Für meine Eltern und meine Freunde, die geblieben sind, als alle anderen und alles andere es nicht taten.
The Devil whispered in my ear, »You’re not strong enough to withstand the storm.«
Today I whispered in the Devil’s ear, »I am the storm.«
Unknown
Heute ist mein Geburtstag. Ich bin einunddreißig Jahre alt, mein Körper wohl eher einhundertfünf – zumindest fühlt er sich so an. Emotional bin ich so unreif, dass ich auch den vierten Anruf meiner Mutter an diesem Tag ignoriere. Im Schnitt macht das nicht einunddreißig, das weiß sogar ich.
Fünfter Anruf »Zuhause«, dazu eine SMS. Jemand hat eine Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen.
Die Marlene, die ich mir manchmal vorstelle, wenn ich »Marlene tut so, als sei sie erwachsen« spiele, hätte sich heute Freunde eingeladen, einen Kuchen gebacken, den antiken Holztisch abgewischt und Getränke kalt gestellt. Diese Marlene würde Geschenke auspacken und sehr oft sehr hohe Töne von sich geben und ständig wiederholen, wie total überraschend, wie absolut lieb, wie süß das Zeug sei, das sie auspackt, mit dem sie gar nicht gerechnet habe, weil das doch nicht nötig gewesen wäre. Komm her, Maus, lass dich drücken, ich hab dich so lieb, noch jemand Prosecco?
Menschen, die nicht so sind wie ich, würden nicht in einer sehr großen Wohnung sitzen, in der zu wenige Möbel stehen. Sie würden sich benehmen, wie es Erwachsene tun. Und so eine Erwachsene wäre nicht erst gegen Abend aufgewacht und würde nicht darüber nachdenken, was deprimierender ist: dass der Geruch des schimmelnden Geschirrs im Waschbecken in der Küche langsam auch ins Schlafzimmer kriecht – oder dass niemand außer ihr davon weiß, die heute Geburtstag hat, die Tür nicht aufmacht und sich von tiefgekühlten Himbeeren und Wodka ernährt. Diese erwachsene Frau würde sich das Mädchen ansehen und denken: Zum Glück ist das nicht mein Leben. Zum Glück bin ich nicht Marlene Beckmann.
Marlene Beckmann jedoch hat keine Wahl: Sie muss Marlene Beckmann sein. Ob das nun besonderes Glück oder ziemlich viel Pech ist, das kann nur ich selbst entscheiden. Zumindest hat das der Therapeut gesagt, bei dem ich vor drei Jahren das erste Mal war. »Hören Sie, Frau Beckmann, Sie alleine müssen entscheiden, was Sie aus Ihrem Leben machen.« Aha, dachte ich. Dann ging ich nach Hause und beschloss, zu diesem Leben gehört kein Therapeut, der mir sagt, dass ich am Ende doch alles alleine entscheiden muss. Das wusste ich schließlich schon, dafür muss man doch niemanden bezahlen.
Vielleicht hätte ich anders entscheiden sollen, denn vielleicht hatte der Therapeut etwas gesagt, das ich glaubte zu wissen, von dem ich aber eigentlich keine Ahnung hatte. Vielleicht, denke ich, hätte Marlene Beckmann damals einen Moment länger nachdenken sollen. Das mit dem Leben war nämlich so: Ich zu sein war sehr lange sehr einfach. Bis es dann sehr kompliziert wurde. Das klingt nach etwas, das man auf einen Jute-Turnbeutel drucken lassen kann, den man in einem dieser Geschäfte erwirbt, in denen es auch Postkarten mit ironisch-tiefsinnigen Sprüchen gibt und Polaroid-Kameras – alles total handmade und retro und urban und individuell und so. Aber ich weiß es besser: Es ist alles so lange einfach, bis es kompliziert wird. So einfach ist das.
Ich würde gerne aufstehen, mein Gesicht waschen und die Zähne putzen, lüften, abwaschen, den Müll runterbringen und einkaufen gehen. Ich wünschte, es wäre gerade einmal halb elf am Morgen und nicht schon achtzehn Uhr abends. Toll, so viel Zeit, so viel Leben, so viel Lust auf Yoga und E-Mails lesen und Sushi essen und Freunde treffen, da weiß man gar nicht, womit man anfangen soll. Ich wäre gerne zum »Lunch« verabredet und danach ein bisschen Shopping, vielleicht Friseur, vielleicht Maniküre, Waxing auf jeden Fall, zum Schluss noch ein Eis, ist ja mein Geburtstag, hihi. Ich würde gerne Jakob anrufen und sagen, dass ich mich schon auf heute Abend freue. Und dass ich kochen werde – für ihn und unsere zwanzig besten Freunde. Wir würden Witze darüber machen, dass ich nicht kochen kann, obwohl wir beide wissen, dass es nicht stimmt, aber wir sind natürlich so ein Paar, das sich selbst nicht immer ganz so ernst nimmt, total entspannt, super unkompliziert, Herzchen, Zwinkersmiley, Kuss.
Stattdessen schiebe ich langsam die erste von zwei Decken weg, unter denen ich mich begraben habe. Die Bettwäsche ist fast so alt wie ich. Ich habe schon darin geschlafen, als wir noch zu dritt waren, als ich noch »Leni« war, als mein Name noch durchs Treppenhaus hallte: Leni, Essen. Leni, Zeit fürs Zähneputzen. Leni, komm jetzt, wir müssen los. Lenipopeni. So alt ist dieser Bettbezug.
Auf dem weißen Stoff der zweiten Decke sind braune Flecken, die sich nicht mehr auswaschen lassen. Blut. Das Blut meiner ersten Periode. So alt ist dieser weiße Stoff.
Ich liege da, beide Decken zur Seite geschlagen, und höre das Telefon vibrieren. Ich rieche die Zigaretten, die ich gestern Nacht in der Schale mit den Himbeeren ausgedrückt habe. Ich sehe mich daliegen, blass und verschwitzt, draußen sind es bestimmt noch immer fünfundzwanzig Grad. Ich sage: »Hey Siri.«
Siri sagt: »Hallo.«
»Siri, brauche ich heute einen Regenschirm?«
»Nein, Marlene, es wird schön heute.«
Das ist der Running Gag zwischen meinem Telefon und mir: »Es wird schön heute.« Ich lache, Siri schweigt. Dann eben nicht. Das Telefon vibriert. Ich liege da. Das Telefon verstummt. Ich atme. Ich schwitze. Ich spüre die Panik. Das Herz. Mein Herz.
Die Marlene, die ich mir manchmal vorstelle, wenn ich »Marlene tut so, als sei sie erwachsen« spiele, würde nun endlich aufstehen. Sich duschen. Retten, was zu retten ist von Marlene Beckmann und ihrem einunddreißigsten Geburtstag. Ich aber hieve meinen monströs schweren Körper aus dem Bett, setze mich auf den Rand der Matratze, greife nach dem Spiegel auf dem Nachttisch und versuche nicht hineinzusehen, während ich die erste Line des Tages langsam durch meine wunde Nase ziehe.
Ein paar Stunden später treffen wir uns alle bei Saskia, weil ihre Wohnung in der Nähe des Clubs liegt, in den wir später gehen wollen, um zu feiern, dass ich geboren wurde. Ronny ist auch da. Ronny ist ein Freund von Tim und Saskia. Ronny ist der Apotheker: Egal, welche Schmerzen du hast – Ronny hat die Medizin. Wir trinken Jägermeister und Bier, Wodka mit Soda und Limette. Wir rauchen viel und reden schrill, weil aus den Boxen Techno wummert, der zu laut ist, um einander zu verstehen. Wir sind zu zehnt und so betrunken oder high, dass wir uns auch in völliger Stille nicht mehr verstünden, weil wir uns gegenseitig übertönen wollen. Alles, was wir denken und sagen, ist unglaublich wichtig, noch nie gesagt, noch nie gefühlt worden. Wir lieben uns alle, wir sind uns so nah, wir sind so anders als alle anderen.
Kokain hilft gegen den Alkoholrausch und gegen die Müdigkeit, gegen das Gefühl, dass das alles hier ziemlicher Quatsch ist. Speed hilft gegen die Lethargie. MDMA hilft gegen Einsamkeit. Ephedrin und Mephedron sind für die Fortgeschrittenen. Gras holt runter, was zu hoch geflogen ist. Ketamin nur für Ronny. Ronny hat an alles gedacht, denn er sorgt sich um uns. Das sagt er heute Abend oft: »Freunde, ich möchte, dass es euch allen gut geht.« Und wir, seine Freunde, grinsen breit und nicken. Uns geht es gut. Uns geht es ja so was von gut.
»Weißt du, ich glaube, das ist genau das Problem. Man muss das einfach mal übergeordnet sehen, denke ich. Im größeren Kontext, irgendwie«, sagt Tim neben mir, und ich versuche zu verstehen, was er meint.
»Hä? Wovon sprichst du?«, frage ich ihn.
Wir sitzen nebeneinander auf dem Sofa, vor uns liegen die anderen, auf dem Boden und auf Kissen. In der Mitte Flaschen und Aschenbecher, Gläser, Handys, zerrissenes Geschenkpapier.
Tim starrt Saskia an, die uns gegenübersitzt und über etwas lacht, das Ronny gesagt hat.
»Tim?«
»Ja, ach, keine Ahnung. Alles eben. Ich meine alles. Wie läuft es bei der Arbeit?«
Ich habe Tim diese Frage schon vor ungefähr einer Stunde beantwortet. Mit einer der fünf Versionen, die es gibt – sie reichen von »Das ist die hässliche Wahrheit, nimm sie und friss sie, mir doch egal!« bis hin zu »Es geht mir so geil, ich habe safe das beste Leben der Welt, ey!«. Weil wir schon lange befreundet sind, habe ich ihm Version zwei erzählt: »Es läuft, es läuft super.« Genau das Gleiche sage ich ihm jetzt noch mal. Ich suche Ronnys Blick, und er nickt. Wir stehen auf.
Alle im Raum wissen, wohin wir gehen, was wir gleich nebenan tun werden. Warum wir dann trotzdem gehen, anstatt einfach bei den anderen zu bleiben: Zwischenwelt-Logik.
Das Badezimmer ist gerade groß genug für zwei Personen, es riecht nach Saskias Duschgel und Ronnys Aftershave. Wir sitzen nebeneinander auf dem Badewannenrand, und wenn ich mich ein wenig aufrichte, kann ich uns beide in dem Spiegel sehen, der über dem Waschbecken montiert ist: ein junger Mann, Ende zwanzig, eher untergewichtig, schmale Schultern, sehnige Arme. Auf dem rechten hat er ein Herz tätowiert, das aussieht, als hätte ein Kind es gezeichnet. Er trägt eine schwarze Skinnyjeans und ein dunkelblaues T-Shirt. Seine Haare hat er abrasiert, vermutlich, weil sie begannen auszufallen – der hohe Ansatz der Stoppeln verrät das. Er trägt einen Vollbart. Er beugt sich über sein Smartphone und hackt mit einer Versicherungskarte auf dem Display herum.
Daneben sitze ich. Eine junge Frau, blonde brustlange Haare, schwarzes Top, ausgewaschene hellblaue Skinnyjeans. Ich sehe die Frau an: Ihre Brüste wirken zu groß für die schmale Silhouette, ihre Schlüsselbeine heben sich deutlich ab, ihre Wangen sind ein wenig eingefallen. Gut, denke ich, sieht sehr dünn aus.
»Hier«, sagt Ronny und hält mir sein Telefon hin, auf das er vier Lines gelegt hat. Seine Hand ist ruhig. Ich wische meine an der Jeans ab.
»Hast du einen Schein?«, frage ich.
»Das ist widerlich, Marlene. Scheine sind voller Bakterien, die steckt man sich nicht in die Nase.«
»Entschuldigung, ich bin natürlich noch nicht so lange im Business wie du.«
»Das ist Anfängerwissen. Nimm einen Strohhalm oder ein Metallröhrchen, aber bitte keinen ekligen Fünfziger.«
»Okay, ich werde nie wieder das Kokain, das irgendein Darm für uns nach Deutschland geschmuggelt hat und das von irgendeinem Händler in Tüten gefüllt wurde, bevor es den Weg zu dir gefunden hat, mit einem Geldschein durch meine Nase ziehen. Versprochen. Denn das ist sehr eklig.«
»Ach, fick dich.«
»Würdest du mir dann bitte einen Strohhalm geben?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht deine Mutter bin.«
»Sie hätte bestimmt einen für mich, wenn ich sage: Mama, lass uns ein bisschen Kokain ziehen.«
»Witzig.«
Ich schaue mich suchend in Saskias Badezimmer um.
Da sind: ein Waschbecken, eine Badewanne, ein kleines Schränkchen an der Wand, auf dem Haargummis, Lippenstifte und Make-up liegen. Ich stehe auf und schiebe das ganze Zeug darauf zur Seite, hebe die Dosen hoch, Saskias Deo, ihr Haarspray. Nichts.
Ich drehe mich zu Ronny um, der mir reglos zuschaut.
»Hier ist nichts.«
»Guck mal in den Schrank rein«, sagt er, und ich ziehe die oberste Schublade auf. Darin: Nagellack, Kajalstifte, Puder, noch mehr Haargummis. Ich krame ohne Erfolg darin herum, ziehe die zweite Schublade auf, wühle mich durch Kondome, OBs und Wattepads, ich durchforste alle vier Schubladen und frage mich nicht einen Moment, ob das, was ich hier gerade tue, irgendwie falsch ist.
In der untersten Schublade finde ich schließlich ein kleines selbstgenähtes Täschchen. Ich ziehe den Reißverschluss auf und finde, wonach ich gesucht habe: zwei Metallröhrchen, dazu ein Tütchen mit weißem Pulver, auf dem ein mit rotem Edding geschriebenes »S« steht – Ronny ist fürsorglich, er kennzeichnet unsere Medizin mit ihren Anfangsbuchstaben. C für Kokain, S für Speed.
»Na bitte«, sagt Ronny. Ich reiche ihm das Röhrchen, doch er schüttelt den Kopf.
»Ich dachte, du brauchst eines?«
»Nicht ich. Du. Ich hab mein eigenes.«
»Nicht dein Ernst?«
Ich setze mich neben ihn und greife ungeduldig nach dem Telefon, das zwischen uns auf dem Rand liegt.
»Natürlich. Ich hab euch alle lieb, aber deshalb muss ich mir nichts in die Nase stecken, was schon in eurer war.«
Das Kokain wirkt in Wellen: Die erste kommt beim Ziehen. Die zweite ein paar Minuten später. Die dritte nach zwanzig Minuten. Die letzte ist nur noch ein Plätschern, eine versiffte Pfütze im Kopf, die vom Meer erzählt, während man eigentlich schon auf dem Trockenen sitzt. Ein, maximal zwei Stunden, dann schreit alles nach mehr, mehr, mehr.
Ich ziehe zwei der vier Lines auf einmal, Ronny kennt das schon. Ich brauche mehr als andere, um etwas zu spüren. Das hat etwas mit dem Stoffwechsel zu tun. Nichts mit Gewöhnung und Sucht, echt nicht. Das Kokain ist stark und riecht widerlich chemisch, aber es betäubt den Rachen sofort, daher ist es egal, wie sehr ich mich vor dem Geschmack ekle. Ich atme aus, darauf bedacht, das Telefon sofort von mir wegzuhalten – würde ich das Pulver aus Versehen wegpusten, würde mich das mindestens zwanzig Euro kosten.
Ich schließe die Augen und spüre die zweite Welle, während Ronny seine Line zieht, schnell und fast geräuschlos. Mein Puls rast, mein Körper entspannt sich trotzdem. Für diesen kurzen Augenblick würde ich mittlerweile mein letztes Geld hergeben: der Moment, in dem sich die Synapsen beruhigen, als würde warmes Wasser sie umschwemmen. Der Moment, in dem ich atmen kann, ruhig werde und voller Vorfreude bin. Der kurze Augenblick, in dem die schönen Dinge noch klar sind und die hässlichen betäubt. Alkohol macht müde und schwer, das Kokain macht aus dem dreckigen Suff einen eleganten Rausch, der im perfekten Moment verharrt. Bevor dann nach und nach alles abstirbt.
Diese zweite Welle ist ohne Gier nach mehr, ohne Angst vor der Ebbe, ohne Unruhe, ohne Eile. Sie ist Entspannung und Anspannung im Wechsel, ein bisschen Vorfreude, sehr wenig Feuerwerk, eher ein sanftes Schwimmen auf dem Nichts.
Es klopft an der Tür, und Ronny sieht mich fragend an.
»Moment!«, rufe ich und ziehe die letzte Line. Der Abstand zu den ersten beiden ist zu kurz, ich weiß, dass man damit einen Taifun auslösen kann, der alles durcheinanderwirbelt. Ich weiß, dass mein Herz rasen und die Klarheit, die so schön sein kann, so ruhig und sanft, wehtun wird. Diese Art von Klarheit adelt den Rausch nicht, sie drückt ihn weg. Aber einmal gezogen, gibt es eben kein Zurück, jetzt muss man es mit Würde tragen und das Herzrasen mit Wodka kühlen.
Als Ronny aufsteht, sehe ich mich für einen Moment alleine im Spiegel. Ich sehe das blasse, dünne Mädchen und dass es sich gar nicht verändert hat. Genau das ist das Problem: Das Mädchen liegt nicht halbtot mit einer Nadel im Arm auf der Toilette eines Bahnhofs. Man sieht nicht, wie das Mädchen ertrinkt, ganz im Gegenteil. Es reitet die Wellen, während der Sturm aufzieht, und es lächelt, es winkt den anderen zu, schon viel zu weit vom Strand entfernt, Wasser in den Lungen, Wasser im Kopf, und ruft: Alles in Ordnung, es geht mir sehr, sehr gut!
Das steht jetzt auf Facebook. Ich starre den Bildschirm an und denke: Das ist nicht real. Damit meine ich, dass es in einem Sozialen Netzwerk steht, dass es offiziell ist, dass Jakob Bremer jetzt mein Freund ist. Denn wenn es auf Facebook steht, ist es wahr. Im 21. Jahrhundert manifestiert sich der Beziehungsstatus nicht in einem Verlobungsring, sondern durch ein paar Klicks, die im Profil anzeigen, dass man es geschafft hat. Dass man sich erfolgreich durch Tinder, Online-Dating, One-Night-Stands und anderen Irrsinn gequält hat und der lebende Beweis dafür ist, dass die Feuilletons dieser Welt unrecht haben: Die Liebe ist nicht tot, sie lebt hier und jetzt, kann man alles anschauen und anklicken und liken und swipen und beweisen. Jakob und ich. Das ist Liebe.
Ich habe Jakob an einem Abend vor ein paar Jahren kennengelernt, an dem ich mit allem gerechnet habe, nur nicht damit, dass dieser Mann vor mir steht und sagt: »Deine Wimperntusche ist zerlaufen, du siehst aus wie ein Panda-Baby.« Das ist es also, was ich meinen Enkeln irgendwann einmal erzählen werde, der erste Satz, den Jakob zu mir sagte, der Beginn von etwas ganz, ganz Großem: »Deine Wimperntusche ist zerlaufen, du siehst aus wie ein Panda-Baby.«
Wir waren damals noch mitten im Bachelor und hatten zugesagt, einen Abend in der Einführungswoche der neuen Studenten zu gestalten. Also machten wir das, was wir am besten konnten: Wir dachten uns etwas aus, das so klang, als hätte es einen Sinn, einen Hintergrund und einen Wert für diejenigen, die eben Wert darauf legten, dass Dinge und Unternehmungen einen solchen hatten.
Thorben schlug vor, alte Science-Fiction-Filme in einem extra dafür hergerichteten Seminarraum zu zeigen. Die Vorteile lagen auf der Hand: Wir mussten so gut wie nichts machen. Wir mussten nicht mit den Erstsemestern reden. Wir mussten uns nicht nachsagen lassen, wir hätten unseren Bildungsauftrag nicht erfüllt. Der lag darin, das war ja ganz deutlich zu erkennen, Science-Fiction Filme aus dem vorangegangen Jahrhundert zu zeigen (Original mit Untertiteln natürlich), um so die Absurdität von Hoffnung und Angst zu illustrieren, die beide mit ein wenig Abstand als lächerlich betrachtet werden konnten – eine wichtige Botschaft für Erstsemester, wie wir fanden. Wir waren Marketing-Studenten, unsere ganze Existenz gründete sich darauf, jeden noch so absurden Quatsch als etwas von Wert zu verkaufen. Also taten wir genau das.
Mit Erfolg: Die Anmeldungen über das Online-Portal unserer Universität gingen kurz nach Freischaltung der Veranstaltung im Minutentakt ein – nach zwei Stunden hatten wir bereits sechzig Teilnehmer. Ich wollte das Ganze gerade unter »erledigt« verbuchen, als Thorben eine Liste mit Dingen schickte, um die sich jeder kümmern sollte. Mir fiel das Mitbringen von »2 Decken und 2 Kissen« zu.
Eine Woche später stopfte ich alles in einen Müllsack und machte mich auf den Weg zum Uni-Gelände. Dass es in Strömen regnete, ignorierte ich. Ich schaffte es irgendwie, den Inhalt des Müllbeutels trocken in den Seminarraum zu bringen. Mich selbst leider nicht, ich war derart durchnässt, dass ich auf dem Weg zum Seminarraum eine Wasserspur hinterließ, die aussah, als hätte man einen Mopp durch das Gebäude und die Fahrstühle gezogen.
Und dann stand er da. Und dann sagte er diesen Satz. Und ich, ich starrte ich ihn an und sagte nichts. Während mir eintausendzweihundertvierundfünfzig Antworten durch den Kopf gingen, die alle sehr viel charmanter, smarter und einnehmender gewesen wären als: nichts. Ich wischte mit der linken Hand reflexartig unter meinem Auge herum, obwohl das völlig sinnlos war. Ich wollte die rechte Hand heben, um sie ihm zu geben, hielt aber noch immer den Sack fest und grinste dümmlich. Ich starrte Jakob an und dachte eintausendzweihundertvierundfünfzig Sätze, die nach dem viel zu langen Schweigen besser gewesen wären als: »Oh, haha.«
Das war’s. Meinen Enkelkindern kann ich also nun erzählen, dass Jakob sagte, ich sähe aus wie ein Panda, und ich »Oh, haha« antwortete. So beginnen die großen Liebesgeschichten im 21. Jahrhundert. Zumindest begann unsere so.
An diesem Abend hatte ich natürlich noch keine Ahnung von der Liebe. Genauer gesagt, von der Liebe zu Jakob. Noch genauer: was mir die Liebe zu Jakob über die Liebe an sich beibringen würde. An diesem Abend sah ich nur einen Mitte-Zwanzigjährigen, der meiner Vorstellung eines potenziellen Freundes zu einem hohen Prozentsatz entsprach. Diese Vorstellung sah so aus:
‒Er muss groß sein, auf jeden Fall größer als ich.
‒Er sollte einen Bart tragen oder zumindest nicht wie ein Typ aussehen, der in einem Werbespot für ein sehr langweiliges Produkt wie zum Beispiel Pyjamas zu sehen ist.
‒Er sollte Kleidung tragen, die nur auf den zweiten Blick wie Kleidung aussieht, deren Träger sich viel Gedanken über Kleidung macht, auf den ersten Blick jedoch wie Kleidung, deren Träger so damit beschäftigt ist, sich tiefgründige Gedanken zu tiefgründigen Themen zu machen, dass Kleidung nicht so wichtig ist.
‒Er sollte sich allgemein tiefgründige Gedanken machen.
‒Zu Themen wie: Deutschlands Außenpolitik, die amerikanische Außen- und Innenpolitik, Europa, die Türkei, die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Musik, ein bisschen Kunst, Essen, Theater, das Fernsehen und das Fernseh-Angebot, Serien, Cafés und Kaffee, Bartpflege, Körperpflege (oberflächlich, aber stilvoll), das Internet an sich, Social Media und Blogs im Speziellen, psychische Krankheiten, Witze auf Kosten von Minderheiten, Twitter, Bio-Gemüse, Kinder, das Alter und die Angst an sich.
‒Er sollte sich wenig, zumindest nicht leidenschaftlich interessieren für: Reptilien-, Insekten- und Spinnenhaltung, Fußball, Pornos, seine Ex, psychische Krankheiten, Witze auf Kosten von Minderheiten, Twitter, Internet-Foren, das Alter und die Angst an sich.
‒Er sollte viele Freunde haben, aber nur zwei wirklich gute, von denen keine eine Frau ist.
‒Vor allem sollte keine seine Ex sein.
‒Und keine seine Mutter.
‒Er sollte charmant, witzig, klug und gebildet sein.
‒Er sollte nicht charmanter, witziger, klüger und gebildeter sein als ich.
‒Er sollte treu, zuverlässig und lieb sein.
‒Er sollte mich mehr lieben als alles andere, mich das aber nie spüren lassen.
‒Er sollte es mich in den richtigen Momenten, die ich definiere, doch spüren lassen.
Natürlich wusste ich nicht, inwieweit Jakob meine Anforderungen erfüllte, aber zum Glück sind einem all diese Dinge ja schlagartig egal, wenn der Mensch, dessen Immunsystem sehr verschieden ist vom eigenen, mit einer tiefen Stimme sagt: Deine Wimperntusche ist verlaufen. Ich war mir sicher: Er würde alle Punkte erfüllen oder auch gar keinen, mir egal, mir ganz egal, solange er nur ab jetzt jeden Tag und bis zum Ende aller Tage da stehen würde, ein wenig grinsend, ein wenig verlegen, mich betrachtend, mich, nur mich allein.
Damals ahnte ich noch nicht, dass alle Vorstellungen, die man mit Mitte zwanzig von der Liebe und von dem Menschen hat, der das Synonym zu dieser Liebe bildet, sich schneller in Luft auflösen als das bisschen Trinkgeld, das ich damals beim Kellnern verdient habe. Dass das gut so ist. Dass dafür etwas viel Besseres kommt. Dass das, was da kommt, sehr viel mehr mit »Liebe« zu tun hat als alles vorher. Dass Liebe keine Liste ist, sondern das Glas Wasser und die Kopfschmerztablette, die man morgens neben dem Bett findet, dazu ein Zettel, auf dem steht:
»Nimm das Aspirin, ich weiß, du willst abwarten, ob es von alleine weggeht (für den Fall, dass das nicht passiert, steht der Eimer auf der anderen Seite des Bettes), aber ich glaube an dich und weiß: Eines Tages wirst du das mit dem Rotwein lassen und dafür erst die Tablette nehmen und dann die Starke spielen. Wir sehen uns heute Abend, ich freue mich drauf. Und nimm die verdammte Tablette.«
Ich drehte mich einfach um, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und lief auf Thorben zu, ließ den Müllsack vor ihm fallen und mich daneben.
»Toll, Marlene, du hast uns Müll gebracht!«
»Ja, ich wollte demonstrieren, was nach dem Studium auf die Erstsemester wartet.«
»Wir alle wissen deinen Optimismus und deine aufopferungsvolle Geste sehr zu schätzen. Gefällt es dir?«
Thorben sah sich im Raum um, und ich folgte seinem Blick. Und war beeindruckt. Die anderen hatten sich offenbar Mühe gegeben. Auf einem Tisch an der Wand standen Schüsseln mit Chips und Salaten. Daneben Pappteller und Plastikgeschirr. Unter dem Tisch ein paar Kisten Bier. An den Wänden hatten sie bunte Lichterketten angebracht, die grotesk in ihrer Zusammenstellung wirkten (Tannenbaumlichter neben »Happy-Birthday«-Lichterketten neben blinkenden Kerzen neben Teddybärlichtern), den Raum aber in ein sanftes Licht tauchten, das unmerklich die Farbe wechselte. Kerzen waren verboten, also hatten die anderen nicht nur Lichterketten, sondern auch einige Lampen mitgebracht, die in kleinen Gruppen an Mehrfachsteckdosen leuchteten. Auf dem Boden lagen Kissen und Decken, dazwischen standen kleine Sitzsäcke und ein paar Hocker. Es sah aus wie das Wohnzimmer einer Zehner-WG, und noch wichtiger: Es sah so aus, als hätten wir uns Gedanken gemacht.
Gäbe es einen Moment in meinem Leben, den ich nennen müsste, zu dem ich mich zurückwünsche, wäre es dieser: wie ich durchnässt auf dem Boden sitze, Jakob, von dem ich noch nicht wusste, wie er heißt und welche Bedeutung er haben würde, hinter mir, Thorben und Saskia vor mir, die gemeinsam einen Tisch tragen und darüber streiten, wohin er gestellt werden soll.
Ich würde mich in den Seminarraum zurückwünschen, zu jenem Moment vor vielen Jahren, in dem ich tatsächlich glücklich war. Weil das mein Leben war: die Universität, meine Freunde, Seminare, Partys, eine vage Vorstellung von Liebe, eine sehr konkrete von mir selbst und den Dingen um mich herum. Dieser Moment war in seiner Schlichtheit all das, wonach ich mich später immer wieder sehnen würde. Vielleicht, weil er war, was er war: bloß eine Momentaufnahme eines sehr strukturierten Lebens, in dem die Dinge unter Kontrolle waren, die Dinge und die Menschen darin, und ich, ich war es auch.
Ich zerrte die Decken und Kissen aus dem Sack, schmiss ihn in die Mülltonne neben der Tür und verließ den Raum, der gerade begann, sich mit Menschen zu füllen, um vor dem ersten Film noch eine Zigarette vor der Tür zu rauchen. Ich war das, was man einen »Partyraucher« nannte – in der letzten Zeit hatte ich jedoch zu viel Erfolg mit der »Rauchen statt essen«-Methode gehabt, was in Zeiten von nicht enden wollenden Hausarbeiten und langen Nächten effektiv und nützlich war. Außerdem sparte man Geld, das knapp war, weil nicht enden wollende Hausarbeiten und lange Nächte auch bedeuteten, dass ich zu wenige Schichten in der Bar übernahm, die meine Miete sicherten.
Unter dem Vordach zündete ich mir eine Zigarette an, die ich beschämt betrachtete: Ich gab mehr Geld am Tag für Zigaretten und Coffee To Go aus als für Lebensmittel, die mich diese Phase noch länger hätten durchstehen lassen.
Ich zitterte vor Kälte, obwohl wir erst Oktober hatten und der Herbst nur langsam in die Stadt kroch. Ich war untergewichtig, und der Schlafmangel machte mich fahrig und zittrig, ich wusste, dass ich das alles nicht mehr lange so weitermachen konnte, war jedoch nicht bereit, auch nur ein Semester über Regelstudienzeit hierzubleiben. Ich wollte schneller fertig werden als alle anderen, ich wollte Geld verdienen und weg aus dem Mief der Uni, die mir seit meinem ersten Praktikum in einer Werbeagentur vor zwei Jahren derart sinnlos vorkam, dass ich seitdem das Gefühl nicht loswurde, hier einfach nur lächerlich viel Zeit zu verschwenden.
Weil das kein romantischer Film war, tauchte nicht plötzlich Jakob auf und bat um eine Zigarette. Ich rauchte einfach schweigend unter dem Vordach, an dessen Rändern der Regen hinabtropfte, und dachte daran, dass ich eigentlich an meinem Schreibtisch sitzen sollte, aber dass kein Mensch immer nur arbeiten und lernen kann und ich vermutlich bald beginnen würde, ernsthafte psychische Probleme zu entwickeln, wenn ich nicht mal einen Abend ausgehen konnte, ohne mich deshalb schlecht zu fühlen.
Immer wieder drängten sich fremde Gesichter an mir vorbei, manche allein, manche in Gruppen, alle sehr jung, viel jünger als ich, viel fitter, viel aufgeregter. Ich schnippte die Zigarette schließlich in die Dunkelheit hinaus und ging zurück in den Seminarraum. Vor der Tür stand Jakob. Als er mich bemerkte, warf er mir einen abschätzigen Blick zu und sagte: »Ah, das unhöfliche Panda-Mädchen.«
Ich blieb stehen.
»Was genau hat das Panda-Mädchen gemacht, dass er es unhöflich nennt?«
Ich bemerkte kleine Lachfalten um seine Augen, eine tiefe Ruhe in seiner Gegenwart, die Abwesenheit eines aufdringlichen Geruchs.
»Das Mädchen ging einfach weg und ließ Jakob dumm dastehen vor seinen coolen Freunden. Unhöflich. Extrem unhöflich.«
Jakob also. Jakob und Marlene.
»Muss sich Jakob wohl neue Freunde suchen. Ich könnte deine Freundin sein. Ein teuflischer Plan.«
Einen Moment starrten wir uns an, ich spürte, wie die Röte in mein Gesicht stieg. Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Hatte ich ihm angeboten, seine Freundin zu sein? Ich hatte wohl witzig sein wollen, gerade ich, die so lustig war wie eine Fünfjährige auf zu viel Ritalin.
Er lachte. Zum Glück lachte er. Ich weiß bis heute nicht, ob er mir einen Gefallen tun wollte oder ob er einfach peinlich berührt war, aber er lachte und sagte: »Dann geh du vor, damit die coolen Kids sehen, dass ich jetzt bessere Freunde habe. Wer will schon normale Typen, wenn er ein Panda-Mädchen haben kann?«
Und er blieb einfach. Er setzte sich neben mich, während der Film lief, und flüsterte mir Details zu der Entstehung des Drehbuchs ins Ohr. Er gab sich Mühe, lustig zu sein. Er gab sich Mühe, so zu tun, als müsste er sich keine Mühe geben. Er gab sich keine Mühe, sein Interesse an mir zu verbergen. Er blieb, als wir aufräumten. Er ging nicht. Er ging mit. Mit zur U-Bahn-Station und mit in die Bar, in der wir bis zum Morgengrauen tranken und redeten. Er ging nicht, als seine Freunde sich nach und nach verabschiedeten. Und nichts davon fühlte sich falsch an. Oder fremd. Vielleicht, weil er nicht mehr machte als das. Er versuchte nicht, mich zu beeindrucken. Er versuchte nicht, mich zu küssen. Er versuchte nicht, noch mit zu mir zu kommen. Er versuchte nicht, mein Interesse zu wecken. Er war einfach da, und er war einfach Jakob. Und vermutlich war es das, was mich wochenlang nicht schlafen ließ, was mich zu ihm hintrieb und von ihm fort, was mich mutig machte und unsicher, was mich mich verlieben ließ und zweifeln: dass er einfach da war. Nicht mehr und überhaupt kein bisschen weniger.
Seine erste Nachricht an mich
Wehe, du verlinkst mich jetzt auf irgendwelchen Bildern. So gute Freunde sind wir noch nicht!
(gesendet via Facebook um 4:32 h)
Meine erste Nachricht an ihn
Es wäre mir ausgesprochen peinlich, wenn jemand wüsste, dass wir uns kennen. Also: Keine Sorge!
(gesendet via Facebook um 4:39 h)