blonden Schriftsteller unter ihre Fittiche genommen. Wie hieß er doch gleich? War das überhaupt wichtig? Clara Bexton hatte ihn zum Buchclub am Freitagnachmittag mitgebracht. Alle waren ganz verrückt nach ihm gewesen. Ja, sie würde allein in ihrer Wohnung zu Abend essen und Verhangener Mond lesen. Die Leute sagten, es wäre so lebensnah. So lebensnah … Sie lächelte ironisch.

Unendliche Stille, unendlicher Raum. Das ruhige Bewusstsein, die Gedanken auszusperren. Als liege man in der schweigsamen Dunkelheit und warte auf ein schwaches, entferntes Flüstern.

Da waren sie wieder, die Gedanken. Die Gedanken an ihre unglückliche Fehde mit dem Leben. Und mit der Liebe. Sie lächelte. Sich von der Liebe zu trennen … Welcher Tag war heute? Oh ja, es war der zehnte Dezember. Bald war Neujahr. Ein neues Jahr, in dem die alte Asche hinter dem eigenen Rücken im Wind zerstob.

Und wo war Arthur Raymond jetzt, an diesem Abend, an dem so wunderbare, weiche Schatten der Dämmerung die kommende Nacht ankündigten? Dachte er an sie? Oder an seine Frau? Und falls er an seine Frau dachte, was musste er dann von Nolya Noyes denken? Wenn er denn an seine Frau dachte.

Sie rieb ihre Wange an dem weichen Fell ihres Zobelpelzes und blickte durch das Autofenster. Der Motor brummte und brummte, und der Wagen schaukelte sanft wie eine Wiege. Auf den Gehsteigen Menschen in Eile, alle in Eile irgendwohin in der aufkommenden Dunkelheit der Nacht, einer Nacht, die bald von Millionen funkelnder Lichter durchzogen sein würde.

Und wo war Arthur? Wo war Arthur, wo doch bald Neujahr war und das Leben, das alte Leben, mit dem vergangenen Jahr verschwinden würde.

Sie lächelte schwach und zuckte mit den Schultern. Die Liebe, dieses alles verzehrende Feuer. Und der Altar, auf dem die Frauen eingeäschert wurden. Ein Irrlicht, dieses Streben nach Liebe.

3

Sie war ruhelos. Sie vernahm eine kleine innere Stimme, die sie tadelte. Die kleine Stimme schien zu sagen: „Du bist eine dumme Gans. Das Leben geht weiter, ganz egal, was mit dir passiert.“

Sie ging zu den hohen Fenstern und zog die Vorhänge beiseite. Dann stand sie da und starrte hinunter. Die Bäume im Park waren dunkle Gespenster, die im Nachtwind schwankten. Sie schienen es sich dort in der von kleinen Lichtblitzen durchzogenen Dunkelheit ganz gemütlich eingerichtet zu haben. Nolya fragte sich, ob sie ihr Leben lang in spiritueller Hinsicht blind gewesen war und ihr diese Blindheit nichts als Schmerz gebracht hatte. Sie hatte sich frei und rückhaltlos dem Leben hingegeben – was aber hatte ihr das Leben zurückgegeben?

Sie lächelte, drehte sich um und warf einen Blick auf die Uhr, die auf dem Schreibtisch am anderen Ende des Zimmers stand. Aber aus irgendeinem Grund hinterließ die Position der Zeiger, die über das Ziffernblatt wanderten, keine Spur in ihrem Geist. Sie registrierte nicht wirklich, wie spät es war.

Langsam ging Nolya durchs Zimmer und blieb an einem Tischchen stehen, um sich aus einer kleinen lackierten Kiste eine Zigarette zu nehmen. Sie zündete sie an und paffte in einer Art launischem Schweigen. Dann lächelte sie wieder, doch in ihr Lächeln mischten sich jetzt Tränen. Sie nahm eine Whiskeykaraffe von dem Tisch und füllte ein Glas halb voll. Sie hob das Glas in die Höhe, schaute lange und gedankenverloren darauf und betrachtete die bernsteinfarbene Flüssigkeit, durch die das Licht der Lampe schien. Es kam ihr vor, als würden ominöse Gesichter und Gestalten darin herumwirbeln und dann zu einem verschwommenen Schleier verschmelzen. Plötzlich fühlte sie sich einsam. Sie spürte, dass sie aus einer geschäftigen, beständig umhereilenden Welt herausgenommen und in ein ernstes, karges Schweigen versetzt worden war. Ein Schweigen mit hohlem Widerhall, das aus einer trüben und düsteren Dunkelheit zu kommen schien. Was waren das für Gesichter, und was war das für eine Stille? Und was hatte es letztlich für einen Sinn, dass man Momente des Zweifels erlebte, wenn man sich einsam fühlte und sich einer inhaltsleeren Zukunft ausgesetzt sah, die nichts weiter für einen bereithielt als die Rastlosigkeit der Unzufriedenheit? Und was genau war Unzufriedenheit eigentlich, wenn man sie einmal genau analysierte? Unzufriedenheit entsprang dem Geist. Sie war ein schlauer, heimtückischer kleiner Geselle, der sich einschlich und mit rauer Stimme schadenfrohe Botschaften rief, die manchmal so dumpf klangen wie weit entfernte Trommeln.

Nolya ging ins Schlafzimmer. Martha hatte eine Lampe angemacht. Das Licht fiel glänzend über einen weichen Teppich und ließ das Zimmer warm und einladend aussehen. Sie öffnete ihr Kleid, schlüpfte hinaus und schmiss es in wilder Hemmungslosigkeit auf das Bett. Sich auf diese Art auszuziehen gab ihr manchmal das Gefühl, harten, kalten Ketten zu entkommen, die sie umschlangen.

Mit einem kleinen Seufzer legte sie sich auf die Chaiselongue. Ihre weiße Haut schimmerte in glänzendem Kontrast zu der matten schwarzen Seide ihres kurzen Unterkleides. Sie wirkte sehr schlank, ihre grazilen Beine waren lang und gerade.

Nolya lehnte ihren Kopf auf einen Stapel weicher Kissen zurück und betrachtete die Zimmerdecke. Dann gab sie sich ihren Gedanken hin, allerdings geradezu leidenschaftlich distanziert. So viele Dinge lagen hinter ihr und so viel mehr lag noch vor ihr, wenn sie am Leben blieb. Denn wenn man starb, war das schließlich das Ende. Der Tod war der Höhepunkt des Lebens. Man lebte, dann starb man. Dazwischen lag alles, was kam und ging, Eindrücke, Träume, Sehnsüchte, Fehler und die auf so bemerkenswerte Weise überwältigenden Leidenschaften.

Sie drehte den Kopf zur Seite, und ihr Blick fiel auf das Foto in einem Silberrahmen, der auf einem ovalen Tisch links von ihr stand. Das Licht der Lampe fiel über den Tisch und verwandelte dessen verblichenes Grün in eine eigenartige Bronzefarbe. Licht, ging es ihr durch den Kopf, war eine faszinierende Sache. Künstliches Licht, jenes Licht, das die schüchterne, noch zögerliche Dunkelheit mit seinen Strahlen durchschoss und ihr neuen Mut und Bedeutsamkeit gab. Licht war kämpferisch. Es kam kraftvoll und angriffslustig daher, um die Unsicherheit der Dunkelheit zu vertreiben. Licht schien auf Dinge und über sie hinweg und verlieh ihnen einen unwirklichen Reiz, den die Dunkelheit ihnen genommen hatte. Man legte seine Seele in das Grab der Dunkelheit, und da blieb sie, geduldig und ohne sich zu beschweren, bis das Licht kam. Dann folgte die schreckliche Analyse, so abstoßend grell in der Helligkeit, oder so unterhaltsam unwirklich, wenn man begann, sie zu zerlegen.

Das Licht auf dem Gesicht des Mannes in dem Silberrahmen. Es ließ das Gesicht auf beinah göttliche Weise unwirklich und beunruhigend weit weg wirken. Es machte das Gesicht außerdem zu schön. Und erweckte unausgesprochene Gedanken in den Augen zum Leben. Die Dunkelheit jedoch verhüllte das Gesicht, es war da, aber allein.