1. Auflage 2018
©opyright 2018 by Autor
Lektorat: Denise Bretz
Coverbild: Alida Montesi
Satz: Fred Uhde (www.buch-satz-illustration.de)
ISBN:978-3-95791-077-6
eISBN:978-3-95791-078-3
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Unsichtbar Verlag | Diestelstr. 1 | 86420 Diedorf
»I’ll begin again, with another new name And a whole new life, full of fortune and fame But in the 100th year, I’ll be right back here With the Dreaming Moon.«
The Magnetic Fields
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Über den Autor
Um halb sieben klopft der Frühdienst die Leute aus den Betten. Kris hört sie, seit sie im ersten Stock sind. Verschwitzt schlüpft er aus der Decke, müht sich in die Joggingklamotten und stapft ins Treppenhaus. Zwischen seinen Mitpatienten trottet er durch die morgendliche Klinik zum Frühsport. 60 süchtige Menschen drängen sich in die Kellerhalle. Kris zwängt sich nach ganz hinten. Die Vorturner stehen schon am anderen Hallenende bereit. Herr Lars, einer der Therapeuten, sitzt auf einer Bank und treibt die Nachzügler an. Im Raum stinkt es nach nächtlichem Schweiß und durchweichten Klamotten. Kris hat sich die ganze Nacht im Bett gewälzt und fühlt sich jetzt wie verheddert. Am liebsten würde er rennen, bis er wieder frei ist. Aber rennen darf er hier nur, wenn er dabei stehenbleibt.
»Wir laufen auf der Stelle!«, kommandiert der Vorturner, als alle Patienten da sind. Das Getrampel im Saal klopft Kris für zwei Schritte wach. Dann sind die Schritte plötzlich weg.
»Wir bleiben stehen!«
Zischender Atem trägt das Getrampel davon. Die Raumluft wird poliert von ungeputzten Zähnen.
»Wir atmen tief ein!«
Kris hält die Luft an.
»Wir atmen aus!«
Kris hält die Luft an. Auf seine Haut legt sich eine lähmende Schwere. Er atmet sie auf.
»Wir strecken die Arme zur Seite!«
Jemand bekommt eine Faust ab, aber es sieht aus, als wäre es ein Versehen. Herr Lars bleibt kommentarlos sitzen.
»Wir halten die Arme gestreckt!«
Erstes Keuchen zischt durch den Saal.
»Wir kreisen die Arme!«
Das Keuchen wird lauter. Verdruckst huschen Flüche durch den Raum.
»Wir kreisen die Arme!«
Kris verfolgt die Bewegungen seiner Nebenleute aus dem Augenwinkel. Keiner hat Lust auf diese Monotonie, aber keiner will als Erster aufgeben.
»Wir kreisen die Arme!«
Genervt steigen jetzt einige aus. Kris macht weiter. Er kann mit allem weitermachen, solange es ihn weit genug von der letzten Nacht wegbringt.
»Wir kreisen die Arme!«
Herr Lars sieht, dass nur noch eine Handvoll der Patienten mitmachen. Er beendet die Übung. Einige hoffen, jetzt schon vom Sport erlöst zu werden.
»Wir laufen auf der Stelle!«, peitscht sie der Vorturner zurück.
Die Luft ist jetzt so verbraucht, dass Kris denkt, kotzen zu müssen. Er stolpert zum Fenster und reißt es auf.
»Hey!« Herr Lars steht auf. »Nur kippen!«
Kris saugt die schneeklare Luft von draußen ein, dann schließt er das Fenster wieder.
Er riecht jetzt nichts mehr. Es ist kein fremder Gestank mehr im Raum. Es ist sein eigener und er läuft auf der Stelle vor ihm davon. So blind, dass es sich anfühlt, als könnte das klappen. Als der Vorturner den Takt für die Kniebeugen vorgibt, macht Kris mit, bis er vor Schwindel torkelt. Lieber keine Luft mehr bekommen, als diese Luft atmen, denkt er und hängt sich auch in die Liegestütze rein, als könnte er sich so in Einzelteilen von hier rauskatapultieren.
Der Platz ganz hinten in der Halle hat ihn zwar vor den prüfenden Blicken von Herrn Lars geschützt, aber als die Patienten nach dem Sport zum Duschen drängen, bemerkt Kris den Nachteil: Seine beiden Zimmerkollegen sind vor ihm zurück. An der Badezimmertür steht Kirchmann in Shorts und hat das Handtuch über die nackte Schulter gelegt. Die Dusche plätschert. Mostner war als Erster oben. Nach der Dusche wird er zumindest beim Frühstück nicht mehr nach Entzug stinken. Im Zimmer riecht es wie in einer Kläranlage der Euphorie. Die Nässe an Kris’ Haut sticht, als wären die Schweißtropfen Scherben, Teile eines Spiegels, der seit dem Entzug in ihm zerbrochen ist. Als er auf Morphium war, hat er sich darin gesehen, wie er sich immer sehen wollte. Jetzt ist Kris affig und die Überreste des Spiegels stechen sich durch seine Haut nach draußen. Die Bilder sehen jetzt anders aus. Als hätte er sich in eine Fratze verliebt. Als könnte jeder auf seiner Haut die Grimassen sehen, die er sich immer verkniffen hat. Abwaschen kann er sie jetzt nicht. Mostner lässt sich Zeit und Kirchmann wartet geduldig ab. Das Frühstück beginnt in einer Viertelstunde. Wer nicht pünktlich am Tisch sitzt, muss beim Spülen helfen. Kris hakt die Dusche ab, trocknet sich mit seinem Schlafshirt ab und schlüpft in die Klamotten von gestern.
An jedem Frühstückstisch sitzen zehn Leute. Kris setzt seine abweisendste Miene auf. Er sieht in keine Augen. Blickkontakt ist jetzt wie ein Griff auf eine heiße Herdplatte. Die Patienten sind in Gruppen eingeteilt. Kris ist in Gruppe C. Dazu gehören auch Roja, Lucy und seine Zimmerkollegen Kirchmann und Mostner. Außerdem sind da noch Hohnwald und der Gruppensprecher Boris. Kris hat den Plan, mit keinem von ihnen zu reden. Zehn Monate lang will er schweigen. Das hat er auch getan, als der Richter ihn auf Therapie statt in den Knast geschickt hat. Wenn Kris was gesagt hätte, hätte das auch nichts geändert. Also hat er für Worte erstmal keine Verwendung mehr. Das Frühstück zählt immerhin zu den erträglichsten Teilen des Tages. Es dauert nur eine halbe Stunde und die meisten dösen stumm vor sich hin. Diesmal hat Kris auch noch Glück. Er sitzt neben Lucy, die ein Buch unter dem Tisch versteckt hält und heimlich liest. Eigentlich ist das während des Essens verboten, weil es die Kommunikation hemmt. Das kommt Kris gelegen. Im Schatten von Lucys Abwesenheit geht auch er unter. Außerdem hat Hohnwald einen Lachanfall. Angefangen hat das, als Boris ihm das Müsli hingeschoben hat. Boris hat dabei nicht mal was gesagt. Als das Müsli vor ihm steht, ist Hohnwald schon so hartnäckig am Kichern, dass er nicht mehr nach dem Löffel greifen kann. Boris fühlt sich provoziert.
»Was ist los mit dir!?«, fragt er und funkelt Hohnwald an. Der versucht, sich gerade zu halten, und scheint einen Moment darüber nachzudenken, doch etwas in Boris’ Blick zieht ihm ein Grinsen auf die Lippen.
»Mann, lass mich lesen.« Lucy schaut auf und sieht Hohnwald besänftigend an. Das schluckt er, wird ruhig und greift nach dem Löffel.
»Hat jemand Milch?«, fragt Hohnwald höflich.
Lucy greift nach der Karaffe und hält sie ihm hin. Hohnwald wirkt distanziert, als hätte Lucy ihn mit dieser Geste vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. Dann beginnt sein Kopf zu zittern. Ein rhythmisches Geräusch schabt sich durch seinen Hals, die Mundwinkel verzerren sich. Hohnwalds Grinsen sieht aus, als wollte es sich durch Stacheldraht zwängen. Er versucht, den Lachkrampf zu unterdrücken, läuft rot an und wippt auf dem Stuhl hin und her. Boris steht auf und dreht sich zu Herrn Lars, der ein paar Tische weiter hinten das Frühstück im Auge behält.
»Hey! Hier geht’s jemandem nicht gut!«
Der hünenhafte Betreuer erhebt sich und kommt zum Tisch.
»Was ist los?«
»Hohnwald lacht die ganze Zeit.«
»Na und?«
»Es gibt keinen Grund dafür.«
»Wieso gibt’s keinen Grund zu lachen?«, fragt Herr Lars.
»Weil nichts Komisches passiert.«
»Willst du Hohnwald vorschreiben, was er lustig finden soll?«
»Ich mein nur, wir haben doch auch ein Recht zu lachen, oder?« Boris blickt fordernd zu dem Therapeuten auf.
»Dann erzähl nen Witz …« Herr Lars rückt näher. »Hey!« Hohnwald verkneift sich ein Grinsen. »Was ist so komisch, hm?«
»Ich weiß es nicht«, presst der hervor.
»Geht’s dir schlecht?«
Hohnwald zuckt die Schultern.
»Okay, das wird schon wieder«, sagt der Betreuer.
Hohnwald sieht Herrn Lars in die Augen, dann senkt er den Kopf um sein Grinsen zu verstecken.
»Wollen sie nichts dagegen tun?«, fragt Boris.
»Wieso? Nehmt euch ein Beispiel an ihm«, rät der Therapeut und dreht sich in die andere Richtung. »Ach ja … Lucy, gib mir dein Buch!«
»Ok, wann?« Lucy, die das Buch auf ihren Schenkeln hat, macht auf unschuldig.
»Jetzt! Lesen ist verboten während des Essens, das weißt du doch.«
»Ich esse nicht.«
»Wenn du nichts isst, kannst du dich auch nicht aufs Lesen konzentrieren.«
»Na und? Dann les ich die Sätze halt zweimal.«
»Nicht hier!«
»… okay, dann geh ich nach oben.«
»Lucy, gib mir dein Buch oder du spülst die nächsten zwei Tage!«
Lucy legt den Roman auf den Tisch und schiebt ihn dem Betreuer angewidert zu.
»Du hast doch viel mehr davon, wenn du mit den anderen redest.« Herr Lars steckt das Buch ein, dann geht er zurück zu seinem Platz.
Lucy verschränkt die Arme, sinkt in den Stuhl zurück und sieht sich genervt in der Runde um. Schweigend streifen einige ihren Blick.
Nur Hohnwald, der das Ganze mitangesehen hat, erwidert ihre Kontaktaufnahme mit sanftem Lächeln. Kris schaut auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Dann beginnt die Arbeitseinteilung in der Turnhalle.
»Borsen, Malzmann: Fenster. Hürth, Segovic: Flure. Sassoko, Repel: Gruppenräume. Schnieglinger: Turnhallentoilette.«
»Was!?«
»Sie putzen die Turnhallentoilette, Herr Schnieglinger.«
»Das ist unfair!«
»Was meinen sie, wie unfair es in echten Jobs zugeht?« Frau Born mustert ihn scharf.
»Wie unfair es in Ihrem Job zugeht, seh ich ja gerade.«
»Wie bitte?«
»Warum soll ich nen Job machen, der nicht fair ist?«
»Fair ist, Verantwortung für Ihre Mitpatienten zu übernehmen.«
»Fair ist, mich nur den Dreck wegmachen zu lassen, den ich verursache.«
»Nein, Herr Schnieglinger, das ist Suchtverhalten. Sie kümmern sich nur um sich selbst!«
»Ich trag ja auch genug Probleme mit mir rum.«
»Deswegen sollten Sie was dagegen machen.«
»Meine Probleme haben aber doch nichts mit dieser Toilette zu tun!«
»… dann haben Sie dort ja auch Ruhe vor Ihnen! Kabak, Raticek: Müll. Streb, Clastro: Zimmer. Herr Schubert macht die Putzkammer.«
Kris steht neben Clastro in einem der Zimmer und sieht zu, wie dieser eine Bettdecke frisch überzieht.
»Wir sind hier nicht im Ritz«, erklärt Clastro. »Aber man kann schon Qualität erwarten. Und ich mein nicht die Qualität der Bettwäsche. Ich mein die menschliche. Weißt du, was ich alles hätte klauen können in den letzten Monaten? Weißt du, wie viele geheime Briefe ich hätte lesen können? Seit zwei Monaten schickt mich Frau Born jeden Tag durch die Zimmer und sie weiß, dass nichts passiert. Das find ich geil!«
Kris stülpt den Bezug vom Kissen.
»Aber weißt du was? Ich find das nicht geil, weil ich ihr was beweisen will. Frau Born ist mir scheißegal, ich find’s geil, weil ich mir selber was beweisen will. Ich brauch die Scheiße einfach nicht. Ich brauch gar nichts mehr. Keine Sachen zum Verticken, kein Zeug. Ich bin frei, verstehst du?«
Kris greift nach dem frischen Überzug und tastet das Kissen nach den Ecken ab.
»Wenn du mich fragst, machen wir’s uns alle viel zu schwer. Und die Betreuer machen’s uns noch schwerer, aber irgendwann nerven sie dich hier so an, dann siehst du entweder, wer du bist, oder du drehst durch. Hat bei mir ne Weile gedauert. Aber jetzt geh ich meinen Weg. Und wenn mich im Vorstellungsgespräch jemand fragt, was ich die letzten Monate gemacht hab, sag ich: Ich hab damit aufgehört, mir Nadeln in den Arm zu stecken! Und wenn mein neuer Chef das nicht gut findet, dann kann er mich mal! So einfach ist das. Die Fresse halt ich vor niemandem mehr! Schon gar nicht vor Leuten, die nie was erlebt haben …«
Schweigen.
»Was willst du später machen?«, fragt er Kris.
Der sieht auf und fragt sich, ob er nachdenken soll.
»Aber du bist neu. Bei dir dauert das noch ne Weile, das seh ich schon. Beneid ich dich nicht drum, sag ich dir ganz ehrlich. Ist heute mein letzter Dienst. Morgen können die mich alle mal. Die hier drin und die draußen sowieso«, sagt Clastro und wirft das Laken zur restlichen Dreckwäsche.
11.30 Uhr. Eine Viertelstunde Pause. Geraucht werden darf nur im Gruppenraum. Der ist jetzt, wo alle frei haben, gnadenlos überfüllt. Kris braucht trotzdem eine Kippe und schleicht sich durch den Dunst hinein. Neben Boris, dem Gruppensprecher, ist ein Platz frei. Kris setzt sich hin und dreht sich eine.
»Sag mal nen Namen«, fordert ihn Boris auf.
»Wieso?«
»Sag einfach mal den ersten Namen, der dir einfällt.«
Kris sieht ein, dass es schwierig werden wird, zehn Monate nicht zu sprechen. Immerhin lenkt ihn die Frage vom Entzug ab, also grübelt er.
»Ohne lange nachzudenken«, beharrt Boris. »Einfach nen Namen.«
»Amanda.«
»Amanda?«
»Wie … Amanda Palmer.«
»Okay, der ist gut«, sagt Boris.
»Du siehst auch aus wie ne Amanda!«, hört Kris hinter sich. Es ist eine Frauenstimme. Als er sich umdreht, merkt er, dass er zu weit gegangen ist. Roja, mit der er bisher noch kein Wort gesprochen hat, nimmt ihn scharf ins Visier. Sie sehen sich einen Moment lang an, bis Kris sich wegdreht und spürt, dass da jetzt etwas im Raum ist, über das er stolpern wird, wenn er nicht aufpasst.
»Amanda is’n schöner Name. Passt zu dir«, spricht ihm Hohnwald Mut zu.
»Jetzt lasst ihn doch mal in Ruhe! Habt ihr überhaupt ne Ahnung, wer Amanda Palmer ist?«, drängt Lucy dazwischen.
»Das ist mir egal, wer das ist! Ich weiß nur, dass er ne Amanda ist, das reicht!«
Roja funkelt kampfbereit in die Runde.
»Es ist egal, wer hier was ist«, murmelt Boris. »Das war eine ehrliche Antwort und die respektieren wir jetzt einfach.«
»Halt die Fresse!«
»Was willst du?« Boris dreht sich zu Roja um.
»Führ dich nicht auf wie der Boss!«
»Ich bin hier der Boss!«
»Du bist’n Niemand, Boris …«
»Hältst du dich für was Besseres?«
»Typen wie dich ess ich zum Frühstück.«
»Aha … Und ich dachte, Crystal isst du zum Frühstück.«
»Du willst mich wirklich provozieren, hm?«
Roja springt auf und funkelt Boris an. Der sieht sie zögerlich an. Eigentlich will er hier nur in Ruhe rauchen, aber er weiß, dass es jetzt dafür zu spät ist. Boris steht auf. Er ist groß und breit, aber Roja ist größer und breiter. Leichtfüßig bewegt sich der Gruppensprecher auf sie zu, als würde er die Kraft nicht stören wollen, die in ihm schlummert. Roja stolziert ihm entgegen, als könnte sie damit alles an Aufruhr wecken, was in ihr steckt. Jetzt stehen sie sich gegenüber und sehen sich scharf in die Augen.
Lucy schiebt sich zwischen sie und drückt sie auseinander.
»Kommt schon, gehen wir runter. Ist doch egal, wer was zum Frühstück isst.«
»Natürlich ist das egal … Aber es ist nicht egal, was er sagt!«
Roja sieht Lucy nicht an. Ihr Blick bohrt in Boris, der sich über die Stoppelfrisur streift und überlegt, ob er sich verteidigen oder nachgeben soll.
»Ok, war nicht so gemeint, sorry«, lenkt Boris schließlich ein.
»Das sagst du jetzt.«
»Das wolltest du doch hören, oder?«
Lucy, die eineinhalb Köpfe kleiner und höchstens halb so breit ist wie Roja, schiebt ihre Zimmerkollegin weiter nach hinten. Die blickt noch immer mürrisch, aber lässt sich von Lucy leiten.
»Sag das nicht nochmal!« Roja reckt Boris das Kinn entgegen, als wäre es ein Messer, mit dem sie ihm eine Warnung in die Haut ritzen könnte. Boris bleibt stehen und wartet den Moment ab, den er braucht, um seine Standhaftigkeit zu beweisen. Dann sieht er auf die Uhr. Zeit zum Mittagessen.
Kris folgt den Leuten aus seiner Gruppe. Er geht langsam. Er weiß, dass er sowieso nicht weit kommt. 45 Minuten werden sie jetzt zusammensitzen. Und selbst wenn er aufs Klo will, muss er erst umständlich fragen.
Am Tisch sitzt ein Neuer. Er sieht harmlos aus. Sein Blick ist scheu. Seine Haltung gekrümmt. Die Segelohren sind halb verdeckt unter strubbeligen Strähnen. Die Gruppe verteilt sich auf den Stühlen um ihn herum. Als alle im Saal sitzen, stellt sich Herr Lars mit einem Block in der Hand in die Mitte des Saals und fängt an, die Namen herunterzurattern.
»Argwang?«
»Hier!«
»Bertram?«
»Ja!«
»Bigalke?«
»Anwesend!«
»Brandl …«
So geht das, bis alle im Saal ihr Dasein bestätigt haben. Dann wünscht Herr Lars einen guten Appetit. Drei Patienten im Kellneroutfit bringen die Teller an den Tisch. Jetzt geht es darum, zuerst den Teller von der Hand des Kellners zu greifen. Kris wartet ab, bis er als Letzter sein Essen vor sich stehen hat.
»Bist du das erste Mal hier?«, fragt Boris den Neuen, der sich als Billy vorstellt.
»Ja.«
»Wo warst du vorher?«
»Im Knast.«
»Lange?«
»Geht.«
Schweigen.
»Was hast du genommen?«
»Meistens Shore.«
»Haben hier denn alle Heroin genommen?«, fragt Boris.
»Du nicht?«, fragt Billy zurück.
»Bei mir ist das eigentlich ein Irrtum …«
»Dann geh nach Hause«, sagt Roja.
»Eigentlich bin ich nicht süchtig …«, klärt Boris auf. »Bei mir liegt’s an der Persönlichkeit.«
»Wieso haben sie dich dann hierhergesteckt?«, fragt Billy.
»Ich wollte hierher.«
»Hast du nie was genommen?«
»Doch … Alles, was ich kriegen konnte«, gibt Boris zu.
»Dann warst du ja doch’n bisschen süchtig.«
»Ja, aber nicht nach Drogen … Mit denen hab ich nur gespielt.«
»Mit deiner Wohnung hast du wohl auch nur gespielt. Und als du keinen Bock mehr auf das Spiel hattest, hast du sie einfach zerlegt«, stichelt Roja.
»Ich sag doch: Bei mir liegt’s an der Persönlichkeit, nicht an den Drogen.«
»Wo ist da der Unterschied?«, fragt Lucy.
»Sie haben nicht gewirkt bei mir …«
»Und jetzt sitzt du hier. Was für ne Zeitverschwendung …« Roja atmet durch.
»Die Therapie ist das Beste an der ganzen Scheiße!«, verteidigt sich Boris.
Roja verdreht die Augen und widmet sich ihrem Essen.
Schweigen.
»Wieviel H hast du am Tag gebraucht?«, fragt Boris.
»4 Gramm.«
»Wow!«
»War schlechtes Zeug.«
»Alter, du kannst froh sein, dass du noch hier bist.«
»Noch ist gut … Bin ja grad erst hier angekommen«, meint Billy.
»Hast du Bock auf hier?«
»Klar, ich muss echt runter.«
»Keine Angst, unten bist du hier. Ganz schön weit unten«, sagt Boris.
Billy grinst, dann fängt er an, im Gulasch zu stochern.
Nach dem Essen ist eine Stunde Pause. Kris legt sich ins Bett und starrt die Decke an. Nach ein paar Minuten kommt Mostner ins Zimmer und legt sich ebenfalls hin.
»Was is heut Nachmittag los?«, fragt er.
Mostner ist länger da als Kris, er kennt den Plan auswendig, aber ihm ist nach Konversation.
»Weiß nicht.«
»Bestimmt irgendne Gruppe«, denkt Mostner laut vor sich hin.
»Kann sein.«
»Diese Gruppen machen mich krank.«
»Mhm.«
»Nee, ernsthaft. Ich weiß, was mein Problem ist. Warum soll ich das vor allen ausbreiten?«
»Ja, versteh ich.«
»Gesund bin ich hier geworden.« Mostner erhebt sich, so dass Kris sehen kann, wie er auf sein Bett zeigt. »Ich hab mich gesund geschlafen … Ist eigentlich das gleiche wie auf Opium, nur natürlicher.«
»Ich schlaf nicht gut.«
»Ja, du bist affig, das seh ich … Wird besser …«
Schweigen.
»Wann wirst du entlassen?«, fragt Kris.
»In paar Wochen.«
»Was machst du dann?«
»Weiterschlafen.«
»Weiterschlafen?«
»Ja! Als ich drauf war, hab ich nie geschlafen. Nie. Ich hab mich weggeballert, dann bin ich aufgestanden und hab mich wieder weggeballert. Jetzt schlaf ich lieber.«
»Wie lang willst du schlafen?«
»Kommt drauf an … Erstmal so 16 Stunden am Tag.«
»Das ist lang.«
»Manchmal denk ich, 24 wären zu wenig.«
»Was machst du, wenn du nicht schlafen kannst?«
»Wenn ich hier was gelernt hab, dann schlafen.«
»Ich schlaf jetzt auch noch ne Runde«, sagt Kris.
»Gute Idee.«
»Hast’n Wecker gestellt?«, fragt Mostner.
Kris schüttelt den Kopf.
»Kein Problem, ich hab das im Griff.«
Kris wird wach, als jemand an die Tür hämmert. Dann knallt die Klinke runter und Boris stürmt ins Zimmer.
»Hey, wir haben Gruppe!«
Mostner pennt immer noch. Er hat sich weggedreht und gibt nur ein leises Grummeln von sich. Boris reißt ihm die Bettdecke weg. Mostner schreckt hoch. Er springt vom Bett und bäumt sich vor Boris auf.
»Was soll die Scheiße?!«
»Wir haben Gruppe!«
»Kein Stress, ich komm ja!«
Boris rührt sich nicht von der Stelle.
»Was ist?«
»Ich warte, dass du kommst«, beharrt Boris.
»Ich komme, wenn du aufhörst, so zu drängeln.«
»Ich würd nicht drängeln, wenn du pünktlich wärst!«
»Kann ich mir wenigstens noch schnell die Zähne putzen?«, bittet Mostner.
»Das hättest du vor fünf Minuten machen sollen!«
»Dann eilt’s ja jetzt umso mehr …«
Mostner schiebt sich an Boris vorbei und verschwindet im Bad. Jetzt dreht sich der Gruppensprecher zu Kris.
»Worauf wartest du?!«, herrscht er ihn an.
Kris will sich die Decke über den Kopf ziehen. Ich hab ja gar keine Zeit, auf etwas zu warten, denkt er. Aus dem Bad hört er die Geräusche von Mostners Katzenwäsche. Wieder mal war er schneller. Zähneputzen oder Gesichtwaschen hakt Kris ab. Er freut sich, dass er kurz die Augen zubekommen hat, schlüpft aus dem Bett und zwängt sich in seine verschwitzten Klamotten.
»Erklären Sie mir bitte, wie es der Gruppe geht«, eröffnet der Klinikleiter Dr. Drebel die Runde.
Sein Blick wandert durch die Reihe und bleibt an Hohnwald hängen.
»Ich?«, fragt Hohnwald.
»Ich bitte Sie.«
»Kommt mir alles harmonisch vor.«
»Wieso glauben Sie das?«
»Jeder macht seinen Dienst. Es gibt keinen Stress.«
»Stimmt das?«, fragt Dr. Drebel in die Runde.
Schweigen.
»Na schön … Dann möchte ich unseren neuen Patienten begrüßen. Bitte stellen Sie sich selbst kurz vor.«
Dr. Drebel deutet dezent zu Billy.
Der streicht sich durch die Haare, schaut zu Boden, macht die Beine breit und stützt seine Ellbogen drauf. Zeigefinger und Mittelfinger seiner rechten Hand klappen leicht nach vorne, als würde er nach einer Kippe greifen. Aber da ist keine Kippe. Da ist nur sein fester Atem, der so schnell geht, als würde er etwas schlagartig inhalieren.
»Ich bin Billy … Wisst ihr ja schon.«
Schweigen.
»Noch mehr?« Er sieht sich fragend in der Runde um.
»Erzählen Sie uns, was Sie hierherführt«, hilft ihm Dr. Drebel auf die Sprünge.
»Wollen Sie jetzt meine Lebensgeschichte hören, oder was?«
»Bitte nicht …« murmelt jemand in die Runde.
»Herr Hohnwald, sparen Sie sich diese Bemerkungen!«
»Er hat doch gefragt, ob ich sie hören will!«
»Sozialkompetenz bedeutet, den anderen ausreden zu lassen«, doziert Dr. Drebel
»Er wollte ja gar nichts sagen.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich spür so was eben … Im Gegensatz zu Ihnen hab ich Empathie.«
»Herr Hohnwald, gehen Sie auf Ihr Zimmer.«
»Aber …«
»Gehen Sie auf ihr Zimmer. Sie sind auf Klausur!«
Hohnwald schüttelt genervt den Kopf, steht auf und trottet aus dem Raum.
Dr. Drebel wartet geduldig bis er aus dem Zimmer ist.
»… also, fahren Sie fort«, wendet er sich an Billy.
»Naja, wo soll ich anfangen?«, fragt der.
»Das dürfen Sie sich aussuchen.«
»Ok, hm … Also, da ich hier jetzt auf Therapie bin, erwarten Sie sicher so was wie ne Beichte oder so.«
»Wir erwarten gar nichts. Wir sind hier ganz vorurteilsfrei«, sagt Dr. Drebel.
»Na dann … Eigentlich weiß ich gar nicht, wieso ich hier gelandet bin.«
»Sind Sie froh, hier zu sein?«
»Ja … Im Knast war’s scheiße … Wirklich scheiße.«
»Wieso warst du im Knast?«, fragt Roja.
»Schwerer Diebstahl.«
Sie schenkt ihm einen anerkennenden Blick.
»Wie bist du auf Drogen gekommen?«, fragt Lucy.
»Die waren irgendwie schon immer da … Als ob sie auf mich gewartet hätten. Aber eigentlich hat das angefangen, als mein Vater meinte, Typen wie ich landen sowieso in der Gosse. Eine Weile wollt ich ihm das Gegenteil beweisen, aber als die auch noch in der Schule damit angefangen haben, hab ich’s irgendwann selber geglaubt …«
»Du denkst also, die anderen sind schuld?«, wirft Boris ein.
»Nein, schuld bin ich selber, aber Unterstützung hatte ich auch keine …«
»Die haben Sie hier«, sichert ihm Dr. Drebel zu.
Billy sieht ihn an und versucht, einzuordnen, was er gerade gehört hat.
»Was wollen Sie hier erreichen?«, nimmt Dr. Drebel den Faden wieder auf.
»Ich will den Penn… Äh, den Leuten beweisen, dass sie unrecht hatten. Ich will beweisen, dass ich was tauge!«
»Woran erkennen Sie, ihrer Meinung nach, dass Sie was taugen?«
»Indem ich respektiert werde, für das, was ich tue.«
»Hier respektieren wir Sie erstmal schon dafür, dass Sie überhaupt da sind.«
»Für den Anfang schon mal nicht schlecht, würd ich sagen …« Billy grinst und erhebt sich aus seiner kauernden Haltung.
»Ja, für den Anfang ist das nicht schlecht«, stimmt Dr. Drebel zu.
Insgesamt zwei Stunden sitzen sie zusammen. Kris schaltet irgendwann ab. Er fragt sich, was er bei der Vorstellung gesagt hat. Ist erst ein paar Tage her, aber es kommt ihm vor, als hätte jemand anderes für ihn gesprochen. Bei der Begrüßung war er so viel selbstbewusster als jetzt. Zwei Sätze am Stück sprechen war da zwar auch schon problematisch, aber die einzelnen Sätze, die er sich hat abringen lassen, kamen mit einer Klarheit, die jetzt undenkbar ist. Diesmal geht es noch gut. Niemand spricht ihn direkt an. Danach verläuft sich alles. Nach der Gruppe ist bis zum Essen Zeit, die Dienste zu erledigen und die Zimmer sauberzuhalten. Das Bett muss den ganzen Tag über gemacht sein. Nahrungsmittel dürfen nicht auf den Zimmern sein. Staub und Dreck müssen sofort beseitigt werden. Kris hat nicht vor, irgendeinen Dreck zu verursachen. Er will einfach im Bett liegen, dadurch verursacht er keinen Schmutz. Zunächst mal will er aber eine rauchen. Das macht auch nichts schmutzig, bis auf seine Organe, aber denen hat er schon Schlimmeres angetan. Als er in den Gruppenraum kommt, sitzen Billy und Roja rauchend zusammen. Kris sucht sich ein Plätzchen am Rand.
»Hey Amanda«, begrüßt ihn Roja.
»Amanda?«, hakt Billy nach.
»So nennen ihn hier alle.«
»Wie kommst’n zu dem Namen?«
»Gute Frage«, sagt Kris.
»Der Name passt zu ihm.« Roja zuckt die Schultern.
Als Kris überlegt, was er Schlagfertiges kontern will, öffnet sich die Tür und Boris kommt rein. Er hat einen Notizblock in der Hand, setzt sich und schlägt ihn auf.
»Wir müssen die Dienste neu einteilen.«
»Du mit deinen Diensten …«
»Hohnwald ist auf Klausur. Wer soll jetzt bügeln?«
»Bügeln?!« Billy verzieht das Gesicht.
»Wir brauchen zwei Tischdecken für jedes Essen. Kommen noch die zwei für den nächsten Morgen dazu, macht 8 Tischdecken am Tag.«
»Ich soll 8 Tischdecken bügeln?«
»Wer sagt was von dir?«, geht Roja dazwischen. »Amanda soll bügeln.«
Boris überlegt.
»Wir teilen das auf. Jeder macht eine, Billy du machst zwei.«
»Wieso muss ich zwei machen?«
»Weil du neu bist.«
»Na schön … Ich bin mir nicht zu fein für so was.«
Billy nimmt einen tiefen Zug von seiner Kippe. Während er den Rauch ausbläst, erntet er bewundernde Blicke von Roja.
»Was ist eigentlich diese Klausur?«, fragt Billy.
»Wenn du auf Klausur bist, musst du in dein Zimmer. Jede Stunde darfst du einmal raus, um zu rauchen«, sagt Boris.
»Sonst musst du nichts machen?«
»Nee … Dienste hast du keine mehr und Essen bekommst du aufs Zimmer.«
»Das klingt doch nett.«
»Nach zwei bis drei Tagen musst du dich dann in die Großgruppe setzen.«
»Großgruppe?«
»Ist meistens in der Turnhalle. Du sitzt in der Mitte, die Betreuer sitzen vor dir, die anderen Patienten hocken um dich rum. Dann darfst du dich rechtfertigen.«
»Und wenn man sich nicht gut genug rechtfertigt?«
»Fliegt man raus …«
»Ich würd sofort zurück in den Knast wandern«, rechnet Billy vor.
»So geht’s den meisten hier …«
»Aber mal ehrlich, dann war das doch total übertrieben, den Typen wegen so was aufs Zimmer zu schicken.«
»Es war ne Kleinigkeit«, sagt Boris. »Aber genau darum geht es hier: um die Kleinigkeiten.«
Billy und Roja tauschen einen ironischen Blick aus. Kris drückt seine Kippe aus und ist froh, dass wieder jemand anderes die Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt hat.
»Ich bedanke mich bei Frau Born, Benno Schnieglinger, der Gruppe D und ›The Rock‹.«
»The Rock?«
»Dwayne ›The Rock‹ Johnson … Der Schauspieler!«
»Was hat der mit Ihrem Therapieerfolg zu tun, Herr Clastro?«
»Naja, als ich hierhergekommen bin, ging’s mir so dreckig, dass ich’s ne Weile nur vor dem Fernseher ausgehalten habe. Als ein Film mit ›The Rock‹ lief, hab ich mir vorgestellt, dass ich tot in meiner Wohnung liege und jemand mich nach Monaten findet, und nebenbei läuft dieser Film. Da bin ich mir wie ein Opfer vorgekommen. Dabei bin ich doch wie der Hauptdarsteller! Das hat mich so erschreckt, dass ich beschlossen habe, mit dem Fernsehen aufzuhören. Weil das geklappt hat, hab ich auch wieder dran geglaubt, mit dem Heroin aufhören zu können.«
»Danke, Herr Clastro.«
Die Leute im Speisesaal applaudieren. Clastro geht zum Betreuer, der in der Mitte steht, und holt sich die Medaille ab, die in der Töpfer-AT für ihn gegossen wurde. Er verneigt sich und geht zurück zu seiner Gruppe. Dann beginnen die Kellner, das Abendessen an die Tische zu bringen.
»›The Rock‹ … Was’n das für ne Begründung?«, fragt Billy.
»Keine Ahnung. Der Typ ist zum dritten Mal da. Da musst du dir so was einfallen lassen«, sagt Roja.
»Ich glaub, der packt das.« Boris dreht sich beeindruckt zu Clastro um.
»Du glaubst ja auch an ›The Rock‹«, sagt Roja.
»Glaubst du auch an etwas?«
Roja antwortet nicht.
»Erwischt, hm?«, triumphiert Boris.
»Ich glaub, dass du ne gebrochene Nase hast, wenn du nicht aufhörst, mich zu nerven.«
»Glaubst du, du hast ne Chance gegen mich?«
»Find’s raus, du Opfer!«
»Du denkst doch nicht ernsthaft, dass ich mich von dir provozieren lasse?«
»Nein, das denk ich nicht … Um sich provozieren zu lassen, muss man verstehen, was der andere sagt …«
»Wenn du mich nochmal so blöd anquatschst, geh ich zu Herrn Lars.«
»Kannst dich nicht selbst durchsetzen, hm?«
»Du weißt, dass von uns beiden nicht mehr viel übrig ist, wenn ich’s drauf anlege.«
»Von deiner Mama ist nicht mehr viel übrig!«
Boris legt das Besteck ab. Sein Gesichtsausdruck ist starr. Seine Mundwinkel straffen sich. Bis in die Nachbartische ist die Vorfreude darauf zu spüren, dass er gleich aufspringt und sich eliminiert. Doch er wird unterbrochen. Einer der Kellner steht mit einem Tablett am Tisch.
»Klausuressen Hohnwald!«
Kris wittert seine Chance, steht auf und nimmt das Tablett. Auch Lucy steht auf. Beide steuern aus dem Speisesaal. Endlich Luft. Endlich Ruhe, denkt Kris. Langsam gehen sie durch den leeren Flur ins Treppenhaus.
»Wir haben schon gemerkt, dass du ne Menge drauf hast«, sagt Lucy, während sie die Treppen hochsteigen.
Kris fühlt sich ertappt. Er will nicht antworten, aber er will Lucy auch nicht auflaufen lassen.
»Ich merk nichts davon«, sagt er.
»Die in unserer Gruppe schon.«
»Vielleicht haben die noch mehr drauf …«
»Würd mich wundern!«
»Mich nicht …«
»Mann, du machst dich ja selbst ganz schön fertig.«
»Ich bin auf Entzug, da fühl ich mich so.«
»Willst du dich besser fühlen?« fragt Lucy.
»Klar.«
»Dann mach was dagegen.«
»Tue ich doch.«
»Was denn?«
»Ich schau mir das alles hier erstmal an.«
»Und so lange versteckst du dich, hm?«
Kris nickt.
»Dein Versteck ist so offensichtlich, dass jeder drauf rumtrampelt. Ist dir klar, oder?«
»Dann such ich mir ein neues.«
»Wenn du hier ein Versteck finden willst, kannst du lange suchen …«
»Ich hab Zeit.«