Georg Schmidt
DIE REITER DER
APOKALYPSE
Geschichte des Dreißigjährigen Krieges
C.H.Beck
Mit dem berühmten Prager Fenstersturz im Mai 1618 begann ein gewaltiger Krieg, der Millionen Menschenleben fordern und bis 1648 drei Jahrzehnte andauern sollte. Bis heute ist diese beispiellose historische Katastrophe von Mythen überwuchert. Georg Schmidt, einer der großen Kenner der Epoche, legt aus Anlass des 400. Jahrestages eine Gesamtdarstellung des Dreißigjährigen Krieges auf dem neuesten Stand der Forschung vor.
Georg Schmidt ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Jena und einer der angesehensten Experten für die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Sein Wissen-Band zum Thema hat acht Auflagen erlebt. Bei C. H.Beck sind außerdem erschienen: Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert (2009) und Geschichte des alten Reiches (1999).
Gestern wird sein, was morgen gewesen ist.
Unsere Geschichten von heute müssen
sich nicht jetzt zugetragen haben.
Prolog
Eine Geschichte
Ein Komet
Die Reiter der Apokalypse
Die Erzählung
I.: SPUREN –
1. Ungewissheiten oder warum die Freiheit ängstigte
Die humanistische Öffnung
Der reformatorische Umbruch
Freiheit und Vaterland
Deutsche Freiheit
Türkenangst
2. Verhärtungen oder wie die Menschen
Gott vereinnahmten
Die Konfessionalisierung
Der niederländische Freiheitskampf
Die französischen Bürgerkriege
Die kleine Eiszeit
Wachsende Ungleichheit
Der Hexenwahn
Der prekäre Religionsfrieden
3. Krise oder wie Krieg zur Option wurde
Der Reichs-Staat
Union und Liga
Der habsburgische Bruderzwist
Konfrontation und Kompositionspolitik
Meinungen und Inszenierungen
Friedensappelle
Das europäische Staatengefüge
II.: DREISSIG JAHRE –
4. Böhmen oder wie ein regionaler Konflikt eskalierte
Die Tat
Das Zeichen
Krieg in Böhmen
Zwei Wahlen
Weichenstellungen
Die Schlacht
Kipper und Wipper
5. An den Rhein und nach Norden oder warum der Krieg immer neue Gebiete erfasste
Grenzüberschreitungen
Das Ende der Kurpfalz
Eine instabile Ordnung
Vorstoß nach Norden
Die dänische Intervention
6. Wallenstein oder wie der Krieg funktionierte
Der Aufstieg
Keplers Horoskope
Friedlands Wohlstand
Kriegskredite
Söldner
Militärgesellschaft
Waffen
7. Das Meer oder wie imperiale Visionen scheiterten
Siegeszug
Widerstand
Dänische Niederlage
Friedenswunsch und Kriegsziele
Der Lübecker Friede
Europäische Kriegsschauplätze
Das Restitutionsedikt
Entlassung
8. Werkzeug Gottes oder wie Gustav Adolf die Phantasie beflügelte
Motive
Aufladung
Der Leipziger Konvent
Magdeburg
Breitenfeld
Pfaffengasse
9. Schicksal oder wie der Krieg seinen Helden verlor
Die Rückberufung
München
Gräueltaten
Vor Nürnberg
Lützen
Werkzeug Gottes
10. Verwirrspiele oder warum Wallenstein sterben musste
Der Heilbronner Bund
Irrungen und Wirrungen
Ein präventiver Mord
Ein Kriegsjahr
Nördlingen
11. Der Prager Frieden oder warum der Krieg weiterging
Die Prager Koalition
Nationale Begeisterung
Das Ende einer Illusion
Schwedischer Behauptungswille
Ein neuer Kaiser
Alternative Friedenspläne
12. Uneinsichtigkeiten oder warum sich das Leiden verlängerte
Herzog Bernhards Krieg
In Deutschlands Mitte
Der Reichstag
Schwedische Siege
Vor dem Friedenskongress
Der dänisch-schwedische Krieg
Die Schweden vor Wien
III.: DER FRIEDEN –
13. Arrangements oder was zu regeln war
Die Ziele
Die Kongressorte
Die Delegierten
Das Zeremoniell
Grundprobleme
Entschädigungen
14. Der Vertrag oder warum es so lange dauerte
Der Hessenkrieg
Religionsfragen
Nebeneinander
Letzte Gefechte
Verständigungen
Das Reichsgrundgesetz
Der Exekutionstag
15. Bilanzen oder wie der Krieg bewältigt wurde
Opfer
Landwirtschaft
Gewerbe, Handel und Geld
Fürstenstaaten und Reichs-Staat
Deutsche Nation
Schule und Wissenschaft
Architektur und Kunst
Literatur und Musik
Konfessionsfragen
Friedensfeiern
Epilog
Gedächtnis
Urkatastrophe
Trauma
Mythos
Fazit
ANHANG
Dank
Anmerkungen
Prolog
I. Spuren
1. Ungewissheiten oder warum die Freiheit ängstigte
2. Verhärtungen oder wie die Menschen Gott vereinnahmten
3. Krise oder wie Krieg zur Option wurde
II. Dreißig Jahre
4. Böhmen oder wie ein regionaler Konflikt eskalierte
5. An den Rhein und nach Norden oder warum der Krieg
immer neue Gebiete erfasste
6. Wallenstein oder wie der Krieg funktionierte
7. Das Meer oder wie imperiale Visionen scheiterten
8. Werkzeug Gottes oder wie Gustav Adolf die Phantasie beflügelte
9. Schicksal oder wie der Krieg seinen Helden verlor
10. Verwirrspiele oder warum Wallenstein sterben musste
11. Der Prager Frieden oder warum der Krieg weiterging
12. Uneinsichtigkeiten oder warum sich das Leiden verlängerte
III. Der Frieden
13. Arrangements oder was zu regeln war
14. Der Vertrag oder warum es so lange dauerte
15. Bilanzen oder wie der Krieg bewältigt wurde
Epilog
Literaturverzeichnis
Verzeichnis ausgewählter Quellen (nur mehrfach zitierte Werke)
Literatur
Abbildungsnachweis
Personenregister
Günter Grass, 1979
Es war einmal ein langer, verheerender Krieg. Er tötete beinahe die Hälfte der Bevölkerung und ließ das Land nach einer langen Periode des Siechtums verwüstet, politisch zersplittert und ohnmächtig zurück. Es gab eine Zeit davor. Das große Volk in der Mitte Europas – so berichten die Meistererzählungen des 19. Jahrhunderts – hatte einst unter Führung Herrmann des Cheruskers seine Freiheit gegen die Römer behauptet und später deren Reich fortgeführt. Irgendwann im Mittelalter begann jedoch durch eigenes Verschulden und die Intrigen des Papstes der Verfall. Die Macht ging von Kaiser und Reich auf die fürstlichen Lehensträger über. Ein standhafter Mönch versuchte, das Reich über eine Reformation der Kirche gegen das Papsttum zu einen und zu retten. Während ein Teil der Fürsten seinen Vorstellungen folgte und die alte Kirche entmachtete, widersetzten sich ein «fremder» Kaiser und in seinem Gefolge die Stände, die den großen Sprung nicht wagten. Die Krise entlud sich im Dreißigjährigen Krieg, der eine zwangsläufige Folge der inneren Uneinigkeit war.
Mit dem Westfälischen Frieden hatten das verwüstete Land und die stark traumatisierten Überlebenden ihre Souveränität vollends eingebüßt. Er nutzte nur den ausländischen Siegermächten und den Reichsfürsten. Unter diesen befand sich mit dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm jedoch einer, der das Land in seiner tiefsten Erniedrigung vor dem völligen Zerfall bewahren wollte. Er stand in der Tradition Luthers und übernahm den Staffelstab von seinem Onkel Gustav Adolf, dem Löwen aus Mitternacht. Dessen Heldentod auf dem Schlachtfeld bei Lützen hatte verhindert, dass schon damals ein protestantisches Imperium entstanden war. Der Kaiser und das dahinsiechende Alte Reich behinderten zwar die aufstrebende Dynastie der Hohenzollern, wo immer es ihnen möglich war, konnten ihren Siegeszug aber nicht aufhalten. Aus Kurfürsten wurden Könige, die – beauftragt von Gott und der Geschichte – unbeirrt an ihrer Mission arbeiteten: der Gründung eines mächtigen deutschen Nationalstaates. Nach über zwei Jahrhunderten war die Tat 1871 vollbracht.
Diese Geschichte ist kein Märchen, sondern die zum Mythos geronnene Meistererzählung des Bismarckreiches. «Mythen sind keine Lügengeschichten», sie reduzieren Komplexität und lassen Gegenwärtiges in einer mehr oder weniger fernen Vergangenheit aufscheinen.[1] Sie definieren einen Ursprung und formen einen vorgeblich zeitlosen, Homogenität und Identität verbürgenden Kern, der mit ihrer Hilfe wiederum bewahrt werden soll. Der mit einer mythischen Mission verknüpfte Auftrag Gottes, der Ahnen oder der Geschichte sorgt jedenfalls für eine höhere Weihe und Vertrauen. Die alte Erzählung vom Werden des deutschen Nationalstaates wird zwar nur noch von wenigen geglaubt, lebt jedoch mit umgekehrten Vorzeichen weiter. Nach 1945 wurden aus Helden Schurken, und der glanzvolle preußisch-deutsche Aufstieg zum Nationalstaat geriet zum deutschen Sonderweg ins Verhängnis des Naziregimes und des Holocaust, der neuerlichen Verwüstung und der deutschen Teilung.[2] Die «Stunde null» und das didaktische «Nie wieder», der Wiederaufstieg aus Ruinen, das westliche Wirtschaftswunder und der etwas bescheidenere Wohlstand im Osten schufen einen neuen Mythos, der mit der Wiedervereinigung und der Ankunft im Westen zur Vollendung kam.[3] Der alte Mythos wurde nicht weiter gepflegt, verschwand aber nicht, sondern haftet als Imagination einstiger Größe im kollektiven Gedächtnis der Nation.
Darüber hinaus blieben Versatzstücke der alten Erzählung, insbesondere der Dreißigjährige Krieg, nahezu unberührt vom Vorzeichenwechsel. Er gilt als der Wendepunkt, an dem sich der vermeintliche Wechsel von der habsburgisch-reichischen zur preußisch-(klein)deutschen Nation vollzog. Das Erklärungsmuster des Tiefpunktes, der Urkatastrophe und des Traumas ist ebenfalls nicht verblasst. Die magischen Zahlen 1618 und 1648 begrenzen – so steht es in allen Geschichtsbüchern – ein kohärentes Geschehen, das Deutschland verwüstete und politisch entmündigte.
Die angebliche Traumatisierung des deutschen Volkes ist keine Folge des Krieges; jedenfalls ist davon vor dem 19. Jahrhundert nichts bekannt. Nahrungsmangel, erpresste Gelder und Kontributionen sowie Raub und Totschlag haben das menschliche Verhalten jedoch fraglos verändert. Bürger und Bauern taten Dinge, die sie vorher nicht getan hatten. Der «Superlativ des Entsetzens» findet sich in den Quellen,[4] weil die Klagenden ansonsten kein Gehör mehr fanden. Die einzelnen Versatzstücke des Leidens wurden aber erst im 19. Jahrhundert zur Urkatastrophe und zum kollektiven Trauma verdichtet, um den preußischen Weg zum kleindeutschen Nationalstaat historisch zu legitimieren. Der Aufstieg vom Tiefpunkt zum Platz an der Sonne entsprach alttestamentarischen Mustern, popularisierte die Hohenzollern als Phönix aus der Asche und bestätigte das Prinzip Gutes durch Böses.
Diese Rahmenerzählung gilt mehr oder weniger bis heute. Selbst der Westfälische Frieden stand auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg im Odium, ein Siegfrieden der anderen und Ausgangspunkt der politischen Ohnmacht und Unterdrückung der Deutschen gewesen zu sein. Die historische Forschung beschreibt den Westfälischen Frieden und das durch ihn erneuerte Heilige Römische Reich Deutscher Nation allerdings nicht mehr als Verlustgeschichte. Die ins kulturelle Gedächtnis eingebrannten Bilder einer Wüstenei, politischen Zersplitterung und eines Volks unter fremdem Willen hat sie jedoch nicht verdrängen können: «Der Glockenklang des westfälischen Friedens wurde das Totengeläut; was seitdem folgte, war die letzte langsame Zersetzung eines toten Organismus.»[5] Darum ging es: Die unzähligen Toten und die schweren Verwüstungen des Krieges wurden im 19. Jahrhundert zu dem politischen Argument funktionalisiert, dass der deutsche Nationalstaat souverän und mächtig sein müsse, damit sich der Dreißigjährige Krieg nicht wiederholen könne. Die damaligen Deutungskämpfe wurden historisch aus diesem Krieg abgeleitet. Ohne Bezug auf die richtige Lehre aus ihm schien nichts denkbar, was Deutschland sein oder «deutsch» bedeuten könne.[6] Um diesen Mythos hinter sich zu lassen, muss dieser Krieg vor allem aus dem nationalstaatlichen Deutungskontext der Urkatastrophe und des Traumas gelöst werden.
Unabhängig von der Zerstörungskraft und den Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieges sind die alten Deutungsmuster nicht mehr plausibel, weil sie das Geschehen nur mit der Vorvergangenheit, nicht mit der Gegenwart verbinden. Preußens Aufstieg und seine vermeintliche Mission zur Gründung des deutschen Nationalstaates tragen nur noch wenig zum aktuellen Verständnis der Welt bei. Es ist daher zu fragen, ob der Dreißigjährige Krieg mit aktuellen Problemen in eine erhellende Beziehung gebracht werden kann. Um voreilige Schlüsse und Vereinnahmungen des vermeintlich Vorbild- und Musterhaften zu vermeiden, muss allerdings daran erinnert werden, wie sehr dieser Krieg von den Zeitgenossen als verstörend fremd und anders wahrgenommen wurde.
Im Herbst 1618 sahen die Menschen voller Entsetzen einen riesigen, hell strahlenden Kometen am Abendhimmel. Gott hatte auf seine Tafel geschrieben. Da Kometen die kosmische Harmonie störten, galten sie seit der Antike als Unheilsbringer. Das Chaos am Firmament war kein bloßes Naturschauspiel, sondern ein Menetekel: «Niemals ein Comet hat gebrannt/Der nicht schadete Leuten/Stadt und Land.»[7] Die von den lutherischen Pfarrern mit ihren schrillen Bußaufrufen geschürte Angst zeigte ihre Wirkung. Die Menschen reagierten panisch. Gott war ihrer Sünden überdrüssig. Seine bisherigen Strafen, die latenten Hungersnöte durch die Klimaverschlechterungen, die Kriege und die todbringenden Seuchen hatten offenkundig die Menschen nicht wachgerüttelt und keine Verhaltensänderungen bewirkt. Mit dem Kometen kündigte er nun weitere Strafen, insbesondere die apokalyptische Trias, an: Krieg, Hunger und Pest.[8] Nichts lag näher, als den Schweifstern mit dem Krieg in Böhmen in Verbindung zu bringen. Die Prognosen wurden eindeutig: Eine lange Leidenszeit hatte begonnen, die wahrscheinlich erst mit dem Jüngsten Gericht enden würde.
Helwig Garth predigte am zweiten Advent 1618 über Kometen und ließ seine Kanzelrede drucken.[9] Der Superintendent und Pfarrer an der evangelischen deutschen Kirche St. Salvator in der Prager Altstadt reagierte wie viele seiner Kollegen auf diese Massenhysterie. Garth wollte die armen Sünder in ihrer Not nicht alleine lassen und nicht schweigen, wenn Gott vom Himmel herab predigte. Er nannte Schweifsterne eine Strafandrohung Gottes. Eindringlicher denn je mahnte er zu Reue, Umkehr und Buße. Garth war 1579 im oberhessischen Kirtorf geboren, hatte in Marburg und Straßburg studiert und zuvor im sächsischen Oschatz und Freiberg als Superintendent gewirkt.[10] Kenntnisreich klärte er seine Gemeinde über die Erscheinung am Himmel auf. Das Vorhaben war insofern heikel, als an diesem Sonntag die Perikope, der von der Kanzel zu verlesende Bibeltext, und die Predigt der synoptischen Apokalypse zu gelten hatte: der den Christen verheißenen Wiederkunft des Herrn.[11] Garth stimmte die Gläubigen deswegen nicht nur auf die bevorstehenden göttlichen Strafen, sondern auch auf das Jüngste Gericht ein. Mit dem Zeichen am Himmel erinnere Gott an das baldige Wiedererscheinen seines Sohnes. Die Gelehrten stritten zwar über die Substanz und das Wesen der Kometen, doch es sei gleichgültig, ob es sich um Meteore, Sterne oder schwefelige Dampfgebilde handle, ob sie Erscheinungen der supra- oder der sublunaren Sphäre seien, ob sie die Luft durch Verbrennung säuberten oder verunreinigten, ob sie Stürme, Dürre, Wassermassen oder etwas anderes verursachten. Kometen unterlägen wie alle Erscheinungen auch dann der göttlichen Allmacht, wenn sie natürlichen Ursprungs seien. Sie hätten stets Strafen und Plagen angekündigt, und das gelte auch diesmal.
Das erstaunliche astronomische Wissen, das Garth in der Druckfassung seiner Predigt ausbreitete, ging wohl auf den berühmten Astronomen Johannes Kepler zurück. Garth hatte ihm das Abendmahl gereicht, das Kepler 1612 in Linz, wo er nach dem Tod Kaiser Rudolfs II. lebte, verweigert worden war, weil er sich nicht der lutherischen Konkordienformel unterwerfen wollte. Auch der Superintendent könnte nach Prag gewechselt sein, weil ihm das orthodoxe Konkordienluthertum in Sachsen Schwierigkeiten bereitet hatte. In Prag gab es zwar lutherische Kirchen, aber kein rigides landesherrliches Kirchenregiment, das die konfessionelle Rechtgläubigkeit überwachte und erzwang.
Garth erkannte in dem Kometen ein Menetekel; als er ihn aber auch für das baldige Ende der Welt in Anspruch nahm, beließ er es jedoch bei Andeutungen. Gott zeige den Menschen die Rute, wie sie es selber gegenüber unartigen Kindern täten. Nur er kenne die zukünftigen und verborgenen Dinge, sodass es auf Erden keine Gewissheit geben könne. Jeder sehe die Not und das Ungemach, das die Feinde des wahren Glaubens in Böhmen verursachten. Angesichts der vielen und schweren Sünden dürfe sich niemand wundern, wenn Gott nun Prag wie einst Sodom und Gomorrha vernichte. Die Menschen müssten Buße tun, um für den Jüngsten Tag gerüstet zu sein. Nur daraus könnten sie Trost und Hoffnung schöpfen, denn Christus werde plötzlich erscheinen und alle Gottlosen verderben, die Gottseligen aber erlösen.
Im Krieg in Böhmen erkannte Garth eine gerechte Strafe. Und er versprach nicht, dass Buße und Gehorsam Gottes Zorn besänftigen würden.[12] Die um ihr Seelenheil bangenden, Trost suchenden und sich vor den in drastischen Bildern ausgemalten Höllenqualen fürchtenden Sünder verstanden ihn. Selbst für den Fall, dass trotz des Krieges um Böhmen der Frieden wiederhergestellt werde, mussten sie mit weiteren Strafen Gottes rechnen. Garth hütete sich allerdings, Näheres über die Endzeit, den Jüngsten Tag und Christi Wiederkunft auszuführen. Es war umstritten, ob die Endzeit mit Christi Geburt oder mit Martin Luthers Entlarvung des Papsttums als Antichristen begonnen hatte oder ob damit nur die wirklich letzten Tage dieser Welt gemeint waren. Die Gegenwart wurde jedoch auf jeden Fall als letzte Phase der Menschheitsgeschichte angesehen. Die Gläubigen kannten die biblische Überlieferung und die Offenbarung des Johannes. Sie wussten um die irdische Verfallszeit.
Wie Garth wollten sich die meisten Prediger nicht festlegen. Auch die Bibel bot Varianten. Für die den Juden im Alten Testament verheißene Ankunft des Messias galten das Schema der sieben Weltalter, das Augustinus der Nachwelt vermittelte, sowie die Vier-Reiche-Lehre der Danielprophetie. Letztere spielte in Mitteleuropa eine zentrale Rolle. Das Heilige Römische Reich war demnach das vierte und letzte der Universalreiche; Melanchthon hatte dies noch einmal bestätigt.[13] Mit seinem Untergang endete die Welt zumindest in ihrer bisherigen Form. Was danach kam, enthüllte die Offenbarung des Johannes. Sie entwirft die Bilder, die dem Jüngsten Gericht und dem Weltuntergang vorausgehen. Offen bleibt, ob nach Christi Wiederkunft das Ende der Welt in Raum und Zeit und für die Frommen das Heil im Jenseits folgt[14] oder ob die eschatologische Zeitenwende den Guten zunächst eine andere bessere Welt, eine fünfte Monarchie und ein tausendjähriges irdisches Paradies auf Erden verheißt.[15]
Die Anhänger der Hoffnung auf einen solchen Glückszustand, in dem der Satan in Ketten gelegt ist und die zum ewigen Leben Erweckten glücklich zusammen mit Christus auf der Erde lebten, orientierten sich an Joachim von Fiore. Dieser kalabrische Abt und Ordensgründer hatte im 12. Jahrhundert die harmonische Konstellation eines finalen diesseitigen Reiches vorhergesagt. Nach dem ersten Reich des Vaters und des Alten Testamentes, dem zweiten des Sohnes und des Neuen Testamentes sollte im dritten der Heilige Geist herrschen, der die Gerechten alle Freuden des Himmlischen Jerusalem genießen lassen werde.[16] Danach folge die Herrschaft des noch einmal losgelassenen Antichristen, die alles Bisherige überbieten und bis zu dessen endgültiger Überwindung dauern solle.[17] Trotz dieses noch zu durchschreitenden Jammertals gab Fiore dem irdischen Dasein ein hoffnungsvolles Ziel, wodurch seine Lehre sich von derjenigen einer entwicklungslosen biblischen Diesseitsordnung abhob. Auf seine Deutung bezogen sich diejenigen, die wie die böhmischen Taboriten im 15. oder die Münsteraner Täufer im 16. Jahrhundert den Beginn des tausendjährigen Reiches durch menschliches Handeln herbeiführen wollten.[18] Sie predigten Feuer und Schwert bis zum Sieg über den Teufel und seine irdischen Helfer.
Die Mobilisierungsstrategie eines solchen Heiligen Krieges stand im Gegensatz zu Luthers Verbot eines Glaubenskrieges. Vor allem aber barg sie unkalkulierbare Risiken: Mit dem Antichristen durfte niemand verhandeln, er musste bekämpft und besiegt werden. Die Verkünder eines tausendjährigen Friedensreiches stießen deswegen bei den Herrschern auf wenig Gegenliebe, denn sie bedrohten die diesseitige Ordnung. Die Pfarrer hüteten sich deswegen, mit den im obrigkeitlich orientierten Luthertum verpönten Lehren und Aufrufen zur Selbsthilfe in Verbindung gebracht zu werden.[19]
Für das Luthertum war mit der Identifikation des Papsttums als Antichrist das letzte Zeitalter angebrochen. Die Rückkehr von Jesus Christus und das Weltende standen unmittelbar bevor.[20] Die Gegenwart gehörte bereits zur Endzeit. Der Antichrist und seine Helfer mussten aber noch besiegt werden.[21] Jeder Krieg gegen Katholiken ließ sich wie im Übrigen auch die Türkenkriege als heilsgeschichtlicher Endkampf gegen den Satan und die Hure Babylon deuten. Es waren daher in erster Linie Lutheraner, die den Kometen in endzeitlichen Kontexten interpretierten.[22] Die Katholiken beließen es bei der Ankündigung göttlicher Strafen und sahen in den protestantischen «Ketzern» nur die Vorboten des Antichristen,[23] denen sie den lukrativen Markt astrologisch gestützter apokalyptischer Prophetien überlassen mussten. Ihnen verbot eine päpstliche Bulle, die Menschen von Sterndeutern abhängig zu machen und dadurch ihre Willensfreiheit einzuschränken.[24] Auch die Calvinisten unterdrückten solche wundergläubigen Praktiken stärker als die Lutheraner.
Während der im Januar 1619 am Morgenhimmel stehende Komet langsam verblasste, verglichen ihn viele Pfarrer am Dreikönigstag mit dem Stern der Weisen. Sie verzichteten jedoch auf die naheliegende Analogie des Weges nach Bethlehem und zum rechten Glauben. Stattdessen drohten sie weiter mit dem Zorn Gottes und seinen Strafen. Der Darmstädter Superintendent Heinrich Leuchter predigte hellsichtig, dass der schädliche Krieg in Böhmen rasch auf andere Gebiete übergreifen könne.[25]
Gott schickte diesen Krieg, und jeder kannte die Folgen: Gewalt, Hunger und Tod. Der Komet bestätigte, was die Prediger lange angekündigt hatten. Diese Eindeutigkeit veränderte die irdische Lage grundsätzlich. Der Krieg würde über Böhmen hinausgreifen und alle Menschen mit den biblischen Plagen heimsuchen. Ob Verhaltensänderungen, Buße, Reue und ein weniger sündhaftes Leben, das Jüngste Gericht noch abwenden könnten, war völlig offen. Die Pfarrer spendeten wenig Trost, vermieden aber den Modus einer Zwangsläufigkeit des bevorstehenden Weltendes. Sie ließen die Gläubigen in einem Entscheidungsdilemma zurück, das auch sie nicht lösen konnten: Die Menschen durften Gott nicht versuchen, indem sie nichts taten, keine Vorsorge trafen und den Krieg über sich ergehen ließen. Ebenso wenig durften sie aber Gott in sein Handwerk pfuschen, seine Strafen durch eigenes Handeln abzuwenden versuchen.
Die Menschen wurden für ihr sündiges Leben mit Kriegen, Hungersnöten oder Seuchen gestraft. Dies war nicht neu und entsprach den von den Pfarrern mit ihren Drohungen geschürten Erwartungen. Wenn Gott nun aber selbst mit einem riesigen Kometen drohte, musste die zu erwartende Strafe härter als alles Bisherige ausfallen. Sodom und Gomorrha waren vernichtet worden, der Komet war in weiten Teilen Europas zu sehen. Hieß dies nicht, dass nicht mit punktuellen, sondern mit großflächigen Strafen zu rechnen war? Würden die Reiter aus der Apokalypse des Johannes losgelassen und mit ihren verschiedenen Plagen gleichzeitig die Erde heimsuchen, um das Jüngste Gericht vorzubereiten? Die Pfarrer hielten sich bedeckt. Sie sprachen unbestimmt von Gottes Strafen und der apokalyptischen Trias. So blieb der Komet ein Disziplinierungsmittel in der Hoffnung, dass sich Gottes Zorn durch menschliche Verhaltensänderungen besänftigen und sein Strafgericht und das Weltende abwenden ließen.[26]
Die Gläubigen kannten die Offenbarung des Johannes: Nur das Lamm Gottes konnte das Buch mit den sieben Siegeln öffnen. Sobald dies geschehen war, erschien auf den Ruf «Komm» jeweils einer der vier Reiter.[27] Der erste hatte einen Bogen, saß auf einem Schimmel, erhielt eine Krone und zog aus, um zu siegen. Der zweite ritt ein feuerrotes Ross. Er bekam ein Schwert und die Macht, den Frieden zu brechen, damit sich die Menschen gegenseitig umbrächten. Die dritte Gestalt auf einem Rappen hielt eine Waage und sollte für Teuerung und Not sorgen. Den Abschluss bildete ein fahles Pferd, geritten vom Tod, dem die Hölle folgte. Er besaß die Macht, den vierten Teil der Menschen mit dem Schwert, mit Hunger und Pest und durch wilde Tiere zu töten. Die folgenden Traumgebilde bis zum Jüngsten Gericht sehen keinen Rückruf der Reiter vor. Waren sie losgelassen, war das Ende unabwendbar.
Anders als die Endzeit, die mit Luthers Entlarvung des Papsttums als Antichristen begonnen hatte, trafen die Reiter der Apokalypse die Menschen existentiell. Es drohte Chaos. Theologen und Pfarrer beließen es deswegen bei göttlichen Strafen, die heilsgeschichtlich nicht festgelegt waren. Diese «Spannung zwischen der Endzeitverkündigung und ihrer relativierenden Konditionalisierung» grenzte an einen theologischen Selbstwiderspruch.[28] Den bibelfesten Gläubigen blieb dies nicht verborgen. Der Krieg, das ungarische Fieber und die gewaltige Inflation der Kipper- und Wipperzeit trafen um 1620 zusammen. Die Angst vor Gottes Strafgericht verdichtete sich zur Angst vor dem Jüngsten Gericht, als die Plagen nicht endeten.
Wie jede Drohung verbrauchte sich freilich mit der Zeit auch diejenige mit den Strafen Gottes. Wo der Schrecken real geworden war, konnte es schlimmer kaum noch kommen. Krieg, Hunger und Seuchen hatten die Bevölkerung erheblich dezimiert, ihre Lebensgrundlagen weithin zerstört. Als im letzten Kriegsjahrzehnt der Tod mehr denn je wütete und die Verwüstungen ganzer Landstriche am größten waren, verschwanden die Berufungen auf die apokalyptischen Plagen und die Vorstellung eines gottgewollten Krieges oder gar eines Endkampfes gegen den Antichristen fast völlig. Die unter dem Krieg und seinen Folgen leidenden Menschen lösten das irdische Geschehen aus dem biblischen Horizont. Gott verlor seine Allzuständigkeit, und die Menschen wurden für ihre diesseitige Welt und ihre Kalamitäten selbst verantwortlich. Die Zukunft lag nicht nur in Gottes Hand. Das metaphysische Verweisgefüge brach als Instrument der Disziplinierung zusammen. Die apokalytischen Reiter blieben im «Metaphorischen» zurück. Sie stehen für die ambivalenten Erfahrungen mit den angedrohten Strafen Gottes, aber auch für die Dialektik der Aufklärung, denn heute kann sich die Menschheit selbst vernichten.[29]
Die Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts deuteten den Krieg als Strafe Gottes und bejubelten den Frieden, der die «deutsche Freiheit» sicherte. In vielen Meistererzählungen bilden dennoch der Dreißigjährige Krieg und der Westfälische Frieden als Tiefpunkt der Geschichte das unverzichtbare Scharnier zwischen einer Reformation, die Deutschland spaltete, und dem Nationalstaat, der es wieder einte. Für jede neue historische Rekonstruktion ist entscheidend, welche Perspektiven, Fragen und Rasterungen für das vergangene Geschehen gewählt werden, denn sie bestimmen über die Auswahlkriterien und die Anordnung der Quellen. Dafür gibt es keinen anderen objektivierbaren Maßstab als die Plausibilität und Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse. Der französische Philosoph Jean-François Lyotard hat im postmodernen Überschwang das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, als er um 1980 das Ende der Wissen verbürgenden Metaerzählungen ausrief.[30] Ohne sie fehlt dieser Maßstab, um, intersubjektiv überprüfbar, darüber zu entscheiden, ob historische Darstellungen als wissenschaftliche Erkenntnisse akzeptiert werden können oder nicht. Selbstverständlich müssen auch die Metaerzählungen ständig überprüft, aktualisiert und dem veränderten Wissen angepasst werden. Nur dann können sie ein Kompass sein, um Quellen zu finden, zu befragen, zu ordnen und zu deuten. Ohne Rahmung erscheint fast jede Rekonstruktion möglich, die den Quellen nicht eindeutig widerspricht. Die Beliebigkeit des «Alles geht» führt zu unzähligen im Einzelnen gewiss interessanten Geschichten, nicht jedoch zu historischen Erkenntnissen, weil das Geschehen vereinzelt und isoliert betrachtet und nicht mit übergreifenden Entwicklungen und schon gar nicht mit aktuellen Problemen in Beziehung gesetzt wird.
Die Verbindung des Vergangenen mit der Gegenwart war die Stärke der ungemein wirkmächtigen Meistererzählungen im 19. Jahrhundert. Damals führte kaum ein Weg an der Einsicht vorbei, dass der Westfälische Frieden das Reich zum Spielball fremder Mächte gemacht hatte. Heute gilt das nicht mehr, weil der Friedensvertrag wie das politische Gefüge des Reiches mit Hilfe der Systemtheorien und neuer Modelle von Staatlichkeit anders bewertet werden können. Nicht das vergangene Geschehen, sondern die Perspektive und die Deutungsmuster haben sich drastisch verändert und ermöglichen neue Erkenntnisse und Erzählungen.
Das Ringen um eine vermeintlich objektive Wiedergabe des Geschehens, um die Kriterien des Auswählens und um die Sicht des Autors thematisierte bereits das Theatrum Europaeum. Seine 21 dicken Foliobände erschienen zwischen 1633 und 1738. Die Autoren schöpften aus Druckschriften, Briefen, Akten und Verträgen sowie den sogenannten Avisen, den Zeitungen mit Nachrichten, die in den Städten an den Postlinien gesammelt wurden. Der Anspruch des Theatrum, das Zeitgeschehen ohne wertendes Zutun wiederzugeben, ist eine Mär, begründet aber bis heute die hohe Reputation dieses Werkes als historische Quelle.[31] Der Verleger und Hauptherausgeber Matthäus Merian warf in seiner Vorrede zur Neuauflage des zweiten Bandes dem kurz zuvor verstorbenen Johann Philipp Abelin, dem Autor des ersten Bandes, eine unseriöse Parteinahme durch eigene Urteile vor. Der Historiker hatte laut Merian die Pflicht, über die Dinge so zu berichten, wie sie sich zugetragen hatten.[32]
(Abb. links) Der zweite Band des Theatrum Europaeum illustriert 1633 auf dem Titelkupfer den hohen Anspruch dieses Werks. Die Zeit, die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens und die Fackel der Wahrheit entlarven Lügen, Verstellungen, Unwissenheit und Vergessen, die in einer Höhle hausen.
Der Konflikt um den Wahrheitsanspruch der Berichterstattung wird auf den Titelkupfern der ersten Bände des Theatrum Europaeum erörtert. Beim 1633 erschienenen zweiten Band dominieren Chronos als Symbol der Zeit, die Historia als magistra vitae und die Fackel der nackten Wahrheit das Geschehen, während darunter in einer Höhle Lüge und Verstellung, Unwissenheit und Vergessen hausen. Im Titelkupfer des dritten Bandes bläst Fama von einem Turm Nachrichten herab. Rechts und links von ihr sind Mars und Bellona platziert, Kampfesmut und Kriegskunst. Neben dem Turm stehen die für die nackte Wahrheit zuständige Historia und die beherrschten Leidenschaften (compta afectuum licentia). Diesmal sitzt im unteren Teil ein gekrönter Poet, der die eingehenden Nachrichten sortiert und in ein Buch schreibt. Seine Begleiter sind links eine gefesselte Frau – sie repräsentiert die lange verborgene Wahrheit, die jetzt ans Licht kommt – und rechts eine nackte Frau – die einfache Wahrheit, die anzustreben ist.[33] Doch genau dies ist nicht so einfach, wie ein weiterer Autor, der Arzt und Schriftsteller Johann Peter Lotichius, in seiner Vorrede zum fünften Band erläutert: Wie lässt sich die Wahrheit aus den unterschiedlichen Informationen herausfiltern?[34] Das Titelkupfer dieses Bandes beschäftigt sich nun nicht mehr mit dem Ringen um die Inhalte. Es zeigt die Schrecken des Krieges.[35]
(Abb. rechts) Im Titelkupfer des dritten Bandes des Theatrum Europaeum bläst 1639 Fama vom Turm die Nachrichten, für deren Richtigkeit die Geschichte und die beherrschten Leidenschaften (links und rechts vom Turm) sorgen. Im unteren Bildteil sortiert ein Historiker die einlaufenden Nachrichten; er bringt die verborgene Wahrheit, die gefesselte Frau links, als die anzustrebende einfache Wahrheit, die Frau rechts, ans Licht.
Auch bei strikter Beachtung der methodischen Regeln einer historischen Rekonstruktion – den Quellen gemäß, anhand der Forschung überprüfbar und plausibel – ergibt sich keine höhere Warte als der Standpunkt des Erzählers. Clio, die Muse der Geschichtsschreibung, öffnet den Schleier der Vergangenheit immer nur einen Spalt weit und gibt lediglich dasjenige preis, wonach gefragt wird. Deswegen darf keine Geschichtserzählung verschleiern, wonach sie sucht und welche Erkenntnisse den Quellen abgerungen werden sollen. Die vorliegende Darstellung schildert die militärischen, sozioökonomischen und mentalen Dispositionen der Akteure und Betroffenen. Die traditionellen Charakterisierungen des Dreißigjährigen Krieges als deutscher oder europäischer Glaubens-, Freiheits-, Wirtschafts- und Mächtekrieg werden nicht zurückgewiesen. Das Tableau wird jedoch um vier Beobachtungen erweitert: erstens die zeitgenössische Frage nach Gottes Wille und Strafgericht, zweitens die unbändige Angst, drittens den Kampf um die Freiheit und viertens den Zufall und das Rad der Fortuna. Die Akteure beklagten häufig den Mangel an Wissen und Informationen und mussten deswegen auf gut Glück entscheiden.
Wer vergangenes Geschehen rekonstruiert, darf die Möglichkeiten der Handelnden nicht überschätzen. Sie waren geprägt vom Zeitgeist ihrer Milieus, von der Bibel und den Vorgaben der Geschichte. Eine Erzählung des Dreißigjährigen Krieges kann sich deswegen nicht auf die Jahre zwischen 1618 und 1648 beschränken. Jeder historische Anfang besitzt Ursachen und jedes Ende Folgen. Die Spurensuche verdeutlicht, dass sich der Krieg 1617 weniger ankündigte als in manchen Jahren zuvor. Die labilen Verhältnisse schienen beherrschbar zu sein. Die prekäre Stabilität wog die Akteure in einer trügerischen Sicherheit. Die Historiker wussten es später besser. Sie brachten die «Fakten» in eine spezifische Reihenfolge. Eines folgte nicht nur auf das andere, sondern auch aus dem anderen. Die Kette belegter Evidenzen wurde durch die Erzählstruktur übermächtig, der Krieg zur zwangsläufigen Folge einer sich zuspitzenden Krise. Die einprägsame Vorstellung, die das Jahr 1618 mit der Engstelle einer Eieruhr vergleicht, widerspricht allerdings den empirischen Befunden. Es ist aber kaum zu klären, ob dieser Krieg purer Zufall, eine Laune der Fortuna, das Versagen oder der Wille der Handelnden war. Auch der Historiker kann nur auf die mögliche Rolle dieser Faktoren in komplexen Entscheidungssituationen verweisen.
Diese Neuerzählung beginnt mit dem Umbruch im späten Mittelalter. Die antiken Muster boten Alternativen zur bloßen Fixierung auf das Jüngste Gericht, und die Reformation löste die christliche Eindeutigkeit auf. Was die Elite als Befreiung empfand und bei ihr ein neues Lebensgefühl hervorrief, bereitete dem gemeinen Mann und seiner Frau Angst. Wenn die alte göttliche Ordnung nicht mehr galt, war die Welt aus den Fugen geraten und das Ende nahe; jeder musste Vorsorge treffen. Während Luther den Menschen mit dem Versprechen göttlicher Gnade die Angst nehmen wollte, versuchte das Volk, die Freiheit eines Christenmenschen in die weltliche Ordnung zu überführen. Dies misslang. Die vielgestaltig gewordene Welt vergrößerte die Sorge um das eigene Seelenheil. Die Suche nach dem richtigen Weg bildete den Hintergrund der vielen Krisen und Kriege des 16. Jahrhunderts. Diese führten zwar nicht direkt in den Dreißigjährigen Krieg, formten jedoch einen Horizont an Mustern und Vorbildern.
Als die Kämpfe 1618 in Böhmen begannen, grassierte in Deutschland die Angst, in diesen Krieg hineingezogen zu werden. Beredter Ausdruck dessen ist der Discursus politicus, eine anonyme Flugschrift aus dem Jahr 1618. Jede Regierung müsse, so heißt es hier, «Sezessionen, Unionen und Discordia» vermeiden, doch diese hätten sich nun «in unser vielgeliebtes Vaterland Teutscher Nation eingeschlichen». Der Kaiser werde zwar als höchste Obrigkeit anerkannt und die Bündnisse seien defensiver Art, doch die Evangelischen befürchteten täglich neue Angriffe der Spanier. Die Katholiken verwiesen auf die Verbindungen der Protestanten mit König Heinrich IV. von Frankreich. Sie wollten Frankreich und Dänemark in den Krieg ziehen und hätten ihnen dafür die Reichskrone versprochen. Die evangelischen Vorwürfe entsprächen zudem exakt denjenigen, die schon vor dem Schmalkaldischen Krieg 1546 geäußert worden seien: Papst und Kaiser hätten eine Liga gebildet, Soldaten verpflichtet und wollten die deutschen Fürsten ausrotten. Dies alles sei unbewiesen. Im Reich gebe es jedoch Katholiken und Protestanten. Daran werde auch ein Krieg nichts ändern. Nach vielem unschuldig vergossenen deutschen Christenblut müsse dann doch ein neuer Religionsfrieden geschlossen werden. Es sei mithin vernünftiger, nicht erst das «geliebte Vaterland» zu verderben. Jetzt fehle nur noch ein Anfang, und der Bürgerkrieg (bellum civile) beginne.[36]
Davor und zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges gab es nur wenige Texte, die in dieser Form die Vorstellung einer politischen Kultur über konfessionelle Differenzen hinweg besser ausdrückten. Kein anderer verteilte die Schuld freilich derart gleichgewichtig und erfasste die Sinnlosigkeit ähnlich präzise: Irgendwann müsse zu einer wenn auch vielleicht modifizierten Form des Status quo zurückgekehrt werden. Die Flugschrift rückte deshalb die Ausgestaltung der Reichsverfassung in den Blickpunkt. Dies ist auch deswegen bedeutsam, weil die Staatlichkeit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in der historischen Forschung bestritten wird. Das Reich besaß jedoch als ein politisches Gemeinwesen eine verfasste Ordnung, die sich aus Fundamentalgesetzen wie der Goldenen Bulle, dem Ewigen Land- und dem Religionsfrieden sowie den kaiserlichen Wahlkapitulationen zusammensetzte. Die Verfassung hielt das Reich zusammen und machte es zu einem Gefüge komplementärer Mehrebenenstaatlichkeit. Um die Ausgestaltung der Reichsverfassung wurde im Dreißigjährigen Krieg erbittert gekämpft. Der Westfälische Frieden bot dann das Grundgesetz, das auf allgemeine Zustimmung stieß. Es galt über anderthalb Jahrhunderte. Die Zeitgenossen zogen diesen normativen Rahmen nie prinzipiell in Zweifel, sie kritisierten allerdings die mangelhafte Exekutive.
Die Spurensuche nach Zufällen, Ungewissheiten und Alternativen, die Freiheit boten und Angst machten, konzentriert sich im ersten Teil auf mögliche Muster und Vorbilder für den Dreißigjährigen Krieg. Bei solchen Schlüssen von bekannten Wirkungen auf Ursachen und Motive ist allerdings, dies sei noch einmal unterstrichen, stets die Rolle des Nichtintendierten zu bedenken. Der Eindruck, dass die erzählten Entwicklungen unweigerlich auf den Dreißigjährigen Krieg zuliefen, muss unbedingt vermieden werden. Dennoch bleibt die Frage, ob die «Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte»[37], in denen sich das Spannungspotential am Beginn der Neuzeit entlud, den Konstellationen des großen Krieges entsprechen. Vertrauten die Akteure den bewährten Mustern, oder suchten sie neue Strategien und Lösungsmöglichkeiten? Geschichtserzählungen müssen das scheinbar Selbstverständliche hinterfragen und dürfen Komplexität nicht als Abwesenheit von Ordnung ansehen.
Begann der Dreißigjährige Krieg wirklich in Böhmen, und ergriff er das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, weil den Akteuren das Spiel mit den vielen Optionen entglitt? Der zweite Teil erzählt die Geschichte des Krieges als Ringen um eine neue politische und religiöse Ordnung. Überlagerte die Angst vor den Reitern der Apokalypse den Alltag und die täglichen Verrichtungen der meisten Menschen? Wie äußerte sich die Angst im Handeln und Verhalten von Soldaten, Bauern und Bürgern? Warum ergriff der Krieg immer neue Regionen, und warum dauerte er so lange? Was bewirkten die Interventionen der fremden Mächte? Retteten sie die Protestanten, oder verheerten sie lediglich die deutschen und die umliegenden Lande? Wofür kämpften die Spanier im Rhein-Main-Gebiet, die Dänen im niedersächsischen Reichskreis, die Franzosen jenseits des Rheins und die Schweden vor Wien? Welche Ziele verfolgten Wallenstein, Gustav Adolf oder Bernhard von Weimar? Warum gelang es dem Westfälischen Friedenskongress, den Krieg zu beenden?
Der dritte Teil zeigt, dass der Krieg und der Friedensschluss zum Menschenwerk wurden. Gefragt wird, welche innovativen und integrierenden Lösungen in Münster und Osnabrück gesucht und gefunden wurden, um den Konsens aller Beteiligten zu erreichen. Was war neu und zukunftweisend, und wie wurde die deutsche Freiheit gesichert? Warum wurden die Verhandlungen in Osnabrück zum Reichsverfassungskongress, und was bedeutete die Garantie der drei vertragsschließenden Mächte? Darüber hinaus wird nach den Folgen des Krieges gefragt. Die sozioökonomischen Bilanzen waren verheerend, die kulturellen ambivalent. Der Westfälische Frieden wurde bis zum Ende des Alten Reiches gefeiert und bewundert. Diese positive Einschätzung verkehrte sich im 19. Jahrhundert in ihr Gegenteil. Davon handelt der Epilog. Warum und wie wurde der Krieg zur Urkatastrophe, zum Trauma und schließlich zum Mythos?