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Zum Autor

Ludger Tebartz van Elst studierte Medizin und Philosophie an den Universitäten Freiburg im Breisgau, Manchester (UK), New York (NYU/USA) und Zürich. Die Weiterbildung erfolgte in den Fächern Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie an den Universitäten Freiburg, Abteilung für Neurologie, Institute of Neurology, University College London/UK und Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.

Nach dem Facharzt in Psychiatrie und Psychotherapie (2002) habilitierte er sich 2004 im Fach Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 2006 ist er außerplanmäßiger Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seit 2010 ist er stellvertretender Ärztlicher Direktor der Klinik. Er erhielt einen Ruf auf eine Professur für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf (2005) und auf das Ordinariat für Psychiatrie und Psychotherapie der Christian-Albrechts-Universität Kiel (2014), die er beide ablehnte.

Seine klinischen Interessen gelten vor allem der Neurobiologie und Psychotherapie der Entwicklungsstörungen (Autismus, ADHS und Tic-Störungen) sowie der organischen und schizophreniformen Syndrome. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Differentialdiagnose, Neurobiologie und differentielle Therapie der Entwicklungsstörungen (Autismus, ADHS, Tic-Störungen) und der organische Differentialdiagnostik und differentielle Therapie affektiver, psychotischer und schizophreniformer Syndrome. Seine methodischen Schwerpunkte stellen dabei die Hirnbildgebung, Neuroimmunologie, Sehforschung und visuelle Elektrophysiologie dar.

Er ist Autor von über 160 englischsprachigen Fachpublikationen und 39 Buchkapiteln und Büchern darunter 5 Monographien. Neben seinen klinischen und neurowissenschaftlichen Tätigkeiten beschäftigt er sich seit seinem Studium mit erkenntnistheoretischen und medizintheoretischen Fragen sowie Themen der Philosophie des Geistes und hat dazu bislang 2 Monographien vorgelegt.

Ludger Tebartz van Elst

Autismus und ADHS

Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit

Verlag W. Kohlhammer

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2. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034166-1

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-034167-8

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mobi:   ISBN 978-3-17-034169-2

Γνῶθι σεαυτόν

Gnothi seauton

Erkenne Dich selbst

(Inschrift am Apollon-Tempel in Delphi)

»Medizinstudenten und Ärzte haben daher Schwierigkeiten zu sehen, in welchem Ausmaß die Praxis, die sie erlernen und ausüben, von Theorien durchtränkt ist. Sie glauben, die Realität der Krankheiten habe die Theorien der Medizin geschaffen und sehen nicht, wie weit die Theorien fremder Fächer die Realität der Krankheiten bestimmen, welche die Medizin diagnostiziert und behandelt. Offenbar ist die Tatsache, daß Theorien die Praxis bestimmen, anderen Disziplinen bewußt. So gibt es eine theoretische Physik und Bücher über theoretische Biologie. Unter diesen Gesichtspunkten wäre eine Disziplin theoretische Medizin ein dringendes Erfordernis« (von Uexküll und Wesiack 1991, S. 3).

Inhalt

 

 

  1. Geleitwort
  2. Vorwort
  3. Vorwort zur 2. Auflage
  4. 1 Einleitung
  5. 2 Was ist normal?
  6. 2.1 Normalität als statistische Größe
  7. 2.2 Normalität als technische Größe
  8. 2.3 Normalität als soziale Größe
  9. 2.4 Das Konzept der multikategorialen Normalität
  10. 3 Was ist eine Krankheit?
  11. 3.1 Gibt es einen allgemeingültigen Krankheits- und Gesundheitsbegriff?
  12. 3.2 Der pragmatische medizinische Krankheitsbegriff
  13. 3.2.1 Symptome
  14. 3.2.2 Syndrome
  15. 3.2.3 Ätiologie und Pathogenese von Symptomen
  16. 3.3 Annäherung an den Begriff »Krankheit«
  17. 4 Was ist eine psychische Störung?
  18. 4.1 Klassifikatorische Prinzipien psychischer Störungen in ICD und DSM
  19. 4.2 Methodische Prinzipien der Klassifikation in ICD und DSM
  20. 4.3 Die Folgen der Aufgabe kausalen Denkens
  21. 4.3.1 Die historischen Gründe für die Aufgabe kausalen Denkens
  22. 4.3.2 Die Aufgabe eines zentralen wissenschaftlichen Zieles
  23. 4.3.3 Die Missverständnisse des Störungsbegriffs
  24. 4.4 Primäre und sekundäre Syndrome
  25. 4.5 Primäre Syndrome und Normvarianten
  26. 5 Was ist eine Persönlichkeitsstörung?
  27. 5.1 Historische Entwicklung des Begriffs
  28. 5.2 Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10, DSM-IV und DSM-5
  29. 5.3 Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen
  30. 5.4 Die Ursachen von Persönlichkeitsstörungen
  31. 5.4.1 Genetische Befunde
  32. 5.4.2 Bildgebende und weitere neurobiologische Befunde
  33. 5.4.3 Psychologische Theorien
  34. 5.4.4 Die dimensionale Sichtweise
  35. 5.5 Persönlichkeitsstörungen und Entwicklungsstörungen
  36. 6 Was ist Autismus?
  37. 6.1 Das autistische Syndrom
  38. 6.1.1 Historische Entwicklung des Autismus-Begriffs
  39. 6.1.2 Die klinische Symptomatik autistischer Syndrome
  40. 6.2 Autistische Subtypen: die Klassifikation des Autismus
  41. 6.2.1 Frühkindlicher Autismus
  42. 6.2.2 Das Asperger-Syndrom
  43. 6.2.3 Der atypische Autismus
  44. 6.2.4 Die autistische Regression
  45. 6.2.5 Autistische Persönlichkeitsstruktur
  46. 6.2.6 Autismus und Konflikte
  47. 6.2.7 Primärer und sekundärer Autismus
  48. 6.2.8 Neue konzeptuelle Entwicklungen: Autismus in DSM-5 und ICD-11
  49. 6.3 Autismus als Basisstörung
  50. 6.4 Häufigkeit und Epidemiologie von Autismus
  51. 6.5 Über Ursachen des Autismus
  52. 6.5.1 Genetische Ursachen
  53. 6.5.2 Erworbene Ursachen
  54. 6.5.3 Hirnanatomische Befunde
  55. 6.5.4 Pathogenetische Theorien
  56. 6.6 Die Organisation der Netzwerkkonnektivität als Korrelat des autistischen Syndroms
  57. 6.6.1 Holistisches versus autistisches Konnektivitätsmuster
  58. 6.6.2 Strukturelle Konnektivität als Erklärungsmetapher
  59. 6.7 Die Wirklichkeit ist komplex: Autismus als Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrische Krankheit
  60. 7 Was ist eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)?
  61. 7.1 Das Syndrom der Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität
  62. 7.1.1 Zur geschichtlichen Entwicklung des ADHS-Begriffs
  63. 7.1.2 Die klinische Symptomatik der ADHS
  64. 7.2 Klassifikation: Die Subtypen der ADHS
  65. 7.2.1 ADHS als Persönlichkeitsstruktur
  66. 7.2.2 Primäre und sekundäre ADHS
  67. 7.3 ADHS als Basisstörung
  68. 7.4 Über Ursachen der ADHS
  69. 7.5 Autismus und ADHS
  70. 7.6 Die Wirklichkeit ist komplex: ADHS als Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrische Krankheit
  71. 8 Wie denken wir über unsere psychische Gesundheit?
  72. 8.1 Die Probleme der psychiatrischen Krankheitslehre
  73. 8.2 Die Entwicklungsstörungen zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit
  74. 8.2.1 Vom So-Sein bis zur Störung
  75. 8.2.2 Normvariante: Verharmlosung schweren Leidens?
  76. 8.2.3 Die Diagnose Autismus zwischen normativer Ausgrenzung und gesellschaftlicher Akzeptanz
  77. 8.3 Was bedeutet es, psychisch gesund zu sein?
  78. 8.4 Über die Behandlung von Autismus, ADHS – und der eigenen Persönlichkeit
  79. Literatur
  80. Stichwortverzeichnis

 

Geleitwort

 

Das Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie tut sich in den letzten Dekaden erkennbar schwer, mit überzeugenden ätiologischen Erkenntnisgewinnen oder pharmakologischen Innovationen aufzuwarten. So lassen sich trotz der enormen methodischen Fortschritte im Bereich der Genetik und bildgebenden Hirnforschung zu keinem der großen psychiatrischen Krankheitsbilder entscheidende genetische, hirnmorphologische, neurochemische oder funktionelle Befundmuster erkennen. Damit fehlt auch die theoretische Grundlage dafür, echte kausale somatische Therapiestrategien zu entwickeln.

An der Freiburger Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie wurde dieser Entwicklung insofern Rechnung getragen, als dass die Therapieforschung auf die Entwicklung und Validierung von psychotherapeutischen, störungsspezifischen Methoden konzentriert wurde. Dieser Ansatz hat es erlaubt, symptom- bzw. syndromorientierte Therapiekonzepte zu entwickeln und empirisch zu validieren unter Aussparung der meist nicht definitiv zu klärenden Frage nach der Erstursache (Ätiologie) des Störungsbilds. Ausgehend vom Aufbau störungsspezifischer Behandlungsformen für Zwangsstörungen, Depressionen und die Borderline-Persönlichkeitsstörung rückten dabei bereits früh die heute sogenannten neuronalen Entwicklungsstörungen in den Fokus des Interesses. Dabei wurde zunächst die Bedeutung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) auch für die Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie erkannt. Vor dem Hintergrund einer sehr stark nachgefragten Spezialsprechstunde für ADHS wurde ein spezifisches Gruppenpsychotherapieprogramm entwickelt und in der klinischen Praxis implementiert und beforscht. Ganz analog wurde mit einer Latenz von einigen Jahren das Thema der Autismus-Spektrum-Störungen in seiner Bedeutung für unser Fachgebiet erforscht. Beide Entwicklungsstörungen sind mit einer Prävalenz von etwa 2 % (ADHS) bzw. 1,5 % (Autismus) im Erwachsenenalter häufig.

In diesem Buch werden einige für unser Fachgebiet sehr wichtige Erkenntnisse als Ergebnisse dieser klinischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung zusammenfassend vorgestellt. Dabei wird auf eine für Laien, Wissenschaftler und Kliniker zugleich anschauliche Art und Weise auch anhand vieler Kasuistiken herausgearbeitet, dass ADHS bzw. Autismus oft den biografischen Hintergrund für sich daraus entspinnende interpersonelle Konflikte, Probleme und Erfahrungen des Scheiterns darstellen. Diese Erfahrungen führen oft im Weiteren zu Depressionen, Angsterkrankungen, Belastungsstörungen oder Anpassungsstörungen, wegen derer die Betroffenen vorstellig werden. Erst die Erkenntnis des Autismus bzw. der ADHS als Basisstörung ermöglicht es in solchen Konstellationen, ein angemessenes Symptom- und Problemverständnis zu entwickeln, welches die Grundlage für eine spezifischere Therapieplanung bildet. Diese klinische Konstellation stellt sich in weitgehender Analogie zu der Situation bei den Persönlichkeitsstörungen dar. Ausgehend von dieser Beobachtung wird in dem Buch sehr anschaulich herausgearbeitet, dass es auch aus konzeptueller Perspektive keine grundlegenden Unterschiede zwischen den Persönlichkeitsstörungen und den Entwicklungsstörungen gibt, eine Einsicht, die in Fachkreisen bislang noch nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Ein weiterer wichtiger konzeptueller Vorschlag, der hier entwickelt wird, ist die Unterscheidung psychischer Störungen in primäre und sekundäre Varianten. Diese Differenzierung ermöglicht es, die rein deskriptive und ätiologiefreie Klassifikation psychischer Störungen nach DSM und ICD wieder um Elemente kausalen Denkens zu bereichern. Damit wird an Traditionslinien der älteren Psychiatrie angeknüpft, wo z. B. in From der Jaspers’schen Schichtenregel die wahrscheinlichen Ursachen von psychischen Symptomen bei der Klassifikation noch eine wichtige Rolle spielten.

Vor diesem Hintergrund werden schließlich die vielfältigen Wirklichkeiten von Autismus und ADHS beschrieben, wie sie sich uns im klinischen Alltag zeigen. Da ist zum einen die Entwicklungsstörung als Normvariante analog zur psychopathologisch nicht verwertbaren Persönlichkeitsstruktur. Im Sinne einer solchen psychobiologischen Struktur ist die Persönlichkeit eines jeden Menschen aufgespannt zwischen den polaren Gegensätzen des Holistisch-stukturiert-Seins auf der einen und des Autistisch-strukturiert-Seins auf der anderen Seite. Beide Pole der Persönlichkeitsstruktur sind dabei mit spezifischen Stärken und Schwächen vergesellschaftet. Ferner begegnen uns Autismus und ADHS im Sinne des Konstrukts einer spezifischen Persönlichkeitsstörung, dann nämlich, wenn sich bei schwerer Ausprägung aus diesen Strukturen umfassende, überdauernde und dysfunktionale Konsequenzen ergeben. Schlussendlich gibt es Autismus und ADHS ganz im Sinne einer klassischen neuropsychiatrischen Krankheit, wenn die spezifischen Ursachen der psychobiologischen Struktur benannt werden können.

Die in diesem Buch vorgetragenen Gedanken und Konzepte zum sich rasant entwickelnden Themenbereich der Entwicklungsstörungen stellen eine große Bereicherung für die psychiatrisch psychotherapeutische Theoriebildung dar. Sie ermöglichen es Ärzten, Therapeuten, Betroffenen und Angehörigen gleichermaßen, einen differenzierten, wissenschaftlich angemessenen und nicht diskriminierenden Blick auf die persönlichkeitsstrukturellen Gegebenheiten und Wirklichkeiten von Menschen mit Autismus und ADHS zu werfen. Dies gelingt in Form der zahlreichen Kasuistiken nicht nur wissenschaftlich interessant und klinisch ansprechend, sondern auch auf gut lesbare und unterhaltsame Art und Weise.

 

Prof. Dr. Mathias Berger

Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Uniklinik Freiburg

Dezember 2015

 

Vorwort

 

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) werden in den letzten Jahren zunehmend thematisiert. Gerade im medialen Sektor haben zahlreiche Filme und Serien mit autistischen Protagonisten dazu geführt, dass sich eine breite Öffentlichkeit für das Thema interessiert. In eigentümlichem Gegensatz dazu wird die Problematik in psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachkreisen immer noch nur zögerlich aufgegriffen. Obwohl die Prävalenz der Autismus-Spektrum-Störungen mit über 1 % wahrscheinlich höher ist als etwa die der schizophreniformen Störungen, gibt es nach wie vor an vielen Unikliniken in Deutschland keine Spezialsprechstunden für Autismus. Und auch im niedergelassenen psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich ist spezifische Kompetenz viel zu dünn gesät. Dieser Kontrast zwischen medialer Popularität und fachärztlich-psychotherapeutischer Ignoranz wird durch warnende Stimmen bereichert, Autismus könne zu einer Modediagnose werden. Ähnlich wie beim Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) entwickele sich eine Situation, in der jede erkennbare Persönlichkeitseigenschaft zur Krankheit umgedeutet werde. Der Gesellschaft drohe eine Pathologisierung normaler Varianz und eine Psychiatrisierung.

Dieser Themenbereich wird in diesem Buch aufgegriffen und bearbeitet. Aus der Perspektive der klinischen Neurowissenschaften wird dabei Fragen nachgegangen wie: Was ist überhaupt normal? Was ist Persönlichkeit? Wann werden Symptome und Eigenschaften zu einer Krankheit? Fokussierend auf die großen Entwicklungsstörungen Autismus und ADHS soll dabei versucht werden, mehr Klarheit in die alltäglichen psychiatrisch-psychopathologischen Begrifflichkeiten und Denkkonzepte zu bringen. Die Störungsbilder Autismus und ADHS werden dabei als Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrische Erkrankung vorgestellt. Ziel dieses Buchbeitrags ist es, eine differenziertere Betrachtung von mentalen Phänomenen im Übergangsbereich zwischen Normalität, Abweichung und Krankheit zu begründen in der Hoffnung, dadurch Ängste und Vorurteile vor abweichenden psychischen Erlebens- und Verhaltensweisen abzubauen.

Ludger Tebartz van Elst

 

Vorwort zur 2. Auflage

 

 

Es freut mich sehr, dass das Buch auf eine große Resonanz trifft und nun schon nach knapp zwei Jahren in die 2. Auflage gehen kann. An der Aktualität der Fragestellung hat sich inzwischen sicher nichts geändert.

In Fachkreisen tobt eine heftige Debatte. Einige Protagonisten tragen vor, Autismus werde inzwischen zu viel und zu lax diagnostiziert. Die Diagnose sei beliebt und werde von Patienten eingefordert.

Andere entgegnen, es spräche doch nicht gegen den Autismus-Begriff, dass er auf Akzeptanz bei den so Diagnostizierten träfe. Dies spräche doch wohl eher für die Validität – also die Gültigkeit – der Diagnose. Es sei doch positiv, dass der Begriff Autismus bei den so charakterisierten Menschen Räume öffne, ihr Leben positiv zu gestalten, ein angemessenes Selbstbild und wachsendes Selbstwertgefühl aufzubauen.

Die Gegenseite argumentiert, Diagnosen könnten doch wohl nicht nach Beliebtheit vergeben werden. Damit gäbe die Wissenschaft sich dem populären Zeitgeist hin. Langfristig aber würde sie so ihre Glaubwürdigkeit verlieren.

Aber auch in der breiten Bevölkerung wird intensiv diskutiert und gerungen mit dem, was der Begriff Autismus meinen soll.

Eltern sehen bei ihren Kindern autistische Eigenschaften und hoffen mit einer Diagnose, eine bessere Selbsterkenntnis zu fördern. Begabte Eigenschaftsträger weigern sich aber, die Besonderheiten ihrer Persönlichkeit unter einem Krankheitsbegriff zu fassen. Sie denken und erleben es als Stigmatisierung, das Muster ihrer Stärken und Schwächen unter einem medizinisch-psychiatrischen Fachbegriff zusammenzufassen. Ein Paar kommt in die Spezialsprechstunde für Autismus-Spektrum-Störungen und die Ehefrau fasst zusammen: »Wenn mein Mann ein Asperger-Syndrom hat, bleibe ich bei ihm, wenn nicht, lasse ich mich scheiden!«

All diese Standpunkte, Meinungen und verzweifelten Äußerungen sind jeweils teilweise gut nachvollziehbar. Niemand hat ganz Unrecht. Aber sie sind dennoch getragen von einem unvollständigen Verständnis davon, was die verschiedenen Begriffe genau meinen.

Was meint die Ehefrau genau damit, dass ihr Mann einen Asperger-Autismus entweder hat oder nicht? Denkt sie das Asperger-Syndrom wie eine Lungenentzündung? Geht es um Verantwortung und Schuld in den vielen frustrierenden Alltagssituationen?

Was will der Protagonist wirklich bekämpfen, wenn er gegen die Überdiagnostizierung des Autismus zu Felde zieht? Die nachvollziehbare und auch in meinen Augen bedenkliche Psychiatrisierung der Gesellschaft? Sicher will er nicht Merkmalsträgern Räume verbauen, ein positives Selbstbild zu entwickeln.

Wogegen wehren sich Menschen mit erkennbaren autistischen Persönlichkeitsstrukturen, wenn sie eine Diagnose ablehnen? Gegen die erkennbar wachsende Intoleranz unserer Zeit? Dagegen jeder Eigenschaft einen Namen zu geben und so zu tun als sei sie eine Krankheit? Erkennen sie das große Problem unserer Zeit, dass es den Menschen erst dann gelingt, dem Anders-Sein gegenüber wohlwollend aufzutreten, wenn sie es in einem ersten Schritt normativ ausgegrenzt haben, indem sie es mit einem Krankheitsbegriff belegt haben? Oder wollen sie nur die eigene Struktur nicht erkennen, verweigern sich dem existentiellen »Gnothi seauton«, dem »Erkenne Dich selbst«?

All diese Fragen und Urteile drehen sich um ein Verständnis von Normalität, Gesundheit, Freiheit und Verantwortung. Und sie können nur dann in einem tieferen Sinne verstehend gelöst werden, wenn wirklich erkannt wird, was es überhaupt bedeutet, normal zu sein, nicht normal zu sein, gesund zu sein, krank zu sein, eine Persönlichkeit zu haben, eine Persönlichkeitsstörung zu haben. Erst die Auseinandersetzung mit diesen grundlegenden Fragen öffnet einem jeden Menschen den Raum für ein umfassendes Verständnis seines eigenen So-Seins – und zwar völlig unabhängig davon, ob ein Autismus oder eine ADHS gegeben ist.

Dann kann erkannt werden, dass die Struktur der eigenen Persönlichkeit im Sinne eines Autismus oder einer ADHS als Normvariante begriffen werden kann – wie in den meisten Fällen – aber auch einer Krankheit im engeren Sinne entsprechen kann. Beides ist möglich. Autismus und ADHS können dimensional gegeben sein im Sinne eines mehr oder weniger ausgeprägt seins und kategorial, wie bei einer echten Krankheit. Nicht immer ist die Zuordnung eindeutig möglich.

Dennoch erlaubt erst dieses umfassende Verständnis dieser Phänomene, die Vielzahl der unterschiedlichen Erscheinungsformen, die unter den Begriffen Autismus und ADHS geführt werden, angemessen zu verstehen und auf einem solchen angemessenen Verständnis der eigenen Person ein gut funktionierendes und das Selbstwertgefühl förderndes Selbstbild aufzubauen.

Ludger Tebartz van Elst

Freiburg, im November 2017

 

1          Einleitung

 

 

Als wir 2004 in Freiburg mit der Spezialsprechstunde für Menschen mit Autismus begannen, war ich nicht nur von der Originalität und den ungewöhnlichen und meist bemerkenswerten Bewältigungsstrategien autistischer Menschen fasziniert. Ich fand es auch beruhigend, endlich auf eine psychiatrische Diagnose zu treffen, die mich als Kategorie zunächst überzeugte. Denn anders als bei vielen anderen Diagnosen wie etwa den Depressionen, wo die Übergänge fließend sind von erlebnisreaktiv ausgelösten depressiven Trauerreaktionen bis hin zu endogenen Depressionen, die wie eine Grippe auftreten können, empfand ich die Diagnose Autismus als Kategorie viel klarer. Denn die klar benennbaren autistischen Eigenschaften beziehen sich nicht nur auf einen Symptombereich, wie die soziale Wahrnehmung und Kommunikation, sondern beinhalten auch Besonderheiten des Denkstils, der Wahrnehmung und der Stressreaktion. Vor allem aber müssen all diese Besonderheiten langfristig vorhanden sein und sich wie ein roter Faden durch das Leben der Betroffenen ziehen. Das macht es möglich, situationsbedingte Phänomene, die nur in einer erkennbaren Konfliktkonstellation auftreten, auch im kategorialen Sinne zu unterscheiden von der lebenslangen und situationsübergreifenden Auffälligkeit des autistischen So-Seins.

Mit zunehmender Erfahrung geriet dann aber diese frühe Überzeugung wie bei vielen anderen psychiatrischen Diagnosen ins Wanken. In der Praxis begegneten mir einfach zu viele Fälle, in denen eine saubere kategoriale Trennung zwischen gesund und krank nicht möglich war. Diese Beobachtung ist Ausgangspunkt dieses Buchprojekts. Dabei wurde ganz im Sinne der Forderung von Uexkülls und Wesiacks nach einer theoretischen Medizin eine Reihe von grundsätzlichen Fragen zur psychiatrischen Krankheitslehre systematisch abgearbeitet.

Am Anfang dieses Arbeitskatalogs steht die Frage danach, was überhaupt als normal betrachtet werden kann (image Kap. 2). Dabei wird Normalität im Sinne von drei Bedeutungen herausgearbeitet.

Die statistische Norm beschreibt weitgehend wertfrei die Verteilung von bestimmten Eigenschaften in Gruppen. Sie definiert Ausprägungen dieser Eigenschaften in Relation zur Häufigkeit ihres Auftretens. Wo genau der Grenzwert zwischen normgerecht und zu viel oder zu wenig definiert wird, bleibt zwar eine Konvention, dennoch ist der so operationalisierte Bereich des Normalen weitgehend frei von moralischen Bewertungen. Klassisches Beispiel bei Menschen ist die Körpergröße.

Die technische Norm bezieht sich vor allem auf das Funktionieren von Geräten. Dabei wird von einem bestimmten Gerät eine bestimmte technische Leistung gefordert. Wird diese Leistung nicht erbracht, wird das Gerät als defekt eingestuft. Diese Vorstellung von Normalität wird im alltäglichen Denken und Sprechen oft auf den menschlichen Körper angewendet. Dieser Normalitätsbegriff definiert anders als die statistische Norm nicht notwendig einen Bereich des Anormalen. Andererseits ist er implizit doch oft auf sozial-normative Vorstellungen bezogen. Denn die Vorstellung davon, wie ein menschlicher Körper vor allem im Bereich des Psychischen zu funktionieren habe, wird meist nicht wissenschaftlich-empirisch, sondern in einem moralisch-normativen Sinne im gesellschaftlichen Diskurs festgelegt.

Schließlich wird als dritter Bereich des Normalen die soziale Norm beschrieben. Dies ist eine Größe, die sich auf das Verhalten und Funktionieren von Menschen in Gruppen bezieht. Die soziale (gesellschaftliche) Normalität orientiert sich am sozial erwünschten Verhalten, bzw. der Sitte und Moral der jeweiligen Zeit. Sie ist damit sehr stark eingebunden in die Wert- und Moralvorstellungen einer bestimmten Gruppe in einer bestimmten Zeit. Sie wird im gesellschaftlichen Diskurs vor dem Hintergrund kultureller Traditionen und gegenwärtiger Interessen von den Mehrheiten, den Machthabern oder den Meinungsführern einer Gruppe definiert, um das Verhalten der Gruppenmitglieder nach eigenen Wertvorstellungen zu beeinflussen. Anormales Verhalten ist amoralisches Verhalten, welches von der Gruppe sanktioniert wird. Diese Analyse macht deutlich, dass soziale Norm- und Moralvorstellungen bei der wissenschaftlichen Definition von Krankheit vermieden werden sollten, wenn sich die Wissenschaft nicht zum Handlanger der Moral machen will.

Schließlich wird das Konzept der multikategorialen Normalität als ein statistisches und damit deskriptives und primär nicht sozialnormatives Normalitätskonzept als persönlich bevorzugtes Normalitätskonzept für eine wissenschaftliche Psychobiologie vorgestellt. Es hebt hervor, dass in der Biologie selbst bei einfachen Eigenschaften statistische Normalität nicht ohne Bezug auf relevante Randbedingungen wie Geschlecht oder Ethnizität definiert werden kann. Das Konzept der multikategorialen Normalität betont die Vielgestaltigkeit von Normbereichen.

Aufbauend auf dieser Analyse wird in den folgenden beiden Kapiteln der Frage nach der psychiatrischen Krankheitslehre nachgegangen. Dabei wird zunächst festgestellt, dass es einen allgemeingültigen Begriff von Krankheit und Gesundheit nach aktuellem Wissensstand nicht gibt. Da die Medizin als praktische Wissenschaft aber dennoch pragmatisch mit Begriffen wie Krankheit und Gesundheit operieren muss, werden im Folgenden die praktischen Lösungsentwürfe der Medizin vorgestellt (image Kap. 3). Die Unterscheidung zwischen Symptomen, Syndromen und Krankheiten erlaubt es in der Medizin, funktionelle Auffälligkeiten der lebendigen Körper zu beschreiben und in einen Bezug zu setzen zu einer erkannten oder vermuteten Kausalität. Dabei muss unterschieden werden zwischen einer Kausalität im Sinne einer Erstverursachung (Ätiologie) auf der einen Seite und Kausalzusammenhängen in Form von Sekundärursachen (Ursache-Wirkungs-Ketten, Folgeursachen und Folgeschäden), die als Pathogenese beschrieben werden. Nicht selten werden im alltäglichen Verständnis von Krankheit diese beiden Ursachenbereiche verwechselt.

Da es in der Psychiatrie ebenso wie in vielen anderen Disziplinen der Medizin oft keine erkennbaren Kausalitäten für auffällige Zustände (Symptome oder Syndrome) gibt, wird dort meist mit dem Störungsbegriff operiert. Dieser wird oft sehr unscharf und vage eingesetzt. Im Sinne der engeren Bedeutung meint er, dass psychische Symptome oder Syndrome hypothetisch auf eine beschreibbare, aber noch nicht unbedingt bereits erkannte Ursächlichkeit zurückgeführt werden können. In Kapitel 4 dieses Buches wird beschrieben, wie der Störungsbegriff in den großen Klassifikationssystemen der Psychiatrie (DSM und ICD) definiert wird. Als problematisch wird dabei herausgearbeitet, dass in beiden Systemen psychische Störungen weitgehend unter Aufgabe eines konkreten kausalen Denkens nach operationalisierten Kriterien definiert, festgestellt und klassifiziert werden. Durch diese Entkoppelung des Störungsbegriffs von der die Störungen verursachenden Kausalität wird aber de facto ein pseudokategorialer Krankheitsbegriff geschaffen. Das bedeutet, dass in der Pragmatik des alltäglichen Sprechens Störungsbegriffe wie Autismus, ADHS, Depression und Schizophrenie wie Krankheitsbegriffe daherkommen, obwohl sie in Wirklichkeit lediglich Sammelbegriffe für kausal nur unscharf verbundene Symptom- und Syndrom-Cluster sind. Das hat weitreichende – und leider oft nachteilige – Folgen für das eigene Krankheitsverständnis und Selbstbild der Patienten, die Therapiestrategien der behandelnden Ärzte und die Forschungsstrategien der Wissenschaftler.

Als mögliche Lösung dieses Dilemmas wird eine Unterscheidung in primäre und sekundäre Störungen erarbeitet. Diese könnte dem kausalen Denken in der psychobiologischen Wissenschaft wieder mehr Raum eröffnen. Denn sie schärft den Blick dafür, dass psychische Symptome sowohl Ausdruck verschiedener meist zahlenmäßig kleiner kategorialer Untergruppen mit klar beschreibbarer Ursache sind (also kleine Krankheitsuntergruppen). Darüber hinaus existieren aber auch die meist zahlenmäßig viel größeren primären Varianten. Diese können qualitativ eigentlich gar nicht als Krankheiten begriffen werden, weil sie dimensional aufgespannte psychobiologische Eigenschaftscluster repräsentieren. Hier kann die Analogie zur Eigenschaft Körpergröße fruchtbar gemacht werden. Extremformen eines psychobiologischen Eigenschaftsclusters (Strukturiertheit der Persönlichkeit im Sinne eines Autismus oder einer ADHS) können dann zwar nach statistischen Kriterien deskriptiv als auffällig charakterisiert werden. Ähnlich wie bei einem 2,13 m großen Menschen muss dies aber nicht zwangsläufig zur Anwendung eines Krankheitsmodells führen.

Bevor dieses Verständnis in den Kapiteln 6 und 7 anhand der beiden großen Entwicklungsstörungen Autismus und ADHS an konkreten Beispielen veranschaulicht wird, widmet sich das Kapitel 5 dem Thema der Persönlichkeitsstörungen gemäß ICD- und DSM-Konzeptualisierung. Dabei wird darauf hingewiesen, dass Persönlichkeitsstörungen und die Entwicklungsstörungen aus qualitativer Perspektive theoretisch kaum zu unterscheiden sind. Bei beiden Konstrukten handelt es sich um eine Gruppe von psychobiologischen Besonderheiten eines Menschen, welche bereits in der ersten (Autismus und ADHS) oder spätestens zweiten Dekade des Lebens (Persönlichkeitsstörungen) erkennbar werden. Dann ziehen sich die entsprechenden Erlebens-, Denk- und Verhaltensmuster wie ein roter Faden durch das Leben der Betroffenen. Bis hin zu den Randkriterien, wie etwa dem Dysfunktionalitätskriterium, wird gezeigt, dass die beiden Kategorien theoretisch völlig analog strukturiert sind. Vor allem für den Bereich der Persönlichkeitsstörungen nach ICD- und DSM-Definition wird als problematisch herausgearbeitet, dass sich die Definition der qualitativen psychobiologischen Eigenschaftscluster ausdrücklich an sozialnormativen Wertvorstellungen orientiert. Dass sich damit ein psychisches Krankheitskonzept – nämlich das der Persönlichkeitsstörungen – zu Beginn des 21. Jahrhunderts und dritten Jahrtausends explizit an normativ-moralischen Vorstellungen der Referenzgruppe orientiert – und zwar in klarer Abgrenzung von klassischen Autoren wie Kurt Schneider, der genau davor warnte –, bleibt schwer verständlich.

Im abschließenden Kapitel 8 wird zusammenfassend festgehalten, dass die Wirklichkeit der psychischen Phänomene zu komplex ist, als dass sie sich mit den wenigen, ausschließlich störungsfokussierten, pseudokategorialen Begriffen des ICD und DSM angemessen beschreiben ließe. Autismus wie ADHS begegnen uns bei genauer Betrachtung häufig als Normvariante der psychobiologischen Wirklichkeit. Wie sehr große oder kleine Menschen fallen sie in der Gruppe der vielen mittelmäßigen Menschen auf. Das Auffällige an sich darf aber nicht als krank missverstanden werden, will man nicht einem inhumanen Chauvinismus der Masse das Wort reden. Gleichzeitig gibt es aber auch viele Fälle, bei denen aufgrund erkennbarer Ursachen für das So-Sein die inhaltlichen Kriterien des pragmatischen medizinischen Krankheitsbegriffs erfüllt sind. Bei leichten Ausprägungen können solche Phänomene als Krankheit ohne Krankheitswert verstanden werden. Schwere Ausprägungen repräsentieren oft klassische schwere Krankheitsbilder. Es wird dabei betont, dass es in diesem Buch nicht darum geht, alle Phänomene des Autismus oder der ADHS zu »normalisieren«. Es soll nicht verharmlost werden, dass aus dem Autistisch-Sein oder den ADH-Eigenschaften psychosoziale Beeinträchtigungen und existenzielles Leid resultieren, welches das anderer Krankheiten oft dramatisch übersteigt. Aber gerade Autismus und ADHS sind gute Beispiele dafür, dass dieses Leid oft nicht nur aus den Eigenschaften oder den Symptomen an sich resultiert, sondern aus der Art und Weise, wie die anderen und die Gesellschaft damit umgehen. Dabei sind die ausgrenzenden und aggressiven Formen des Umgangs mit den Besonderheiten und Eigenheiten betroffener Menschen nur in einer Minderzahl einem unguten Wollen geschuldet. Viel häufiger sind es nicht enden wollende Missverständnisse, die für einen Großteil des Leids verantwortlich sind, indem sie zu einer unerschöpflichen Quelle quälender Konflikte werden, welche beim Autismus, der ADHS und ebenso bei vielen Persönlichkeitsstörungen zu beobachten sind.

An dieser Stelle kann die – vielleicht ja auch so gemeinte – Bedeutung des »Gnothi seauton«, des »Erkenne dich selbst!« aufleuchten, welches als paradigmatisches Eingangszitat diesem Buch vorangestellt wurde.

Erst wenn die Persönlichkeit des anderen als Struktur erkannt wird, der er oder sie im Erleben seiner/ihrer Welt nicht entkommen kann und die damit Grund für die stereotypen – weil unfreien – und oft nervigen Erlebens- und Verhaltensweisen ist, können diese verziehen werden. Denn die stereotypen Erlebens- und Verhaltensweisen der anderen werden dann nicht mehr als Ausdruck eines freien Willens gedeutet, sondern als Ergebnis einer unausweichlichen körperlichen Begrenztheit.

An dieser Stelle wird dann vielleicht auch der Blick frei für die eigene Begrenztheit, die sich im qualitativen Muster eigener, meist ebenso stereotyper Wahrnehmungen, Ängste und Verhaltensweisen zeigt. Diese mögen quantitativ weniger vom Mittel der Vielen abweichen. Deshalb sind sie aber nicht weniger starr und begrenzt – sondern nur besser getarnt! Und so kann mit der Anerkennung der Begrenztheit der anderen oft erst die Voraussetzung dafür geschaffen werden, die eigene Begrenztheit zu sehen und zu akzeptieren.

Vielleicht ist es aber auch genau umgekehrt, wie es das Gnothi seauton in Delphi suggeriert: Erst die Selbsterkenntnis und Anerkennung des eigenen Strukturiert- und Gefangen-Seins in den psychobiologischen Gesetzmäßigkeiten der eigenen Persönlichkeit ermöglicht es, die Begrenzungen der anderen zu erkennen und sie zu akzeptieren – und sie nicht als intentionale Angriffe auf die eigene Welt zu deuten, gegen die es sich zu wehren gilt.

Eine Persönlichkeit haben wir alle, von früh an, sei sie autistisch oder holistisch, primär oder sekundär verursacht, angeboren oder erworben, gesund oder krank. Sie ist ein psychobiologisches Faktum, die innere Umwelt unseres Geistes, unser Gefängnis, aber auch das Instrument, mit dem wir die Melodie unseres Lebens spielen werden – ob wir es wollen oder nicht.

Gnothi seauton!

 

2          Was ist normal?

 

 

»Der Typ ist nicht mehr ganz normal, der spinnt!«

»Das war echt krass, absolut nicht normal!«

»Die Frau ist völlig abgedreht, echt abartig, total unnormal!«

»Wie krank ist das denn, die ticken nicht mehr sauber, die sind wirklich nicht mehr normal!«

In derartigen Redewendungen wird so manchem Leser1 das Thema des Normalen im Bereich der Psyche schon einmal begegnet sein. Oft werden so einzelne Personen, Gruppen oder auch nur Verhaltensweisen mit dem Prädikat des Anormalen belegt. In der Alltagssprache sind auch Umschreibungen des Gemeinten wie »krank«, »wahnsinnig«, »extrem«, »krass«, »abgedreht«, »nicht mehr sauber ticken« häufig der Behauptung des Anormalen zur Illustration beigestellt.

Wenn – wie im Titel dieses Buch – davon die Rede ist, dass Autismus oder die ADHS nicht unbedingt immer als Krankheit, sondern auch als Normvariante eines psychisch gesunden Lebens verstanden werden können, so muss zunächst ein Verständnis davon entwickelt werden, was es überhaupt bedeutet, dass etwas oder jemand normal ist – oder auch nicht. Beim Nachdenken über Normalität können drei verschiedene Kategorien des Normalen identifiziert werden, die z. T. ganz Unterschiedliches meinen: eine statistische Normalität, eine technische Normalität und eine soziale Normalität.

2.1       Normalität als statistische Größe

In einer weit verbreiteten Bedeutung des Begriffs »normal« wird primär auf ein statistisches Phänomen abgehoben. Dieser Aspekt kommt etwa zum Ausdruck, wenn Wörter wie »krass« oder »extrem« gewählt werden. Bezug genommen wird dabei auf die Häufigkeit, mit der bestimmte Phänomene oder Verhaltensweisen beobachtet werden können. Ein klassisches Beispiel für diesen statistischen Bedeutungsbereich des Normalitätsbegriffs ist die Körpergröße.

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Abb. 2.1: Illustration der statistischen Verteilung der Eigenschaft Körpergröße in Deutschland (Quelle der oberen Grafik: SOEP & statista.org)

Abbildung 2.1 illustriert die statistische Verteilung der Körpergrößen in Deutschland. Als normal im Sinne einer statistischen Norm wird meist jener Bereich von zwei Standardabweichungen oberhalb und unterhalb des Mittelwerts definiert, in dem etwa 96 % der Messwerte einer normalverteilten Messgröße liegen. Folgt man dieser Definition des Normalen, so ist der Normbereich stets gleich groß und etwa 4 % der beobachteten Eigenschaften wären per definitionem anormal, nämlich etwa 2 % weniger stark ausgeprägte (sehr Kleine) und etwa 2 % stärker ausgeprägte Merkmale (sehr Große).

Diese statistische Art, Normalität zu definieren, hat einen großen Vorteil: Sie ist sehr objektiv. Die Normalität einer definierten Eigenschaft kann anhand von objektiven Messungen und Grenzwerten festgestellt oder zurückgewiesen werden. Allerdings gibt es auch einen Nachteil an dieser Art und Weise, Normalität zu definieren: Es gibt immer notwendig 4 % nicht-normale Werte und zwar 2 %, die zu stark, und 2 %, die zu gering ausgeprägt sind. Um im Beispiel zu bleiben: der statistischen Definition von normaler Körpergröße folgend wären 2 % der Menschen in Deutschland krankhaft groß und 2 % krankhaft klein. Nun ist es in der Tat so, dass aus biologischer Perspektive bei den extrem großen und extrem kleinen Menschen nicht selten solche anzutreffen sind, die an Krankheiten im Sinne der biologischen Norm leiden wie etwa an einer Akromegalie bei den sehr Großen oder einer Achondroplasie bei den sehr kleinen Menschen. Aber es gibt eben auch eine Vielzahl von Menschen, die die statistischen Kriterien einer Körpergröße außerhalb der Norm erfüllen, ohne an solchen Krankheiten zu leiden.

Bei strenger Anwendung einer statistischen Norm würde fast die gesamte Basketballelite der NBA-Liga in den USA an einer Krankheit im Sinne einer pathologischen Größe leiden. Kaum jemand käme aber wirklich auf die Idee, Idole wie Dirk Novitzki als nicht-normal oder krank zu bezeichnen, nur weil die Eigenschaft Körpergröße im Sinne einer statistischen Idee mehr als zwei Standardabweichungen oberhalb des Mittelwerts liegt.

Normalität im statistischen Sinne ist eine objektive Variable, die durch Messungen quantifiziert werden kann.

Die Grenzen werden nicht durch qualitative Änderungen, sondern quantitativ durch die statistische Verteilung definiert.

Auch unabhängig von qualitativen Merkmalen wird für jede denkbare Eigenschaft notwendig ein nicht-normaler (krankhafter) Bereich im Sinne eines Zuviel und Zuwenig festgeschrieben.

2.2       Normalität als technische Größe

Der zweite Bedeutungsbereich von Normalität soll hier technische Normalität genannt werden. Im Kontext neurowissenschaftlicher Diskussionen zum Krankheitsbegriff wird er gelegentlich auch biologische Normalität genannt (Walter und Müller 2015).

Als Beispiel aus dem technischen Bereich sei das Auto genannt, welches bei Kälte nicht mehr anspringt. Alltagssprachlich ist dann davon die Rede, das Auto funktioniere nicht mehr normal. Ein Beispiel aus dem biologischen Bereich wäre etwa ein Mensch, der mit Drehschwindelattacken zum Arzt kommt und bei dem ein paroxysmaler Lagerungsschwindel diagnostiziert werden kann. Dabei reizen kleine Kristalle in den Bogengängen des Innenohrs das Gleichgewichtsorgan, was zu dem Schwindel führt. In beiden Beispielen, der technischen und biologischen Norm, wird mit Normalität ein Funktionieren eines technischen (Autos) oder biologischen Systems (Körper) gemeint, welches man aufgrund der bisherigen Erfahrungen erwartet, das aber nicht erwartungsgemäß eintritt. In der Alltagssprache wird verkürzt oft gesagt: »Da ist etwas kaputt«.

Dieses Kaputt-Sein, die Funktionsstörung, kann nun verschiedene Qualitäten haben. Sie kann sich auf alle Funktionen eines technischen Geräts beziehen, z. B. wenn ein Radio auf das Einschalten in keinster Weise mehr reagiert. Bei einem nicht funktionierenden Telefon wird im Englischen z. B. auch davon gesprochen, dass die Verbindung tot sei (»the line is dead«). Bei einem Lebewesen entspricht das Fehlen jedweder biologischen Reaktion auf Außenreize in der Tat meist dem »Tot-Sein«. Es gibt aber auch partielle Funktionsverluste, etwa wenn ein Mensch unter Schwindelattacken, epileptischen Anfällen oder einem Diabetes mellitus leidet. In Analogie dazu gibt es auch bei technischen Geräten partielle Funktionsstörungen, etwa wenn bei einem Fahrrad der Dynamo nicht funktioniert oder die Kette bremst, weil sie verrostet ist.

In all diesen Bereichen wird auf das Fehlen von Normalität geschlossen auf der Grundlage der Beobachtung, dass erwartete Funktionen, die dem Gerät oder dem menschlichen Körper in seinem Normal-Sein zugeschrieben werden, ausbleiben. Und genau das Ausbleiben dieser erwarteten Funktionen wird als nicht-normal qualifiziert.