Über das Buch:
Nashville, Tennessee, 1871: Alexandra Jamison ist eine junge Südstaatlerin aus gutem Hause. Seit ihr Verlobter David bei einem tragischen Eisenbahnunglück ums Leben kam, ist sie fest entschlossen, ihrem Leben eine neue Wendung zu geben. Gegen den Willen ihrer Eltern, die sie mit einem betagten Gentleman verheiraten wollen, bewirbt sich Alexandra um eine Stelle als Lehrerin. An einer neugegründeten Schule will sie ehemalige Sklaven unterrichten.
Doch ihrem Traum stellen sich unerwartete Hindernisse entgegen. Da begegnet sie Sylas Rutledge, einem attraktiven, aber ungehobelten Eisenbahnbesitzer aus Colorado. Er nimmt ihre Berufung ernst und unterstützt sie. Doch kann es sein, dass Sylas in den mysteriösen Unfall verwickelt war, der David das Leben kostete?

Über die Autorin:
Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.

Kapitel 6

Als Sylas Rutledge wieder vor ihr stand, stellte Alexandra fest, dass sie zu ihrer eigenen Verärgerung nicht wusste, was sie sagen sollte, und ohne jeden Grund errötete.

„Miss Jamison, es freut mich, Sie wiederzusehen, Ma’am.“

„Danke, Mr Rutledge“, brachte sie zustande und war von seinem höflichen Auftreten überrascht. „Die Freude ist ganz meinerseits.“

Er schaute unter der Krempe seines Cowboyhutes zu ihr hinab. „Erzählen Sie mir jetzt nicht, dass Sie nicht nur Anwaltsassistentin, sondern auch noch Plantagenverwalterin sind.“

Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Nein, Sir. Mr Walters, General Hardings Geschäftsführer, ist im Moment beschäftigt. Deshalb hat der General gebeten, dass seine Tochter und ich am Tisch aushelfen.“

Mary, die neben ihr saß, sprach gerade mit einem anderen Herrn. Deshalb suchte Alexandra in dem Karton nach Mr Rutledges Umschlag und bemühte sich, nicht daran zu denken, dass seine Stimme wie edler Bourbon klang, der langsam in ein Glas gegossen wird. Oder wie der intensive Geschmack von Schokolade, die auf der Zunge schmilzt. Wie hatte ihr das entgehen können? Andererseits hatte er gestern im Büro ihres Vaters kaum zehn Worte gesagt.

Sie reichte ihm den Umschlag. „Ich gratuliere Ihnen. Sie gehören zu den Bietern, deren Angebot für General Hardings Projekt in die Endausscheidung gekommen ist. Wenn Sie den Brief lesen, Mr Rutledge, erfahren Sie darin, dass der General Sie einlädt, morgen Abend an einer Soirée in seinem Haus mit ihm und seiner Familie teilzunehmen. Die Adresse und die Wegbeschreibung finden Sie ebenfalls in dem Umschlag. Darf ich notieren, dass Sie die Einladung annehmen?“

„Das dürfen Sie, Miss Jamison.“

Alexandra machte auf der Liste eine Notiz neben seinem Namen und erhaschte einen Blick auf den treuen Begleiter des Mannes, der sie über die Tischkante hinweg aufmerksam beobachtete. Sie lächelte den Hund an, versuchte aber nicht, ihn wieder zu streicheln.

„Viel Glück, Mr Rutledge.“

„Ehrlich gesagt, Miss Jamison, halte ich nicht viel von Glück. Darauf verzichte ich schon seit einiger Zeit.“ Er schaute sie an. „Sie glauben aber nicht, dass ich einen jener besonderen Verträge brauche, um das offiziell zu machen, oder?“

Zu ihrer eigenen Überraschung lachte Alexandra. Wie lange war es her, dass sie so spontan gelacht hatte? „Nein, Sir. In diesem Fall ist keine Verzichtserklärung nötig.“

Er schaute sie ein wenig länger als nötig an. Die Intensität seiner Aufmerksamkeit kombiniert mit dieser undefinierbaren Ausstrahlung, die ihr gestern schon aufgefallen war, löste eine Wärme in ihr aus, die blitzschnell von ihrem Gesicht bis zu ihren Zehen hinabschoss. Und die ihr den Atem raubte.

„Vielen Dank für Ihre Hilfe, Ma’am.“

Sie antwortete mit einem höflichen Nicken und zwang sich dann, an ihm vorbei auf den nächsten Mann in der Schlange zu schauen. Aber ihr entging keine seiner Bewegungen, während er mit seinem Fuchshund zum Bahnsteig schritt.

Sie bemerkte, dass Mary ihm ebenfalls nachschaute, und wusste, dass ihre Freundin sie bei der ersten Gelegenheit mit Fragen löchern würde.

Vielleicht war dieser Mann doch nicht so wild und ungezähmt. Aber sie kannte General Harding gut genug, um zu wissen, dass er es vorzog, mit gleichgesinnten Geschäftspartnern zu arbeiten. Konkreter gesagt, mit Herren aus dem Süden, wie er selbst einer war. Mr Rutledge hatte also von Anfang an schlechte Karten.

„Wer war das?“, flüsterte Mary, als sich die Schlange am Tisch für einen Moment aufgelöst hatte. „Und woher kennst du ihn?“

„Er heißt Mr Rutledge. Und ich kenne ihn eigentlich gar nicht. Ich habe ihn erst einmal gesehen, als er gestern meinen Vater aufgesucht hat. Ich weiß, dass er aus Colorado kommt und dass ihm die Northeast Line Railroad gehört.“ Und dass er Musik liebt, dachte sie, und seinen Hund. Aber diese beiden Beobachtungen behielt sie für sich.

Mary hakte sich bei Alexandra unter. „Er scheint ein bisschen raue Kanten zu haben, würde ich sagen“, flüsterte sie und drehte den Kopf, um ihn genauer zu betrachten. „Aber soweit ich es beurteilen kann, würde ich sagen, dass es sich lohnen könnte, ihn zu zähmen!“

„Mary Elizabeth Harding!“ Alexandra schaute ihre Freundin mit gespieltem Entsetzen an.

„Schau ihn dir doch an, Alex. Groß, dunkel und ein wenig gefährlich.“

Alexandra stieß sie in die Seite. „Zwei dieser Eigenschaften sind zwar vielleicht reizvoll, aber die letzte gewiss nicht. Außerdem hast du bereits deinen perfekten Mr Jackson.“

Mary seufzte. „Howell ist wirklich ziemlich perfekt, nicht wahr?“

Alexandra gefiel das Leuchten in den Augen ihrer Freundin. „Wie laufen die Hochzeitsvorbereitungen?“

„Ausgezeichnet. Mein Kleid sollte bald fertig sein.“ Ein Schatten zog über ihr Lächeln.

„Was ist?“

Mary schüttelte den Kopf. „Bei den Hochzeitsvorbereitungen vermisse ich Mutter noch mehr.“

Alexandra umarmte sie. „Es tut mir so leid, Mary. Sie hätte das alles sehr gern mit dir erlebt. Deine Mutter war ein wunderbarer Mensch.“

Mary senkte den Blick auf ihre Hände. „Es ist kaum zu glauben, dass sie schon seit fast vier Jahren tot ist.“ Kaum hatte sie das gesagt, trat ein großes Mitgefühl in ihr Gesicht. „Ich weiß, dass du David heute besonders stark vermisst, Alex. Er war ein so guter Mann. Und er war für dich genauso perfekt, wie Howell es für mich ist.“

Alexandra wappnete sich gegen die Gefühle, die gleich unter der Oberfläche in ihr brodelten. „Ja, das war er“, flüsterte sie. „Auch wenn er keine fünf Kinder hatte, die mich sofort zur Mutter gemacht hätten.“

Marys Grinsen war zurückgekehrt. „Mir ist bewusst, dass einige Leute nicht verstehen können, warum ich für all seine Kinder sorgen will. Selbst meine Tante hat gesagt, dass sie mir so viel Verstand zugetraut hätte, dass ich diese Verantwortung nicht übernehmen würde.“ Mary schüttelte den Kopf. „Aber ich bin vierundzwanzig, Alex. Ich bin schon lange bereit, Mutter zu sein und meine eigene Familie zu haben.“

„Dazu bist du bereit, seit du fünf warst. Du wirst diesen Kindern eine wunderbare Mutter sein.“ Alexandra lächelte und dachte wieder an das, was ihre eigene Mutter gestern Abend zu ihr gesagt hatte. „Dein künftiger Mann ist ein angesehener Anwalt und er bekommt eine wunderbare Frau, Mary. Ich freue mich so sehr für euch beide.“

Mary drückte ihre Hand. „Wie ich sehe, hast du deine Trauerkleidung abgelegt. Das freut mich. Du hast David die gebührende Ehre erwiesen, Alex, aber ich bin froh, dich wieder in einer anderen Farbe als in Schwarz zu sehen. Allerdings glaube ich, dass uns noch etwas Besseres einfällt als Dunkelblau.“

Alexandra versuchte, sie mit einem schnellen Blick zum Schweigen zu bringen.

„Gibt es jemanden … irgendjemanden, der dein Interesse geweckt hat? Immerhin“, sprach Mary schnell weiter, als erwarte sie eine Widerrede, „ist es ein ganzes Jahr her. Viele warten nicht einmal mehr so lange. Ich nehme an, der Krieg hat uns allen bewusst gemacht, wie schnell die Zeit vergeht. Howells Frau war kaum ein halbes Jahr tot, als er mir einen Heiratsantrag machte. Er sagte, er wolle nicht ‚mit ungebührlicher Eile vorgehen‘, aber er müsse an die Kinder denken.“

Alexandra sah sie an. „Meine liebe Mary, du kannst zwar über den Grund, warum Mr Jackson es nicht erwarten kann, dich zu heiraten, denken, was du willst, aber ich habe bemerkt, wie dich dieser Mann anschaut.“

Mary traten Tränen in die Augen. „Genauso, wie David dich angesehen hat.“

Alexandra nickte und ihre Augen wurden ebenfalls feucht.

Ihre Freundin beugte sich näher zu ihr herüber. „Kann ich irgendetwas tun, um dir durch den heutigen Tag zu helfen? Und um dir zu helfen, diese schwere Zeit zu überstehen?“

„Du hast schon so viel getan. Dass du dich erinnerst, was heute für ein Tag ist, hilft mir schon sehr. Aber …“ Alexandra zog eine Braue hoch. „Ich habe heute deine Adresse angegeben, als ich mich für eine mögliche Stelle beworben habe.“

„Du hast dich als Lehrerin beworben?“

„Ja.“

Mary drückte ihre Hand. „Das würde David sehr freuen, Alex. Und er wäre so stolz auf dich. Aber was hat dein Vater dazu gesagt?“

„Ich habe es ihm noch nicht erzählt. Und Mutter auch nicht.“

Marys Miene beschrieb sehr treffend, was Alexandra fühlte, wenn sie an dieses unvermeidliche Gespräch dachte, vor dem ihr graute.

Sie war versucht, Mary mehr zu verraten, aber sie wusste, dass sie damit Fragen heraufbeschwören würde, die sie noch nicht beantworten wollte. Und die sie vielleicht auch gar nicht beantworten müsste, falls sie diese Stelle doch nicht bekäme.

Sie glaubte nicht, dass ihr Mary einen Vorwurf daraus machen würde, dass sie an der Fisk unterrichten wollte. Aber ihre Freundin war die Tochter von General William Giles Harding und jeder wusste, wie er dazu stand, Freigelassene zu unterrichten. Er vertrat bei diesem Thema den gleichen Standpunkt wie Alexandras Vater.

„Du wirst in den nächsten Tagen wahrscheinlich einen Brief für mich bekommen. Wenn du ihn mir entweder bringen oder an mich persönlich schicken könntest, wäre ich dir sehr dankbar.“

Ein Mann trat an den Tisch und Mary konzentrierte sich auf ihn, aber nicht, ohne vorher zu flüstern: „Ich will mehr darüber hören. Ich hoffe, die Stelle ist nicht zu weit weg. Ich will dich nicht verlieren!“

Alexandra nickte. Mary war fast wie eine Schwester für sie und es war lieb von ihr, das zu sagen. Aber Alexandra wusste, dass sie Mary in naher Zukunft verlieren würde. Zugegeben, an einen wunderbaren Mann. Aber warum wurde jedes Mal, wenn eine Freundin heiratete, eine Seite in einem Buch umgeblättert und ein Kapitel geschlossen?

Nachdem sie die übrigen Umschläge verteilt hatten, gesellten sich die zwei Frauen zu den vielen Menschen am Rand des Bahnsteigs, wo General Harding sprechen würde.

Ein Moment verging und Alexandra fühlte, dass jemand sie beobachtete. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Sylas Rutledge in ihre Richtung schaute. Er nickte und lächelte. Sie tat das Gleiche, bevor sie sich wieder umdrehte. Er sah wirklich gut aus, genau wie Mary festgestellt hatte. Und offenbar hatte er auch Sinn für Humor. Darüber hinaus schien er erfolgreich und intelligent zu sein.

Schuldgefühle regten sich in ihr. Wie konnte sie an diesem Tag solche Gedanken haben? Ihr Herz war immer noch bei David und ihre Zukunft war noch stark von dem geprägt, was sie von ihm gelernt hatte.

„Wertgeschätzte Bürger der Stadt Nashville“, begann General Harding, dessen Stimme gut hörbar über die Menge, die jetzt still geworden war, hinwegschallte. „Ich verspreche, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um diese schöne Stadt gemeinsam mit Ihnen wieder aufzubauen, damit ihr die gewünschte Aufmerksamkeit zuteilwird, die sie verdient.“ Er brach kurz ab, da der Applaus für einen Moment seine Stimme übertönte. „Als jemand, dessen Wurzeln tief in den Boden dieser Stadt reichen …“

Alexandras Blick wanderte zu einem bestimmten Güterwaggon auf dem Gleis, dessen Ausstiegsrampe angebracht war. Sie vermutete, dass sich das Vollblutpferd in diesem Waggon befand, bis es der Öffentlichkeit vorgestellt werden würde. Dann schaute sie unauffällig hinter sich in Mr Rutledges Richtung, musste aber feststellen, dass er fort war.

Diese Entdeckung erfüllte sie gleichzeitig mit Erleichterung und Enttäuschung.

„Und mit tiefem Bedauern“, sagte General Harding in diesem Moment, „und herzlichem Mitgefühl für jeden, der vor genau einem Jahr einen geliebten Menschen verloren hat, legen wir eine Schweigeminute ein, um an sie zu erinnern.“ Der General zog die Taschenuhr aus seiner Tasche.

„Gleich“, fuhr er fort, „wenn die Glocke der First Presbyterian Church drei Uhr schlägt, wird sie insgesamt einhundertdreimal schlagen. Ein Glockenschlag für jedes Menschenleben, das an jenem Nachmittag an der Dutchman’s Curve aus dieser Welt gerissen wurde. Und obwohl der Schmerz über den Verlust bleibt, wollen wir uns heute an das Leben erinnern, das diese Menschen geführt haben, und an die Liebe, die uns mit ihnen verbunden hat.“

Alexandras Kehle schnürte sich zusammen.

„Würden Sie bitte mit mir die Köpfe beugen, während wir uns erinnern und im Stillen füreinander beten?“

Mit kräftig pochendem Herzen, da sie das nicht erwartet hatte, beugte sie den Kopf. Die Sekunden vergingen in einem angespannten, fast schmerzlichen Schweigen, dann begann aus einiger Entfernung die Glocke im Kirchturm dreimal zu schlagen. Danach schlug sie weiter …

Eins … zwei … drei … vier …

Sie zählte unwillkürlich mit und fühlte, wie jeder Glockenschlag tief in ihrem Inneren widerhallte.

Welcher Glockenschlag war für David?

Wie so oft regten sich viele Fragen in ihr: War er sofort gestorben? Oder hatte er unter der Last dieses Zugwaggons, unter dem sein Körper gefangen und erdrückt worden war, grausame Qualen gelitten? Hatte er um Hilfe gerufen? War er gestorben, bevor Hilfe zu ihm durchgedrungen war?

Der Schmerz in ihrer Brust wurde mit jedem Glockenschlag bohrender.

Zweiunddreißig … dreiunddreißig … vierunddreißig … fünfunddreißig …

Obwohl General Harding das nicht erwähnt hatte, waren die meisten Opfer Freigelassene gewesen, die in den vorderen Waggons gesessen hatten. Dort, wo auch David gewesen war.

Nicht weit von ihr entfernt erklang ein leises Schluchzen. Sie hob langsam die Augen und sah eine ältere Frau, die das Gesicht in ihren zittrigen Händen vergraben hatte. In ihrer Nähe stand eine junge schwarze Frau, die einen kleinen Jungen an ihre Brust drückte und zum Himmel schaute, während stumme Tränen über ihr Gesicht liefen. Selbst einige Männer wischten sich Tränen aus den Augen, während die Glocke weiterschlug.

Einundsiebzig … zweiundsiebzig … dreiundsiebzig … vierundsiebzig …

Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sie schon sehr lange hier standen. Zu lange.

Einundachtzig … zweiundachtzig … dreiundachtzig …

Zu viele Menschenleben, Herr. Zu viele Menschenleben, die an jenem Tag sinnlos ein Ende gefunden hatten. So unnötig, so leicht zu vermeiden. Ach, David!

Sie vermisste ihn so sehr. Sie vermisste sein Lachen und das Leben, das sie miteinander hatten führen wollen. Warum hatten sie nicht früher geheiratet? Wenn sie das getan hätten, wäre er vielleicht an jenem Morgen nicht in diesem Zug gewesen. Aber sie wusste, warum.

Sie hatte sich bei dieser Entscheidung dem Willen ihres Vaters gebeugt. Er hatte gewollt, dass sie warteten, bis David an der Universität in Memphis zu unterrichten angefangen hätte. Um sicherzugehen, dass „der junge Mann sich an diesem Arbeitsplatz gut eingelebt hat, Alexandra.“ Rückblickend fragte sie sich, ob ihr Vater vielleicht gehofft hatte, sie würde ihre Meinung ändern.

Neunundneunzig, hundert. Hunderteins, hundertzwei … hundertdrei.

Der letzte Widerhall der Glocke schien in der feuchten Luft und an der fast greifbaren Trauer, die jetzt über den Versammelten lag, festzukleben. Für einen Moment bezweifelte Alexandra, dass der Ton je vollständig verstummen würde.

Aber schließlich war von ihm nichts mehr zu hören und ein kollektives Aufatmen ging hörbar durch die Reihen. Sie fühlte, dass jemand an ihrer Hand zupfte, und drehte den Kopf. Neben ihr stand Mary, deren Wangen genauso feucht waren wie Alexandras.

Ihre Freundin beugte sich näher zu ihr. „Ich sehe jemanden, mit dem ich sprechen muss, Alex. Wartest du hier auf mich?“

Alexandra nickte und war dankbar, dass sie einen Moment Zeit hatte, ihre Gedanken zu ordnen. Dann erblickte sie ihn wieder. Sylas Rutledge. Er stand auf der anderen Seite des Bahnsteigs in der Nähe der Ausstiegsrampe des Güterwaggons. Sie erschrak über seinen Gesichtsausdruck.

Leidend war die beste Beschreibung. Oder sogar schmerzverzerrt. Warum empfand er wohl einen so starken Verlust? Hatte er jemanden gekannt, der an jenem Tag bei dem Unfall gestorben war? Sie bezweifelte das, da er von so weit herkam.

Andererseits war er Eisenbahner. Vielleicht stellte allein schon dieser Umstand einen starken Bezug zu diesem Unfall her. Sie hatte in den Zeitungen von Zugunglücken in den Bergen von Colorado gelesen und von Arbeitern, die in den Tod gestürzt waren, während sie Gerüste über Canyons gebaut hatten. Sie erschauerte.

Die Eisenbahn stand für Fortschritt, das wusste sie. Aber zu welchem Preis?

General Harding setzte seine Rede fort, aber sie konnte in sich wieder das ohrenbetäubende Donnern der zwei riesigen Lokomotiven hören, die auf jenem Maisfeld frontal zusammengestoßen waren, und das Knirschen von Metall auf Metall. Von ihrem Fensterplatz im Personenwaggon aus hatte sie hilflos mit angesehen, wie die ersten Personenwaggons ineinandergerast waren. Sie hatte gesehen, wie die Holzwände wie Kinderspielzeug zersplittert waren, wie sich der Aufprall in einer Welle der Zerstörung über die Waggons beider Züge ausgebreitet hatte. Dann war alles still gewesen. Eine plötzliche, unheimliche Stille, als wäre die ganz Welt verstummt.

Doch dann waren die Schmerzensschreie und Hilferufe ertönt.

„Zum Abschluss unserer Gedenkminute“, sagte General Harding, dessen Stimme kräftig, aber mitfühlend war, „danke ich Ihnen, liebe Mitbewohner dieser Stadt, dass Sie den Menschen, die an jenem Tag gestorben sind, die Ehre gegeben haben. Ich bin überzeugt, wenn sie zu uns sprechen könnten, würden sie uns herausfordern, mit neuem Mut weiterzumachen. Unser Leben nicht in Trauer gehüllt, sondern in der kühnen Hoffnung zu führen, dass wir uns dank des Mitgefühls und Erbarmens unseres Herrn eines Tages wiedersehen werden.“

Eine Welle gedämpfter Stimmen sagte Amen. Alexandra stimmte mit ein, während sich die Entschlossenheit, dass sie selbst auch wieder anfangen wollte, ihr Leben in die Hand zu nehmen, in ihr festigte. Sie wollte das Leben führen, das sie bestimmte und nicht eines, das andere für sie bestimmten. Sie hatte auf diesem Weg bereits den ersten großen Schritt gewagt. Jetzt müsste sie nur noch einen Weg finden, ihren Eltern diese Entscheidung nahezubringen.

Ihr war warm und sie war müde und konnte es nicht erwarten, nach Hause zu kommen. Selbst wenn sie die Stelle an der Fisk nicht bekäme, würde sie Horace Buford nicht heiraten. Das wollte sie ihnen wenigstens sagen. Und sie würde sicher einen anderen Ort finden, an dem sie unterrichten könnte. Eine Schule, in der die höhere Bildung, die sie nicht besaß, nicht verlangt wurde.

Was auch immer sie tun würde, sie müsste ihre Zukunft schnell und trotzdem gewissenhaft planen. Bei einem so brisanten Thema, besonders für ihren Vater, könnte sonst alles furchtbar schieflaufen.

„In diesem Sinne wollen wir in die Zukunft blicken“, sprach Harding weiter, „und auch die landesweit berühmte Zucht von Vollblutpferden in dieser Stadt weiterführen. Deshalb möchte ich Ihnen den neuesten Zuwachs der Belle-Meade-Plantage vorstellen: Einen Weltklasse-Vollbluthengst, auf den Nashville stolz sein kann. Der beste Dreijährige von 1870, der Gewinner der Kenner Stakes in Saratoga und der Phoenix Hotel Stakes in Lexington! Meine Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir Enquirer!“

Applaus ertönte, während aller Augen zu dem Güterwaggon wanderten, aus dem ein großer, muskulöser schwarzer Mann ein eindrucksvolles Pferd die Rampe herabführte. Der große braune Hengst, der einen Widerrist von mindestens 165 Zentimetern hatte, warf schnaubend den Kopf zurück, während der Mann ihn nach unten führte, wo Sylas Rutledge neben Onkel Bob stand und wartete.

Die zwei Männer unterhielten sich wie alte Freunde. Aber Onkel Bob war zu jedem, dem er begegnete, freundlich. Er hatte Alexandra auf Belle Meade immer freundlich aufgenommen.

„Alexandra!“ Mary tauchte atemlos und mit gerötetem Gesicht neben ihr auf. „Du wirst nicht glauben, was ich gerade gehört habe. Und das ausgerechnet heute!“

Alexandra wäre fast versucht gewesen zu lächeln, wenn die Miene ihrer Freundin nicht so schrecklich ernst gewesen wäre. „Was ist denn, Mary?“

„Es geht um Mr Rutledge, über den wir vor ein paar Minuten erst gesprochen haben. Der Mann, der gestern im Büro deines Vaters war.“ Mary nahm ihre Hand und drückte sie fest. „Mr Rutledges Vater war an jenem Tag der Lokführer der Nummer 1, Alex. Des Zuges, in dem du und David gefahren seid.“

Alexandra blinzelte. Sie hörte, was ihre Freundin sagte, konnte sich aber keinen Reim aus ihren Worten machen. „Das kann nicht stimmen. Er heißt Rutledge und der Name des Lokführers war Harrison …“

„Kennedy. Ja, ich weiß. Harrison Kennedy war Mr Rutledges Stiefvater. Offenbar weiß einer der anderen Bieter über diesen Mann Bescheid und hat es einer Freundin von mir erzählt.“

Alexandras Blick wanderte wieder zu Sylas Rutledge, der immer noch mit Onkel Bob sprach und sogar lachte. Harrison Kennedy war sein Stiefvater?

„Alexandra, geht es dir gut?“

Sie hörte Marys Stimme wie von ferne und nickte, während ihr Blick immer noch wie gebannt an diesem Mann hing. „Ja. Mir geht es gut. Aber … ich muss gehen, Mary. Ich muss nach Hause.“

„Soll ich mitkommen? Das mache ich gerne.“

„Nein.“ Alexandra drehte sich um. Sie war innerlich wie betäubt und fühlte sich plötzlich nicht gut. „Ich komme schon klar. Geh du zu Mr Jackson. Er wartet dort drüben bei deinem Vater.“

Mary schaute über den Bahnsteig und winkte ihrem Verlobten kurz zu, während die Menschenmenge sich immer dichter zu dem Vollblutpferd drängte. „Alex, es tut mir so leid. Aber ich dachte, dass du das wissen willst. Und es macht mir wirklich nichts aus, dich zu begleiten.“

„Ich möchte lieber allein sein, Mary. Aber danke.“ Alexandra zwang sich zu einem Lächeln. „Gibst du mir Bescheid, wenn ein Brief für mich kommt?“

„Natürlich.“ Mary umarmte sie herzlich. „Ich schicke ihn persönlich zu dir. Komm gut nach Hause.“

Alexandra nickte. Während sich Mary einen Weg zu ihrem Vater und zu ihrem Verlobten bahnte, wurde Alexandra von der Menschenmenge mitgeschoben, die sich immer näher in Richtung des Vollblutpferdes drängte.

Wie konnte Sylas Rutledge heute hierherkommen? Wie konnte er inmitten all dieser Menschen stehen, obwohl er wusste, was geschehen war? Obwohl er wusste, dass sein Vater für den Tod dieser ganzen Menschen verantwortlich war? Für Davids Tod? Was für eine Frechheit! Was für eine Respektlosigkeit!

Anscheinend war ihr erster Eindruck von diesem Mann doch richtig gewesen.

Mit Tränen in den Augen versuchte sie, sich durch das Gedränge zur Straße zu schieben, aber es war zwecklos. Sie müsste sich mit der Menge nach vorne bewegen, sich zur Seite schieben und dann außen herum zurückgehen.

Aber ihr waren vorher die aufgestapelten Kisten, die mit Holzbalken miteinander verbunden waren und die eine provisorische Koppel um das Pferd herum bildeten, nicht aufgefallen. Zwei von General Hardings Stallknechten standen ebenfalls hier. Das waren alles Maßnahmen, um die Sicherheit der Öffentlichkeit zu gewährleisten, vermutete sie, aber auch die Sicherheit des Vollbluthengstes, der eine beträchtliche Investition darstellte.

Trotz des schützenden Zauns hatte Alexandra nicht die Absicht, noch näher zu kommen. Sie war schon oft genug in der Nähe von Hengsten gewesen, um zu wissen, dass sie gefährliche Tiere waren. Sie waren attraktiv und strahlten eine männliche Stärke und Schönheit aus, die einen anlocken konnte, aber sie konnten mit einem einzigen Schlag einen Menschen schwer verletzen.

Ganz ähnlich wie Mr Sylas Rutledge.

Sie drehte sich um und sah, dass er in ihre Richtung schaute. Als sich ihre Blicke begegneten, lächelte er sie an. Doch im nächsten Moment wurde seine Miene ernst und er runzelte fragend die Stirn. Alexandra wandte den Blick ab. Als sie eine Lücke in der Menge sah, schob sie sich hindurch, obwohl sie wegen des Schmerzes in ihrer Brust kaum atmen konnte.

Selbst als sie ihn hinter sich ihren Namen rufen hörte, blieb sie nicht stehen.

Kapitel 7

„Miss Jamison!“

Sy rief ihren Namen noch einmal, da er wusste, dass sie ihn gesehen hatte. Aber sie ging unbeirrt weiter. Er nahm, gefolgt von Duke, eine Abkürzung zwischen den Waggons und überholte sie mit Leichtigkeit, bevor sie die Straße erreichte.

„Miss Jamison.“ Er ging neben ihr her und versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, aber sie weigerte sich, ihn anzuschauen. „Ich habe Sie gerufen, Ma’am. Haben Sie mich nicht gehört?“

Sie beschleunigte ihre Schritte. „Bitte entschuldigen Sie mich, Mr Rutledge. Aber ich kann im Moment wirklich nicht mit Ihnen sprechen.“

Eine angespannte Härte lag in ihrer Stimme, ähnlich wie die Traurigkeit, die er vor wenigen Minuten in ihrer Miene gesehen hatte. Er fragte sich erneut, ob sie jemanden an der Dutchman’s Curve verloren hatte. Aus mehreren Gründen hoffte er, dass dem nicht so wäre.

„Miss Jamison.“ Er wagte es nicht, sie zu berühren, beugte sich aber ein wenig zu ihr hinüber, um sie besser sehen zu können. „Würden Sie bitte langsamer gehen und mir sagen, was los ist?“

Abrupt drehte sie sich um und überquerte die Straße.

Er zögerte nur einen Moment, dann holte er sie wieder ein. Sy wusste nicht, was er noch sagen sollte. Er wusste nur, dass es vorher so ausgesehen hatte, als wäre zwischen ihnen alles in Ordnung, und dass jetzt überhaupt nichts mehr in Ordnung war. Dabei hatte er vorgehabt, sie um einen Gefallen zu bitten.

„Miss Jamison, ich will Sie wirklich nicht belästigen, aber –“

„Sie wollen mich nicht belästigen?“ Sie blieb mitten auf der Straße stehen. „Sie besitzen die Dreistigkeit, heute an dieser Veranstaltung teilzunehmen, obwohl Sie genau wissen, was passiert ist!“ Ein Feuer flackerte in ihren Augen, in denen nicht geweinte Tränen standen. „Und trotzdem sagen Sie, dass Sie mich nicht belästigen wollen?“

Sy schaute sie fragend an und ihm wurde innerlich ein wenig kalt. „Was meinen Sie damit? Warum besitze ich die Dreistigkeit, heute hier zu sein?“

Eine einsame Träne lief über ihre Wange, bevor sie sie wegwischte. „Harrison Kennedy. Das meine ich, Mr Rutledge. Dieser Mann war Ihr Stiefvater? Der Lokführer, der die Nummer 1 gefahren hat?“

Den Namen seines Vaters aus ihrem Mund zu hören war wie ein Fausthieb in seinen Magen. Sy beugte kurz den Kopf. Er hatte keine Ahnung, woher sie das wusste. Aber wenn sie es wusste, bedeutete das, dass es andere wahrscheinlich auch wussten.

„Ja, Miss Jamison.“ Seine Stimme war überraschend ruhig. „Harrison Kennedy war mein Vater. Und ja, er war Lokführer des Zuges, der an jenem Morgen aus Memphis kam. Aber Harrison Kennedy war einer der besten Lokführer, der je in einer Lokomotive gestanden hat. Es gibt …“

Er brach ab, da er nicht zu viel verraten wollte.

„Miss Jamison, dieser Unfall kann sich unmöglich so zugetragen haben, wie behauptet wird. Das ist der Hauptgrund, aus dem ich in den Osten gekommen bin. Ich will die Wahrheit herausfinden und den Namen meines Vaters rein-…“

Sie marschierte wieder weiter und lief fast geradewegs vor einen herankommenden Wagen. Sy gab dem Fahrer rechtzeitig ein Handzeichen und der Lieferwagen verlangsamte sein Tempo, damit sie über die Straße gehen konnten.

„Miss Jamison, tun Sie mir bitte wenigstens den Gefallen, mich anzuhören, bevor Sie weggehen.“

„Ich muss nichts mehr hören, Mr Rutledge. Besonders, da ich jetzt auch noch weiß, dass Sie gestern unter einem falschen Vorwand zu meinem Vater gekommen sind.“

„Unter einem falschen Vorwand? Ich habe nichts dergleichen getan.“

Sie fuhr zu ihm herum. „Sie haben gerade zugegeben, dass Sie in den Osten gekommen sind, um den Namen Ihres Vaters reinzuwaschen. Sie haben nichts davon gesagt, dass Sie Land kaufen wollen. Ich habe Ihnen gestern im Büro angesehen, dass Sie nur da waren, um sich Informationen zu beschaffen. Sie hatten nicht die Absicht, die Dienste meines Vaters in Anspruch zu nehmen. Ich hoffe, Sie haben bekommen, was Sie brauchten, denn Sie werden ab sofort weder von mir noch von ihm irgendetwas bekommen. Außerdem hat die Eisenbahn diesen Unfall gründlich untersucht, Mr Rutledge. Und auch wenn es sehr schwer für Sie sein muss, das zu akzeptieren, wurde dabei festgestellt, dass Ihr Stiefvater für den Zusammenstoß verantwortlich war.“ Wieder traten Tränen in ihre Augen. „Seine Unachtsamkeit hat über hundert Menschen an jenem Tag das Leben gekostet und viele andere schwer verletzt. Das Leben dieser Menschen …“ ihre Stimme versagte einen Moment „… wird nie wieder so sein wie früher.“

Sie schob das Kinn vor, obwohl es zitterte, während neue Tränen in ihre Augen traten. Sy fühlte, dass auch ihm Tränen in die Augen schossen. Er musste wegsehen. Als er den Kopf wieder zu ihr umdrehte, schaute sie ihn immer noch an. In ihren Augen lag ein so wütender Schmerz, dass er zutiefst davon getroffen war.

„Ich will Sie nicht länger aufhalten, Miss Jamison. Ich möchte nur noch eines sagen: Vergessen Sie nicht, Ma’am, dass ich an jenem Tag auch einen Menschen verloren habe. Jemanden, der mir sehr teuer war. Glauben Sie also keine Sekunde, dass die Menschen, die heute hier versammelt sind, die Einzigen sind, die leiden, oder die Einzigen, die noch trauern. Im letzten Jahr ist kein einziger Tag vergangen, an dem ich nicht gewünscht habe, ich könnte noch einmal mit meinem Vater sprechen. Ich würde alles geben, was ich besitze, um mit Gewissheit zu erfahren, was in diesen wenigen Momenten, bevor diese zwei Züge ineinanderrasten, wirklich passiert ist. So sicher, wie ich jetzt vor Ihnen stehe, werde ich nichts unversucht lassen, um die Wahrheit herauszufinden. Egal, was es kostet. Guten Tag, Miss Jamison.“

* * *

Mit verkrampftem Magen fuhr Alexandra nervös über den Brief in ihrer Hand und wusste, dass es höchste Zeit war. Sie konnte es nicht länger aufschieben, ihren Eltern ihre Entscheidung mitzuteilen. Sie hatte gestern sehr schlecht geschlafen und ein dumpfer Schmerz in ihrem Nacken breitete sich bis zu ihrem Kopf aus.

Als der Brief während des Frühstücks eintraf, war sie zunächst besorgt gewesen, weil sie gedacht hatte, Mr White hätte seine Antwort versehentlich an diese Adresse geschickt. Aber bei genauerem Hinsehen hatte sich diese Vermutung als falsch erwiesen, obwohl sie nun gezwungen war, ein anderes Thema anzusprechen.

Während sie jetzt am Ankleidetisch in ihrem Zimmer saß, fiel es ihr immer noch schwer, die geschwungene, ziemlich weiblich aussehende Handschrift auf dem Umschlag Mr Horace Buford zuzuordnen. Aber es war die gleiche Handschrift wie im Inneren des Briefes. Und die Liebesbekundungen, zu denen er sich hatte hinreißen lassen …

Sie wagte es nicht, die Sätze ein zweites Mal zu lesen, da sie befürchtete, dass sie sich sonst seine Formulierungen ungewollt merken würde.

Mit einem Seufzen steckte sie den Brief in die oberste Schublade und ging ihre Eröffnungssätze zum zweiten Mal durch. Wenn sie diese doch jetzt nur genauso ruhig und direkt vorbringen könnte wie vor einem Moment, als sie vor ihrem Spiegel geübt hatte!

Sie massierte sich den Nacken und die Schultermuskeln. Es hatte gestern Abend Stunden gedauert, bis sie eingeschlafen war, da sich die Ereignisse des Tages immer wieder in ihrem Kopf abgespielt hatten.

Ja, Miss Jamison. Harrison Kennedy war mein Vater.

Mr Rutledges Antwort hallte erneut mit schmerzlicher Klarheit in ihrem Kopf wider. Er hatte nicht „Stiefvater“, sondern „Vater“ gesagt. Das verriet sehr viel.

Und der Schmerz in seiner Miene!

Im vergangenen Jahr hatte sie kein einziges Mal an die Trauer gedacht, die Harrison Kennedys Familie durchgemacht haben musste. An die Schuldgefühle und die Scham, ja. Aber dass seine Familie auch einen Ehemann und Vater verloren hatte und um seinen Tod trauerte? Nein. Sie fühlte sich deshalb ganz schlecht.

Besonders, nachdem sie dieser Trauer gestern in die Augen geschaut hatte.

Und doch änderte Sylas Rutledges Trauer und die seiner Familie, so ehrlich und schmerzlich sie auch war, nichts an der Tatsache, dass die Unachtsamkeit seines Stiefvaters schuld an der Kollision gewesen war. Er hatte nicht mehr gut gesehen, hatte in der Zeitung gestanden. Und deshalb hatte er die Signale falsch gedeutet. Ach, wenn die Ursache für den Unfall doch komplizierter gewesen wäre!

Jedes Mal, wenn sie darüber nachdachte, war sie von der Sinnlosigkeit dieses Unfalls ganz erschüttert. So unnötig. So vermeidbar. In dieser Hinsicht hatten sie und Mr Rutledge den gleichen Wunsch. Sie wüsste auch gerne mit absoluter Sicherheit, was in jenen letzten Momenten geschehen war.

Ihr fiel noch etwas ein.

Hatten die Zeitungen nicht auch berichtet, dass Mr Kennedy Witwer gewesen war, dass er seine Frau schon einige Jahre zuvor verloren hatte? Das bedeutete, dass nun beide Eltern von Sylas Rutledge tot waren. So groß ihre Meinungsverschiedenheiten mit ihrem Vater und ihrer Mutter auch sein mochten und sosehr sie sich auch wünschte, sie hätten mehr Gemeinsamkeiten, konnte sie sich trotzdem ihre Welt ohne ihre Eltern nicht vorstellen.

Und doch hatte sie genau das in den letzten Stunden tun müssen. Denn sie konnte sich gut vorstellen, wie sie reagieren würden, wenn sie ihnen ihre Pläne darlegte.

Sie nahm Davids gerahmtes Bild von ihrem Ankleidetisch und steckte es in ihre Reisetasche aus Gobelinstoff. Dann legte sie die Tasche zusammen mit ihrem perlenbestickten Pompadour auf Davids Koffer, den sie in der Nacht gepackt hatte. Nachdem sie sich ein letztes Mal im Zimmer umgesehen hatte, stieg sie die Treppe hinab.

Sie sah, dass ihr Vater in seinem Büro arbeitete, dann entdeckte sie ihre Mutter, die im Wohnzimmer saß und strickte. „Mutter, ich möchte mit dir und Vater sprechen, wenn du einen Moment Zeit hast.“

Ihre Mutter unterbrach sofort ihre Strickarbeit und ein erfreutes Lächeln zog über ihr Gesicht. „Natürlich, meine Liebe.“ Sie steckte den halb gestrickten Schal eilig in ihren Strickkorb. „Hat dir Mr Bufords Brief gefallen? Kann sich dieser reiche Mann auch schriftlich gut ausdrücken? Und hat er erwähnt, dass er heute vorbeikommen wird? Er hat deinem Vater angekündigt, dass er das vorhat.“

Alexandra hörte die erwartungsvolle Vorfreude in der Stimme ihrer Mutter und war klug genug, sie nicht zu ermutigen. Sie ahnte jetzt auch, warum ihre Mutter heute Morgen angeboten hatte, ihr beim Ankleiden zu helfen, und warum sie ihr Korsett so eng geschnürt hatte.

Ist die Wespentaille eng geschnürt, wird die Braut bald zum Altar geführt.

Alexandra verdrehte die Augen, als sie an den scherzhaften Spruch dachte, den Zofen flüsterten, wenn sie die Korsettbänder eng schnürten. Sie hatte diesen Spruch schon immer gehasst.

„Nein, Mutter, Mr Buford hat nicht erwähnt, dass er heute Abend zu Besuch kommen will. Und was seinen Brief angeht, möchte ich nur sagen, dass dieser Mann sehr wortreich ist.“

„Wortreich.“ Ihre Mutter nickte und ihre Augen funkelten. „Vielleicht sind die Gefühle eines Mannes umso stärker, je mehr Worte er benutzt.“

Alexandra glaubte insgeheim, dass genau das Gegenteil der Fall war, während sie zum Büro ihres Vaters vorausging und an die offene Tür klopfte. „Vater, dürfen Mutter und ich zu dir kommen? Ich würde gerne mit euch beiden sprechen.“

Er saß an seinem Tisch und bedeutete ihnen einzutreten. Die Falten in seinem Gesicht sahen tiefer als gewöhnlich aus. Das lag zweifellos am unbarmherzigen Morgenlicht. Alexandra schloss die Tür hinter sich. Ihre Mutter nahm auf einem der zwei Stühle vor dem Schreibtisch Platz, Alexandra setzte sich auf den anderen.

Als sie ihre Eltern anschaute, kam sie sich vor, als balanciere sie über einem Abgrund und der leiseste Windstoß könne sie in die Tiefe werfen.

„Zuerst möchte ich euch sagen, dass ich euch beide sehr schätze, auch wenn ich das in den letzten Monaten wahrscheinlich nicht immer so gezeigt habe. Das letzte Jahr war sehr schwer, aber es hat mich auch veranlasst, neu zu überdenken, was im Leben wichtig ist. Und wie ich mein Leben führen will.“

„Sich Gedanken zu machen, hat seinen Platz, Alexandra.“ Ihr Vater verlagerte sein Gewicht auf seinem Stuhl und in seinem Gesichtsausdruck lag eine deutliche Vorwarnung. „Aber viel wichtiger ist das, was wir tun. Wie hast du dich entschieden?“

Sie zögerte. So viel zu ihren eingeübten Einleitungssätzen! Im Zimmer war es sehr warm und sie war für die geöffneten Fenster dankbar. „Nach reichlichem Überlegen … und Gebet“, fügte sie schnell hinzu, „habe ich erkannt, dass Mr Bufords Heiratsantrag und auch sein Brief heute Morgen zeigen, dass er ein sehr großzügiger und sogar vergebungsbereiter Mann ist.“

„In der Tat“, sagte ihre Mutter leise, aus deren Miene immer noch eine schwache Hoffnung sprach.

„Besonders wenn ich bedenke, wie ich mich ihm gegenüber vor einigen Tagen verhalten habe.“ Alexandra, die die wachsende Ungeduld ihres Vaters fühlte, räusperte sich. „Und doch habe ich nicht die Absicht, Mr Buford zu heiraten. Ich möchte als Lehrerin arbeiten. Ich habe auch schon …“

Als sie sah, wie die Miene ihres Vaters hart wurde und ihre Mutter innerlich zusammensackte, sprach sie eilig weiter. „Ich hatte diese Woche ein Vorstellungsgespräch für eine Stelle als Lehrerin hier in der Stadt. Und falls meine Bewerbung angenommen wird, was ich glaube, hoffe ich …“

Ihr Vater erhob sich so schnell, dass sein Ledersessel gegen das Kirschholzbuffet hinter ihm knallte. Ihre Mutter zuckte zusammen und schaute ihn mit großen Augen an.

„Das ist also deine sorgfältig durchdachte Entscheidung, Alexandra!“ Mühsam gezügelter Ärger verschärfte den Tonfall ihres Vaters. „Du hast die Gelegenheit, einen Mann zu heiraten, der sich um dich kümmern wird, der dir ein Zuhause und Kinder schenken wird. Der dich versorgen wird, damit du nie Not leidest. Und doch beschließt du, nachdem du dir Gedanken gemacht hast, was im Leben wichtig ist, das alles wegzuwerfen?“ Seine Stimme wurde lauter. „Und wofür? Um zu unterrichten. Wo, Alexandra? Wo willst du unterrichten? Du hast keine weiterführende Bildung. Du kannst bestenfalls als Hauslehrerin arbeiten. Das ist eine edle Aufgabe, aber sie ist unter der Würde einer Frau deines Standes und mit deinen Möglichkeiten.“

„Das muss nicht so sein, Vater.“ Alexandra bemühte sich um eine ruhige Stimme. „Es wäre eine würdige Aufgabe, wenn ich an einer Schule unterrichte, an der ich dazu beitrage, dass Menschen ein besseres Leben und eine bessere Zukunft ermöglicht wird. An der ich an etwas mitwirke, das größer ist als ich selbst. Und zu etwas beitrage, das mich überlebt.“

Er atmete aus. „Ich sage dir, was dich überleben wird, Alexandra! Kinder! Und ein Erbe. Das ist –“

Es klopfte an die Tür.

Da er schon stand, ging ihr Vater zur Tür und öffnete sie. „Ja, Melba, was ist?“

„Ein Brief ist gekommen, Mr Jamison. Für Miss Alexandra.“

Alexandras Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie stand schnell auf, um den Brief in Empfang zu nehmen, aber ihr Vater hatte ihn schon in der Hand und schloss die Tür. Er betrachtete die Adresse auf dem Umschlag, dann schaute er langsam seine Tochter an. Sie fühlte sich, als würde der Boden unter ihren Füßen nachgeben. Vielleicht lag es auch nur an ihrem zu engen Korsett, dass ihr schwindelig wurde.

„Miss Alexandra Jamison“, las er langsam. „Aber der Brief wurde nach Belle Meade geschickt.“

Sie hielt ihm die Hand hin. „Vater, kann ich den Brief bitte haben?“

Er ging zu seinem Schreibtisch zurück, nahm den antiken Brieföffner, der schon seinem Großvater gehört hatte, und schlitzte in einer schnellen Bewegung den Umschlag an der Seite auf.

Alexandra atmete tief ein und konnte den Schnitt fast körperlich spüren, ebenso wie sie fühlte, dass die Kluft zwischen ihnen mit jeder Sekunde tiefer wurde. „Ich habe mich diese Woche an der Fisk-Universität beworben. Für eine Stelle als Lehrerin, bei der ich neuen Schülern Grundlagen vermittle. Ich habe noch keine offizielle Zusage, dass ich die Stelle bekomme. Ich warte noch auf eine Nachricht.“ Ihr Blick wanderte zu dem Brief.

Die Ungläubigkeit in der Miene ihres Vaters wurde nur durch das Entsetzen im Gesicht ihrer Mutter übertroffen.

„Ich bekomme für meine Arbeit ein Gehalt“, fuhr Alexandra fort, obwohl sich ihr Magen nervös zusammengezogen hatte, „auch wenn ich im Moment nicht viel bezahlt bekomme, da die Finanzen der Schule knapp sind. Mr White, der Schatzmeister und der Mann, bei dem ich mein Vorstellungsgespräch hatte –“

„Mr White?“ Ein Anflug von Hohn schwang in der Stimme ihres Vaters mit.

Sie ging nicht darauf ein. „Ja, er heißt Mr White. Er ist Lehrer der Amerikanischen Missionsgesellschaft. Er sagte, dass er nicht glaube, dass im Moment in den Lehrerunterkünften ein Platz frei ist und ich auf dem Schulgelände wohnen kann …“

Ihre Mutter keuchte leise.

„Aber er hofft, dass sich bald etwas ergibt.“

Wut loderte in der Miene ihres Vaters auf, als er den Brief auseinanderfaltete. Sein Blick wanderte mit einer Ruhe über die Seite, die der Röte, die an seinem Hals emporzog, widersprach. Schließlich hob er den Blick.

„Du willst mir also sagen, dass meine Tochter, eine Frau, die in eine der angesehensten und einflussreichsten Familien in Nashville geboren wurde, an einer Freigelassenenschule unterrichten will?“ Seine Stimme überschlug sich fast und ihre Mutter schluchzte laut.

„Barrett, bitte reg dich nicht auf.“

Er ließ den Brief auf den Tisch fallen und drehte sich zum Fenster herum. „Ich habe deiner Mutter schon vor Jahren gesagt, dass du viel zu unabhängige Gedanken hast. Du hast zu wenig Achtung sowohl vor der Tradition als auch vor deinen Eltern, wie man sieht.“

„Vater, das stimmt nicht.“ Alexandra trat näher. „Ich achte euch. Euch beide. Und ich liebe euch sehr. Aber das ist etwas, von dem ich sehr überzeugt bin. Als ich David kennenlernte, hat er mir ein ganz anderes Leben –“

Ihr Vater hob die Hand, ohne jedoch den Blick vom Fenster abzuwenden. „Schluss damit, Alexandra! David Thompson hat dich in dieser Hinsicht beeinflusst, das weiß ich. Ich war damals nicht damit einverstanden und ich bin es auch jetzt nicht. Ich glaube, er hat töricht gehandelt und das war zu deinem Schaden. Und vielleicht auch zum Schaden deiner Mutter und zu meinem Schaden, wie wir leider bald zu spüren bekommen werden.“

Schweres Schweigen senkte sich auf den Raum herab, während die Großvateruhr tickte und Alexandra wieder den Brief anschaute und wünschte, sie wüsste, was darin stand. Aber aus den Worten ihres Vaters schloss sie, dass sie wenigstens die Stelle erhalten hatte.

Ihr Vater drehte sich zu ihr um und seine Miene war überraschend ruhig. „Bist du sicher, dass du das wirklich machen willst, Alexandra?“

Sie schaute ihn fragend an. „Ja, Vater. Das bin ich.“

„Also gut. Jede Entscheidung hat ihren Preis. Das gilt auch für deine Entscheidung.“ Er ging zur Bürotür und öffnete sie. „Alexandra, wenn du dich entscheidest, an der Fisk-Universität zu unterrichten, entscheidest du damit gleichzeitig, dass du dein Zuhause – und deine Mutter und mich – verlässt.“

„Barrett, nein!“ Ihre Mutter eilte an seine Seite. „Tu das nicht. Bitte. Nicht jetzt. Nicht bei allem, was –“

Er brachte sie mit einem strengen Blick zum Schweigen. Dann schaute er Alexandra wieder an.

„Vater“, flüsterte sie und schaute zuerst ihn und dann ihre Mutter an. „So muss es nicht sein. Ich will nicht, dass es so kommt.“

„Falls du dich entscheidest, nicht an der Fisk-Universität zu unterrichten, wirst du zum frühestmöglichen Termin Mr Buford heiraten. Bis zu diesem Tag kannst du hier bei uns wohnen bleiben. Aber danach ist dieses Haus nicht mehr dein Zuhause. Und auch nichts, das sich darin befindet.“

Alexandra starrte ihn an. Die Worte zu hören war schwerer, als sie sich vorgestellt hatte. „Ich verstehe. Ich habe meinen Koffer und meine Tasche schon gepackt.“

„Die Sachen bleiben in diesem Haus. Wie ich schon sagte, Alexandra: Du nimmst nichts mit.“

„Aber Vater, diese Sachen gehören mir. Ich brauche meine Kleidung, meine Bücher, das Geld, das ich gespart habe, um –“

„Meine Entscheidung steht fest, Alexandra. Und jetzt musst du deine treffen.“

Er wandte sich ab und schritt in die Eingangshalle hinaus. Ihre Mutter folgte ihm stumm. Alexandra nahm schnell den Brief vom Schreibtisch und folgte ihnen. Sie wollte noch einmal widersprechen, da sie an alles dachte, was sie eingepackt hatte: Davids Bücher und Papiere, seine Fotografie, so viele greifbare Erinnerungen. Sachen, die sie brauchen würde. Dann sah sie den Schmerz in der Miene ihrer Mutter und in Melbas Gesicht, die schweigend an der Küchentür stand, und erinnerte sich daran, was Mr White über die Opfer gesagt hatte, die sie bringen müsste, und über die Herausforderungen, vor die sie gestellt würde.

Aber mit diesem Opfer hatte sie nicht gerechnet.

Wieder wünschte sie, David wäre noch hier. Vielleicht hätte er gewusst, was zu sagen wäre, um diesen Moment zu entschärfen. Andererseits gab es manchmal einfach keine Worte, um eine Kluft zu überbrücken oder eine Wunde zu heilen. Sie mühsam zu suchen machte den Schmerz nur noch schmerzhafter.

Sie umarmte ihre Mutter herzlich, dann ging sie zur Haustür und öffnete sie. Ein heißer Sommerwind schlug ihr entgegen. Als sie die Verandastufen hinabstieg, fiel ihr Blick auf die Töpfe mit den Astern. Die schönen Sommerblumen waren in der Hitze des Tages schon verwelkt.