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Table of Contents

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Kurzbeschreibung

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Über die Autorin

Copyright

Verbotener Beschützer

 

Hüter der Nacht – Buch 4

 

Tina Folsom

Kurzbeschreibung

 

Hüter der Nacht Logan Frazer ist seiner Rasse gegenüber loyal. Doch als er den Befehl erhält, eine Seherin zu eliminieren, damit diese nicht in die Hände der Dämonen fällt und diesen bei der Zerstörung der Menschheit helfen kann, verweigert er den Befehl und beschützt sie stattdessen.

Winter Collins weiß nicht, dass sie eine Seherin ist und ihre schrecklichen Alpträume Visionen sind, bis Dämonen versuchen, sie zu entführen. Aber ein unsterblicher Krieger rettet sie und ergreift mit ihr die Flucht.

Logan und Winter versuchen nicht nur vor den Dämonen zu fliehen, sondern auch vor den Hütern der Nacht, die sie hinrichten wollen, falls Logan sie nicht davon überzeugen kann, dass Winter lebend mehr wert ist als tot. Ein verzweifeltes Rennen gegen die Zeit beginnt, in dem Logan alle Register ziehen muss und sogar die Vampire und Hexen von Scanguards zu Hilfe ruft, um die Frau zu retten, in die er sich verliebt.

 

* * * * *

Verbotener Beschützer (Hüter der Nacht – Buch 4)

Copyright © 2018 Tina Folsom

* * * * *

1

 

Zoltan schlug mit der Faust auf die Armlehne seines Thrones und sprang auf.

„Schwachköpfe!“, schrie er.

Nur ein Dutzend Dämonen waren in der Thronhalle versammelt, Boten, die Nachrichten von oben aus der menschlichen Welt brachten. Monate – verdammt nochmal – zwei Jahre waren vergangen, seit sie ihm irgendwelche brauchbaren Informationen über die Hüter der Nacht, die Beschützer der Menschheit, gebracht hatten. Bisher hatten die Hüter jeden einzelnen von Zoltans Versuchen vereitelt, seine Macht zu erweitern und sein Ziel der Weltherrschaft zu erreichen.

Frustration pulsierte durch jede Zelle seines Körpers und brachte sein grünes Dämonenblut zum Kochen. Gleichzeitig spürte er noch etwas anderes heranziehen, einen migräneähnlichen Anfall, der ihn minutenlang, wenn nicht noch länger, lahmlegen würde. Seit Beginn dieser schmerzhaften Episoden und besonders seit er der Führer der Dämonen, der Großmächtige, geworden war, hatte er diese Anfälle vor seinen Untertanen verstecken können. Jedoch war er mehrere Male nur knapp der Aufdeckung entkommen, dass er nicht ein Bild der Stärke und Macht war – ein Bild, das er beibehalten musste, wenn er nicht gestürzt werden wollte.

Er stieg von seinem Thron, begierig darauf, die große Höhle zu verlassen, in der Flammen durch die Spalten im Felsen schossen und unheimliche Schatten auf die zerklüfteten Wände und die unebene Decke warfen. Ohne ein Wort winkte er Vintoq, seiner rechten Hand, zu, um die Versammlung aufzulösen und ging auf einen der vier Ausgänge zu.

Eine Stimme stoppte ihn. „Oh Großmächtiger, aber Sie haben meinen Bericht doch noch nicht gehört.“

Zoltan wirbelte herum und funkelte den Dämon an, der ohne Erlaubnis zu sprechen gewagt hatte. Seine Augen fielen auf einen stämmigen blonden Mann. Er sah nervös aus, doch als Zoltan auf ihn zueilte, wich er nicht zurück.

„Oh Großmächtiger“, unterbrach Vintoq. „Warum kümmere ich mich nicht für Sie darum?“

Die Wut kochte in Zoltan bereits über, und er verwies seine rechte Hand mit einem finsteren Blick in die Schranken. Zu jeder anderen Zeit – oder wenn Vintoq den Vorschlag in Zoltans Ohr geflüstert hätte – wäre Zoltan darauf eingegangen. Doch vor seinen Untertanen durfte er nicht den Eindruck erwecken, dass Vintoq ihn in irgendeiner Weise beeinflussen konnte.

„Ich bin vollkommen in der Lage, mir noch einen weiteren nutzlosen Bericht anzuhören“, blaffte Zoltan und wies Vintoqs Vorschlag mit einer ungeduldigen Handbewegung zurück. „Und wenn sein Bericht genauso unbrauchbar wie der aller anderen ist, dann bin ich auch fähig, jemandem den Kopf abzureißen.“

Vintoq verbeugte sich sofort respektvoll.

„Gut.“ Zoltan wandte sich wieder dem blonden Dämon zu. „Mach schnell. Meine Geduld hängt an einem dünnen Faden.“ Und die lähmende Attacke wartete bereits ungeduldig hinter den Kulissen.

Sich verbeugend sagte der Dämon: „Oh Großmächtiger, ich bringe gute Nachrichten. Ich habe eine Seherin aufgespürt.“

„Eine Seherin?“

Zoltan war nicht die einzige Person, die das Wort ungläubig wiederholte. Ein Raunen ging durch den Thronraum und wurde durch das Echo der Felsenwände verstärkt.

„Schon seit zwanzig Jahren ist kein Seher mehr gesichtet worden! Wahre Seher sind seltener als eine Nadel im Heuhaufen.“ Oder ein Dämon mit Hirn.

Zoltan brummte verdrossen. „Du vergeudest meine Zeit!“ Er griff nach seinem Dolch und zog ihn aus der Scheide.

„Ich habe Beweise!“, fügte der Dämon schnell hinzu und zog ein gefaltetes Blatt Papier aus seiner Manteltasche.

Zoltan schnappte es sich und faltete es auseinander. Er starrte auf die Zeichnung und wedelte dann damit in der Luft. „Was soll das sein?“

„Die Seherin zeichnet die Dinge, die sie in ihren Visionen sieht. Das hier“ – der Dämon zeigte auf das Blatt Papier – „ist etwas, das sie in ihren Visionen gesehen hat: ein Portal der Hüter der Nacht.“

Zoltan sah sich die Zeichnung nochmals an und richtete seinen Blick auf die hastig gekritzelten Linien und Kleckse. Eine Künstlerin war diese Seherin nicht, aber sie war in der Lage, das Wesentliche zu übermitteln. Zoltan erkannte den unverwechselbaren Dolch, den die Hüter der Nacht trugen, und bemerkte, dass er in ein Tor eingraviert war, das aussah, als wäre es Teil einer Steinwand. Könnte das wirklich ein Portal sein? Könnte diese Person wirklich eine Seherin sein?

„Gibt es mehr Zeichnungen wie diese?“

Der Dämon nickte. „Viele mehr. Von Portalen, Gebäuden, Waffen. Aber ich wollte keinen Verdacht erregen, also nahm ich nur eine Zeichnung, die sie nicht vermissen wird.“

Zoltan zog eine Augenbraue hoch. Einer seiner Untertanen hatte Verstand und wusste ihn zu benutzen? Das war eine Neuheit. Aber er ging nicht soweit, ihn dafür zu loben. Dafür war es zu früh.

„Wie heißt du?“

„Colton.“

Zoltan nickte dem Dämon zu, dann sprach er die versammelten Boten an: „Colton wird drei von euch auswählen, die seinen Befehlen Folge leisten und sich vergewissern werden, ob diese Seherin echt ist. Denn wenn das der Fall ist, müssen wir sie auf unsere Seite bringen. Sie ist überaus wertvoll. Ein wahrer Seher kann uns mit Informationen und Einblicken über die Hüter der Nacht versorgen, die es uns ermöglichen werden, sie zu zerstören. Das ist unser Schlüssel zum Sieg in diesem Krieg.“

Die Dämonen nickten pflichtgemäß.

Die Erinnerung daran, was vor zwei Jahrzehnten geschehen war, als er eine Seherin in seiner Gewalt hatte, erschienen plötzlich wieder bildlich vor ihm.

Er hatte sie auf die Seite der Dämonen gezogen. Sie hatte sich ihm ergeben. Doch dann war ihm ein Hüter der Nacht dazwischengekommen und hatte sie getötet. Zoltans Magen verknotete sich, während seine Schläfen mit den ersten Migränewellen zu pochen begannen. „Ich warne euch. Wenn sie euch durch die Finger rutscht, wird euer Blut diese Höhle grün färben. Ich hoffe, ihr versteht mich.“

„Ja, oh Großmächtiger“, sagten sie im Chor, ob aus Loyalität oder Furcht heraus, interessierte Zoltan nicht, solange sie ihm gehorchten und seine Aufträge zuverlässig ausführten.

Mit einem Kopfnicken eilte Zoltan an seinen Untertanen vorbei und betrat den Korridor, der zu seinen privaten Gemächern führte, seine Schläfen vor Schmerz pochend. Dieser Anfall war schlimmer als der vorhergehende. Er hatte bereits alles versucht, um diese Attacken zu stoppen, sogar menschliche Medikamente, doch nichts konnte sie im Keim ersticken oder den Schmerz lindern. Als wäre er verflucht worden. Er konnte nur hoffen, dass er es rechtzeitig zu seinen Privaträumen schaffte, bevor er zusammenbrach.

2

 

Winter Collins reichte ihrer Kundin das Tarot-Deck. Die Frau hatte sich als Jessica vorgestellt, als sie in den kleinen Einraumladen gerauscht war. Winter hatte gerade abschließen wollen. Da es den ganzen Tag ruhig gewesen war und sie kaum Geld verdient hatte, hatte sie die Frau noch hereingelassen.

„Bitte mischen Sie die Karten“, wies Winter sie nun an.

Winter bemerkte, dass Jessica sich im Raum umsah, während sie der Aufforderung folgte. Die meisten Kunden taten das, so als könnte die Deko ihnen dabei helfen, herauszufinden, ob Winter wirklich die Zukunft lesen konnte. Das konnte sie nicht. Doch sie verfügte über ausgezeichnete Menschenkenntnis. Und nicht nur das. Sie wusste, was ihre Kunden hören wollten. Also hatte sie dies zu ihrem Beruf gemacht und sagte die Zukunft voraus.

Nicht nur die Kristalle, die alle Oberflächen zierten, die brennenden Räucherstäbchen, die die Luft mit einem mystischen Duft schwängerten, sondern auch die an den Wänden hängenden Bilder von okkulten Kunstwerken und übernatürlichen Symbolen, waren nur Zubehör. Genauso wie ihr zigeunerhaftes Outfit nur Schein war.

Winter hatte jedoch deswegen kein schlechtes Gewissen. Heutzutage brauchten die Leute etwas Hoffnung. Was machte es also schon, wenn sie ihren Kunden sagte, sie würden den Job bekommen, den sie wollten; der Liebe ihres Lebens begegnen oder ihre Probleme bewältigen, egal was diese waren? Sie tat dabei niemandem weh. Außerdem kamen viele ihrer Kunden, weil sie das als Joke von einem Freund geschenkt bekommen hatten – besonders seit sie jetzt auf ihrer Webseite Geschenkgutscheine anbot – und andere kamen, weil sie niemanden hatten, mit dem sie reden konnten. Genauso wie Leute zu ihrem Hausarzt gingen, um über ihre Probleme zu sprechen, kamen sie zu ihr, um einen Hoffnungsschimmer für ihr trübes Leben zu finden.

„Was jetzt?“, unterbrach Jessica ihre Gedanken.

„Teilen Sie das Deck“, verlangte Winter mit ruhiger und leiser Stimme. Sie hatte gelernt, dass ihre Kunden unwillkürlich näher rückten, wenn sie leise sprach. Das erschuf eine intime Atmosphäre – als würden große Geheimnisse enthüllt.

Als Jessica den Kartenstapel auf die lila Samtdecke legte, die den kleinen runden Tisch zwischen ihnen bedeckte, nahm Winter die Karten, schloss ihre Augen einen Moment und summte ein paar Noten. Dann legte sie die Karten verdeckt zu einem Keltischen Kreuz aus, wobei die Armreifen an ihren Handgelenken leise klimperten.

Nur weil sie nicht an Tarotlesungen glaubte, hieß das nicht, dass sie die grundlegenden Regeln ihres Gewerbes nicht erlernt hatte. Sie kannte die Bedeutung aller Karten im Deck, egal ob sie aufrecht oder verkehrt herum auftauchten, denn sie wollte nicht, dass ein Kunde sie als Betrügerin entlarvte, weil er sich mit Tarot auskannte.

„Was für eine Frage haben Sie, Jessica?“, fragte Winter nun ihre Kundin.

„Frage?“ Ihr Gesicht zeigte einen verwirrten Ausdruck. Dies war offensichtlich ihre erste Lesung.

„Ja, der Grund, warum Sie heute hier sind.“

Denn es gab immer einen Grund. Vielleicht zögerte der Mann, in den sie verliebt war, etwas zu lange, ihr seine Liebe zu gestehen; oder vielleicht hatte sie sich um einen Job beworben und immer noch keine Einladung zum Vorstellungsgespräch erhalten. Komischerweise war sich Winter jedoch unschlüssig, was Jessica beunruhigte. Normalerweise erriet sie relativ schnell, was ihre Kunden auf dem Herzen hatten. Ein sehnsüchtiger Blick, ein nervöses Zucken; es gab so viele Anzeichen, die das seelische Befinden einer Person verrieten.

„Äh, ja, ich wollte wissen, ob mein Freund mich hintergeht“, sagte sie schließlich.

„Hmm.“ Winter nickte. Das hätte sie nicht erwartet. Jessica wirkte nicht wie eine Frau, die sich Sorgen machte, dass ihr Freund untreu war. Winter tat es innerlich ab. Vielleicht war sie nur müde und deshalb nicht sensibel genug für die Stimmung der Frau.

„Dann lassen Sie uns mal sehen“, sagte sie stattdessen und drehte die erste Karte des Keltischen Kreuzes um. Es war die Mondkarte, eine Karte, die bedeutete, dass ungewöhnliche, übernatürliche Geschehnisse in der Zukunft liegen könnten. Sie war allerdings auch ein Zeichen für Wahnsinn. Nicht unbedingt etwas, das sie ihrer Kundin offenbaren wollte. Also gab sie nur einen vagen Kommentar ab. „Ungewöhnliche Geschehnisse haben Sie zu mir gebracht.“

Die Augen der Frau weiteten sich erstaunt.

Winter unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung. Selbst eine kaputte Uhr ging zweimal am Tag richtig. Sie drehte die zweite Karte um und folgte ihrer Intuition, als sie die Karte der Hohepriesterin deutete und ihrer Kundin sagte, sie sei stark und könne jedem Sturm trotzen. Sie war jetzt auf Autopilot. Sobald ein Kunde mit ein paar richtigen Vermutungen am Haken hing, würde dieser alles akzeptieren, was Winter auftischte.

Bis zum Aufdecken der letzten Karte hatte Winter Jessica gesagt, dass ihr Freund ihr treu wäre, doch dass sie selbst für ihr eigenes Glück verantwortlich sei und es nicht von einer anderen Person abhängig machen dürfe. Das war immer ein guter Rat, egal in welcher Situation.

„Danke, vielen Dank“, sagte Jessica und griff in ihre Tasche.

Winter sammelte die Karten ein und legte sie zurück in das Deck, bereit für den nächsten Tag, während Jessica Geld hervorholte.

„Stimmt das so?“

Winter schaute auf das Bargeld und nickte. „Danke. Bitte kommen Sie bald wieder.“

Als die Tür hinter Jessica zufiel, schloss Winter ab und drehte das Schild in der Tür um: Wir haben leider geschlossen. Dann ließ sie die Jalousie herunter und drehte sich um.

Weiter kam sie nicht. Stechender Schmerz schoss durch ihre Stirn und ließ ihre Knie einknicken. Sie griff nach etwas, an dem sie sich festhalten konnte, bekam die Fensterbank zu fassen und klammerte sich daran, um ihr Gleichgewicht zu halten.

„Scheiße!“, fluchte sie.

Es war nicht das erste Mal, dass dies geschah. Und irgendwie wusste sie auch, dass es nicht das letzte Mal sein würde. Der körperliche Schmerz war nicht einmal das Schlimmste. Es war nur ein Vorgeschmack auf die schreckliche, mentale Attacke, die folgen würde. Es war wie ein Alptraum – ein Alptraum, während sie wach war.

Sie hielt sich an der Fensterbank fest, schloss ihre Augen und hoffte, dass sie wider Erwarten dadurch die schrecklichen Bilder blocken konnte, die wie endloser Regen auf sie niederprasselten.

Giftgrün war das Erste, was sie sah. Zwei Punkte aus giftgrüner Farbe, die sie blendeten, bevor die Punkte sich entfernten, erst zu Augen und dann zu einem Gesicht wurden. Dem Gesicht eines Mannes. Eines wütenden Mannes. Eines brutalen Mannes. Eines Mannes, der nicht menschlich war. Das wusste sie, denn kein Mensch hatte solche Augen. Giftgrüne Augen, die pures Böses versprühten. Und diese Augen funkelten sie jetzt an.

Als sich ihr Sichtfeld weitete, konnte sie mehr ausmachen. Der fürchterliche Mann hatte breite Schultern und einen muskulösen Oberkörper und war in eine Art Uniform gekleidet. Ein Guerillakrieger? Sie suchte einen Munitionsgürtel, den sich die Kreatur um den Oberkörper geschlungen hatte, fand jedoch keinen. Auch keine Pistole und kein Gewehr. Stattdessen hielt er einen Dolch in der Hand. Einen Dolch, der nun auf sie zielte.

Sie versuchte zu schreien, doch kein Laut kam über ihre Lippen, nur ein hilfloses Gurgeln. Angst lähmte sie. So würde sie also sterben. Sie hatte es schon mal gesehen. So viele Male gesehen, wie die Klinge in ihr Herz stach und ihr das Leben raubte.

Sie machte sich auf das Unausweichliche gefasst, auf den Schmerz, denn der Tod war nicht schmerzlos, trat nicht sofort ein, wie so viele Leute glauben wollten. Doch der grünäugige Mann stoppte mitten in der Bewegung. Ihr Gehirn brauchte fast zwei Sekunden, um zu verstehen, was geschah: Ein Schwerthieb durch den Hals der Kreatur trennte den Kopf vom Körper.

Während der Kopf zu Boden fiel und aus ihrem Blickfeld rollte, spritzte grüne Flüssigkeit aus der Wunde. Flüssigkeit? Blut! Grünes Blut. Sie hatte keine Zeit aus dem Weg zu gehen und das grüne Blut bespritze sie von oben bis unten. Etwas davon geriet in ihre Augen und verschleierte ihre Sicht. Hinter dem fallenden Monster konnte sie einen Mann sehen, doch konnte sie ihn nicht richtig erkennen, weil das grüne Blut in den Augen ihren Blick verschleierte. Bevor sie ihrem Retter danken konnte, sah sie weitere giftgrüne Punkte in der Ferne. Mehr grünäugige Monster?

Panisch wies Winter mit ihrem Arm dorthin, während sie erfolglos versuchte, Worte zu formen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie an eine Wand gekettet war. Der Mann, der die Kreatur getötet hatte, wirbelte zu den herankommenden, grünäugigen Geschöpfen herum. Sie wischte sich die Augen und konnte jetzt wieder etwas besser sehen.

Oh nein! Sie befand sich in einer Höhle, wo Flammen an den Steinwänden empor leckten. Plötzlich drang der Geruch fauler Eier zu ihr. Grunzen und Flüche erreichten ihre Ohren. Und weitere giftgrüne Lichter flackerten auf. Mehr Monster. Zu viele Monster.

Sie schrie verzweifelt auf.

Das war die Hölle. Von hier gab es kein Entkommen.

Das war ihr Ende.

Winter brach zusammen. Und genauso schnell wie der Alptraum begonnen hatte, endete er. Sie riss die Augen auf und sah sich um. Berührte ihren Oberkörper, ihre Oberschenkel, ihr Gesicht. Kein Blut, keine grünen Flecken auf ihrer Kleidung, keine Wunden. Keine Monster in ihrem kleinen Geschäft.

Sie war alleine. Noch.

Sie schaffte es, sich aufzurappeln, anfangs etwas wackelig, doch mit jedem Schritt gewann sie mehr ihrer Kraft zurück. Sie atmete schwer und ging zum anderen Ende ihres Geschäftes, wo eine Tür, auf der Privat stand, in ihre Wohnung führte. Sie öffnete sie, trat in den kurzen Flur dahinter und ging in die große Wohnküche.

Auf dem Küchentresen, neben der Kaffeemaschine, stand ein Tablett mit ihren Medikamenten in orangefarbenen Plastikfläschchen. Sie hasste es, diese Tabletten zu nehmen, aber ohne kamen diese Tagesalpträume noch häufiger. Zumindest stumpften die Medikamente die Empfindungen etwas ab und beruhigten sie. Jetzt brauchte sie eine Tablette, denn sie zitterte.

Die Dinge, die sie sah, waren während der letzten Monate lebendiger geworden. Echter, obwohl sie nicht echt sein konnten. Denn solche Monster konnten nicht existieren. Giftgrüne Augen, grünes Blut? Nicht einmal Hollywood konnte so lächerliche Kreaturen erfinden; Monster, die ohne diese zwei Kennzeichen total menschlich aussahen. Doch jedes Mal wenn sie sie sah, wenn sie diese giftgrünen Augen sah, hatte sie mehr Angst als je zuvor in ihrem Leben. Denn sie wusste, dass sie hinter ihr her waren.

Sie spürte, wie sie nach ihr riefen. Hörte ihre Stimmen im Kopf, und jedes Mal gefror ihr das Blut in den Adern, denn sie fühlte das Böse körperlich. Jede Zelle ihres Körpers rebellierte. Sie wusste, dass sie den Monstern nicht nachgeben durfte. Durfte sich ihrem Ruf nicht stellen. Oder sie würde wie ihre Großmutter enden. Sie würde den Rest ihres Lebens in einer Irrenanstalt verbringen, an den Wänden kratzen und behaupten, sie hörte Stimmen und sah Dinge, die nicht echt waren.

Tränen schossen in Winters Augen, als sie sich an die letzten Besuche bei ihrer Großmutter erinnerte. Die Krankenschwestern hatten sie mit Ledergurten an ihr Bett fesseln müssen, damit sie weder sich noch andere verletzen konnte. Sie hatte verwirrt ausgesehen und ihre Äußerungen hatten keinen Sinn ergeben. Zwei Tage später war sie gestorben.

Winter schluckte zwei Pillen und schloss ihre Augen. Sie war entschlossen, nicht wie ihre Großmutter zu enden. Deshalb war sie kurz nach dem ersten Tagesalptraum zum Psychiater gegangen, in der Hoffnung, dass dieser die Krankheit stoppen konnte, die sie geerbt hatte. Er hatte eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, hervorgerufen durch den traumatischen Verlust ihrer Großmutter, dem letzten Mitglied ihrer Familie – auch wenn dieser Verlust schon zwei Jahrzehnte zurücklag. Er hatte ihr Psychopharmaka verschrieben und ihr geraten, die quälenden Bilder zu malen, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie zu verarbeiten, damit sie weniger schlimm erschienen. Er versprach, dass ihr das helfen würde, mit diesen Episoden, wie er es nannte, fertig zu werden.

Doch sie wusste, dass er falsch lag. Tief drinnen wusste sie, dass sie wahnsinnig wurde und der gleichen Geisteskrankheit erlag, an der ihre Großmutter gelitten hatte.

Und weder Kunsttherapie, noch Behandlungsgespräche oder Tabletten konnten sie heilen.

3

 

Logan hörte das Kichern der Kinder, als er sich dem großen Wohnraum näherte. Das Leben im Komplex der Hüter der Nacht in Baltimore hatte sich vor zweieinhalb Jahren drastisch geändert, als Leila, Aidens Gefährtin, Zwillinge zur Welt gebracht hatte.

Anfangs hatten alle im Komplex angenommen, dass Aiden und Leila ausziehen und in ihre eigene, gesicherte Residenz umziehen und dass Aiden seine Pflichten als Krieger aufgeben würde. Doch das Paar hatte alle überrascht und war geblieben. Sie wollten, dass ihre Kinder unter den Kriegern ihrer Rasse aufwuchsen und früh lernten, was es bedeutete, ein Beschützer der Menschheit zu sein.

Im Übrigen waren sie zusammen stärker. Der Komplex war immer noch der sicherste Ort für jeden Hüter der Nacht. Vor allem für die Kinder der Hüter, die verletzlicher als ihre unsterblichen Eltern waren und beschützt werden mussten, um den Fortbestand ihrer Rasse zu gewährleisten. Denn die Gefahr war allgegenwärtig – die Dämonen waren überall. Während der letzten zwei Jahre hatten die Dämonen mehrere Hüter getötet, obwohl es ihnen nicht gelungen war, noch einen Komplex zu finden und ihn zu zerstören, wie sie es mit dem Ratskomplex der Hüter getan hatten. Dieser hatte an einen anderen sicheren Standort verlegt werden müssen.

Logan zögerte an der Tür zu Küche und Wohnraum. Er hatte nichts gegen Kinder, aber die Zwillinge waren eine Plage. Er vermisste den Frieden und die Ruhe, die vor ihrer Geburt im Komplex geherrscht hatte. Natürlich würde er dies gegenüber Aiden nie äußern, denn er wusste, dass die Geburt der Zwillinge mehr für ihn bedeutete, als Vater zu werden – es bedeutete für ihn auch, endlich über den Tod seiner Zwillingsschwester Julia hinwegzukommen.

Logan öffnete die Tür und trat in den Raum. Essensgeruch drang in seine Nase, während ihm Gelächter den Standort der Zwillinge verriet. Zu seiner Überraschung tobten sie weder durch den riesigen Raum, noch jagten ihre Eltern hinter ihnen her. Aiden und Leila saßen stattdessen an der Kücheninsel und aßen gemütlich ihr Frühstück. Grund für diese sonderbar zivilisierte Szenerie im Wohnraum war ein Besucher: der Großvater der Kinder, Barclay, den alle anderen als Primus kannten, den Vorsitzenden des Rats der Neun, der Regierung ihres Volkes.

„Morgen“, sagte Logan.

„Hi, Logan“, antwortete Aiden, während Leila sagte: „Im Ofen ist noch Omelett, wenn du was willst.“

„Danke, Leila.“

Dann schaute er zu Barclay hinüber, der sich nun von der Couch erhob, wo die Zwillinge auf ihm herumgeturnt hatten wie auf einem Klettergerüst. „Primus, du hältst es wohl ohne die Kinder nicht aus, wie? Haben diese zwei Monster dich nicht erst vor drei Tagen besucht?“

Barclay schnappte sich beide Kinder, klemmte sich eins unter jeden Arm und ging auf Logan zu. „So sehr ich diese beiden auch liebe, bin ich nicht ihretwegen hier. Obwohl ich zugeben muss, dass ich jede sich bietende Gelegenheit nutze, um Zeit mit ihnen zu verbringen.“

„Sie beten dich an“, warf Aiden ein. „Leila und mir würde es nichts ausmachen, wenn du sie für ein paar Tage mitnimmst.“ Er zwinkerte seiner Frau zu, die zustimmend nickte.

Barclay schmunzelte. „Netter Versuch, aber ich bin kein junger Mann mehr. Ich habe nicht die Energie, Xander und Julia den ganzen Tag nachzulaufen. Deine Mutter auch nicht. Also danke für das Angebot, aber danke nein.“

Aiden wechselte einen Blick mit Leila und zuckte mit den Schultern. „Hab’s versucht.“

Barclay stellte die beiden Kinder auf ihre Füße. Xander rannte sofort auf Logan zu. Logan hob ihn auf den Arm und zerraufte ihm seinen schwarzen Haarschopf. Er hatte noch nie ein Kind mit so dickem Haar gesehen, außer natürlich bei seiner Zwillingsschwester, deren Haar etwas länger war. „Hi, Junge.“

Dann sah er wieder zu Barclay. „Also, was bringt dich zu uns?“

„Ich habe eine Mission für dich und Manus. Eine sehr heikle ...“

Logan hob eine Augenbraue. Meistens wurden Aufträge elektronisch zur Kommandozentrale geschickt, von wo aus sie dann dem Krieger zugewiesen wurden, der für diese Aufgabe entweder am besten geeignet war oder, wie es so oft der Fall war, nicht schon zu viele andere Missionen am Hals hatte.

„Sollen wir in die Kommandozentrale gehen?“, schlug Barclay vor.

Logan nickte und übergab Xander seiner Mutter.

Während sie durch die Korridore des riesigen Gebäudes gingen, blieb Barclay stumm. Logan war niemand, der seinen Vorgesetzten um Informationen nötigte, die dieser offensichtlich noch nicht preisgeben wollte – also blieb er auch stumm.

In der Kommandozentrale hielten sich nur zwei Leute auf. Pearce saß vor dem Kontrollpult, wo er mehrere große Computerbildschirme im Auge behielt. Auf einem scrollten Daten wie Regentropfen über den schwarzen Hintergrund, ein anderer zeigte Kameraeinstellungen und auf dem dritten waren mehrere Fenster für E-Mails und Nachrichten-Apps offen.

Manus saß an einem Schreibtisch in der Nähe und blätterte durch einen Stapel Akten. Beide blickten über die Schulter, als die Tür aufging und hatten schon einen lockeren Gruß auf den Lippen. Doch als sie Barclay hinter Logan eintreten sahen, wandten sie sich ganz um und setzten sich in ihren Stühlen auf. Ein Zeichen des Respekts für das ältere Ratsmitglied.

„Primus“, grüßten ihn beide.

„Pearce, Manus, gut euch zu sehen.“ Barclay nickte Pearce zu. „Würdest du uns bitte den Raum überlassen, Pearce?“

Überrascht von diesem Wunsch stand Pearce auf. „Äh, ja, sicher.“ Er deutete zur Tür. „Ich warte draußen.“

„In der Küche gibt es Frühstück. Warum machst du nicht Pause?“, schlug Barclay vor.

„Wie du willst“, sagte Pearce knapp, sichtlich etwas verstimmt, aus seinem Reich verbannt zu werden, denn schließlich war er der Nerd des Komplexes, der sich um die elektronische Kommunikations- und Sicherheitstechnik kümmerte.

„Danke“, sagte Barclay und beobachtete, wie Pearce rausging und die Tür hinter sich schloss.

Während des kurzen, unbeobachteten Augenblicks bewegte Manus seine Lippen, um Logan lautlos eine Frage zu stellen. Aber Logan konnte nur mit den Schultern zucken. Er wusste auch nicht, warum Barclay so geheimnisvoll tat. Normalerweise wurden Aufträge unter den Mitgliedern eines Komplexes offen besprochen. Es war nicht notwendig, Geheimnisse voreinander zu haben. Schließlich arbeiteten sie alle auf dasselbe Ziel hin: die Dämonen der Angst, ihre Todfeinde, zu besiegen und die Menschheit vor deren zerstörerischem Einfluss zu schützen.

„Ich bin sicher, ihr wundert euch schon, worum es geht“, begann Barclay, wobei sein Blick zwischen Manus und Logan hin und her wanderte.

Logan stellte sich dem Blick seines Vorgesetzten, ohne zu antworten. Er wusste, dass das nicht von ihm erwartet wurde.

„Also lasst es mich kurz machen. Dieser Auftrag muss vollkommen vertraulich behandelt werden. Nur ein paar Leute außerhalb des Rats wissen über das Bescheid, was ich euch jetzt mitteilen werde.“ Er räusperte sich. „Wir wurden über die Existenz einer Seherin informiert.“

Logan holte tief Luft.

„Eine Seherin? Eine echte?“, fragte Manus aufgeregt.

Barclay nickte.

„Du nimmst uns auf den Arm“, fuhr Manus fort. „Seit Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten, haben wir nichts mehr von Sehern gehört. Echte Seher sind seltener als eine Jungf–“

Logan rammte Manus seinen Ellbogen in die Seite, um ihm den Mund zu stopfen, bevor er die derbe Bemerkung zu Ende brachte. Außerdem mussten weder Barclay noch Logan daran erinnert werden, wie selten Seher waren. Und wie wertvoll sie sich für die Hüter der Nacht erweisen konnten. Denn obwohl Seher übernatürliche Geschöpfe waren, waren sie nicht von einer verräterischen Aura umgeben und konnten nicht durch einen speziellen Geruch identifiziert werden. Deshalb konnten sie von niemandem erkannt werden. Sie konnten einfach ihr Leben leben, ohne sich verstecken zu müssen.

„Wo habt ihr sie gefunden?“, fragte Logan.

„Ein Emissarius hat sie in Wilmington, Delaware entdeckt. Sie legt Tarotkarten in einem kleinen Laden.“

„Sie ist eine Tarotleserin? Das ist nicht ganz das, was ich eine echte Seherin nennen würde.“ Logan schüttelte den Kopf. „Bist du sicher, dass der Emissarius sich nicht geirrt hat? Jede Stadt hat ein paar Kartenleger und nur weil auf einem Schild im Fenster Hellseher steht, hat das noch nichts zu bedeuten.“

Barclay warf ihm einen strengen Blick zu. „Dessen bin ich mir bewusst. Deshalb sandten wir einen zweiten Emissarius, um mehr Informationen zu sammeln.“

„Und?“, fragte Manus neugierig.

„Sie bestätigte die Aussage des ersten. Die Frau ist eine echte Seherin, obwohl wir Grund zur Annahme haben, dass sie sich ihrer Gabe nicht bewusst ist. Was die Situation noch schwieriger macht, als sie ohnehin schon ist.“

Es folgte eine kurze Pause, in der nur Atemzüge die Stille durchbrachen.

„Wenn sie nicht weiß, dass sie eine Seherin ist, wie können sich dann die Emissarii sicher sein?“, fragte Logan inmitten der Stille.

„Weil sie die Dinge, die sie in ihren Visionen sieht, zeichnet.“

„Wie bitte?“, fragte Logan.

Barclay atmete tief aus. „Sie geht zu einem Psychiater.“ Er zuckte mit den Schultern. „Geistig labil. Er hat ihr Psychopharmaka verschrieben und eine Kunsttherapie empfohlen, die ihr helfen soll, die sogenannten Alpträume, ihre Visionen, zu verarbeiten. Unser Emissarius machte Fotos von den Zeichnungen, die sie vollkommen offen in ihrem Geschäft hängen hat.“

Er zog sein Handy heraus und wischte mit dem Finger über das Display. Einen Augenblick später drehte er es so, dass Logan und Manus auf das Display sehen konnten. Beide traten näher. Logan konzentrierte seinen Blick auf die Zeichnung. Eine Künstlerin war die Seherin nicht, doch obwohl die Kreidezeichnung primitiv war, hatte er keine Schwierigkeit, sie zu identifizieren.

„Die Callanischen Felsen.“ Dort war der Ratskomplex gestanden, bevor er nach einem Angriff der Dämonen zerstört worden war.

„Das ist noch nicht alles.“ Barclay zeigte das nächste Foto.

Diese Zeichnung war etwas besser, klarer, fast als wäre die Vision der Seherin klarer gewesen. „Die Dolche der Ratsmitglieder.“ Die neun ineinander verschlungenen Ringe auf den Griffen waren richtig angeordnet. Das war kein Zufall.

„Sie weiß Dinge über uns, Dinge die niemand, den wir nicht eingeweiht haben, wissen darf. Wenn die Dämonen sie finden, wenn sie sie auf ihre Seite bringen und ihre Visionen gegen uns verwenden ...“

„... könnten sie uns vernichten“, beendete Logan den Satz.

Barclay nickte ernst. „Ja. Denn wenn sie weiß, wo unser alter Ratskomplex stand, dann müssen wir annehmen, dass sie auch den Standort des neuen kennt – und vermutlich auch den vieler anderer Komplexe auf der ganzen Welt. Oder wenn sie es noch nicht weiß, dann erfährt sie es vielleicht in ihrer nächsten Vision. Egal wie die Sache steht, es macht uns verwundbarer als je zuvor.“ Er seufzte. „Und in dem labilen Geisteszustand, in dem sich die Seherin befindet, hat sie keinerlei Chance, gegen den Einfluss der Dämonen anzukämpfen, sobald sie sie entdecken. Wenn sie das nicht bereits haben.“

Logan wechselte einen Blick mit Manus. Es würde eine gigantische Aufgabe sein, die Frau vor den Dämonen zu beschützen. Eine Mission, die nicht nur ein paar Wochen oder Monate andauern würde. Sie würde so lange beschützt werden müssen, bis sie stark genug war, dem mentalen Druck standzuhalten, mit dem die Dämonen versuchen würden, sie auf die Seite des Bösen zu locken. Und das konnte Jahre dauern. In der Zwischenzeit durfte nicht publik werden, dass die Hüter der Nacht eine echte Seherin gefunden hatten. Barclay hatte recht, diese Neuigkeit unter Verschluss zu halten. Wie lange Logan und Manus dieses Geheimnis ihren Mitbewohnern im Komplex vorenthalten konnten, war jedoch eine andere Frage.

„Wir müssen schnell handeln“, unterbrach Barclay Logans Gedanken. „Ich habe euch alles geschickt, was wir in so kurzer Zeit über sie finden konnten. Ich wünschte, wir hätten einen detaillierten Background-Check machen können, aber leider hatten wir nicht so viel Zeit. Sie ist ein Freigeist, hält sich nicht an Konventionen.“ Er deutete zum Computer. „Auf die Akte kann nur unter euren Log-ins zugegriffen werden. Pearce kann sie nicht einsehen. Macht euch mit allen Einzelheiten vertraut und beeilt euch. Ihr könnt es euch nicht leisten, bei dieser Sache Fehler zu machen. Die Existenz unserer Rasse steht auf dem Spiel.“ Barclay entgegnete Logans Blick. „Deshalb habe ich dich ausgewählt. Ich weiß, dass du den Befehlen des Rates bis auf das i-Tüpfelchen folgen wirst.“

„Ja, Primus.“

Manus legte seinen Kopf schief. „Und ich bin als Clown dabei?“

Barclay sah ihn abfällig an. „Du warst nicht meine erste Wahl für diesen Auftrag, aber ich wurde von den anderen Ratsmitgliedern überstimmt. Scheinbar hast du ein paar Fans, die denken, dass die Gefühlskälte, die du während anderer Missionen an den Tag gelegt hast, bei dieser Mission von Nutzen sein könnte.“

„Mir war nicht bewusst, dass ich als gefühlskalt bekannt bin.“

„Du bist für viele Dinge bekannt, Manus“, gab Barclay zu, „doch ich habe weder Zeit noch Lust, sie dir aufzuzählen. Ich bin sicher, du bist dir deiner eigenen Fehler bewusst. Sei froh, dass wir jeden Hüter brauchen, der die Pflichten eines Kriegers erfüllen will. Aufgrund dessen sind wir gewillt, über deine vielen Regelverstöße hinwegzusehen. Im Moment.“

Diese Rüge brachte Manus zum Schweigen. Im Moment.

Logan musste es Barclay lassen: Er wusste, wie er seine Untergebenen zu behandeln hatte.

„Nun“, sagte Barclay, „dann lasst uns die Details besprechen.“

Logan nickte. Er wusste, wie die Sache ablief, doch eine Seherin zu beschützen war anders. Wegen ihrer Visionen konnte sie nicht wie ein normaler Schützling behandelt werden. Sie musste in Geheimnisse eingeweiht werden, die anderen nicht offenbart wurden.

„Wie viel dürfen wir ihr über unsere Rasse mitteilen?“

„Mitteilen?“ Barclay starrte ihn an wie aus allen Wolken gefallen.

„Ja, um ihre Kooperation zu sichern und sie effektiv zu beschützen“, erklärte Logan.

„Sie zu beschützen?“ Barclay schüttelte den Kopf. „Sie stellt ein Sicherheitsrisiko dar, das nur eine einzige Maßnahme rechtfertigt. Ihr seid nicht damit beauftragt, sie zu beschützen. Der Rat hat abgestimmt, die Bedrohung zu eliminieren.“

Die letzten Worte hallten in Logans Kopf wider.

Die Bedrohung eliminieren. Er wusste, was das bedeutete.

Sie töten.

4

 

„Autsch!“

Winter schrie vor Schmerz auf und starrte auf das Blut. Es spritzte nur so aus der Wunde. Die Klinge war messerscharf, das Ziel perfekt – wenn sie vorgehabt hätte, sich ihren eigenen Zeigefinger abzuschneiden. Was nicht ihre Absicht gewesen war. Aber das Endstück der Salami war ihr durch die Finger gerutscht, als sie versucht hatte, sich eine dünne Scheibe für ein Sandwich abzuschneiden.

„Verdammt!“

Konnte sie heute denn gar nichts richtigmachen? Erst hatte sie verschlafen, dann hatte sie sich beinahe mit dem Föhn die Haare verbrannt, weil sie durch die Nachrichten am Radio abgelenkt gewesen war, und jetzt das.

Sie rannte zur anderen Seite der Küche und riss die oberste Schublade auf. Während sie darin herumwühlte, drückte sie auf die Wunde ihres verletzten Fingers, damit das Blut nicht überall hintropfte. Ohne Erfolg. Um das Blut damit aufzusaugen, riss sie ein Blatt der Küchenrolle ab und wickelte es um ihren Finger, während sie weiter nach dem Pflaster suchte, das sie dort nur eine Woche zuvor hineingelegt hatte – da sie ihre letzten Erste-Hilfe Vorräte nach einem ähnlichen Missgeschick aufgebraucht hatte.

Tja, sie war eben mit Messern ungeschickt, und mit Feuer, und mit Hammer und Nagel. Zwei linke Hände, hatte ihre Großmutter vor vielen Jahren gemeint und ihr geraten, sich einen Beruf zu suchen, bei dem sie nicht mit Werkzeugen hantieren musste.

„Na super“, grummelte Winter vollkommen entnervt, als sie plötzlich die Schachtel Pflaster in der hintersten Ecke der Schublade entdeckte.

Etwas ungeschickt schaffte sie es, ein Pflaster aus der Schachtel zu nehmen und die Schutzhülle zu entfernen. Weiteres Blut tropfte aus der Schnittwunde, bis sie es schaffte, sie mit dem Pflaster zu verarzten. Sie übte weiterhin Druck darauf aus und nach ein paar Minuten schien das Blut zu gerinnen.

Winter seufzte und räumte die Unordnung auf, wischte das Blut vom Tresen und blickte auf ihren misslungenen Versuch, ein Sandwich zu machen. Plötzlich war sie nicht mehr hungrig. Sie griff nach dem Stück Salami und beäugte es.

„Ach, was soll’s.“ Sie biss ein großes Stück ab und begann zu kauen. Ein zweites Mal würde sie nicht versuchen, dünne Scheiben abzuschneiden.

Sie packte die zwei Scheiben Brot wieder in den Beutel und verschloss ihn, als ein Geräusch sie aufhorchen ließ. Immer noch die Salami kauend fuhr sie herum und sah in den kurzen Flur. Die Tür zum Geschäft war geschlossen. Das Schild, das ihre Mittagspause verkündete, hatte sie in die Tür gehängt – da war sie sich sicher. Warum knarrten nun also die alten Dielenbretter im Geschäft? Hatte sie vergessen, die Ladentür abzuschließen?

Winter wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab, dann marschierte sie zur Tür und öffnete sie. Ein großer Mann stand mit dem Rücken zu ihr im Geschäft und sah sich die Bilder an, die an den Wänden hingen. Er hatte etwas Vertrautes an sich. Ein Funke des Erkennens durchzuckte ihre Erinnerung, doch sie konnte ihn nicht festhalten.

„Es tut mir leid, aber wir haben über Mittag geschlossen“, sagte sie mit strenger Stimme.

Er drehte sich selbstbewusst um, als wäre er nicht überrascht, dass er nicht mehr alleine war. Ihre Augen trafen sich. Sie erstarrte, konnte sich keinen Zentimeter bewegen. Der Funke des Erkennens, den sie verspürt hatte, als sie ihn von hinten gesehen hatte, meldete sich wieder, dieses Mal noch intensiver. Als hätte sie ihn schon mal irgendwo gesehen, obwohl sie sein Gesicht nicht erkannte.

Und das würde sie mit Sicherheit. Welche lebendige, atmende Frau in den besten Jahren – und das war sie, obwohl sie schon lange nicht mehr gedatet hatte – würde ein Gesicht wie seines vergessen? Gemeißelte Züge, starke Wangenknochen, ausgeprägte, schwarze Augenbrauen, eine gerade Nase, kurzes schwarzes Haar, all das unterstrich sein klassisches, gutes Aussehen. Ein Kinn, das Entschlossenheit demonstrierte, obwohl seine Lippen etwas anderes versprachen, etwas, das nicht zu dem Mann passte, der aussah, als gehörte er auf ein Werbeposter des Militärs. Militär, ja, denn sein Körper war muskulös, nicht wie ein Bodybuilder, sondern wie ein Krieger. Alles an diesem Mann war gestählt, jeder Muskel schien einen Zweck zu erfüllen, doch seine Lippen waren leicht geöffnet und verrieten die Weichheit und Sanftheit, die in seinem Inneren steckte.

Trotzdem sah sie, dass er aufgewühlt war. Dass er Antworten suchte. Dass er diese sofort brauchte und nicht warten konnte.

„Miss Collins? Miss Winter Collins?“, fragte er.

Das Timbre seiner Stimme hallte in ihrer Brust wider, als würde er auf ihren Rippen Musik spielen.

„Ja“, hauchte sie, denn sie fühlte sich plötzlich atemlos.

Sie versuchte das Gefühl der Benommenheit abzuschütteln. Warum fühlte sie sich plötzlich so benebelt? Sie war schon vielen gut aussehenden Männern begegnet und noch nie so sprachlos gewesen. Irgendwie ahnte sie, dass ihre Reaktion nichts mit seinem Aussehen, sondern dem Gefühl des Erkennens zu tun hatte.

Er hat dich in deinem Traum gerettet.

Das war unmöglich. Sie wusste viel über Träume, über die Tatsache, dass man nicht von einem Gesicht träumen konnte, das man nie zuvor gesehen hatte. Dass Träume nur eine Art und Weise waren, wie der Verstand verarbeiten konnte, was tagsüber geschehen war. Aber sie wusste auch, dass ihre Alpträume anders waren. Dass sie ihr Dinge zeigten, die nicht existieren konnten. Aber wenn er der Mann aus ihrem Alptraum war, der die grünäugigen Monster abgeschlachtet hatte, warum stand er dann in ihrem Geschäft?

Sie befand sich nicht mitten in einem ihrer Alpträume. Sie hatte den Schmerz nicht verspürt, der sie immer einleitete. Sie wusste, dass sie klarsichtig war. Sie musste sich irren. Er war nur ein Kunde. Einer, der das Schild in der Tür nicht gesehen hatte, das ihre Mittagspause anzeigte.

„Setzen Sie sich bitte“, entfuhr es ihr, obwohl sie vorgehabt hatte, ihm zu sagen, dass er nach ihrer Mittagspause zurückkommen sollte.

„Mich setzen?“, wiederholte er, als hätte er sie nicht richtig verstanden.

Sie zeigte zum Tisch mit den zwei Stühlen. „Ja, für Ihre Tarotlesung. Deshalb sind Sie doch hier, oder? Weil Sie Fragen haben. Wie heißen Sie?“

„Logan“, sagte er langsam. Noch langsamer ging er auf den Tisch zu, als ob er es sich nochmal anders überlegen würde.

Sie hatte dieses Zögern bei Erstkunden schon oft gesehen. Sie hatten all ihren Mut zusammengekratzt, um zu kommen, und nun, wo sie in ihrem Geschäft waren, verließ sie der Mut und sie machten einen Rückzieher. Aber Logan schien ihr nicht wie der Typ, der plötzlich den Mut verlor. Nein, da war etwas anderes. Als wollte er nicht wirklich die Antwort auf seine Frage wissen.

Winter setzte sich und wartete, bis Logan ihr gegenüber Platz genommen hatte. „Die Tarotlesung kostet vierzig Dollar. Ich hoffe, das passt.“

Er nickte. „Kein Problem.“

Sie nahm die Karten und reichte sie ihm. „Mischen Sie sie bitte.“

Sie beobachtete seine Hände, während er mischte. Lange Finger, saubere Nägel, doch das waren nicht die Hände eines Mannes, der in einem Büro arbeitete. Zu viele Narben, zu viele Verletzungen, zu viele Schwielen. Er arbeitete mit seinen Händen, mit seinem ganzen Körper. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie er aussah, wenn er arbeitete: sein Oberkörper nackt, seine Muskeln angespannt, seine Haut glänzend vom Schweiß. Sie stellte sich vor, wie ihre Hände über die gebräunten Rippen glitten ...

Oh Gott, was war nur mit ihr los? Sie kam sich vor wie eine läufige Hündin.

Sie hustete.

„Wann soll ich aufhören?“, fragte Logan.

Seine Frage ließ sie sich fragen, wie lange sie ihn so angestarrt hatte, ihn zu einem Objekt gemacht und ihn sich halb nackt vorgestellt hatte. „Äh, das reicht jetzt.“

Er legte das Deck auf den lila Samt.

„Heben Sie bitte ab“, wies Winter an.

Er kam ihrer Bitte nach und wartete. Winter nahm die Karten und legte sie zum Hufeisen aus, froh darüber, dass sie ihre Hände mit etwas beschäftigen konnte.

„Sagen Sie mir, was für eine Frage Sie haben, Logan.“ Sie sah von den Karten hoch und bemerkte, dass er sie anstarrte.

 

~ ~ ~

 

Er hätte auf Manus hören sollen, der vorgeschlagen hatte, sich Winter unsichtbar zu nähern und sie zu eliminieren, bevor sie überhaupt wusste, was ihr geschah. Doch Logan hatte nicht hören wollen, denn eine Unschuldige zu töten war nichts, was er auf die leichte Schulter nahm. Dieser Schritt war unwiderruflich und deshalb musste er sicher sein, dass er das Richtige tat. Er brauchte die Bestätigung, dass sie wirklich über die Hüter der Nacht Bescheid wusste und eine Gefahr darstellte.

Als Sentinel, der Führer dieser Mission, hatte er Manus’ Protest überstimmt und ihm befohlen, im Auto zu bleiben und nach Dämonen Ausschau zu halten. Widerwillig hatte Manus zugestimmt.

Logan hatte gewartet, bis Winter zu Mittag abgesperrt hatte, um sicherzugehen, dass sie alleine sein würde. Er hatte seine übernatürliche Fähigkeit durch solide Objekte hindurchzugehen, benutzt, um das Geschäft zu betreten. Nach dem vorliegenden Bericht war Winter mental labil, deshalb musste er sie einfach davon überzeugen, dass sie vergessen hatte, die Tür abzusperren und ihre eigene Erinnerung anzuzweifeln. Es war jedoch nicht notwendig gewesen, denn sie hatte das gar nicht in Frage gestellt.

Stattdessen hatte sie ihn angestarrt. Genauso, wie sie ihn jetzt anstarrte.

„Ihre Frage“, forderte sie ihn auf.

„Ich muss eine wichtige Entscheidung treffen. Ich muss wissen, ob es die richtige ist“, sagte er, denn er musste ihr irgendetwas geben, um keinen Verdacht zu erregen.

Winter nickte und drehte die erste Karte um. Er sah nicht einmal hin. Stattdessen blickte er zu den verschiedenen Zeichnungen, die an der Wand hingen. Eine zeigte die Callanischen Felsen, die Barclay ihm auf seinem Handy gezeigt hatte, eine andere Zeichnung war die eines Dolches, den nur Ratsmitglieder besaßen. Es gab noch mehr Zeichnungen, alle in schwarzer Kreide auf weißem Hintergrund.

„Sie tun beides: Befehle geben und Befehle befolgen“, sagte Winter und sah kurz von den Karten auf.

Er nickte.

Sie senkte ihren Blick wieder auf die Karten und drehte die nächste um, während Logan die Zeit nutzte, seine Augen über die Wand hinter ihr schweifen zu lassen, wo eine Tür mit dem Wort Privat in den anderen Teil des kleinen Reihenhauses führte. Er wollte gerade wegsehen, als er Markierungen über dem Türrahmen bemerkte: Runen. Die selbe Art von Runen, die auch die Komplexe der Hüter zierten. Der Bericht hatte davon nichts erwähnt. Doch wenn Winter die Runen kannte, wusste sie schon zu viel.

„Dieses Mal sind Sie sich nicht sicher, ob Sie den Befehl befolgen sollten.“

Logan drehte seinen Kopf mit einem Ruck zu Winter und bemerkte, wie sie die Stirn runzelte. Als sah sie etwas, das sie nicht verstand. Als echte Seherin könnte sie sehen, was er dachte, was er plante? Denn nun, da er die Runen gesehen hatte, selbst gesehen hatte, dass sie die Geheimnisse der Hüter leichtsinnig zur Schau stellte und damit seine Spezies in Gefahr brachte, hatte er seine Entscheidung getroffen. Er musste dem Befehl nachkommen.

„Sie quälen sich mit Ihrer Entscheidung“, fügte Winter hinzu.

Nein, sie wusste nicht, was in ihm vorging, denn dann würde sie sehen, dass sein innerer Kampf vorbei war, die Entscheidung getroffen war. Was sie jetzt tat, war der übliche Hokuspokus, den jeder Tarotleser seinen Kunden servierte. Ein paar belanglose Sätze, die so oder so interpretiert werden konnten. Doch die Bilder, die sie gezeichnet hatte, die Bilder an den Wänden ihres Geschäftes, waren ihre Visionen, sie waren die Wahrheit.

„Kämpfen, quälen ...“, stammelte sie und drückte eine Hand an ihre Schläfe.

Noch mehr Drama. Er musste es ihr lassen. Sie verkaufte sich gut.

Ihre Lippen bebten und ihre Atmung beschleunigte sich. „Nein, nicht schon wieder, nein ...“ Ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz und sie hob beide Hände zum Gesicht, wo sie sie gegen ihren Kopf presste, als versuchte sie ihn vorm Explodieren zu bewahren.

Alarmiert fragte Logan: „Was ist los?“

Sie schoss vom Tisch hoch, stolperte und warf dabei den Stuhl um. „Nein, bitte, nein!“

Logan sprang auf, gerade als Winter hilfesuchend nach dem Tisch griff, doch nur die lila Tischdecke erwischte. Winter verlor das Gleichgewicht, taumelte rückwärts und die Tarotkarten flogen durch die Luft. Logan sprang nach vorne und erwischte Winter keine Sekunde zu spät. Zusammen stürzten sie zu Boden, aber Winter landete auf ihm und nicht auf dem harten Boden, wo sie sich hätte verletzen können.

„Winter, bist du okay?“

Sie schlug in seinen Armen um sich, doch er wusste, dass sie es nicht tat, um sich zu befreien. Sie hatte einen Krampf, den man für einen epileptischen Anfall halten könnte, obwohl er nicht ganz so heftig war. Doch er wusste es besser: Winter hatte eine Vision. Der Bericht hatte angedeutet, dass sie sich vermutlich körperlich gegen die Visionen wehrte, weil sie nicht wusste, was mit ihr geschah. Das Resultat waren diese Krämpfe des ganzen Körpers.

„Du musst dich entspannen, Winter“, sagte er sanft und strich ihr ein paar Strähnen des dunklen Haares aus dem Gesicht.

Er wusste, dass jetzt der perfekte Zeitpunkt war, ihr das mitgebrachte Gift zu verabreichen. Es war schmerzlos und wirkte fast sofort. Innerhalb weniger Sekunden würde sie sterben und nichts davon mitbekommen. So hatte er es geplant. Doch sie jetzt zu töten, wo sie am verletzlichsten war, widerstrebte ihm, obwohl er wusste, dass es seine Pflicht war.

Würde er zögern, wenn sie nicht so eine schöne Frau wäre? Würde er zögern, wenn sie nicht so sinnlich, so faszinierend wäre? Das würde er nicht. Doch jetzt, wo er sie ansah, wie er sie in seinen Armen wiegte und beschützte, kamen Zweifel in ihm hoch. Zweifel an seinem Befehl, seiner Pflicht.

Mit Winter in seinen Armen erhob er sich. Sie zuckte immer noch, doch nun nicht mehr so heftig, als verblasste die Vision. Er trug sie zur Zwischentür, öffnete sie und schritt hindurch. Er trat die Tür hinter sich zu und durchquerte den kurzen Gang, der in eine Wohnküche führte. Ein Esstisch mit vier Stühlen stand in der Mitte des großen Raumes, ein heruntergekommenes Sofa an einer Wand. Er legte Winter auf das Sofa, gerade als sie ihre Augen wieder öffnete.