Über nahe und ferne Folgen
des Kriegs
Erforsche Deine Geschichte und erzähle sie selbst,
delegiere sie nicht an Spezialisten fürs Große und Ganze,
schule Deine Erfahrungsfähigkeit
am Eigenen wie am Fremden;
dazu wollen meine Versuche Dich ermutigen …
Vorwort
Die Erbschaft der Gewalt
Mein Großvater als Soldat im Ersten Weltkrieg, und was meinem Vater und mir daraus erwuchs
Verdun
Krieg und Nachkrieg im Spiegel literarischer und anderer Zeugnisse
»Ich bin der Feind, den du erschlugst, mein Freund«
Krieg und Kriegstrauma bei den britischen Truppen an der Somme – aus dem Blickwinkel von war poets
Die Stunde vor und nach dem Trauma
Eine Gegenüberstellung zweier europäischer Kriegsgedichte
Die heimliche deutsche Hymne
»Ich hatt einen Kameraden«: das volkstümlichste Kriegslied der Romantik und seine unvergleichliche Wirkung
Mit Hölderlin für falsche Ideale
Der Schriftsteller Gregor Dorfmeister und sein mit weltweitem Erfolg verfilmter Roman »Die Brücke«
Lothar Pfeiffer, Kriegsdienstverweigerer
Porträt eines Mannes, der stolz darauf ist, kein Mörder geworden zu sein
Exkursion
»Doch einen Blick aufs Schlachtfeld, da sieht es traurig aus«
Auf den Spuren von Lustnauer Soldaten an den Fronten des Ersten Weltkriegs
Als »Erbschaft der Gewalt« bezeichne ich jene mentale Last, die in Deutschland Millionen von Menschen seit dem Ersten Weltkrieg zu tragen hatten, die nicht abzuschütteln war in der Zwischenkriegszeit und noch weit schwerer und drückender wurde während der Hitler-Diktatur sowie im Zweiten Weltkrieg. Die Rede ist dabei von einer Gewalt, die zuerst gegen andere entfesselt wurde, schließlich aber zurückfiel auf ihre Verursacher. Erst nach 1945 verlor sie allmählich an Gewicht, und am Ende waren drei Generationen sowie zwei schmerzhafte Niederlagen nebst Staatsumstürzen nötig gewesen, um ihre Macht zu brechen. Allerdings, wer kann schon wissen, wie und wie oft ein derartiges Gewalterbe weitergegeben wird an Künftige und wann es endgültig überwunden ist?
Ausgangspunkt in meiner Familie, so will es mir scheinen, war das unzureichend bearbeitete Kriegstrauma meines Großvaters, Jahrgang 1894, der es trotz vieler innerfamiliärer Kämpfe um die historische Wahrheit nicht vermochte, seine zwei Söhne – der Jüngere von beiden, Jahrgang 1924, mein Vater – davon abzuhalten, Hitlers Gefolgsleute zu werden und fanatisiert in dessen Krieg zu ziehen. Doch was in meiner Familie geschah, war weit verbreitet im Land, und die zerstörerische sowie selbstzerstörerische politische Unvernunft verebbte erst in jener von außen auferlegten bundesrepublikanischen Demokratie, zu der es keine Alternative gab – und hoffentlich auch in Zukunft nicht gibt!
Wenn ich von Trauma rede, dann übrigens nie in entschuldigender Absicht. Viel zu oft wird dieser Begriff inzwischen nämlich gebraucht, um Schuld zu zerreden und sich selbst sowie der eigenen Nation mit dem Ziel der Relativierung eine Opferrolle anzumaßen. Trauma heißt heute fast immer reduzierte Verantwortlichkeit und moralisch eingeschränkte Zurechnungsfähigkeit. Für mich hingegen ist das Trauma vor allem eine Kategorie, um Täterschaft zu definieren, denn nichts schreibt Gewaltbereitschaft von Generation zu Generation leichter und eindringlicher fort als das Trauma, und zwar in jener aggressiv politisierten Form, die in Deutschland nach 1918 vorherrschend war. Wie diese Fortschreibung im einzelnen zu denken wäre, zeigt mein erster, titelgebender Essay.
Auch Engländer und Franzosen kehrten in großer Zahl traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg zurück. Dennoch hat sich in ihren Ländern die massenhafte Traumatisierung gesellschaftspolitisch nicht annähernd so verheerend ausgewirkt wie in Deutschland. Das lag natürlich vor allem daran, daß man dort bei allen anderen Leiden nicht auch noch eine Kriegsniederlage verschmerzen mußte – jene Niederlage, die zum Schaden der Republik von Weimar auf wahnhafte Weise in Verrat und Verschwörung umgedeutet wurde. Ohne die Realitätsverkennung infolge des Traumas wäre dieser Vorgang wohl kaum möglich gewesen. So unterblieb die vernunftgelenkte Annahme des verlorenen Kriegs mitsamt seiner wahrhaftigen Aufarbeitung nahezu zwangsläufig. Und zwar mit mörderischen Konsequenzen!
Die folgenden acht Essays befassen sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven mit dem Gewalterbe beider Weltkriege: einmal kommt die an der Somme-Front gemachte britische Kriegserfahrung in den Blick, die in Deutschland, anders als die französische, kaum wahrgenommen wurde, obwohl sie in großartigen literarischen Zeugnissen – vor allem Gedichten, die ich allzumeist selbst übersetzen mußte, weil sie bisher unübersetzt waren – ihren Ausdruck gefunden hat; sodann wird das heute zusehends schwerer verständliche Phänomen Verdun untersucht, und zwar sowohl als Schlacht- wie auch als Gedächtnisort, an dem die menschliche Erinnerungsfähigkeit sich jahrzehntelang vor kaum lösbare Probleme gestellt sah. Mit deren Lösung schließlich ist – so wie nirgendwo sonst – der Erste Weltkrieg in Verdun als niemals wieder preiszugebende europäische Erfahrung gedeutet worden.
Um persönliche Belastungen, hervorgerufen durch Kriegsgewalt, geht es in den beiden Porträts: an Gregor Dorfmeister läßt sich erkennen, wie schwierig, ja aussichtslos eine ästhetische Bewältigung unaussprechlicher Erlebnisse sein kann, die fast noch im Kindesalter stattgefunden haben – und unter welchen Bedingungen sie schließlich doch gelingt; während an dem Kriegsdienstverweigerer Lothar Pfeiffer, der als Wehrmachtssoldat nicht auf Frauen und Kinder schießen wollte, deutlich wird, wie ein Mann ohne politische oder auch ästhetische Ideologie, nur ausgestattet mit einer schlichten, gewissermaßen natürlichen Moral, die Folgen seines Handelns zeitlebens mit sich schleppt. Kennengelernt habe ich die beiden Männer aus der Generation meines Vaters bei Veranstaltungen in Tübingen.
Von der beinahe unendlichen Dauer von Kriegsversehrungen aller Art handelt auch mein Versuch über Ludwig Uhlands und Friedrich Silchers Lied vom »Guten Kameraden«, das ich am Kriegerdenkmal meines Herkunftsorts während der Kindheit zum ersten Mal gehört habe, das mich bis heute nicht wieder losläßt und auch in Friedenszeiten als privates oder öffentliches Trauerlied nach wie vor unentbehrlich scheint – so tief haben Krieg und Kriegserfahrung in zwei Jahrhunderten es ins allgemeine Gedächtnis eingesenkt.
Der letzte Essay schließlich verfolgt im Stil einer Exkursion die Spuren einfacher Soldaten aus einem schwäbischen Dorf an den Fronten des Ersten Weltkriegs und erkundet, was sich hinter den dürren Angaben einer Kriegsteilnehmerliste verbirgt. Er unternimmt damit den Versuch, die »Erbschaft der Gewalt« in der kollektiven Dimension einer kleinen Landgemeinde darzustellen.
Kurt Oesterle
Ganz anders als der schwäbische Pfarranwärter Cornelius Breuninger, der an der Front vier Jahre lang Tagebuch führte und dem erst die nahende Niederlage im Herbst 1918 die Sprache verschlug, hat mein Großvater während des Ersten Weltkriegs nichts dergleichen getan. Ihm, dem Landhandwerker ohne höhere Bildung, war der bürgerliche Ehrgeiz, in Wort und Bild sein eigener Chronist zu sein, fremd, und er ist es zeitlebens geblieben. Nur singen und erzählen, das konnte er und tat es gerne – zur Freude des Enkels. Einzig vor dem Kriegserlebnis blieb er auch als mündlicher Erzähler stumm, und später glaubte ich ihn in der Zeitdiagnose des Philosophen Walter Benjamin wiederzuerkennen, der in seinem Aufsatz »Erfahrung und Armut« schreibt:
»Die Erfahrung ist im Kurse gefallen, und das in einer Generation, die 1914 bis 18 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat. Konnte man damals nicht feststellen: die Leute kamen verstummt aus dem Feld? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Erfahrung. Was sich dann zehn Jahre danach in der Flut der Kriegsbücher ergossen hat, war alles andere als Erfahrung, die vom Mund zum Ohr strömt. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand (während des Kriegs) unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper.«
Ich weiß nicht, wie mein Großvater um 1920 zu seinem Krieg stand und wie er über ihn gesprochen hat. Als ich geboren wurde, war er 61 Jahre alt, und in meinen Kindheitserinnerungen tauchen nur wenige von seinen Kriegssouvenirs auf, die er offensichtlich behalten hatte: Eisernes Kreuz, Verwundetenabzeichen, ein Foto, auf dem er pfeiferauchend vor frischen Soldatengräbern zu sehen ist, eine Feldpostkarte mit den Ruinen des an der Somme-Front gelegenen Dorfs La Boisselle – wenig genug, doch ich besitze es nach wie vor und entsinne mich, daß mein Großvater diesen kargen Schatz ohne Stolz oder Nostalgie vor mir ausgebreitet hat; seine Orden durfte ich mir mit eigener Hand sogar ans Hemd heften, gleich neben dem brüllenden Hirsch auf meinem Hosenträgerlatz. Leidenschaftlich wurde mein Großvater erst, wenn wir zusammen das Stück aufführten, das ich unser Kriegsmärchen nennen möchte.
Ich konnte – als Kind – wählen zwischen zwei Kriegen, dem Krieg meines Vaters und dem Krieg meines Großvaters. Ich entschied mich für den meines Großvaters, er durfte nachgespielt werden und machte Spaß. Ein drolliges Kriegchen, obwohl es Weltkrieg genannt wurde. Der Krieg meines Vaters hingegen hieß nur der Krieg, war der Krieg selbst und der Krieg überhaupt und durfte nicht nachgespielt werden.
Von meinem Großvater wurde ich gleichsam ermutigt, nachträglich an seinem Krieg teilgenommen zu haben. Als sein Wunschenkel war ich, 39 Jahre vor meiner Geburt, in seinem Weltkrieg zur Welt gekommen: im Sommer 1916 an der Westfront, nahe dem Ufer eines Flusses mit Namen Somme, gesprochen wie geschrieben, weil wir es nicht anders wußten. Ich entstieg dem Ohr meines Großvaters, seinem nackten, damals noch unbehaarten Soldatenohr, in dem ich fortan auch hauste, weil es sonst im Krieg keine Unterkunft für mich gab. Mein Großvater nannte mich zuerst Däumling und wollte mich im Futteral seiner Brille einquartieren. Dann aber entdeckte er, daß ich ja noch kleiner als Däumling war, und setzte mich in sein linkes Ohr, in dessen Öffnung ich aufrecht stehen konnte. Der Regimentsschneiderei gab er den Auftrag, seine eigene Uniform in meiner Größe nachzuschneidern. Nachts schlief er immer nur auf dem einen Ohr, damit ich in dem von mir bewohnten anderen nicht zu Tode gedrückt wurde oder herausfiel. Ich war der bei weitem kleinste Kriegskamerad meines Großvaters, nicht halb so groß wie ein Zinnsoldat, und alles, was ich nachträglich in diesem Krieg berührte, schrumpfte auf meine Größe zusammen.
Zu zweit saßen wir daheim in der großelterlichen Küche, Arm in Arm im Ohrensessel, neben einem Ofen, der Kanonenofen hieß und uns mit seinem Zischen und Wummern die Geräusche ferner Kämpfe ins Haus lieferte. Wir stellten einander Erzählaufgaben. Mein Großvater mußte sich etwa ausmalen, was ich erlebt hatte, als unsere Artillerie mich, den Winzling, zum Feind hinüberschoß, um in dessen Ohren auf deutsch Verwirrung zu stiften. War ich an der Reihe, fing mein Großvater mit einer Geschichte an, die ich so schnell wie möglich durch ein Halt! unterbrechen mußte, um zu sagen, an welchem Ort sie spielte: Somme! Verdö!! Duwommo!!!
In der nächsten Spielrunde wurden mir Stichworte zugeworfen, etwa Verwundung, Abendrasur oder Fahrradklau, O là là oder entlausen. Meine Aufgabe war es, jedem dieser Worte eine ausfabulierte Geschichte anzudichten. Wenn mein Großvater im Krieg seine Brille verlegt hatte und nichts sehen konnte, stand ich, der Ja-noch-kleiner-als-Däumling auf seiner Riesenschulter und half ihm beim Rasieren. Mit meinen Kommandos lenkte ich das rauschende Messer wie einen Schneepflug durch Bart und Schaum, damit mein Großvater nicht mit zerschnittener Wange zum Olàlà ins Franzosendorf mußte; denn wir pflegten freundlichen Umgang mit den Einheimischen. Übrigens hatten wir diesen Krieg nicht geführt, wir waren in diesem Krieg nur gewesen, was ich, der kleine Mann im Ohr des Soldaten, bezeugen konnte.
Mein Großvater mimte auch den Vergeßlichen, und ich durfte ihm Stück für Stück sein Gedächtnis zurückgeben. Oder er übertrieb eine schmerzhafte Erinnerung derart, daß ich alle erzählerische Kraft aufwenden mußte, um ihr den Schrecken zu nehmen.
Ob wir beide auf diese Weise gemeinsam das Unaussprechliche bearbeitet haben?
Bereits meinem Vater und seinem drei Jahre älteren Bruder ist dieses Kriegsmärchen aufgetischt worden, in ihrer Kindheit, kurz vor der Einschulung gegen Ende der zwanziger Jahre, als nicht nur in Deutschland die Kriegserinnerungen massenhaft aufgebrochen sind. Zehn Jahre hatte die sogenannte Latenzperiode also auch bei meinem Großvater gedauert, bevor er mit einer Kindergeschichte auf das Ungeheuerliche reagierte. Noch im Alter sollte mein Vater geringschätzig und verständnislos von der Märchenstunde mit seinem Vater sprechen, so wie er, der Weltkrieg-II-Soldat, auch stets nur geringschätzig von dessen Krieg sprechen konnte, der ihm neben dem seinen nur wie ein unbedeutendes Scharmützel vorkam – vielleicht eine der unvermeidlichen Folgen vom drolligen Erzählkriegchen meines Großvaters!?
Warum aber hat mein Großvater diese Geschichte erzählt?
Weil er sich seines Kriegs und der von ihm mitgetragenen Kriegsführung schämte und mit der nackten Wahrheit nicht herauswollte?
Weil er seinen Söhnen die grausige Kriegswahrheit ersparen wollte?
Weil er die Erfahrung gemacht hatte, daß diese Wahrheit sowieso niemand hören wollte?
Weil er, der Weimarer Sozialdemokrat und Anhänger der Republik, der diesen Krieg verurteilte, die Niederlage akzeptiert hatte, Aussöhnung wünschte und mit seiner antinationalistischen Erzählvariante in der Regel nur aneckte?
Oder weil er traumatisiert war, den Krieg und seine tiefere Wahrheit abwehrte oder nicht zu fassen bekam und harmlos darum herum erzählte?
Vieles scheint mir bei meinem Großvater für eine Traumatisierung zu sprechen – denn selbst seinen Gedächtnisverlust könnte er in den Kriegssketchen mit dem Enkel nicht nur inszeniert haben, ahnend, was Traumaforscher heute längst wissen: nämlich daß das Trauma sich nur heilen läßt, wenn es kommuniziert, sprich: in irgendeiner Form weitererzählt und von einem zuhörenden anderen mit Anteilnahme aufgenommen und lebhaft widergespiegelt wird, so wie ich es als Kind in unseren Spielszenen tat.
Bevor ich den Versuch unternehme, mich der Wirklichkeit des großväterlichen Kriegs zu stellen, noch eine Frage: Warum gerade das Ohr – ist es das kriegsüberlastete Organ meines Großvaters gewesen? Hat er darum in der Phantasie einen Beschützer oder Schutzengel in seinem Gehörgang plaziert? Ist es von Bedeutung, daß er im Alter, obwohl zusehends schlechter hörend, sich auch tagsüber die Ohren stundenweise noch mit Wattestöpseln verschloß?
Die Fachliteratur über Kriegstraumata berichtet von »hysterischem Ertauben« bei Soldaten des Ersten Weltkriegs, analog zum »hysterischen Erblinden«, das etwa den Gefreiten Hitler heimgesucht hat. Von Ertauben, auch nur phasenweise, ist mir bei meinem Großvater nichts bekannt. Aber vielleicht litt er ja eher am Gegenteil, an einer – sozusagen – hysterischen Überhörigkeit, genau wie der Armierungssoldat Bertin in Arnold Zweigs Roman »Erziehung vor Verdun«, von dem es heißt, daß er an der Front zu einem wahren »Ohrentier« geworden sei, also zu einem in Permanenz überspannt Horchenden und Lauschenden, in unablässiger Erwartung des Allerschlimmsten. Und der Kulturanthropologe Helmut Lethen geht in einem gleichnamigen Aufsatz davon aus, daß in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs vor allem »das Ohr die Einbruchstelle des Traumas« gewesen sei; er schreibt:
»(Unter Soldaten gab es ein Einverständnis darüber), daß die Bedingungen von Kriegsneurosen nicht durch den Anblick von Explosionen, sondern durch das betäubende Geräusch und die Vibration des Trommelfeuers erzeugt worden sei, die für Stunden oder Tage auszuhalten waren. Die Ohrenbetäubung habe eine Art hypnotischen Zustand erzeugt, der nicht in die symbolische Ordnung der Sprache übertragen werden konnte … Etwas gestaltlos Reales war in die Psyche eingedrungen, gegen das der Soldat sich nicht hatte panzern können; man konnte den Lärm nicht kommunizieren, und der Lärm hörte niemals auf.«
Genau das ist die Definition des Traumas: gestaltloser Schrecken, der nicht in die symbolische Ordnung der Sprache und der Bilder übersetzt werden kann. Ein schwerer Granateinschlag etwa tut vermittels des Ohrs seine unmittelbare Schreckwirkung umso heftiger, als er schnell wieder vergessen oder von noch schrecklicheren Einschlägen abgelöst wird. Lethen vermutet sogar, daß der akustische Schock weit schneller im Unbewußten landet als der optische – daß er sich darum aber desto tiefer und nachhaltiger in der Psyche verpuppen kann.
Dem realen Krieg meines Großvaters nähere ich mich auf zwei Wegen: einmal mit einem Besuch im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, dann bei einer Reise über die ehemaligen Schlachtfelder an der Somme. Auf jener Postkarte, die er aus dem Ruinenort La Boisselle nach Hause schickte, ist zu lesen, bei welcher Einheit er gedient hat, sie wird gleichsam statt eines Ortes als Absender angegeben: 4 Pi 13 steht da zu lesen, das heißt: Mein Großvater Friedrich Oesterle, geboren 1894 in dem schwäbisch-fränkischen Dorf Oberrot, hat beim württembergischen Pionierbataillon 13 gedient, und zwar in dessen vierter Kompanie. Im Archiv empfiehlt man mir, um Näheres über den Kriegseinsatz meines Großvaters zu erfahren, folgende Unterlagen anzufordern: einmal die Stammrolle, also gewissermaßen das Personalregister seiner Truppe, dann deren im Stab geführtes »Kriegstagebuch« und schließlich das Buch des ehemaligen Weltkriegsoffiziers Ludwig Knies, mit dem Titel »Das württembergische Pionierbataillon 13«, das in den zwanziger Jahren in einer populärhistorischen Reihe über »Württembergs Heer im Weltkrieg« erschienen ist, eine stark kriegsverharmlosende, wenn nicht-verherrlichende Quelle, aus der ich dennoch viel über meinen Großvater erfahre. Genauer – nicht über ihn persönlich, er war nur ein rangniederer Pionier, dessen Auftauchen in den Annalen nicht zu erwarten ist, aber als Teil seiner Truppe, in deren Bewegungen und Handlungen ich ihn hineindenken muß.
Hier scheint mir eine – kurze – Bemerkung in eigener Sache angebracht: Ich schreibe diesen Essay nicht als professioneller Historiker, sondern als Schriftsteller, zu dessen Fach auch die Selbsterkundung gehört …
Eingezogen wurde mein Großvater laut Stammrolle im Juni 1915, gerade 21 Jahre alt geworden; er hat sich also immerhin nicht freiwillig gemeldet. Nach Kasernierung und Ausbildung in seiner Garnisonsstadt Ulm zog der gelernte Schreiner mit seiner Pioniertruppe über das Elsaß und Lothringen in den Nordwesten Frankreichs, an die Somme-Front, wo die Deutschen ab Frühjahr 1916 nicht länger französischen, sondern englischen Einheiten gegenüberstanden. Wann mein Großvater hier erstmals zum Einsatz kam, weiß ich nicht, zu vermuten ist, daß er als Pionier an der Errichtung jener gewaltigen Feldstellungen beteiligt war, mit denen das deutsche Oberkommando die erwartete Offensive des Gegners aufhalten wollte, unter anderem die in Großbritannien noch immer berühmte »Schwaben Redoubt« unweit des Dorfes Thiepval. Denn schon länger schien klar zu sein, daß an der Somme ein französisch-britischer Großangriff bevorstand, und mein Großvater durfte sich wohl zu jener eilends herbeigerufenen Verstärkung rechnen, die auf deutscher Seite dringend nötig war, um jene Schlacht schlagen zu können, die mit ihrer vermutlich mehr als einer halben Million Toten zu einer der furchtbarsten des Ersten Weltkriegs werden sollte.
Als mein Großvater die Somme-Front erreichte – mag es im Herbst 1915 gewesen sein –, stand seine Pioniertruppe schon seit längerem in dem Dorf Beaumont und hatte von dort aus den zehn Kilometer langen Frontabschnitt zwischen Serre und La Boisselle zu betreuen, in dem auch Thiepval lag. Aus dem Kriegstagebuch seiner Kompanie geht hervor, mit welchen schlachtvorbereitenden Arbeiten die Pioniere befaßt waren: der Herstellung von »Sehspiegeln« etwa, die die Kampfzone vermutlich zu überblicken halfen, ohne daß die Soldaten ihren Kopf zu weit aus dem Graben strecken mußten; dann mit dem Ausbau von Stollen und anderen Großanlagen bei Thiepval und Beaumont (wo sich auch ihr Pionierpark mit sämtlichen Werkstätten befand), des weiteren dem Bau von neuen Kampf- und Laufgräben, Unterständen und Beobachtungsposten sowie einer Feldbahn, die den Transport von Waffen, Munition und Verpflegung zur Front sicherstellen sollte. Daß die große Schlacht näherrückte, zeigen die Arbeiten, von denen das Kriegstagebuch im Frühjahr 1916 berichtet: das Anlegen von Minenfeldern vor allem, außerdem der Bau von Munitionsunterständen, die gegen feindliche Treffer zu schützen waren, sowie die Einrichtung von Mörserstellungen und Maschinengewehrnestern; fast jeder Eintrag schließt mit der Bemerkung »Verteilung der Nahkampfmittel«, worunter man sich vermutlich Handgranaten, Bajonette, Pistolen und Messer vorstellen darf. Das Knies’sche Truppenporträt berichtet außerdem von »Handgranatenprüfung in winterlicher Witterung« sowie der Errichtung von »Scheinanlagen«, die den Gegner verwirren und seine wütenden Angriffe auf sich ziehen sollten. Nebenbei ist von »Wohnungsverbesserungen« die Rede, die inmitten der Ruinendörfer wohl den eigenen Soldaten zugute kamen.
In Umrissen wird bei Knies ebenfalls beschrieben, welche Fortschritte die Waffentechnik gleichzeitig machte: Im Frühsommer 1915 ereignete sich zum Beispiel das erste »Trommelfeuer«, und der Verfasser merkt an, daß sowohl das Wort wie auch die Erfahrung neu gewesen seien, »denn manche Leute waren davon verstört«. Zur selben Zeit setzte der Gaskrieg ein, weshalb an die Soldaten erstmals »Schutzapparate gegen Giftgase« ausgegeben wurden. Und Anfang 1916, als man mit dem wuchtigen Ausbau des Frontabschnitts begann, forcierte der Gegner den »Minenkrieg«; teils aus vierzig Metern Tiefe seien die deutschen Linien angegriffen worden. Der einsetzende Minenkrieg ist für Knies nun der rechte Zeitpunkt, die bisherigen Toten des Bataillons zu zählen: 148 sind es, zudem 350 Verwundete.