Über das Buch:
Nachdem ihr Mann Stockton bei einem Autounfall ums Leben kam, versucht Nan sich und ihren drei Mädchen ein neues Leben aufzubauen. Dabei erhält sie ungefragt Unterstützung von Stocktons Kollege Travis. Eines Tages stößt Nan auf mysteriöse Notizen ihres Mannes, der sich als erfolgreicher Anwalt gegen Menschenhandel einsetzte. Zudem macht sie die Bekanntschaft der jungen CeeCee, die ihren Mann kurz vor seinem Tod um Hilfe gebeten hatte. CeeCees Leben und das Schicksal ihrer Vorfahrin Clara scheinen auf geheimnisvolle Weise mit Stocktons Familiengeschichte verbunden zu sein. In Nan wächst nach und nach der Verdacht, dass der Tod ihres Mannes kein bloßes Unglück war.

Doch auf welche Weise sind Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpft? Je mehr Nan versucht, das Rätsel zu entwirren, desto mehr geraten sie und ihre Kinder in Gefahr.

Über die Autorin:
Elizabeth Musser wuchs in Atlanta auf. Seit dem Abschluss ihres Studiums englischer und französischer Literatur an der Vanderbilt Universität in Tennessee ist sie als Missionarin tätig. Heute lebt sie mit ihrem Mann Paul in der Nähe von Lyon in Frankreich. Die beiden haben zwei Söhne.

Kapitel 7

Um ein Uhr nachts klappte ich das Tagebuch zu, da meine Augen von der Anstrengung, die Handschrift, den Sklavendialekt und die verblasste Tinte zu entziffern, brannten. Ich wollte weiterlesen, denn es waren noch mehr Seiten, aber ich brauchte Schlaf. Ich konnte jedoch nicht einschlafen. Ich lag wie immer wach, nur dass ich dieses Mal nicht Stockton vor mir sah. Ich sah ein schwarzes Sklavenmädchen, das nicht wirklich schwarz war. Ihre Haut war hellbraun, sehr hell, und sie duckte sich vor einem großen, attraktiven weißen Mann mit dichten, zurückgekämmten schwarzen Haaren und grausamen Augen. Er rauchte eine Pfeife und lachte über das Mädchen. Sie wich zurück und machte Anstalten, davonzulaufen. Aber er hielt sie am Arm fest und drehte sie brutal zu sich herum. Das Mädchen, das ich vor meinem inneren Auge sah, war CeeCee Eager.

Freitagmorgens unterrichtete ich nicht und ich wusste ganz genau, was ich mit diesem freien halben Tag machen wollte. Ich fuhr von unserem Haus in Avondale Estates aus nach Westen in den eine Viertelstunde entfernten Teil der Stadt, der West End hieß. Von Stockton wusste ich, dass mein Ziel im nationalen Register historischer Stätten stand. Ich ging zu dem Haus, das Wren’s Nest genannt wurde. Allein schon den Gehweg zu diesem Haus zu gehen, das Stockton so oft besucht hatte, weckte Schmetterlinge in meinem Bauch. Es war fast so, als erwartete ich, dass ich nur an die Tür zu klopfen bräuchte, dann würde mir mein gut aussehender verstorbener Mann öffnen.

Das Haus war im Queen-Anne-Stil erbaut und auf eine altmodische Art sehr attraktiv. Einige Stufen führten zu der Veranda hinauf, die um das ganze Haus herumführte und ein schön verziertes Holzgeländer besaß. Das zweistöckige Holzhaus war hellorange und braun gestrichen, was ihm eine herbstliche Atmosphäre verlieh. Über den dunkelgrünen Schindeln des Daches thronten drei Türmchen und zu beiden Seiten der Mansardenfenster im zweiten Stock erhoben sich zwei Kamine aus rotem Backstein. Das Haus lag von der Straße zurückgesetzt und mehrere große Eichen warfen ihre Schatten auf den Vorgarten.

Ich atmete tief ein, dachte kurz an Middie und Kenzie in der Schule und an Weezie zu Hause bei der lieben, flippigen LeeAnn. Langsam stieg ich die Stufen hinauf zur Haustür. Ich wollte gerade schon klingeln, als mein Blick auf ein schmiedeeisernes Schild auf einem Ständer direkt neben einem kleinen Metallbriefkasten fiel. In leuchtend gelben Buchstaben auf braunem Hintergrund stand auf dem Schild: Vorlesestunde! Bitte NICHT KLINGELN. Sie wollen doch nicht die Atmosphäre stören! Ein kleiner, gemalter gelber Vogel – ein Zaunkönig – spähte zu diesen Worten hinauf. Ich musste unwillkürlich lächeln, obwohl mir Tränen in die Augen traten, als ich daran dachte, wie viel Spaß es Stockton bereitet hatte, mit den Mädchen zur Vorlesestunde zu fahren.

Aber es war Freitagvormittag und ich war ziemlich sicher, dass ich auf der Website gelesen hatte, dass die Vorlesestunde nur samstags stattfand. Trotzdem zögerte ich zu klingeln und schaute mich um, ob es vielleicht noch einen anderen Eingang gab, den ich übersehen hatte. Ich überlegte immer noch, was ich tun sollte, als die Tür schwungvoll aufging und eine dunkelhäutige Frau mittleren Alters sagte: „Hallo. Kann ich Ihnen helfen?“

Ich zuckte leicht zusammen und sagte: „Oh, ähm, nun ja, ich möchte die Vorlesestunde nicht stören, aber eigentlich wollte ich eine Führung mitmachen.“

Die Frau trat auf die Veranda und schüttelte lächelnd den Kopf. „Wir vergessen oft, das Schild umzudrehen. Keine Sorge. Jetzt läuft keine Vorlesestunde. Sie sind unser erster Besucher heute. Kommen Sie herein.“

Wir traten ein und ich sagte: „Ich hatte gehofft, eine Führung mitmachen zu können. Finden die Führungen stündlich statt?“

„Sie finden dann statt, wenn jemand kommt.“ Sie lächelte wieder. „Ich bin Jeri und ich mache die Führung. Das macht sieben Dollar, bitte.“

Ich zog mein Portemonnaie heraus. „Ich bekomme eine Privatführung?“

„Sieht so aus. Es sei denn, Sie wollen warten, bis noch jemand auftaucht. Es kann aber auch sein, dass heute niemand mehr kommt.“

„Nein, nein, dann warte ich lieber nicht“, stammelte ich.

„Die Führung beginnt hier.“ Jeri führte mich in das erste Zimmer zur Linken des langen Flurs, in dem Metallstühle in Reihen aufgestellt waren. Sie bedeutete mir, mich auf einen zu setzen. „Hier findet die Vorlesestunde statt. Samstags sind die meisten Stühle besetzt und viele Kinder müssen noch auf dem Boden sitzen.“

Ich nickte mit trockener Kehle. Hier hatte Stockton mit Middie, Kenzie und Weezie immer gesessen.

Vorne im Raum rechts neben dem Kamin standen lebensgroße Nachbildungen von Meister Lampe, Patzig, dem Fuchs, und Brumm, dem Bär. Ich erkannte sie sofort aus dem Disney-Musical Onkel Remus’ Wunderland. Jeri bemerkte meinen Blick und sagte: „Walt Disney hat sie 1946 nach der Produktion von Onkel Remus’ Wunderland dem Wren’s Nest geschenkt.“ Ich nickte. Der Film, der bei seinem Erscheinen ein riesiger Erfolg gewesen war, wurde jetzt kritischer betrachtet, da er wegen seiner Darstellung der Sklaven als „politisch inkorrekt“ galt.

Ich hörte Jeris Beschreibung von Joel Chandler Harris zu, dem unehelichen, rothaarigen Jungen, der furchtbar stotterte und den größten Teil seiner Kindheit verspottet wurde, dem weißen Jungen, der als Teenager auf einer Plantage gearbeitet hatte. Dort hatte er die Sklavengeschichten gehört und dort hatte er auch während des Bürgerkriegs vier Jahre bei einem Sklaven namens George Turrell gelebt.

„Er war dreizehn, als er bei Mr Turrell einzog“, erklärte Jeri. „Er schrieb die Geschichten, die er hörte, auf. Die Afroamerikaner gaben ihre Geschichten mündlich weiter.“

Ich war plötzlich fasziniert und fühlte mich in die Zeit der Plantagen und der Sklaverei zurückversetzt.

„Einige halten Harris wegen seiner Geschichten für einen Rassisten. Aber er war alles andere als ein Rassist. Er war Romanschreiber und Volkskundler, der dazu beitrug, die Literatur zu revolutionieren. Er sprach nie abwertend über Schwarze.“ Jeri schaute mich so durchdringend an, dass ich ihre Überzeugung spüren konnte. „1870 zog er mit seiner Familie hierher, weil es eine Wohngegend war, in der Weiße und Schwarze friedlich nebeneinander wohnten. Er war der erste Autor, der Tieren einen menschlichen Charakter gab. Sie gingen aufrecht und sprachen. Er hatte großen Einfluss auf die Kinderbuchautoren Beatrix Potter und Rudyard Kipling und viele andere.“

Wir standen jetzt im Salon gegenüber dem Lesesaal neben einer herrlichen Holzschnitzerei von Patzig, dem Fuchs, der Meister Lampe am Ellbogen hielt. Sie stand auf einem kleinen Tischchen. Ich lächelte und bückte mich, als wollte ich sie berühren, und mein Herz zog sich zusammen. Ich konnte Kenzies Stimme hören, die ganz aufgeregt sagte: „Mama, im Wren’s Nest haben sie die allerbesten Tiere. Einige sind ausgestopft und … und lebens – … lebens – …“

„Lebensgroß“, half ihr Middie.

„Ja! Lebensgroß. Und dann gibt es eine Statue.“ Sie runzelte die Stirn, weil sie nicht sicher war, ob sie das richtige Wort benutzt hatte, aber Middie zuckte nur die Achseln. „… von Patzig, dem Fuchs, und Meister Lampe. Es ist eine große Statue. Fast so groß wie ich.“

„Ist sie nicht! Es ist eine Holzschnitzerei von einem berühmten Deutschen und die Schnitzerei steht auf einem Tischchen, aber die beiden Figuren sind nur ungefähr so groß.“ Middie zeigte die Größe an, indem sie die Hände ungefähr einen halben Meter auseinanderhielt.

Ich habe die Geschichte erzählt!“, schmollte Kenzie, deren Schmollmund einen kurzen Moment ihre Begeisterung trübte. „Jedenfalls hat dieser nette deutsche Schni… Schnit…“

„Schnitzer“, seufzte Middie ungeduldig.

„… sie Mr Harris gegeben. Und weißt du was, Mama? Ihre Köpfe springen auf! Man kann am Kopf von Meister Lampe und Patzig, dem Fuchs, ziehen, dann gehen sie auf!“

„Sie sind innen hohl, Mama“, ergänzte Middie. „Die Köpfe der Tiere sind mit Scharnieren am restlichen Körper befestigt …“

„Ma’am?“ Jeris Frage riss mich aus meinen Gedanken. „Geht es Ihnen gut, Ma’am?“

Ich errötete. „Oh, ja. Ja. Meine Mädchen haben mir vor ein paar Monaten von dieser Schnitzerei erzählt.“

Jeri musste gesehen haben, dass mein Gesicht rot angelaufen war, denn sie stellte keine Fragen mehr, sondern setzte ihre Führung fort. „Ja, das ist mein Lieblingsstück im Wren’s Nest. Wie Sie sehen können, begleitet Patzig, der Fuchs, den armen Meister Lampe ins Gefängnis, weil er Gemüse gestohlen hat. Aber der schlaue, alte Hase lässt unterwegs die Beweise fallen.“

Ich schmunzelte und war erleichtert, dass ich nicht angefangen hatte zu heulen.

„Das ist eine kunstvolle bayrische Holzschnitzerei aus den 1880er-Jahren. Und sehen Sie: Ihre Köpfe springen auf.“ Jeri klappte die Köpfe des Fuchses und des Hasen zurück, die mit Scharnieren befestigt waren, genau wie Middie gesagt hatte. „Sie sind innen ausgehöhlt und wurden als Tabakbefeuchter benutzt.“

Ich wischte mir kurz mit den Händen über die Augen und fragte mich immer wieder, warum ich nie mit meiner Familie hierhergekommen war. Es kostete Mühe, diese Stimme zum Schweigen zu bringen und in die Gegenwart zurückzukehren. Wenigstens war ich jetzt hier.

„… und nachdem Joel Chandler Harris den kleinen Metallbriefkasten gebaut hatte, hat ein Zaunkönig sein Nest darin angelegt. Sie wissen ja, wie kleine Zaunkönige sind. Mr Harris konnte die Vögel nicht dazu bringen, den Briefkasten wieder zu verlassen. Deshalb fingen die Nachbarn an, das Haus „Wren’s Nest“ zu nennen – Zaunkönignest.“

Ich hörte nur das Ende von Jeris Erklärung und schalt mich dafür, dass ich nicht besser aufpasste. Während der restlichen Führung war ich ganz Ohr.

Ich genoss es, die Onkel-Remus-Geschichten zu hören, aber ich fand es auch faszinierend, dass Joel Chandler Harris ein guter Freund des berühmten Henry Grady aus Atlanta, des Herausgebers der Zeitung Atlanta Constitution, gewesen war. Beide Männer hatten sich dafür engagiert, eine Vision eines „Neuen Südens“ zu schaffen, in dem Schwarze und Weiße in Frieden leben und sich gegenseitig respektieren würden. Ich glaubte nicht an Zufälle und so war ich sicher, dass ich zu diesem Zeitpunkt in diesem Haus sein sollte.

Die Führung war zu Ende. Ich nahm meinen Pullover und meine Handtasche, die ich im ersten Zimmer gelassen hatte, als eine attraktive weiße Frau mittleren Alters eintrat. „Hallo, Jeri“, sagte die Frau. Ich erkannte sie sofort. Sie war Sue, die leitende Direktorin des Wren’s Nest, der ich schon zweimal bei gesellschaftlichen Anlässen begegnet war. Sie war auch bei Stocktons Beerdigung gewesen. Sie nickte in meine Richtung, doch dann schaute sie mich genauer an. „Nan? Nan Fitten?“

Ich errötete. „Ja.“ Dann hielt ich ihr die Hand hin. „Es freut mich, Sie wiederzusehen, Sue.“

Sue runzelte die Stirn. „Das mit Stockton tut mir so leid.“ Dann wandte sie sich an Jeri und erklärte: „Das ist Stocktons Frau, Nan.“

„Oh, meine Güte! Warum haben Sie das nicht gesagt?“, fragte Jeri.

„Sein Tod war eine furchtbare Tragödie. Wir vermissen ihn alle so sehr.“ Sue drückte meine Hand.

Ich atmete tief ein und blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. In diesem Moment betrat ein Mann den Raum. Etwas an ihm kam mir bekannt vor. Er war ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein wenig älter. Dann fiel es mir wieder ein: Er war zur selben Schule gegangen wie ich, allerdings ein paar Jahre vor mir, und ich hatte ihn auch bei diesen gesellschaftlichen Veranstaltungen und letztes Jahr bei der Beerdigung gesehen. Er war mit Stockton im Vorstand des Wren’s Nest gewesen.

„Hallo, Nan“, sagte er. Dann musste er gesehen haben, dass ich mich nicht an seinen Namen erinnern konnte. Deshalb fuhr er fort: „Entschuldigen Sie, dass ich mich nicht vorgestellt habe. Ich bin Travis Buchanan.“

Ah, ja! Er sah noch genauso aus wie das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte: sandbraune zerzauste Haare, gewellt und definitiv zu lang, schmales eckiges Gesicht, 5-Uhr-Schatten am Kinn, obwohl es noch Morgen war.

„Schön, Sie wiederzusehen, Travis“, sagte ich, obwohl mir plötzlich ein wenig schwindelig war.

Er schüttelte meine Hand und sagte: „Stocktons plötzlicher Tod war für uns alle ein schwerer Schlag.“

Ich nickte, kaute auf meiner Lippe und entzog ihm meine Hand.

„Sie haben liebe Töchter“, sagte Sue, als wolle sie mir zu Hilfe kommen.

Jeri schmunzelte. „Ja, das stimmt. Die älteste, Maddie …“

„Middie“, verbesserte ich sie.

„Ja, Middie! Ich habe noch nie so ein kluges Mädchen gesehen. Sie hat mich immer mit Fragen gelöchert.“ Dann fügte sie hinzu: „Wir vermissen die Mädchen.“

„Ja, vielleicht könnten Sie sie wieder einmal hierherbringen.“ Das war Sue.

Ich merkte, dass mir Tränen in die Augen traten und wandte verlegen den Kopf ab.

„Es tut uns so leid, dass Sie Ihren Mann verloren haben. Ich habe mich immer wieder gefragt, ob wir irgendetwas tun können …“ Sue führte ihren Satz nicht zu Ende.

Ich nickte und wollte das Unbehagen, das plötzlich eingezogen war, vertreiben.

Travis steckte die Hände in seine Hosentaschen. „Stockton hat immer in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen. Nan dies und Nan das.“ Er schmunzelte. „Das hat mich eifersüchtig gemacht. Ich habe ihm immer gesagt, dass ich mir wohl auch eine Frau wie Nan suchen müsse.“

Mein Gesicht lief knallrot an. Er errötete ebenfalls, dann schüttelte er den Kopf und hielt entschuldigend die Hände hoch. „Entschuldigung. So habe ich das jetzt nicht gemeint.“

In dem Versuch, die Situation aufzulockern, sagte ich: „Stimmt mit der Frau, die Sie haben, etwas nicht?“ Ich hatte seinen Ehering bemerkt.

Seine Hand bewegte sich zu dem Ring und er wirkte plötzlich niedergeschlagen. „Ich bin verwitwet.“

„Verwitwet!“ Ich war schockiert und dann entsetzt, denn plötzlich fiel mir ganz genau ein, dass Stockton mir von Travis erzählt hatte. Sie waren im Laufe des vergangenen Jahres Freunde geworden und Stockton hatte sich Sorgen um ihn gemacht. Er hatte ihn sogar zu uns einladen wollen.

„Meine Frau ist vor drei Jahren gestorben. Ich denke, ich kann mit Ihnen mitfühlen.“ Er wischte seine ungekämmten Haare aus seinen Augen.

Sue und Jeri sahen zu Boden.

Travis fing sich wieder und sagte: „Ich wollte eigentlich zu Ihnen kommen und Ihnen mein Beileid persönlich ausdrücken …“ Da fiel mir ein, dass ich aus dem Wren’s Nest eine hübsche Beileidskarte bekommen hatte, von Sue und Travis und Jeri und einigen anderen unterschrieben. Sie hatten in Stocktons Namen eine beachtliche Spende an ein Frauen- und Kinderschutzhaus in Atlanta überwiesen. „… aber da Sie mich eigentlich nicht kennen, war mir nicht ganz wohl dabei.“ Ich fühlte mich immer unwohler, während er weitersprach. „Der Trauergottesdienst war schön. Eine schöne Erinnerung an Stocktons Leben.“

„Das stimmt“, gab ihm Sue recht.

Ich wollte mich umdrehen und die Stufen hinabfliehen, aber gleichzeitig wollte ich mich in Joel Chandler Harris’ Salon setzen und diesen Menschen Fragen über Stockton stellen. Ich sammelte Erinnerungen an sein Leben, suchte sie, hielt sie fest und versuchte verzweifelt, sein Gedächtnis am Leben zu erhalten.

Ich schaute Jeri, dann Sue und schließlich Travis an. „Danke für die Führung. Danke für alles. Sie waren alle sehr freundlich.“ Ich wischte mir die Augen. „Ich komme wieder. Irgendwann komme ich mit den Mädchen wieder hierher. Versprochen.“

Sie kochte zu unerwarteten Momenten in mir auf und überrollte mich ohne Vorankündigung: die Wut. Der Zorn. Ich wusste, dass das Teil des Trauerprozesses war, ich wusste ganz genau, dass es normal war, aber es überraschte mich trotzdem: die Intensität, die Tiefe des Zorns und der fast unerträgliche Schmerz.

Ich fing an, die „Litanei unserer Verluste“, wie ich sie nannte, aufzuzählen, und versank knietief in Selbstmitleid. An diesem Freitagmorgen, als ich von meinem Besuch im Wren’s Nest zurück war, schrie ich sie in das leere Haus hinein. Zum Glück war LeeAnn mit Weezie in den Park gegangen.

„Der Flugzeugabsturz, Vietnam, Fehlgeburten, Brustkrebs …“ So hätte ich immer weitermachen können. Ich sprach nur die schlimmsten Dinge an, aber es gab so viele andere Verluste.

Das Schlimme war, dass andere uns schon als Familie, die „von Tragödien geplagt wurde“, ansahen. Ich sah es in ihren Gesichtern. Ich las es in den traurigen Augen und dem Stirnrunzeln und dem Flüstern. Könnt ihr euch das vorstellen? JJ Middleton hat seine Frau beim Flugzeugabsturz in Orly verloren, als sie 38 war, und jetzt hat seine Enkelin, Nan Fitten, ihren Mann bei einem schrecklichen Unfall verloren. Er war auch 38.

Die Menschen konnten sehr abergläubisch werden. Sicher glaubten sie, ich würde mein Leben lang den Atem anhalten, bis ein noch nicht geborenes Enkelkind 38 Jahre wurde und auf tragische Weise starb.

Ich konnte den Leuten daraus keinen Vorwurf machen. Da meine Eltern halb Atlanta kannten, waren an den Tagen nach Stocktons Tod viele Leute in mein Haus gekommen. Man hatte uns Essen gebracht und angeboten, auf die Mädchen aufzupassen; ich hatte Hunderte Briefe mit Beileidsbekundungen bekommen; die Atlanta Journal-Constitution hatte einen schönen Nachruf über Stockton geschrieben. Das alles hatte dazu geführt, dass viel zu viel Aufmerksamkeit auf mich gerichtet wurde. Ich wollte keinen Nachruf auf meinen Mann lesen. Ich wollte meine Kinder nicht zu Fremden schicken, damit ich mich „etwas ausruhen“ konnte. Ich wollte sie nicht einmal zu meiner Mutter schicken, die sie liebten, oder zu Abbie oder Ellie. In den ersten Monaten hatte ich mich einfach mit meinen drei blonden, braunäugigen Töchtern zusammenkuscheln und in eine andere Welt eintauchen wollen.

Ich machte niemandem einen Vorwurf aus seinem traurigen Gesicht und dem Tratsch. Wie oft hatte ich das Gleiche gemacht! Wie oft hatte ich einen Menschen aufgrund irgendeiner Tragödie oder eines ungewöhnlichen Vorfalls, der ihm passiert war, in eine Schublade gesteckt! In der zweiten Klasse war Carol Crankshaw zu dem Mädchen geworden, das vor der ganzen Klasse in die Hose gepinkelt hatte. Bis heute – sie war fast vierzig – sah ich sie immer noch als Achtjährige, die mit großen Augen und zusammengekniffenen Lippen zum Entsetzen und Entzücken der ganzen Klasse auf den Boden gepinkelt hatte.

Oder Jennifer Leighton. Das Mädchen, dessen Eltern eine hässliche Scheidung durchgemacht hatten. Diesen Skandal hatte die Atlanta Journal-Constitution tagelang ausgeschlachtet. Sie tat mir ja so leid!

Oder meine liebe Freundin Tracie, deren Mutter Selbstmord begangen hatte, als Tracie in der elften Klasse gewesen war.

Die Tragödien verfolgten uns fast wie ein akademischer Titel. Kein Doktor oder Master, aber trotzdem irgendwie ein Titel. „Nan Fitten, die junge Mutter, die mit 36 verwitwet war. Ihr Mann starb bei diesem schrecklichen Unfall – hat es nicht geheißen, dass er vorher bei einer Party getrunken hat? – und hat sie mit drei kleinen Kindern zurückgelassen. Kannst du dir das vorstellen?“

Ich setzte mich mit einer Tasse Kaffee aufs Sofa und ließ meinen Tränen wieder freien Lauf. Normal, normal, normal. Die Trauer, die Wut, die Benommenheit, das Leugnen, die Hoffnungslosigkeit, die Depression. Aber es wird besser werden, nach und nach. Du wirst es überleben. Du wirst weitermachen. Nimm erst einmal jeden Tag für sich allein, so wie er kommt.

Was mich bei meinen verrückten Stimmungsschwankungen am meisten aufregte, was wie ein Schlag in die Magengrube wirkte, war mein Ärger auf Stockton. Wenn er in mir hochkam, warf ich mich auf unser Bett, auf unser Bett, in dem er mit mir liegen sollte, und schrie: „Warum bist du gestorben? Warum hast du uns so allein gelassen? Warum musstest du an diesem Abend wegfahren? Wem wolltest du eigentlich helfen? Ich bin so sauer auf dich, Stockton, weil du uns allein gelassen hast und losgefahren bist, um jemand anderem zu helfen. Schau nur, was dabei herausgekommen ist!“

Ich hasste meine Wut auf Stockton. Nach sechs Monaten, zwei Tagen und 22 Stunden war sie immer noch da und brach sich mit ihrer ganzen Wucht Bahn. Ein Blick in die Gesichter von Jeri, Sue und Travis hatte genügt, um sie auszulösen. Es waren Freunde von Stockton, die im letzten Jahr seines Lebens viele Stunden mit ihm verbracht hatten. Ich war eifersüchtig, weil sie Erinnerungen an ihn hatten, und eifersüchtig auf die Zeit, die er diesem Museum geschenkt hatte. Ich war eifersüchtig auf seine Mandanten – auf sie alle, die reichen Bewohner Atlantas, die einen Anwalt brauchten, der ihnen helfen musste, wenn sie sich in Schwierigkeiten gebracht hatten. Ich war auch eifersüchtig auf die Mädchen, die zur Prostitution gezwungen wurden und denen seine Kanzlei kostenlos half, ein neues Leben aufzubauen.

Irgendwo in meinem Kopf tauchte ein Gedanke auf, den ich schnell wieder verdrängte. Wenn du weiterhin auf Stockton wütend bleibst, hast du nicht die Energie, dich mit dem zu befassen, auf den du eigentlich wütend bist. Dann frisst du diesen Zorn weiterhin in dich hinein.

Kapitel 8

Leider kam LeeAnn mit Weezie nach Hause, als ich noch weinte. Sie sah meine Tränen, nahm sofort Weezie auf die Arme und sagte: „Komm schnell! Wir wollen die Überraschung fertig machen und sie dann Mama zeigen.“ Sie brachte Weezie nach oben, bevor sie mein Gesicht sehen konnte.

Die liebe LeeAnn! Sie machte für uns belegte Brote, und als ich Weezie zu ihrem Mittagsschlaf ins Bett gelegt hatte und mich für den Nachmittagsunterricht an der Schule fertig machte, fragte mich LeeAnn: „Willst du mir erzählen, warum du dir heute Vormittag die Augen aus dem Kopf geheult hast? Wenn es nur die gewohnte Trauer-Wut-Zorn-Sache ist, ist alles klar. Aber falls sonst noch etwas nicht stimmt, bin ich ganz Ohr.“

Ich hatte LeeAnn wie eine kleine Schwester ins Herz geschlossen. Sie war vierundzwanzig und sehr klug, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie mit ihrem Leben weitermachen sollte. Sie hatte ihren Masterabschluss in Kommunikationswissenschaft gemacht und dann eine Stelle an der Emory-Universität angenommen, die mit ihrem Fachgebiet überhaupt nichts zu tun zu haben schien.

Ich hatte sie vor zwei Jahren kennengelernt, als sie in Stocktons Kanzlei gearbeitet hatte. Wir hatten uns bei einer dieser formellen Veranstaltungen, bei der alle anderen Frauen in langen Kleidern erschienen waren, auf Anhieb gut verstanden. Ich hatte ein grünes Stretch-Top und meine Schwangerschafts-Designerjeans getragen, da ich mit Weezie im achten Monat schwanger gewesen war. LeeAnn hatte ein langes Trägertop in leuchtendem Orange getragen, das eine Ansammlung von Tattoos auf ihren sexy Schultern offenbart hatte, außerdem gelbe Leggings und hohe, leuchtend orange Lederstiefel. Ihre Haare waren ebenfalls orange gewesen. Sie hatte am Buffet gestanden und sich kleine, gefüllte Kirschtomaten in den Mund gestopft.

Ich war auf sie zugegangen. „Hallo. Ich bin Nan Fitten.“

Sie hatte meine Hand geschüttelt und dabei die andere Hand vor ihren Mund gehalten. Mit Tomaten im Mund hatte sie gemurmelt: „Oh, wow. Schön, Sie kennenzulernen, Nan. Sind Sie Stocktons Frau?“

„Ja.“

Sie hatte eine Serviette genommen und sich den Mund abgewischt. „Entschuldigung. Ich habe einen Bärenhunger. Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.“

„Lassen Sie sich nicht aufhalten. Sie sind wirklich gut.“ Ich deutete mit dem Kopf zu den Tomaten.

„Stockton ist voll in Ordnung. Wenn der Rest der Kanzlei so normal wäre wie er – bis auf seinen schrecklichen Vornamen … wie kann man ein Kind nur so nennen? –, könnte ich mir vorstellen zu bleiben. Aber so wie die Dinge stehen, bin ich in einem Monat wieder weg.“

„Es tut mir leid, das zu hören.“ Stockton hatte mir einige Geschichten über die „extrem ungenierte Anwaltsgehilfin“ erzählt, die bei ihnen arbeitete.

„Das muss Ihnen nicht leidtun. Es ist herrlich. Ich habe erkannt, was ich mit meinem Leben anfangen will, und gehe an die Emory, um meinen Master zu machen.“

„In welchem Fach?“

„Ach, ein wenig dies und ein wenig das. Interdisziplinär.“

Wir hatten uns ungefähr eine Viertelstunde unterhalten. Genau genommen hatte LeeAnn die meiste Zeit geredet und sich dabei immer wieder rohes Gemüse und Salat in den Mund gestopft. Sie hatte mir Geschichten aus dem Leben in der Kanzlei erzählt und ich hatte gelacht.

„Sie platzen fast, oder?“, hatte sie irgendwann gesagt und die Hand auf meinen Bauch gelegt. „Das kann nicht bequem sein.“

„Wie wahr! Stört es Sie, wenn wir uns ein wenig setzen?“

Später, als Stockton und ich aufbrachen, war LeeAnn auf uns zugegangen und hatte gesagt: „Es war schön, Sie kennenzulernen, Nan. Und hey, falls Sie je einen Babysitter oder ein Kindermädchen brauchen, genügt ein Anruf und ich bin da.“

Ich hatte LeeAnn fast vergessen, aber eine Woche nach Stocktons Tod hatte sie an meiner Tür gestanden. „Das ist ja sooo, sooo schrecklich, Nan! Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber ich bin hier und will helfen.“ Damit hatte sie mir Weezie aus den Armen genommen, die erstaunlicherweise nicht zu weinen angefangen hatte, als diese laute, fremde Frau in einem grellen, pinkfarbenen Pullover mit gleichfarbigen Haaren in unser Haus geplatzt war. „Ich bin LeeAnn, für den Fall, dass Sie sich nicht an mich erinnern.“

Das war alles. LeeAnn kam und half mir. In den ersten zwei Monaten weigerte sie sich, Geld dafür zu nehmen. Dann präsentierte sie mir einen Zeitplan, zu welchen Stunden sie kommen könnte, und verlangte nur lächerliche 15 Dollar in der Stunde. „Wenn das zu viel ist, kann ich es auch billiger machen.“

Stockton hatte mir reichlich Geld hinterlassen, mit dem ich einen Babysitter bezahlen konnte. Er hatte uns wirklich viel Geld hinterlassen. Aber das half mir auch nicht weiter.

LeeAnn konnte traumhaft mit kleinen Kindern umgehen. Weezie liebte sie. Also stellte ich sie an.

Als ich zur Tür ging, lächelte ich LeeAnn an. „Du siehst in Grün unglaublich aus. Alles passt zusammen: deine Augen, deine Bluse, deine Haare, deine Fingernägel.“ Dann fügte ich hinzu: „Es war einfach ein Schock, in dieses Wren’s Nest zu gehen und Leute zu treffen, die Stockton gekannt haben. Das hat mich wieder einmal völlig aus dem Gleichgewicht geworfen.“

„Oh, ja! Ich kenne das Wren’s Nest. Ich war zwar selbst noch nie dort, aber Weezie erzählt viel davon. Ich hatte allerdings keine Ahnung, wovon sie sprach, bis es mir Middie neulich erklärt hat. Wusstest du, dass die Emory-Universität ein Studentenwohnheim hat, das nach Joel Chandler Harris benannt ist? Ich glaube, seine Familie hat es gestiftet und ihm gewidmet.“

„Davon hatte ich keine Ahnung“, sagte ich und ließ LeeAnn in ihrer limonengrünen Pracht zurück.

Ich schaffte es, den Nachmittagsunterricht zu überleben, indem ich mich sehr stark auf die Schüler konzentrierte – auf Eddie und Sylvia und Laetitia und die anderen – und ihnen nach Kräften half, ihre Ideen für ihre Abschlussaufsätze zu sortieren, statt an das Wren’s Nest und Sue und Jeri und Travis zu denken.

Patsy fing mich am Ende meiner letzten Stunde ab und fragte: „Kannst du mir bei der Jahresabschlussfeier nächsten Freitag helfen? Ich weiß, dass du vormittags normalerweise nicht hier bist …“

„Ich werde hier sein. Kein Problem. LeeAnn kann früher kommen. Sie ist ein Traum.“ Ich dachte an LeeAnns grellgrüne Haare, ihren grünen Lidschatten, den schwarzen Lidstrich und die großzügig aufgetragene Wimperntusche. LeeAnn, die Lebensretterin.

„Und die Muffins?“

„Kein Problem. Die Mädchen werden mir helfen. Fünfzig Muffins.“

Patsy lächelte. „Danke, Nan.“ Dann fügte sie hinzu: „Ich bin froh, dass du bis zum Schuljahresende bleibst. Ich habe die Kinder noch nie so begeistert gesehen, wenn sie einen Aufsatz schreiben sollten. Der Aufsatz, in dem sie eine erfundene Geschichte erzählen sollen, die wahre Fakten aus ihrer eigenen Familie enthält, ist eine großartige Idee! Ich weiß nicht, was dein Geheimnis ist. Aber es funktioniert.“

Ich lächelte Patsy traurig an. Mein „Geheimnis“, was mich veranlasst hatte, den Schülern an diesem Nachmittag diese Aufgabe zu stellen, trug zwei Namen: CeeCee und Clara.

Ich schaffte es, auch den Familienabend mit den Mädchen zu überleben. Middie hatte sich zum Abendessen Lasagne gewünscht und dann gebettelt, dass sie einen Film sehen dürften. Als ich gefragt hatte, welchen Film sie sehen wollten, hatte Middie „Onkel Remus Wunderland“ geantwortet. „Wir haben diesen Film noch nie gesehen.“

Ich blinzelte überrascht und erschauerte dann ein wenig. Wie kam sie ausgerechnet auf diesen Film? Stockton hatte eine DVD mit nach Hause gebracht, die er im letzten Herbst gekauft hatte. Der Film war in Amerika nie als Verkaufs-DVD herausgegeben worden, aber offenbar hatten mehrere Museen kürzlich Kopien erworben. Dann hatte er den Unfall gehabt und ich hatte es nicht ertragen, ihn mir anzusehen. Also war er von mir irgendwo in einen Schrank gesteckt worden, aber Middie hatte ihn vor ein paar Wochen gefunden und mich danach gefragt.

Das ist kein Zufall, sagte ich mir, während ich die DVD in den Computer schob und es mir mit den Mädchen auf der Couch im roten Zimmer gemütlich machte. Sie schauten den Film von Anfang bis zum Ende an, ohne ein Wort zu sagen. Nur hin und wieder erfüllte ein Lachen oder Kichern den Raum. Aber mir wurde bei dem Film schwer ums Herz. Wegen Stockton, wegen Clara, der Sklavin, und auch meinetwegen. Es gab so vieles, so viele Menschen, die ich zurückhaben wollte, die ich an mich heranziehen und festhalten wollte.

Die Mädchen schienen die Trauer viel leichter zu verarbeiten als ich. Ja, dafür war ich dankbar. Als ihre Mutter wollte und musste ich stark sein. Ich hatte diese Gelassenheit, die früher ein Markenzeichen von mir gewesen war, verloren, ich hatte mein schnelles Grinsen und verschmitztes Lächeln und meine Verspieltheit verloren. Während die Mädchen über den Fuchs Patzig und seine Streiche kicherten, versteckte ich mich hinter einem Taschentuch und weinte.

Dann legte ich sie schlafen, zog ein T-Shirt von Stockton an, schlüpfte ins Bett und las Claras Tagebuch.

Kapitel 9

Januar 1861

Der Sommer ging in den Herbst und dann in den Winter über und Mrs Towners Bauch wurde wieder rund. Doch ihre Augen waren nicht mehr so strahlend, fand Clara. Trotzdem war sie die freundlichste Herrin auf der ganzen Erde und Clara war dankbar, dass sie im großen Haus wohnen und bei Lina im Zimmer schlafen durfte.

„Wir sind die besten Freundinnen, nicht wahr, Clara?“, sagte Lina eines Tages.

„Natürlich, Lina. Du bist wie die Schwester, die ich nie hatte.“

Als Lina in dieser Nacht eingeschlafen war, faltete Clara eine Zeitung auseinander – Mrs Towner legte oft die Zeitung ihres Mannes in Linas Zimmer, damit Clara die Nachrichten lesen konnte – und starrte den Titel des Leitartikels an. „Südstaaten planen Sezession.“

Clara wusste nicht, was das Wort „Sezession“ bedeutete. Als sie Mrs Towner am nächsten Morgen danach fragte, legte ihre Herrin einen Finger an ihre Lippen und flüsterte: „Der Süden fällt vom Norden ab. Das hat mit der Sklaverei zu tun, Clara. Bete zu Gott, dass die Sklaverei zu Ende geht.“

„Mama, warum flüsterst du mit Clara immer über Sklaverei?“, fragte Lina. „Ich weiß, was los ist.“

Mrs Towner schaute ihre Tochter liebevoll an. „Ja, natürlich weißt du das, liebe Lina. Ich habe Clara nur gerade erklärt, dass sie eines Tages frei sein wird. Das könnte sogar schon bald sein.“

Lina wollte das nicht hören. Sie machte einen Schmollmund und fragte: „Geht Clara weg, wenn sie frei ist? Werden wir dann immer noch Freundinnen sein?“

„Natürlich werden wir immer Freundinnen sein, Lina, und wir werden unsere Babys gemeinsam aufziehen!“

Daraufhin musste Mrs Towner herzhaft lachen, aber sie sah auch besorgt aus. Seit sie wieder ein Kind erwartete, sah sie besonders müde aus.

„Ich habe Angst, dass dieses Baby auch sterben wird“, vertraute Lina Clara an.

Deshalb beteten Clara und Lina jeden Abend, bevor sie einschliefen, dass dieses Baby am Leben bleiben würde.

August 1861

Clara konnte nicht verhindern, dass sie am ganzen Körper zitterte. Genauso wenig konnte sie das herzzerreißende Schluchzen, das aus ihrem Mund kam, ersticken, sosehr sie es auch versuchte. Ihre Tränen ließen sich nicht aufhalten. Es war, als hätte jemand den Wasserhahn in der Küche aufgedreht und die ganze Nacht über das Wasser laufen lassen. Sie schloss die Augen und versuchte, an etwas Gutes zu denken, um die entsetzlichen Bilder, die sie erst vor einer Stunde gesehen hatte, zu verdrängen.

„Du weißt, dass die Vereinigten Staaten einen neuen Präsidenten haben, Clara?“ Sie dachte an das Lächeln ihrer Herrin, an ihre sanfte Miene, die ihre Aufregung verbarg, als sie Clara vor ein paar Monaten diese Nachricht mitgeteilt hatte.

„Ja, Ma’am. Aber irgendwie sind wir trotzdem nicht wirklich vereinigt, oder?“

„Nein, das stimmt. Wir sind nicht alle vereinigt. Viele Bewohner der Südstaaten interessieren sich nicht für Mr Lincoln, aber ich denke, er ist ein weiser und ehrlicher Mann.“

„Wenn Sie ihn mögen, Ma’am, mag ich ihn auch.“

Dann hatte die Herrin Clara in die Arme genommen und sie fest an ihren hervorstehenden Bauch, in dem das Baby heranwuchs, gedrückt. Mit leiser Stimme hatte sie geflüstert: „Es wird einen Krieg geben, Clara. In unserem Land. Zwischen dem Süden und dem Norden.“ Als Clara es wagte, ihre Herrin anzusehen, sah sie, dass sie Tränen in den Augen hatte. „Alles wird sich verändern. Eines Tages wirst du frei sein, meine liebe Clara.“

Ihre Herrin hatte sich so sehr danach gesehnt, dass Clara frei werden würde. Jetzt begriff Clara das noch besser als früher. Ja, die Herrin wollte, dass die Sklaverei aufhörte. Aber besonders wollte sie, dass Clara frei sein würde. Clara sah, dass Mrs Towner mit jedem Tag mehr Angst um sie hatte, und jetzt wusste Clara auch warum. Ihre Herrin war die freundlichste Frau, die es je auf der Erde gegeben hatte, aber sie war mit einem so schrecklichen Mann verheiratet! Und sie konnte nichts tun, um ihn von seinen schrecklichen Taten abzuhalten.

Vor einer Woche hatte Clara Lina abends weinen gesehen. „Warum weinst du?“

Lina wischte sich schnell die Tränen aus dem Gesicht, aber ihre Unterlippe zitterte. Sie rang die Hände auf dem Schoß, während sie auf ihrem Bett saß und Clara anschaute, die ihr auf ihrem eigenen Bett gegenübersaß. „Es ist mein Papa.“ Sie zögerte, bevor sie zu Clara hinaufschaute und dann wieder auf ihre Hände hinab. „Er ist manchmal so gemein zu Mama. Wenn er getrunken hat, ist er richtig brutal zu ihr. Er sagt schlimme Sachen zu ihr. Ich habe ihn selbst gehört und es mit eigenen Augen gesehen. Mama hat Angst. Ich sehe ihr an, dass sie Angst hat. Und ich habe auch Angst. Ich habe Angst, dass er ihr wehtun könnte.“

Jetzt liefen die Tränen ungehindert über Linas Porzellangesicht und auf ihr Nachthemd. „Ich habe Angst, dass er auch jemand anderem wehtun könnte.“ Sie schaute Clara kurz an. „Ich habe Angst, dass er dir wehtun könnte.“

Clara eilte zu Linas Bett und hielt sie fest, während ihre Freundin weinte. „Ich bin schon elf und ich verstehe jetzt, was passiert ist, Clara. Du bist nicht nur meine Freundin. Du bist auch meine Schwester. Dafür bin ich so dankbar.“ Sie drückte Claras Hand. „Aber es tut mir auch so leid, was mein Papa deiner Mama angetan hat.“ Sie schaute Clara in die Augen. „Mein Papa ist böse, nicht wahr?“

Clara sagte kein Wort, sondern hielt Lina die ganze Nacht in den Armen.

Claras Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Sie schluchzte wieder, als die Bilder dieses Abends in ihr aufstiegen. „Herr Jesus“, flüsterte sie unter Tränen. „Warum lässt du mich, obwohl ich noch so jung bin, so viele schreckliche Dinge sehen? Ich bin doch erst dreizehn. Mein junges Herz kann so viel Trauer nicht ertragen.“

Sie sehnte sich danach, in Linas Zimmer zu gehen, aber sie konnte es nicht riskieren, Lina zu wecken. Noch nicht. Nicht mit dieser entsetzlichen Nachricht. Nichts wäre je wieder wie früher. Das wusste Clara.

Am frühen Abend hatte sie in Linas Zimmer gehen wollen, um wie jede Nacht bei ihr zu schlafen, als Mr Towner sie auf der Treppe abgefangen und sie so fest am Arm gehalten hatte, dass Clara beinahe geweint hätte.

„Clara, ich will, dass du mir einen heißen Tee bringst, bevor du ins Bett gehst. Bring ihn in mein Zimmer, hörst du?“

„Ja, Sir“, hatte Clara geantwortet. Sie hatte den Blick gesenkt und ihr Herz hatte vor Angst wild geschlagen. Sie hatte in seiner Nähe Angst. Sie wusste, dass Mrs Towner nicht mehr im selben Zimmer schlief wie er, da sie hochschwanger war. Clara wollte nicht mit Mr Towner allein im Zimmer sein. Sein Zimmer befand sich auf der anderen Seite des Hauses, weit weg von Linas Zimmer, und sie hielt sich nach Möglichkeit von dort fern.

Clara bereitete seinen heißen Tee vor und stieg langsam die Treppe hinauf. Ihre Hände, in denen sie das Tablett trug, zitterten. Sie wollte gerade an die geschlossene Tür klopfen, als sie ihre Herrin laut rufen hörte: „James, beruhige dich! Bitte!“

Clara stellte das Tablett auf einen Tisch im Flur und hörte Mrs Towner schluchzen. „James, ich flehe dich an, das nicht zu tun. Es ist in den Augen des Herrn Unrecht.“

Daraufhin stieß Mr Towner laute Beschimpfungen und Flüche aus, bei denen sich Clara die Ohren zuhielt. Der Herr fluchte nur, wenn er „zu tief ins Glas geschaut hatte“, wie Louella es formulierte.

Clara hörte das grausame, betrunkene Lachen ihres Herrn. „Du lässt mir keine andere Wahl, Frau.“

„Es tut mir leid, dass ich durch dieses Baby so geschwächt bin. Du verstehst doch bestimmt …“

Aber Mrs Towner beendete diesen Satz nicht. Clara hörte, wie Mr Towner ihre Herrin schlug. Mrs Towner schrie auf, aber Mr Towner begann nur zu brüllen: „Ich kann tun, was ich will, du schmutziges Weib!“ Clara hielt sich wieder die Ohren zu, aber sie hörte trotzdem seine abstoßende Sprache und seinen Zorn.

„James, bitte! Bitte nicht!“

Er brüllte vor Wut – es war ein so schreckliches Geräusch, dass Clara eine Gänsehaut bekam. „Und was willst du tun, um mich daran zu hindern?“

Clara hörte ein Poltern. Dann schrie Mrs Towner: „James, nein! Bitte hör auf! Denk an das Baby!“ Dann folgten ein weiterer Schrei und ein Krachen. Und plötzlich war alles still.

Clara hatte so viel Angst um ihre Herrin, dass sie ins Zimmer rannte. Mr Towner stand über seine Frau gebeugt und hatte einen schmiedeeisernen Schürhaken in den Händen. Clara sah sofort, dass ihre Herrin tot war.

Tot! Ihre arme, hübsche Herrin war tot! Von ihrem eigenen Mann getötet!

Mr Towners Augen sahen beängstigend und böse aus. Dann trat auf einmal Trauer in seine Miene. Als er Clara sah, packte er sie so fest, dass sie glaubte, er würde ihr den Arm brechen. „Das wollte ich nicht! Oh, Gott, das wollte ich nicht!“

Er sank neben seine Frau und flehte: „Jessie! Jessie, vergib mir! Das wollte ich nicht!“ Er hob mit großer Kraftanstrengung ihren Körper hoch und stöhnte schwer. Dann legte er sie aufs Bett. Die Herrin lag regungslos da, ihre Augen waren immer noch offen und Blut lief aus der Stelle an ihrem Kopf, an der Mr Towner sie geschlagen hatte. Clara starrte den großen runden Bauch ihrer Herrin an und glaubte, sich übergeben zu müssen.

Doch dann drehte sich Mr Towner zu ihr herum und schüttelte sie. „Du sagst kein Wort, Clara! Zu niemandem! Das war ein Unfall!“ Er schluchzte wieder. Clara roch seinen stinkenden Atem, als er knurrte: „Wenn du je ein Wort darüber verlierst, was du hier gesehen hast, wirst du das mit deinem Leben bezahlen. Das schwöre ich dir.“

In Claras Kopf drehte sich alles und ihre Knie gaben unter ihr nach. Aber Mr Towner schüttelte sie so kräftig, dass sie nicht in Ohnmacht fallen konnte. „Ja, Sir“, brachte sie mühsam über die Lippen. Dann eilte sie zum Bett, um zu sehen, ob sie für die arme Mrs Towner noch irgendetwas tun könnte. Aber es war zu spät. Clara warf sich über ihre Herrin und weinte und schluchzte, bis Mr Towner sie an den Haaren packte und schrie: „Verschwinde! Verschwinde und sag kein Wort zu Lina!“

Also kroch Clara auf Händen und Knien zu Linas Zimmer zurück und blieb zitternd und schluchzend vor der Tür sitzen, da sie nicht wusste, wie sie zu ihr hineingehen sollte. Sie betete wieder: „Lieber Herr, ich kann diesen Albtraum nicht für mich behalten. Ich werde sicher von dem Furchtbaren erzählen, das Mr Towner getan hat, falls mich jemand sieht. Bitte hilf mir und zeige mir, was ich tun soll.“

Dann begann sie, leise die Lieblingsbibelverse ihrer Herrin aufzusagen, die auch zu Claras Lieblingsversen geworden waren. „Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen?“

Als sie endlich nicht mehr ganz so stark zitterte und als das ganze Haus sowieso in Aufruhr war, ging sie in Linas Zimmer. Ihre Freundin schlief immer noch tief und fest.

September 1861

Alle Sklaven auf der Plantage trauerten tagelang um den Tod der guten Mrs Towner und ihres ungeborenen Kindes. Clara ging wie betäubt durch diese Tage und hörte die düsteren Voraussagen ihrer Mutter: „Jetzt, da die Herrin tot ist, wird sich unser Leben für immer ändern. Daran ändern auch ein Krieg und eine Sezession nichts. Wir haben den leibhaftigen Teufel unter uns.“

Clara wusste, dass ihre Mutter recht hatte. Sie und Lina waren immer noch die besten Freundinnen, aber Clara durfte nicht mehr in ihrem Zimmer schlafen. Louella, die Küchenmagd, sagte es ihr mit Tränen im Gesicht. „Du musst wieder in die Hütte deiner Mama ziehen, Kind.“

„Aber was wird aus Lina? Sie braucht mich in ihrer Trauer. Ich kann sie nicht allein lassen.“

„Niemand darf es jetzt noch wagen, Mr Towners Anordnungen nicht zu gehorchen, Clara.“

Clara wusste, warum Louella weinte. Sie weinte nicht nur aus Trauer. Sie lebten alle in Angst vor Mr Towner. Clara verriet niemandem, was er getan hatte, aber es schien sowieso jeder zu wissen. Louella flüsterte ihr zu: „Ja, wenn er getrunken hat, ist er der leibhaftige Teufel. Oh, allmächtiger Herr, mach uns frei.“

Als Clara ihre Sachen aus Linas Zimmer holte, saß ihre Freundin, ihre Schwester, auf dem Boden und drückte ihre schöne Puppe an sich. Sie sagte kein Wort. Sie schaukelte nur vor und zurück und schüttelte stöhnend den Kopf.

„Es tut mir so leid, Lina“, sagte Clara zum hundertsten Mal.

Sie schauten sich an. Clara hatte Lina kein Wort davon gesagt, was sie gesehen hatte, aber Lina wusste es. Clara sah es in ihren Augen: die Mischung aus Trauer, Angst, Zorn und Resignation. Lina wusste es.

November 1861

Ohne es wirklich zu verstehen, hatte Clara gewusst, wie das Leben für ihre Mutter in der Hütte war. Jetzt lebte sie wieder hier und Mama sagte ihr, dass sie hinten beim Kamin schlafen solle, während Mama ihr Bett näher zur Tür schob.

„Er wird mich zuerst sehen, wie immer, Clara. Er wird dir nicht zu nahe kommen. Vorher bringe ich ihn um.“ Nacht für Nacht ließ Mama Mr Towner in die Hütte und Clara hielt sich die Ohren zu und schluchzte leise in ihrer Ecke.

Jedes Mal, wenn er wieder fort war, tröstete sich Mama mit den Worten: „Wir werden bald frei sein, Clara. Du wirst schon sehen. Wir werden frei sein.“ Das sagte sie fast jeden Tag zu Clara, aber Clara sah nur, dass ihre Mutter vor Arbeit und Trauer völlig ausgelaugt war.