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Tanja M. Sauer

DIE FLÜCHTIGKEIT

D E S   G L Ü C K S

Roman

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Die Summe unseres Lebens

sind die Stunden, in denen wir liebten.

Wilhelm Busch

1990 | NIEDERLANDE

Es war Sonntagnachmittag und Laurent langweilte sich. Er kickte mit dem Fuß nach einem rostigen Nagel, der aus dem Holzboden ragte, und konnte ein Fluchen nur schwer unterdrücken, als das Metall entgegen seiner Erwartung nicht durch den Raum flog, sondern fest im Boden verankert eine gut sichtbare Delle in seinem großen Zeh hinterließ. Heute roch es in der Stube besonders muffig und er hatte das Gefühl, dass der Duft mittlerweile in jeder Ritze der Sitzbezüge und hinter den Tapetenbahnen festgeklebt sein musste. Laurent beschloss, heute Abend nicht den Witzen und dem Schenkelklopfen der Gäste zu lauschen, die vorgaben, sich über die immer gleichen Pointen köstlich zu amüsieren, sondern raus an die frische Luft zu gehen. Dorthin, wo kein blau schimmernder Qualm aus Mündern und Nasen quoll, kein Geruch von Zigarren seinen Rachen füllte und sich ungefragt auf seine Zunge legte. Weg von dem Ort, wo ihm noch bis zum nächsten Morgen, auch nach ausgiebigem Zähneputzen, das Gefühl von fauligem Atem in der Kehle hängen würde.

Es war ein Leichtes gewesen, unbemerkt aus dem Raum zu verschwinden. Wie immer war seine Mutter mit den Vorbereitungen für die Speisen beschäftigt und würde seine Abwesenheit auch später nicht bemerken, denn dann kamen die Gäste in die kleine Wirtschaft und sie hatte für nichts und niemand anderen Zeit. Laurent wusste, dass heute wieder der Bauer vom Nachbarort dabei sein würde und Laurents Mutter beschäftigte sich mit diesem Mann intensiver als mit den anderen Gästen. Wenn er da war, ließ sie kein Auge von ihm und tänzelte wie ein aufgeregtes Huhn um ihn herum. Sie dachte sicherlich, es würde keinem auffallen, aber Laurent war mit seinen zehn Jahren ein durchaus frühreifer Bengel, er hatte eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe und einen sicheren Blick für »so etwas«. Unterm Strich jedoch war nur wichtig, dass sie heute definitiv keine Zeit für ihn haben würde und es nicht weiter auffiel, wenn er sich hinausschlich.

Sicherheitshalber schaute er sich dennoch aufmerksam um, bevor er aus der Tür in den Innenhof trat, der die Gaststube von dem dahinterliegenden Gehöft trennte. Schnell wie ein Wiesel lief er über den kleinen Grasabschnitt, um außer Sichtweite des Küchenfensters zu gelangen. Das Haus war ein für diesen Landstrich in Holland typisch gebautes, aus rotem Backstein und die großen Fenster nicht verhangen, damit keiner glaubte, seine Bewohner hätten etwas zu verbergen.

Kurz sah er hinauf zum Giebelfenster, hinter dem das Zimmer lag, das er sich zu seinem Leidwesen mit seiner pubertierenden Schwester Hannah teilen musste. Sicherlich war sie gerade wieder dabei etwas auszuhecken, womit sie ihn ärgern konnte. Schnell rannte er den Weg weiter, damit sie ihn nicht sah, falls sie zufällig am Fenster stand.

Obwohl das Jahr noch jung war, konnte man den Frühling bereits erahnen und Laurent freute sich auf die Zeit, wenn der Vater wieder anfangen würde, regelmäßig den Rasen zu schneiden. Er liebte den Geruch von frisch gemähtem Gras und konnte sich darauf verlassen, dass Bertrand penibel einmal die Woche den Rasenmäher anwarf, um die Halme exakt auf zwei Zentimeter herunterzustutzen. Sein Vater liebte die Genauigkeit, das Geordnete, Gerade, das ihm ein Gefühl von Sicherheit gab. Dazu gehörte natürlich auch, dass er von seinen Kindern Gehorsamkeit erwartete, die er mit aller gebotener Strenge, doch ohne die allgemein übliche körperliche Züchtigung durchsetzte, da ihm jegliche Form von Gewalt ein Gräuel war. Bertrand liebte seine Kinder. Auch wenn ihm die Fähigkeit, Wärme und Geborgenheit zu vermitteln, nicht wirklich gegeben war, so war er doch ein guter Vater. Und der einzige im Ort, der seine wenig freie Zeit, die die Wirtschaft ihm ließ, damit verbrachte, seinen Kindern Schwimmen oder Fußballspielen beizubringen.

Laurent lief schnell und trotz seiner guten Kondition ging sein Atem nach einigen hundert Metern schwerer, sodass er die Geschwindigkeit reduzieren musste. Sein Ziel war die kleine Einbuchtung am Wasser, an der sein Vater einen langen Steg gebaut hatte, wo im Sommer die kleinen Segelboote festmachten. Die großen Plattbodenschiffe lagen weiter vorne am Hafen und sobald es warm wurde, kamen Gruppen von Touristen, fluteten die mächtigen Boote und somit auch die umliegenden Dörfer. Jedes Jahr im April begann ein buntes Treiben, aber zu der jetzt winterlichen Jahreszeit verirrte sich kaum einer in den kleinen Ort, was Laurent die Möglichkeit gab, in aller Ruhe ein paar flache Steine über das Wasser flitzen zu lassen. Von Weitem sah er jedoch, dass offensichtlich noch jemand auf die Idee gekommen war. Da er von hinten das kleine Mädchen nicht gleich erkannte, wollte er schon wieder umdrehen, als er plötzlich ihre Stimme hörte.

»Laurent, komm’, sei kein Frosch. Mir ist so langweilig … bütte …« Theresa saß am Ende des Stegs und versuchte, mit ihren kleinen Zehen das Wasser zu berühren, die, aufgrund ihrer kurzen Beine, noch ein gutes Stück von der Oberfläche entfernt waren, sodass sie sich gefährlich weit nach vorne streckte.

Trotz der Entfernung und obwohl sie sich nicht zu ihm umgedreht hatte, verstand er ihre Worte gut. Die langen, braunen Haare fielen ihr sanft über die schmalen Schultern und schirmten ihr Gesicht nach beiden Seiten ab. »Guck’ mal, da unten sind große Fische«, rief sie aufgeregt. »Ich kann sie ganz deutlich sehen. Komm’, schnell!«

Laurent wollte Theresa nicht das Gefühl geben loszurennen, sobald sie nach ihm rief, dennoch verlängerte er seine Schritte. Es beunruhigte ihn, wie sie da mit ihrem kleinen Hintern auf der Kante saß, sich immer weiter nach vorne streckte und augenscheinlich nur noch knapp das Gleichgewicht halten konnte. Trotz ihrer erst sechs Jahre war sie, wie alle Kinder, die am Wasser aufwuchsen, eine gute Schwimmerin, doch zu dieser Jahreszeit war das IJsselmeer eiskalt und somit war es unmöglich, länger als einige Minuten mit dem Kopf über der Oberfläche zu bleiben. Er wollte sich nicht ihre vor Schreck weit aufgerissenen Augen vorstellen und wie sie mit den Ärmchen ruderte, wenn sie erst einmal kopfüber hineingefallen wäre. Andererseits machte es keinen Sinn, sich um Theresa Sorgen zu machen; ihr würde sowieso nichts passieren. Niemals passierte Theresa irgendetwas Schlimmes, nicht einmal einen blauen Fleck vom Spielen hatte sie in ihrem Leben davongetragen und er war ziemlich sicher, dass das auch so bleiben würde. Theresa hatte die Gabe, sich immer, kurz, bevor etwas passierte, in Sicherheit zu bringen – so als könne sie sehen, was als nächstes geschah.

Schon mehrmals hatte sie dadurch auch Laurent vor Verletzungen oder Schlimmerem bewahrt. Letztes Jahr zum Beispiel waren sie beim Eislaufen fast auf den zugefrorenen Bächen eingebrochen. Stundenlang liefen sie, ohne dass etwas passierte, bis Theresa plötzlich laut aufschrie. Es war kein Geräusch von brechendem Eis zu hören; meistens kündigte sich das durch ein Knirschen oder Knarren unter der Oberfläche an. Erst dachte er, sie wäre hingefallen, doch als er sich umdrehte, wedelte sie wild mit den Händen und deutete ihm an, sofort zurück zum Ufer zu fahren. Laurent hatte gelernt, dass es bei einem bestimmten Gesichtsausdruck Theresas besser war, ihren Warnungen zu folgen, und auch an diesem Tag sollte sie recht behalten. Eine Sekunde später brach das Eis quer über den Flusslauf und es war mehr als fraglich, ob Laurent die klirrende Kälte des Wassers lebend überstanden hätte.

Als er sie auf dem Steg fast erreicht hatte, setzte Theresa sich aufrecht hin, drehte den Kopf über ihre Schulter und blinzelte ihn keck von unten herauf an. Ihre hellbraunen Augen schauten unschuldig und sie streckte ihm ihre Arme in dem rosafarbenen Mäntelchen erwartungsvoll entgegen. Laurent war eigentlich sauer, dass sie so unvorsichtig gewesen war, aber er konnte einfach nicht böse auf sie sein, und so nahm er ihre kleinen Hände in seine, um sie hochzuziehen und zu wärmen.

»Ich wusste, dass du kommst.« Theresa schaute ihn vergnügt an. Laurent kniete sich hin, sodass er einen halben Kopf kleiner war als sie und betrachtete ihr vor Freude glühendes Gesicht. »Du weißt ja immer alles«, antwortete er grummelig. »Aber ich weiß auch etwas«, schob er schnell hinterher, bevor sie wieder losplappern konnte. »Dass du bei der lausigen Kälte hier besser nicht schwimmen gehst. Ich habe keine Lust, hinter dir herzuspringen und dich zu retten.« Theresa kicherte, doch Laurent versuchte ernst zu bleiben. »Gib mir deine Hand, wir gehen hinein. Meine Mutter hat etwas zu essen gemacht.«

»Ich mag keinen Wirsingkohleintopf«, kam es nörgelig zwischen ihren leicht gekräuselten Lippen hervor. Laurent stockte in seiner Bewegung. Er hatte eigentlich auf ein Schnitzel spekuliert, denn die kleinen, leckeren Scheibchen hatten vorhin bereits auf dem Küchentisch gelegen, doch dann waren sie wohl für die Gäste bestimmt. Er wusste, dass Theresa nicht in der Küche gewesen war, aber ihm war auch klar, dass es definitiv Wirsingkohleintopf geben würde.

Hand in Hand ging er mit ihr zur Gaststube; seine Mutter würde nichts dagegen haben, dass Theresa bei ihnen zu Mittag blieb, denn das tat das kleine Mädchen häufiger. Die Häuser beider Familien lagen dicht beieinander und sie waren schon fast so etwas wie eine Großfamilie. Trotz ihres Altersunterschieds spielten Theresa und Laurent viel zusammen; sie hatte dem Jungen den Kopf verdreht, seit sie ihn das erste Mal mit ihren hellbraunen Augen aus dem Kinderwagen angeschaut hatte. Laurent war damals erst vier Jahre alt gewesen und obwohl ihn Babys nicht im Geringsten interessierten, war er nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Als er älter wurde, hänselten ihn die anderen Jungs, warum er immer mit dem kleinen Mädchen spielen wollte, aber für Laurent war Theresa wie eine Schwester. Allerdings eine nette, nicht wie seine richtige. Hannah war oft gemein zu ihm, wie es wahrscheinlich auch normal war, bei Theresa dagegen fühlte er sich vom ersten Tag an sicher. Als sie ein Baby war, meinte er, ihr Beschützer zu sein, doch schnell stellte sich heraus, dass es eigentlich Theresa war, die auf ihn aufpasste.

Obwohl Theresa noch klein war, wusste sie, dass sie Laurent eines Tages heiraten würde. Niemals erwähnte sie das, aber stellte es auch nicht infrage, wobei der feste Glaube daran allerdings nicht ihrer kindlichen Fantasie, sondern ihrer Gabe der Vorahnung zu verdanken war. Sie wusste, in welche Richtung sich das Leben entwickeln würde. Die kleinen Zwischeninseln, die man überqueren, überspringen, durchwandern oder durchfahren musste, um dort anzukommen, wo man hingehörte, konnte sie nicht sehen, aber das Wissen über die großen Ziele war ihr in die Wiege gelegt worden.

Laurent seufzte. »Wirsingkohleintopf ist gesund, komm’ jetzt.« Er beugte sich herunter, schlang seine Arme um Theresas Hüfte und hob sie sich kurzerhand wie ein erlegtes Tier über seine Schulter. Theresa gluckste und kicherte fröhlich vor sich hin, als er sie zum Haus trug.

JANNEKE UND BERTRAND

In ihrem gemeinsamen Leben hatten sie nie besonders viel Zeit für etwas anderes gefunden außer der Gastwirtschaft, die ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte und die sie nun bereits im zwölften Jahr gemeinsam führten.

Bertrand, Laurents Vater, hatte den Betrieb von seinen Eltern übernommen und sich nie gefragt, ob seine Frau mit ihrem Leben zufrieden war. Es war eine in die Jahre gekommene Gaststätte, doch im Winter war sie das einzige bewirtschaftete Lokal im Umkreis mehrerer Dörfer und auch wenn die Einrichtung teilweise verschlissen wirkte, konnten sie sich nicht über einen Mangel an Gästen beschweren.

Im Grunde genommen spielte es keine Rolle, ob seiner Frau nach der Hochzeit die Arbeit in dem Wirtshaus gefallen würde. Es gab keine Alternative. Zu Beginn ihrer Beziehung interessierte sich Bertrand noch für das Wohlbefinden seiner Gattin und freute sich, als sie sich begeistert der Küche widmete. Er konnte nicht ahnen, dass es für Janneke nicht das Kochen war, das ihr Freude bereitete, sondern die immer gleichen Abläufe, die ihr Sicherheit vermittelten und das Lob der Gäste, das ihr Selbstwertgefühl am Leben hielt. Stolz war er, eine Frau herzeigen zu können, die mit Eifer noch die gesamte Bedienung übernahm, ohne dabei zu ahnen, was sie wirklich antrieb.

Janneke war dankbar für jeden Tag, an dem sie lange und schwer arbeiten konnte. Am liebsten war es ihr, wenn ihr abends die Arme vom Tragen der schweren Tabletts brannten und die Füße vom vielen Hin- und Herrennen wundgelaufen waren. Nichts fand sie wichtiger als die Anerkennung der Gäste, für die sie bereit war, bis zur völligen Erschöpfung zu arbeiten.

Sobald die Gaststätte schloss, konnte sie stundenlang darüber grübeln, was für einen Fehler sie gemacht hatte, wenn einem Besucher das Essen nicht schmeckte oder er sonst etwas zu beanstanden hatte. Spät am Abend, wenn ihr Mann glaubte sie nur für sich zu haben, zog sie sich im Geiste zurück und beschäftigte sich mit neuen Gerichten, um ihre Gäste weiter zu beeindrucken; sie nahm sich vor, noch freundlicher und schneller zu bedienen und überlegte, wie sie es schaffen konnte, das Bier mit noch größerer Schaumkrone zu zapfen.

Währenddessen hielt sie Bertrand ihren Körper hin; es hätte ihrem Selbstverständnis widersprochen, sich zu verwehren. Ihr Mann hatte sich an ihren leicht geistesabwesenden Blick gewöhnt und irgendwann war es ihm auch nicht mehr wichtig, was sie empfand. Jedenfalls nicht, solange er sich bedienen konnte, wenn ihm danach war.

In den ersten Monaten nach ihrer Hochzeit war das noch anders gewesen. Eine kurze Zeitlang hatte er an sich selbst den Anspruch gestellt, seine Frau glücklich zu machen. Damals hatte er noch das Gefühl gehabt, ihr Körper würde auf seine Bemühungen mit lustvollem Verlangen antworten, doch die gefühlte Glut kühlte nach der ersten Schwangerschaft ab und obwohl sich Janneke auch in dieser Zeit ihm nicht verweigerte, war sie eine schlechte Schauspielerin. Falls sie, im Nachhinein betrachtet, überhaupt jemals versucht hatte über ihre gelangweilten Bewegungen hinwegzutäuschen.

In Wirklichkeit hatte sie sich nie für ihren Mann interessiert. Aber das Dorf war klein und die Alternativen überschaubar. Zumindest anfangs versuchte sie, sich für den Antrag erkenntlich zu zeigen, indem sie mit vorgetäuschter Freude ihre gelenkigen Beine spreizte, wann immer er es wollte, aber nach Hannahs Geburt sah sie keine Notwendigkeit mehr darin Begeisterung zu zeigen, sodass sie es nur noch tat, um ihre Ruhe zu haben. Sie schaltete ihr Bewusstsein in dem Moment ab, in dem sie zu Bertrand ins Bett stieg und hielt die Luft an, wenn er auf ihr lag. Sie glaubte, er würde es ohnehin nicht merken, genauso wenig, als wenn sie dabei gestorben wäre. Sein Geruch wurde intensiver, wenn er sich in ihr hin und her bewegte und ab und an schaffte sie es nicht, während der gesamten Zeit den Atem anzuhalten, sodass sie mit einem plötzlichen Japsen zu viel Luft einsog und ihr schwindelig wurde. Besonders schlimm war es, wenn sie zu lange durchgehalten hatte und der Raum zusätzlich durch den Erguss seiner ausströmenden Körperflüssigkeit geschwängert war.

Janneke kam ursprünglich aus einem kleinen Ort, der 20 Kilometer südwestlich von Hoorn, einem beliebten Ferien- und Ausflugsziel für Touristen und Einheimische am IJsselmeer lag. In Hoorn lagen im Sommer Dutzende von Booten im Hafen, weiße Yachten neben alten, ehrwürdigen Plattbodenschiffen, auf denen Schulklassen, weit weg von zu Hause, das Abenteuer Seefahrt probten oder Angestellte großer Firmen einem Teamevent beiwohnten, den sie nach einigen Tagen, nachdem sie noch beim Einchecken in Schlips und Kragen zähneknirschend die Planken betreten hatten, als das Innovativste sahen, was sie je getan hatten. Wie alte Seebären liefen sie plötzlich barfuß, in zerschlissenen Jeans, ihre Zigaretten selbst drehend über die Schiffe und die Erkenntnis, wie es auf den Weltmeeren zuging, konnte ihnen niemand mehr nehmen. Bereits nach den ersten Abenden unter Deck, bei Kisten voller Bier, war die Wiederholung des unsagbar motivierenden Teamevents beschlossene Sache.

Alles in allem war Hoorn ein Ort voller Leben, doch das so nahe gelegene kleine Dorf, in dem Janneke das Licht der Welt erblickte, hatte nichts von dem Glanz abbekommen und zählte mit seinen, bei der letzten Registrierung etwas über einhundert Einwohnern, zu den vergessenen Orten. Als Janneke dort aufwuchs, war es sogar nur eine zweistellige Zahl an Bewohnern, die die Einsamkeit jedoch nicht störte, da man allgemein befand, dass Fremde sowieso nichts Gutes bringen konnten. Bestätigt wurde ihnen das, als das unscheinbare, junge Mädchen von allen unerwartet einem Mann, der eigentlich nur zu Gast in der Gemeinde war, das Ja-Wort gab und einen Tag nach der Hochzeit für immer ihr Heimatdorf verließ. Sie wussten nicht, dass Janneke nur auf die erstbeste Gelegenheit, jemandem den Kopf zu verdrehen, gewartet hatte, um aus ihrem Zuhause und damit ihrem bisherigen Leben verschwinden zu können.

Was sicherlich nicht nur an der tristen Gegend lag. Jannekes Vater hatte ihr, bei schlechter Laune seinerseits und keinerlei Widerstand ihrerseits, heftig und oft mit dem Ledergürtel den Hintern versohlt. Das Klatschen des Riemens auf ihrem blanken Gesäß würde sie bis zum jüngsten Tag klar und deutlich in ihren Träumen hören, doch damit hatte sie sich bereits als kleines Kind abgefunden. Keiner in dem Dorf fand es ungewöhnlich, dass sie mit blauen Flecken herumlief, die das Leder hin und wieder an anderen Stellen als ihrem Hinterteil hinterließ. Die Bewohner waren sich sicher, dass eine Tracht Prügel noch niemandem geschadet hatte und es stand außer Frage, dass sie die wohl auch verdient hatte; der Vater würde sie schließlich nicht ohne Grund zurechtweisen müssen.

Janneke war ein zartes, durchscheinendes Wesen und ebenfalls davon überzeugt, dass sie die Strafen verdient hatte. Sie bemühte sich so sehr, alles richtig zu machen und ihren Vater zufrieden zu stellen, doch immer wieder enttäuschte sie ihn. Es wurde erst besser, nachdem sie zwölf geworden war und plötzlich von ihrem Erzeuger eine neue, andere Art der Aufmerksamkeit bekam. Für ihr Alter war sie groß gewachsen, hatte lange Beine, eine schmale Hüfte und bereits jetzt zeichneten sich zarte, winzig kleine Erhebungen an ihren Brüsten ab. Ihr Vater war nicht mehr so laut, redete ruhiger, nahm sie auf seine Knie, wenn er am Schreibtisch saß und malte oder schaute sogar Bilder mit ihr an, wobei er sie fest um die Hüften hielt und sanft in seinen Schoß drückte. Sie fand es nicht unangenehm, genoss die vermehrte Aufmerksamkeit sehr und wollte sie um nichts in der Welt wieder verlieren. Auch hatte er schon längere Zeit seinen Gürtel nicht mehr genutzt, sie war in seiner Achtung gestiegen, musste etwas richtig gemacht haben, denn der Vater holte sie immer öfter zu sich. Er schloss dann die Tür zu seinem Arbeitszimmer und sie waren ganz für sich allein.

Janneke heiratete Bertrand genau an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag; dem Tag, an dem sie offiziell volljährig wurde. Bevor Hannah geboren wurde, gab sie ihm nicht nur das Gefühl, ihre Welt sei in Ordnung, sondern für Bertrand war ihr gemeinsamer Kosmos ganz mit Glück befüllt. Für Janneke war es eine kurzfristige Befreiung, bevor sie schnell merkte, dass sie die alte Abhängigkeit lediglich gegen eine neue Form getauscht hatte. In all den Jahren gab es nur einen kurzen Sommer, in dem sie aus ihrem Leben floh. Es waren warme Tage, die Bertrand später aus seinem Gedächtnis strich, Janneke jedoch nie vergaß, denn es geschah etwas, was nicht vorgesehen, nicht erlaubt und für niemanden, nicht einmal sie selbst, vorstellbar gewesen war – sie verliebte sich.

ABENTEUER

Dicke Wolken zogen dicht über den Himmel und es nieselte leicht. Laurent verbrachte fast den ganzen Tag zu Hause und war froh, dass die Stimmung wenigstens zum Nachmittag hin besser wurde, als Theresa auch heute zum Essen geblieben war. Jedes Mal zauberte das ein Lächeln auf das Gesicht seiner Mutter, wofür es keinen bestimmten Grund gab, es war einfach die Wirkung, die Theresa auf andere Menschen hatte. Sie sagte nicht einmal etwas Liebenswürdiges, es war ihre pure Anwesenheit, die die Leute aufmunterte. Wundern tat es Laurent nicht, denn es erging ihm nicht anders.

Heute war er besonders froh, dass Theresa geblieben war. Seine Mutter sah selten erschöpft und traurig aus, doch sie wirkte müde und es schien, als hätte sie geweint. Er hatte keine Ahnung, warum und im Grunde genommen interessierte es ihn auch nicht sonderlich, dennoch war es schön zu sehen, dass sie von Theresas Anwesenheit ein wenig aufgeheitert schien.

Das kleine Mädchen blieb bis zum späten Nachmittag, was nicht ungewöhnlich war, aber als es Zeit wurde zu gehen, wollte sie nicht wie sonst von Laurent zurück zu ihren Eltern gebracht werden; auch nicht, als es langsam anfing, draußen dunkel zu werden. Janneke, die wie immer beschäftigt in der Küche auf und ab rannte, blieb kurz stehen und schaute Theresa fragend an. »Was ist denn los? Gab es Streit mit deinen Eltern?« Sie versuchte, mitfühlend zu klingen, obwohl sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt war. »Es lässt sich doch nicht ändern, Schätzchen. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Was auch immer jetzt so schlimm erscheint – morgen ist es vorbei.« Schnell drehte sie sich zum Herd, damit die Heidelbeersauce nicht überkochte, die sie heute zum ersten Mal ausprobierte.

Theresa blickte sie traurig an.

Laurent tat das kleine Mädchen leid; zumal er keine Ahnung hatte, was mit ihr los war. Noch nie hatte er sie so stur erlebt. Um sie aufzumuntern versuchte er, sie sich wieder über die Schulter zu legen, doch sie zappelte und trat so fest mit ihren kleinen Füßen, dass er sie schnell wieder herunterließ. Stattdessen griff er flink nach ihrem Arm und zog sie zur Tür. »Was ist denn los? Ich hole dich morgen früh wieder ab. Dann können wir zusammen zum Wasser gehen«, versuchte er es auf die diplomatische Weise, aber Theresa ließ sich nur mit versteinerter Miene hinter ihm her ziehen und wurde auch nicht zugänglicher, als sie vor der Tür ihrer Eltern standen.

Für gewöhnlich war sie ein verständiges Kind und Laurent hatte sie noch nie so widerspenstig erlebt. »Geh endlich hinein, Theresa«, sagte er bestimmt. »Sonst will Mama bestimmt nicht mehr, dass du zu uns kommst.« Der letzte Satz tat ihm leid, aber er wusste nicht, wie er sie sonst zum Gehen bewegen sollte. Ohne ihm wie gewohnt noch einmal zuzuwinken drehte Theresa sich mit hängenden Schultern zur Eingangstür und drückte langsam die Türklinke ihres Elternhauses hinunter.

Laurent bekam den ganzen Abend über das merkwürdige Verhalten des kleinen Mädchens nicht aus seinem Kopf. Im Wirtsraum war es ihm zu laut und an Schlaf war nicht zu denken, sodass er den Plan fasste, sich noch einmal davonzustehlen. Diesmal wollte er jedoch nicht zum Wasser, sondern in entgegengesetzte Richtung, den kleinen Weg entlanglaufen, der direkt in den Wald führte. Trotz der Dunkelheit erschien es ihm draußen allemal angenehmer, als bei den um diese Uhrzeit bereits leicht angetrunkenen Gästen im Wirtsraum zu bleiben. Auch wollte er nicht in sein Zimmer, denn sicherlich wartete Hannah nur wieder darauf, ihn mit irgendwelchen Gemeinheiten zu ärgern.

Schnell steckte er sich eine Taschenlampe in den Hosenbund und lief die Treppe hinunter.

Draußen war es ungemütlich und Laurent schob die Hände tief in die Hosentaschen. Er dachte über den Tag nach, der bereits am Morgen beinahe mit einer Tracht Prügel begonnen und sich auch später nicht wirklich zum Besseren gewendet hatte. »Du hast nicht aufgepasst, wie immer, Laurent. Sei gefälligst vorsichtig, wenn du mit dem Messer schneidest!« Seine Mutter hatte ihm das Brotmesser aus der Hand gerissen, um die Klinge unter dem Wasserhahn von den dünnen, roten Streifen zu befreien, die bereits tropfend eine Spur auf dem Fußboden hinterlassen hatten. Laurent drückte derweil ein Küchentuch gegen seine Daumenkuppe. Der dünne Stoff war schnell von Blut durchtränkt, das aus einem tiefen Schnitt hervorquoll. Nur, weil in dem Moment ein Gast zur Tür hereingekommen war, blieb ihm die Ohrfeige erspart.

Später hatte er sich an den Tisch in die Gaststätte gesetzt, und da ihm wie so oft langweilig war, riss er ein Blatt aus seinem Schreibblock für die Schule, um mit einem großen, grünen Filzstift kreuz und quer darüber zu malen. Nur leider traf die Farbe das Papier nicht immer zielgenau; der Stift flitzte rechts und links an diesem vorbei und landete ungebremst, wenn auch ungewollt, auf dem Tisch. Nach einigen Strichen fand Laurent jedoch, dass die Farbe gut mit dem braunen Holz der Platte harmonierte, und so beschloss er, den Schankraum mithilfe seiner kreativen Ader zu verschönern. Sorgfältig zog er, mit angespannter Mine, die komplette Maserung in unterschiedlichen Tönen nach, wobei er versuchte, sein Werk unter das Motto eines Regenbogens zu stellen.

Dafür erhielt er diesmal keine strenge Ermahnung oder leichte Ohrfeige. Als der Vater sah, wie Laurent seine künstlerischen Fähigkeiten auslebte, packte er ihn am Arm und zog ihn wortlos in das Kinderzimmer. Dass Hannah auch da war, störte ihn nicht. Normalerweise war sein Vater kein gewalttätiger Mann und erhob so gut wie nie die Hand gegen seine Kinder, doch heute schien ihn diese kleine Begebenheit so zornig gemacht zu haben, dass Laurent Angst bekam, er könne die Kontrolle verlieren. Es dämmerte ihm, dass es vielleicht keine gute Idee gewesen war, den Tisch im Speiseraum bunt anzumalen, aber die darauffolgende Entgleisung war ungewöhnlich für seinen Vater. Mit Schwung riss Bertrand seinem Sohn die Hose bis zu den Knien hinunter, zog sich selbst den Gürtel aus den Schlaufen und legte den Jungen seitlich über seinen Schoß. Als der erste Schlag Laurents zarten, weiß schimmernden Hintern traf, schrie Hannah laut auf. Erschrocken über seine eigene Reaktion stoppte der Vater in seiner Bewegung und Laurent hörte nur kurz sein schweres Atmen, bevor Bertrand aufstand und ihn dabei unsanft von seinem Schoß stieß. Mit großen Schritten eilte er zur Tür hinaus, während Laurent noch auf dem Boden lag und verstört hinter ihm her schaute. Hannah starrte derweil auf Laurents Allerwertesten. Schnell sprang er auf um seine Hose hochzuziehen, als er ihren Blick bemerkte. Wortlos und ohne seine Schwester noch einmal anzusehen verließ auch er hastig den Raum in der Hoffnung, sie würde das Geschehene und seinen hilflosen Anblick so schnell wie möglich wieder vergessen.

Die körperlichen Schmerzen hielten sich in Grenzen und am Abend hatte Laurent den Vorfall fast schon aus seinem Gedächtnis verdrängt, als er im Dämmerlicht den Weg entlang zum Wald lief. Bei dem Anblick der dicht an dicht stehenden Bäume wurde ihm nun allerdings doch ein wenig mulmig. Der Spielraum für schaurige Gedanken schien mit einem Mal immens erweitert. Aber umdrehen kam aufgeben gleich und damit nicht infrage, sodass er seinen noch verbleibenden Mut zusammennahm und dem ausgetretenen Pfad bis an den Rand des Waldes folgte. Kurz blieb er stehen, sog die kühle Luft tiefer in seine Lungen und trat schließlich wagemutig und mit großen Schritten in die durch die hohen Bäume augenblicklich um ihn herum einbrechende Dunkelheit. Er wollte kein Feigling sein; was war schon dabei, in den Wald zu gehen; an all die Schauermärchen, die man ihm als Kind erzählt hatte, damit er nicht alleine zwischen den hohen Tannen spielte, glaubte er schon lange nicht mehr.

Das Laub knisterte, als er drauftrat und die Geräusche wurden unheimlicher, je tiefer er in das Unterholz drang. Er vernahm den Ruf eines Uhus, der während der Balzzeit besonders oft im Wald zu hören war, als er plötzlich durch ein Rascheln erschrak, das definitiv nicht von den Blättern unter seinen Füßen stammte. Mit pochendem Herzen blieb er stehen und hoffte, er hätte sich das Geräusch nur eingebildet, als ein Hase aus dem Dickicht direkt über seine Füße sprang und nicht weniger erschrocken das Weite suchte. Erleichterung machte sich in ihm breit und nachdem er noch einmal tief durchgeatmet hatte, setzte er seinen Weg fort, diesmal jedoch wesentlich zögerlicher.

Er hatte sich entschieden, den alten, verlassenen Hochstand aufzusuchen, womit er einerseits ein Ziel, andererseits garantiert seine Ruhe hatte, da kein Jäger auf die Idee kommen würde, das marode Holz hinaufzuklettern. Vielleicht konnte er sogar die Nacht dort verbringen; vermissen tat ihn sowieso keiner und dann musste er wenigstens nicht den ganzen Weg bei Dunkelheit zurückgehen. Durch das Laufen war ihm nicht kalt, der Wind wehte nur leicht und auch der unangenehme Nieselregen hörte langsam auf.

Noch in Gedanken, ob er sich das wirklich zutraute, tauchte auch schon die Silhouette des Hochstandes im fahlen Licht des Mondes vor ihm auf, dessen heller Kreis sich hinter den Wolken hervorgeschoben hatte. Beim Näherkommen gewannen die einzelnen Stiegen der Leiter an Konturen. Vorsichtig legte Laurent seine Hände auf das Holz, um die von der Nässe glitschigen Stufen zu erklimmen. Es schien sehr lange her zu sein, dass jemand sich die Mühe gemacht hatte, hier heraufzusteigen. Von dem festgesetzten Moos waren seine Hände schnell grün, sodass er anfangs abrutschte, bis er den Dreh raushatte. Sich mit den Händen an den Quer- anstatt Längsstreben festhaltend, setzte er bedächtig einen Fuß über den anderen und stand schließlich, nicht ohne Stolz, auf der verwitterten Plattform.

Obwohl es nicht mehr regnete, war der Boden nass und Laurent blieb nichts weiter übrig, als sich auf das feuchte Holz zu setzen. Sofort spürte er, wie die Kälte durch seinen Hosenboden drang.

Ich hätte mir eine Decke mitnehmen sollen, dachte er. Und etwas zu essen. Trotz des reichhaltigen Eintopfs knurrte sein Magen und mittlerweile war es noch dunkler geworden. Die Wolken schoben sich wieder vor den Mond und nahmen sein beruhigendes Licht, aber Laurent wollte nicht aufgeben. Er fühlte sich wie ein Abenteurer, der in der Wildnis unter dem Sternenhimmel saß, wie ein Eroberer, ein Gewinner und ein Held, der niemanden brauchte, der keine Angst hatte und der allen Gefahren des Waldes trotzte.

Verbissen versuchte er, die zunehmende Kälte zu ignorieren, doch seine Muskeln verrieten ihn, denn seine Beine fingen unkontrolliert an zu zittern. Er schlang seine Arme fest um die Knie in dem verzweifelten Versuch, sie ruhig zu halten. Schon jetzt war es furchtbar unangenehm, die Kleidung klebte klamm von der Luftfeuchtigkeit an seinem Körper und auch wenn er die Knie noch so nah an sein Gesicht zog, würde die spärliche Wärme nicht mehr lange ausreichen, ihn zum Verweilen zu überreden. Aber immerhin hatte der Ausflug ihn ein wenig von seinen trüben Gedanken an Theresa abgelenkt und wenn er wieder zu Hause war, würde er hoffentlich schnell in einen tiefen, traumlosen Schlaf fallen.

Kurz überlegte er, ob es seiner Mutter vielleicht auffallen würde, dass er nicht da war. Und ob sie sich Sorgen machte. Wenn er es recht bedachte, wollte er ihr keinen Kummer bereiten, aber die Vorstellung, wie sie ihn dann vor Glück, dass ihm nichts passiert war, in die Arme nahm, nachdem sie verzweifelt nach ihm gesucht hatte, ließ ihn zögern, den Heimweg anzutreten.

Wenn es nur nicht so schrecklich kalt wäre!

Laurent blickte sich um. Weit konnte er in der Dunkelheit nicht sehen und die Finsternis schien den letzten Rest seines Mutes einzusaugen. Das Abenteuer hatte seinen Reiz verloren und er war sich ziemlich sicher, dass er in seinem warmen Bett besser aufgehoben wäre als hier im Wald. Nichts war es wert, steifgefroren am Boden dieses Hochsitzes irgendwann, wahrscheinlich erst in mehreren Tagen, tot vom Förster entdeckt zu werden. Er griff, wenn auch schweren Herzens, zu seiner Taschenlampe, steckte sie in den Hosenbund und umklammerte mit seinen mittlerweile eisigen Fingern die glitschige Leiter, um wieder hinabzusteigen.

Genau in dem Moment, als seine Füße den feuchten Waldboden berührten, hörte er es. Ein erneutes Rascheln, in den nahegelegenen Büschen, nur lauter als beim letzten Mal. Intuitiv wusste er – diesmal war es kein Hase. Es war intensiver und Laurent blieb wie versteinert stehen. Er lauschte ängstlich.

Er war froh, dass er die Taschenlampe noch nicht angeknipst hatte, denn der Mond schien hell genug, sodass er die Leiter auch so sicher hatte herunterklettern können. Plötzlich sah er einen anderen Lichtstrahl; es musste noch jemand im Wald sein und derjenige versuchte offensichtlich, mit seiner Taschenlampe die Baumkronen zu erhellen. Suchte man ihn vielleicht schon? Doch was er oder sie dort tat, war ein sinnloses Unterfangen und das Leuchten viel zu schwach, um in den höher gelegenen Teilen der Bäume etwas zu erkennen. Laurent sah, dass er sich mit der Entfernung getäuscht haben musste. Die Person, die die Taschenlampe hielt, war mit Sicherheit gute fünfzig Meter weit weg und wenn er Glück hatte, hatte der- oder diejenige ihn noch nicht bemerkt.

Laurent duckte sich, was in der Dunkelheit und aufgrund der Distanz eigentlich unnötig war, doch so hatte er es im Fernsehen gesehen, wenn Menschen fliehen wollten. Vorsichtig setzte er einen Fuß nach vorne, bevor er es sich anders besann und blitzschnell einfach losrannte. Es war ihm jetzt egal, ob man ihn sah oder hörte – er wollte nur noch weg. Weg, nach Hause, in entgegengesetzte Richtung des Lichts. Er rannte, bis ihm der Atem ausging und er fast vor seiner Haustür stand. Erst da drehte er sich um, doch bis auf tiefe Dunkelheit konnte er nichts erkennen.

Am nächsten Morgen wurde Laurent durch einen gellenden Schrei geweckt. Erst dachte er, das Geräusch wäre der Hahnenschrei vom Federvieh des Nachbarn – von dem geflügelten Tier wurde er fast täglich zu unmenschlicher Zeit geweckt –, bis sein Traum jäh endete und er sich seiner eigenen vier Wände bewusst wurde. Irgendetwas musste passiert sein. Es war nur ein einziger, greller Ton gewesen und der Hahn gab nicht so voreilig auf. Schnell zog er seine Hose an, die immer griffbereit auf dem Stuhl neben ihm lag, denn seine Mutter bestand darauf, dass er auch in einem Notfall – es konnte ja immer mal ein Feuer ausbrechen, eine Flucht oder sonst etwas Spontanes anstehen – ordentlich angezogen war.

Als er sich den Gürtel zuschnallen wollte, stand Hannah plötzlich vor ihm. Sie hatte den Mund zu einem kleinen, spitzen Loch geformt und es sah aus, als wolle sie einen Schrei ausstoßen. Wahrscheinlich war sie das eben auch gewesen, mit diesem grässlichen Geräusch, aber jetzt kam kein Ton heraus. Und nun sah Laurent auch, dass ihr Gesicht nass von Tränen glänzte.

Sie hatten sie früh am Morgen gefunden. Ein Mann, der mit seinem Hund spazieren ging, hatte sie bemerkt, während sein vierbeiniger Gefährte noch schwanzwedelnd im Laub herumstöberte und seine Nase in einen der unzähligen Kaninchenbauten vergrub. Ihre Beine baumelten in Augenhöhe und als der Mann langsam seinen Kopf in den Nacken legte, um zu sehen, was er in seinem Leben nicht hatte sehen wollen und was seine ohnehin schon schlaflosen Nächte nicht zum Besseren wenden würde, erkannte er eine Frau, die mit abgeknicktem Hals an einem Ast baumelte. Die Arme hingen schlaff an ihrem Körper herab und die aufgerissenen Augen schienen das Dunkel des Waldes durchleuchten zu wollen. Das Knarren der Äste im Wind ließ die Situation noch schauriger erscheinen und der erste Gedanke des Mannes war, einfach davonzulaufen. So könnte er das eben Gesehene vielleicht doch noch vergessen. Was sollte er auch tun, die Person war bereits tot. Doch noch beim Formulieren des Gedankens wurde ihm klar, dass er die Frau hier nicht hängen lassen konnte und sie vermutlich auch noch irgendwo vermisst wurde. Vielleicht hatte ihn auch irgendjemand gesehen, was zwar zu so früher Morgenstunde eher unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich war. Das würde nur noch mehr Scherereien geben, als er sie jetzt sowieso schon hatte und so kam es, dass einige Stunden später ein schwarzer Wagen aus dem Wald fuhr, der im Innenraum Janneke, auf einer weißen Decke gelagert, in einem dunklen Sarg mit sich führte.

Bertrand nahm die Nachricht ohne sichtbare Emotionen auf. Er konnte so schnell nicht begreifen, was das für ihn nun bedeuten würde. Das erste, was ihm einfiel, waren die Kochtöpfe, die noch vom letzten Abend in der Küche standen und die merkwürdigerweise gestern keiner mehr abgewaschen hatte. Er fragte sich, wer das jetzt machen sollte. Kopfschüttelnd ging er in die Wirtschaft, zapfte sich ein Helles und setzte sich auf einen der hinteren Stühle – er musste nachdenken.

Die Beerdigung war innerhalb der nächsten 48 Stunden angesetzt. Von dem örtlichen Arzt konnte der Selbstmord eindeutig festgestellt werden und so stand es auch in den Berichten, die der Dorfpolizist dem verbliebenen Ehemann mit gesenktem Blick, da er meinte, es gehöre sich in so einem Fall, ordentlich traurig dreinzuschauen, offiziell überreichte. Bertrand konnte nicht begreifen, was mit seiner Frau passiert war, doch im Grunde genommen war es auch nicht weiter wichtig. Bereits jetzt war es Vergangenheit und er würde genug damit zu tun haben, die Wirtschaft am Laufen zu halten.

Hannah war mit ihren 14 Jahren durchaus imstande zu helfen; schon früher hatte sie im Schankraum ihre Mutter beim Bedienen unterstützt, nur Laurent war mit seinen zehn Jahren noch zu jung, um irgendwie nützlich zu sein. Und wenn sein Vater richtig darüber nachdachte, war er sogar völlig überflüssig. Gerne hätte er das Angebot der Nachbarin angenommen, die meinte, der Bub könne doch einige Zeit bei ihr, ihren Söhnen und Theresa bleiben. Einer mehr oder weniger würde doch gar nicht auffallen. Aber Bertrand wollte sich nicht die Blöße geben und so entschloss er sich, den Kropf wohl oder übel weiter mit durchzufüttern.

EIN HALBES LEBEN SPÄTER
BERLIN

Es war einer dieser Januartage, der sich bleiern über die Hauptstadt legte. Der Himmel war von einem Schleier aus grauen Wolken verdeckt und die Stimmung des kleinen Mannes stand der tristen Farbe des Firmaments in nichts nach. Die Ader an seiner Schläfe puckerte nun schon den ganzen Morgen, aber er hatte keine Zeit, dem Beachtung zu schenken. Wütend stapfte er durch die immer tiefer werdenden Pfützen auf dem Bürgersteig, die durch den anhaltenden Regen bereits kleine Seen gebildet hatten. Das Schmutzwasser spritzte beim Laufen an seinen Hosenbeinen hoch und hinterließ hässliche Flecken an seinem neuen Anzug; doch es kümmerte ihn nicht.

Robert brauchte ein Ventil für seine schlechte Laune. Er konnte es kaum abwarten den Konferenzraum zu betreten, um den dort Versammelten, die bereits seit über einer Stunde auf ihn warteten, ein für alle Mal klarzumachen, dass er schlechte Ergebnisse nicht länger tolerieren würde. Die Zahlen für das letzte Geschäftsjahr sahen zwar nicht schlecht aus, doch das genügte ihm nicht. Es konnte nie gut genug sein, denn sich auf der erbrachten Leistung auszuruhen, würde Stillstand und damit unweigerlich Rückschritt bedeuten. So baute man keine Firma auf und er würde nicht zulassen, dass jemand seinen seit Gründung eingeschlagenen Erfolgskurs auch nur im Geringsten gefährdete.

Er hatte sie alle einfliegen lassen – aus Asien, den USA, Südafrika, Russland, den baltischen Staaten, den Philippinen. Eigentlich hatte er die ganze Welt einbestellt – und die Welt kam, wenn er rief.

Die Besprechungen in Berlin wurden immer an dem gleichen Tag angesetzt, an dem seine Geschäftsführer frühmorgens aus Asien landeten. Das war für die Herren eine gute Chance, ihre eigene körperliche Verfassung zu überprüfen, denn wenn Robert etwas nicht ertragen konnte, so war es das Rumgejammere so mancher sich zu wichtig nehmender, überbezahlter Geschäftsführer, die meinten, nur weil sie ein paar Stunden ein klein wenig unkomfortabel in der Economy Class geflogen wären, hätten sie nun eine Sonderbehandlung verdient. Für Robert war es nur ein Grund mehr, die Versammlungen so früh wie möglich anzusetzen und es war nicht auszuschließen, dass Einwände erhebende Personen ihr Rückflugticket, inklusive der fristlosen Kündigung, bereits in der Hand hielten, noch bevor der erste Kaffee im Konferenzraum kalt werden konnte.

Robert wusste, dass es in einigen Ländern Probleme gab, die nicht einfach zu lösen waren, doch er war die Situation gewohnt. Es ging immer um das Gleiche, nichts, worüber er sich ernsthaft Sorgen machen musste – entweder beschwerte sich jemand über die Erhöhung des Mindestlohns in Ländern, deren Landessprache häufig noch nicht einmal ein Wort dafür hatte, oder es ging wieder einmal um Korruption. Letzteres war zugegebenermaßen, besonders für ein in Deutschland ansässiges Unternehmen, immer schwerer zu leugnen, aber er wusste die richtigen Knöpfe zur angemessenen Zeit bei den entsprechenden Leuten zu drücken. Mitarbeiter, die die Kassenbestände schwinden ließen, waren ein weiteres Übel, doch dagegen konnte er direkte Maßnahmen ergreifen. Alles andere war ein dauerhaftes Leid, aber in den Budgets mit einem Sonderposten ausreichend berücksichtigt.

Roberts Geschäftsräume lagen in einem sandfarbenen Gebäude in der Friedrichstraße, ein altehrwürdiges Haus aus der Jahrhundertwende, das innen prunkvoll saniert und außen frisch sandgestrahlt worden war. Trotz der zum Teil noch immer gut sichtbaren Löcher in der Fassade, die von den Straßengefechten des Zweiten Weltkriegs herrührten, hob es sich in seinem neuen Glanz deutlich von der Nachbarschaft ab.

Robert trat durch die weiß mattierte Eingangstür, schüttelte die Regentropfen von seinem dunklen Mantel und warf der Empfangsdame das nasse Kleidungsstück zu, die es geschickt auffing, ohne die restliche Feuchtigkeit auf ihrem dunkelblauen Kostüm zu verteilen. Ihre hohen Absatzschuhe hallten durch das Foyer, als sie an ihm vorbeieilte um wie üblich für ihren Chef den Knopf der obersten Etage zu drücken. Die Türen schlossen sich schnell hinter ihm und Robert schaute in sein grimmiges Gesicht, das sich in der Granitverkleidung der Kabine widerspiegelte. Hatte er am frühen Morgen auch so ausgesehen, als seine Frau Erika ihn mit irgendetwas genervt hatte, das garantiert nicht die Berechtigung gehabt hatte, seinen Gehörgang zu passieren? Soweit er sich erinnern konnte, ging es diesmal um das Schwimmbecken in ihrer Villa in Potsdam und darum, dass sie einen neuen Angestellten brauchte. Den Grund dafür hatte er vergessen. Wahrscheinlich hielt er den Putzlappen falsch herum. Wie auch immer – es war ihm vollkommen egal und sie sollte ihn mit solch belanglosen Dingen in Ruhe lassen.

Der Fahrstuhl erschien ihm heute noch langsamer als sonst und er bereute schon, nicht die Treppe genommen zu haben. Sicherlich war er nicht in der besten körperlichen Verfassung – wann sollte er auch noch Zeit finden, Sport zu treiben, und auf die morgendliche halbe Schachtel Zigaretten zu verzichten war keine Option –, doch die paar Stufen hätte er in der Hälfte der Zeit geschafft, die er jetzt bereits in diesem antiquierten Kasten stand. Als endlich die kleine Vier im Display erschien, zwängte er sich durch die erst halb geöffnete Fahrstuhltür und eilte mit großen Schritten in den Konferenzraum. Grob riss er die Türklinke herunter, sodass die Personen in dem Raum in ihren Bewegungen vor Schreck erstarrten.

Ein asiatischer Mann stand am Kopfende des langen, dunkelbraunen Konferenztisches aus amerikanischem Nussbaum und war gerade damit beschäftigt, ein letztes Mal seine Präsentation zu prüfen, als er, wie alle anderen Anwesenden, erschrocken auf den kleinen, schnaufenden Mann sah, der so plötzlich im Zimmer stand und dessen unausgesprochene Vorwürfe die Luft erfüllten, noch bevor jemand überhaupt eine Chance bekam, etwas falsch zu machen. »Wo soll ich anfangen, was ist los mit Ihnen; wollen Sie mich ruinieren, das Unternehmen, sich selbst?«, donnerte es auch schon aus Roberts Mund. So schnell und unauffällig wie möglich ließ sich der chinesische Geschäftsführer auf den nächstbesten Stuhl sinken, um nicht gleich als Zielscheibe zu dienen. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Während der Unternehmenseigentümer um den Tisch herummarschierte, steckte er seinen kleinen, fast kahlen Kopf in die dicke, braune Ledertasche, die er unter seinen Arm geklemmt hatte und die mit ihren runden Wölbungen aussah, als hätte er mehrere Tennisbälle darin versteckt. Die Zuschauer schauten ihm gebannt zu, wie er erst ein paar Gummihandschuhe herauszog, diese sorgfältig überstreifte, und nach einem weiteren Griff in die Tasche ein haariges Bündel zum Vorschein brachte, das bei näherer Betrachtung aus mehreren Einzelteilen zu bestehen schien. Es war nicht sofort erkennbar, um was genau es sich handelte, als der Unternehmensgründer auch schon mit Schwung ein Exemplar nach dem anderen vor die perplexen Teilnehmer warf. Diese brauchten nicht lange, um zu erkennen, was vor ihnen lag. Für jeden war deutlich ein langer, dunkelgrauer Schwanz zu sehen und was daran hing, war dick, fett, mit offenen, starren, ziemlich toten Augen, räudigem, grauen Haar und kleinen hellgrau bis rosafarbenen Stummelohren.

»Berliner Kanalratten«, sagte Robert trocken, während er sich die Handschuhe abstreifte und in den Papierkorb hinter sich fallen ließ. Der Raum schien umgehend zehn Grad an Temperatur verloren zu haben. Im Gegensatz zu dem Moment, als er noch mit hochrotem Kopf und pochenden Adern an den Schläfen eingetreten war, wirkte er nun fast besonnen und begann mit ruhiger Stimme und Blick auf die Geschäftsführer seine Erläuterungen. »Ich finde es etwas zu flach, sie alle hier in diesem Zimmer irgendwann einfach für mausetot zu erklären, daher habe ich mir erlaubt, Ihnen ein paar anschauliche Exemplare mitzubringen, damit auch alle Anwesenden mich verstehen. Anders scheine ich Sie nicht zu erreichen. Ich weiß nicht, ob Sie mir nicht zuhören wollen oder es einfach nicht können. Ob Ihre Kapazitäten erschöpft sind oder Sie erst gar keine hatten. Doch ich will Ihnen eine letzte Chance geben, aufzuwachen und Ihre Arbeit zu tun. Sehen Sie sich diese prachtvollen Geschöpfe ruhig etwas genauer an. Alle diese wunderbaren Tiere sind elendig verendet. Näheres dazu erläutere ich Ihnen gerne später.« Zufrieden sah er in die irritierten, zum Teil angewiderten Gesichter der Teilnehmer und fuhr unbeeindruckt fort. »Aber das ist nicht der Punkt. Die Frage ist, wie es dazu kommen konnte.« Robert ließ eine wirkungsvolle Pause, deren Stille nur durch das Summen des Beamers unterbrochen wurde.

»Meine Herren, diese – nennen wir sie beim Namen – Ratten, sind mittlerweile multiresistent, was, im Grunde genommen, eine großartige Überlebensstrategie ist. Als letztes habe ich mir sagen lassen, die Viecher sind sogar gegen Escherichia coli, also Darmkeime, immun geworden, was bedeutet, jede Abwasserkanalisation, die sie vorher schon hinlänglich bevölkert haben, gehört nun gänzlich ihnen. Prinzipiell erwarte ich von Ihnen genau das gleiche, wobei mir egal ist, ob Sie in der Kanalisation oder sonst wo hausen. Mir ist wichtig, dass Sie gegen alles, was Sie am Geschäft und damit am Umsatz hindert, resistent werden und Ihre Arbeit machen.« Er schaute mit finsterem Blick in die Runde, bevor er mit leiser Stimme weitersprach.

»Diese Ratten haben einen entscheidenden Fehler begangen, der ihnen im wahrsten Sinne des Wortes das Genick gebrochen hat. Sie haben nicht fleißig weiter in ihrer Kanalisation gebuddelt, sondern sich auf Terrain begeben, das mir gehört. Oder besser – unseren Kunden. Ich hoffe, meine Herren, Sie können mir folgen und sich, trotz Ihrer erstarrten Gesichtszüge, daran erinnern, dass wir mit dem Schutz des Berliner Flughafens unseren größten Auftrag haben.« Robert hatte sich warm geredet. »Sicherlich sind wir nicht für die Schädlingsbekämpfung zuständig, doch ich erinnere Sie auch hier gerne noch einmal – wenn der Kunde uns braucht, sind wir für ihn da. Da die possierlichen Tierchen unseren Kunden geschadet haben, schaden sie uns. Und damit mir persönlich.« Er war sich sicher, dass alle Personen im Raum ihn nun verstanden. »Vor sich sehen Sie das Ergebnis, meine Herren.« Robert hob eines der Tier wie eine Trophäe in die Höhe, während er die Teilnehmer der Reihe nach mit seinem Blick durchbohrte.