Kai Rohlinger
Herr über Land und Meer
2 E r z ä h l u n g e n
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Kai Rohlinger
»Herr über Land und Meer«
Bonusgeschichte
Kai Rohlinger
»Das Geistermahl«
Deutsche Erstveröffentlichung
1. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
2018 Kai Rohlinger
Lektorat & Satz: KopfKino-Verlag
Covergestaltung: coverandbooks / Rica Aitzetmüller
Umschlagmotiv: colourbox.de
KopfKino-Verlag
Thomas Dellenbusch
Gluckstr. 10
D-40724 Hilden
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Kai Rohlinger
2 E r z ä h l u n g e n
Ich heiße Aulus Marcius Celer, doch alle nennen mich Secundus. Denn dies ist der Name, den ich mir selbst gegeben habe, als mein erstes Leben zu Ende ging und mein zweites begann. Zu manchen Zeiten hätte es den Tod bedeutet, diese Geschichte zu erzählen. Nun aber hat sich die Welt gewandelt, und ich kann ohne Furcht berichten, was sich zugetragen hat.
Dem Kaiser Gaius, den man Caligula nennt, bin ich in meinem Leben zwei Mal begegnet; und damit meine ich nicht, dass ich ihn aus der Menge heraus und von fern erblickte, sondern dass ich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand und er das Wort an mich richtete. Ich sage das nicht aus Stolz darauf, in der Nähe dieses Mannes gewesen zu sein, denn sein Name ist heute ein Schimpfwort, und ihn gekannt zu haben, bringt mehr Schande ein als Ehre. Ich aber habe keinen Grund, mich zu schämen, denn mein Schicksal war in jeder Hinsicht dem seinen entgegengesetzt, und seine hellste Stunde war meine dunkelste, sein Niedergang jedoch mein Glück.
Manches haben andere schon niedergeschrieben mit klugen Worten; doch kennen sie das, was sie schildern, meist nur vom Hörensagen oder aus den Büchern anderer. Ich aber bin dabei gewesen und habe mit eigenen Augen gesehen, wie das Meer zum Land wurde und die Nacht zum Tage ...
Der erste Schauplatz meiner Geschichte ist das fruchtbare Kampanien, die blaue Bucht von Baiae. Dorthin, an die hellen, luftigen Strände, wo das Glück zu Hause ist, fliehen im Sommer alle, die es sich leisten können, um der Hitze und dem Gestank in den engen Gassen der Hauptstadt zu entkommen. Ach, es ist ein herrlicher Landstrich, der wie kein zweiter von den Göttern gesegnet ist: das ruhige, dunkle Meer, die grünen Hänge des Vesuvs und alles Land dazwischen ein einziger Garten mit Feldern, Weiden, Rebstöcken und Obstbäumen – im Elysium kann es kaum schöner sein. Da ist es kein Wunder, dass sich der alte Kaiser Tiberius gerade nach Capri zurückzog, als er des Reiches und der Menschen überdrüssig wurde. Er mag dort all die schlimmen und verruchten Dinge getrieben haben, von denen man sich hinter vorgehaltener Hand erzählt; den schönsten Flecken Italiens hat er sich dafür jedenfalls ausgesucht.
Nach Cumae, Neapel oder Sorrent bin ich oft gekommen, und mehr als ein Pferd habe ich zuschanden geritten im Dienste des Cursus publicus. Denn in meinen jungen Jahren war ich Speculator, ein Botenreiter der Staatspost und – bei der blonden Epona! – ein ziemlich guter. Wäre es anders gewesen, so hätte mir das Schicksal jene Prüfung erspart, von der ich nun berichten will.
Die Villa Jovis, wo der Kaiser residierte, betraten wir gewöhnlichen Kuriere freilich nie, denn alle für ihn bestimmten Nachrichten brachten die Reiter der Prätorianergarde. Im Stillen träumte ich davon, vom Trecenarius gemustert zu werden und dieser erlauchten Truppe beizutreten. Rein rechtlich sprach dagegen nichts, denn im Gegensatz zu den meisten anderen Botenreitern wurde ich als freier Bürger Roms geboren. Mein Vater musste sich die Freiheit erst noch verdienen, und auch er lernte die Straßen Italiens vom Pferderücken und vom Kutschbock aus kennen. Zu der Zeit, von der ich spreche, lag seine Asche jedoch schon zusammen mit der meiner Mutter in einem bescheidenen Grab an der Via Appia. An diesem stillen Denkmal machte ich Halt, sooft mich mein Weg nach Süden führte.
Am liebsten war mir die Route über Capua nach Baiae oder nach Misenum, wo die Flotte vor Anker lag. Es gab dort in der Nähe unserer Stallung eine Taverne mit einem freundlichen Wirt sequanischer Abstammung, dessen Großvater noch gegen Caesars Legionen gekämpft hatte und in Ketten nach Italien gekommen war. Dem Enkel sah man seine Abstammung zwar an, denn er hatte fuchsrote Haare, doch trug er eine saubere Tunika und sprach ein bäurisches Latein mit ein paar Brocken Griechisch darin. Von seiner gallischen Mundart beherrschte er nur die deftigen Flüche, von denen er gerne Gebrauch machte. Dennoch war er ein götterfürchtiger Mann, der dem Merkur üppige Opfer darbrachte. Er besaß einen unerschöpflichen Vorrat an Soldatenwitzen und das beste Rezept für gefüllten Tintenfisch, vor allem aber eine bezaubernde Tochter mit Namen Valeria.
Ich sage euch: Wäre ein Bildhauer auf der Suche nach einem Modell gewesen, um die Venus mit dem schönen Hintern zu gestalten, so hätte er es in dieser kleinen Gallierin gefunden. Sie war schlank wie eine Gerte und hatte große, sonderbar helle Augen, was manche befremdlich, viele aber anziehend fanden. Doch trotz all ihrer Reize war sie weder hochmütig noch schamlos geworden oder gar beides zusammen, was wohl die schlimmste Art bei Frauen ist. Und wie einst Penelope von den Freiern, so wurde Valeria von den Gästen umworben; doch soweit ich weiß, schenkte sie keinem ihre Zuneigung, sondern gab allen auf ihre sanfte, aber bestimmte Weise einen Korb. Doch wenn ein Frechdachs – und davon gibt es in einer Taverne immer mehr als genug – seine Zunge gar nicht im Zaum halten konnte, wurden ihre Blicke streng und kalt wie Eis, so dass der Kerl sofort verstummte. Sie liebte Tiere über alles und hielt sich neben einem Hasen auch einen Sperling, den sie verletzt gefunden und gepflegt hatte. Er war dann nicht mehr dem Ruf der Natur gefolgt, sondern blieb im Hause, fraß dem Mädchen aus der Hand und pflegte ihr neckend in die Fingerspitzen zu picken.
Bei meinem ersten Besuch war sie gerade dabei, die Schüsseln für die Gäste in einem großen Bottich zu spülen; der Sperling saß ihr dabei auf der Schulter und zwitscherte fröhlich. Als ich eintrat, flatterte er plötzlich auf, drehte eine Runde unter dem rußgeschwärzten Gebälk und ließ sich auf meiner Hand, die ich rasch ausstreckte, nieder. Niemals werde ich vergessen, wie Valeria mich daraufhin ansah, mit dieser Mischung aus Erstaunen, Freude und Erschrecken. Erst viel später erfuhr ich, dass ihr Monate zuvor ein alter Etrusker weissagte, sie werde ihren Bräutigam dereinst am Flug der Sperlinge erkennen. Was auch immer der alte Zausel damit gemeint haben mochte: Valeria glaubte in diesem Moment, das Orakel sei erfüllt; und sie schien nicht unglücklich mit dem Ergebnis. Dass sich der Spruch auf andere Weise bewahrheiten würde, ahnten wir damals beide noch nicht.
An jenem ersten Abend konnten wir nur ein paar schüchterne Worte wechseln, denn der Schankraum füllte sich rasch, doch unsere Blicke kreuzten sich stets, wenn sie, den Weinkrug in der Hand, an meinem Tisch vorbei kam oder aus einem anderen Winkel zu mir herüberschaute. Das Mädchen ging mir nicht mehr aus dem Kopf, ich musste immerzu an sie denken, und beinahe wäre ich auf dem Heimweg verträumt an einer der Wechselstationen vorbeigeritten.
Beim nächsten Mal ließ Jupiter über der Stadt ein heftiges Unwetter niedergehen, so dass ich Grund genug hatte, noch einen Abend in Misenum zu bleiben und unsere Bekanntschaft zu vertiefen. Während draußen die Blitze zuckten und der Sturm drei Schiffe der Flotte vernichtete, leuchteten mir Valerias Augen heiter wie der Frühlingshimmel. Seither war ich dort zu Gast, wann immer es die Umstände zuließen, und obwohl das Essen gut und reichlich war, ging ich in anderer Hinsicht hungrig aus dem Haus. Auch dem Mädchen schienen die Zeiten zwischen Abschied und Wiedersehen zu lange. Denn damals war ich noch kein Greis mit kahlem Schädel und Falten im Gesicht wie heute; ich war ein kühner junger Mann und hatte volles, braunes Haar; ich ritt auf schnellen Pferden und brachte Neuigkeiten aus der Hauptstadt mit. Da gab es mehr als eine, die mir schöne Augen machte, und wir Botenreiter waren keine Kostverächter!
Mit Valeria jedoch verhielt es sich anders: Sie war ein Mädchen zum Heiraten. Allerdings dachte ich damals noch nicht daran, eine Frau in die Ehe zu führen; dabei hätte der sequanische Fuchs vielleicht nicht Nein gesagt, wenn ich um seine Tochter geworben hätte. Ein wenig Geld hatte ich bereits zur Seite gelegt, aber mir spukte noch immer der Traum im Kopf herum, ein Gardereiter zu werden. Und ein Soldat darf nur ein Liebchen haben, aber keine Frau. So erfreute ich mich also an der Gegenwart und dachte nicht viel an die Zukunft, oder zumindest nicht das Richtige.
Dann aber kam der Tag, an dem der alte Tiberius seinen letzten Atemzug tat. Caligula ergriff den Lorbeer und brachte all den kaiserlichen Glanz zurück nach Rom, so wie die Sonne an einem Wintermorgen aus den Nebelbänken am Tiber aufsteigt. Die Menge jubelte ihm zu, und die Stadt der sieben Hügel war wieder Mittelpunkt der Welt. Die ersten Taten des jungen Kaisers erweckten allgemeine Begeisterung.
So schaffte er die furchtbaren Prozesse wegen Majestätsbeleidigungen ab; auch wagten viele Exilanten, welche unter Tiberius in Ungnade gefallen waren, in die Heimat zurückzukehren. Von nun an sollte sich vieles ändern im Reich, und das spürten auch wir Kuriere. Denn es hatte den Anschein, als ob in den ersten Wochen und Monaten ungleich mehr Botschaften an die Statthalter, Präfekten und Magistrate versandt wurden als in all den Jahren zuvor. Ich wurde mehrfach in den Norden geschickt, in die Gemeinden der Transpadana.
Die Zeit verging nicht, sie jagte vielmehr dahin, und ehe ich es bemerkte, war aus dem Frühling der Sommer geworden und aus dem Sommer der Herbst. Das schöne Mädchen mit dem Sperling hatte ich keineswegs vergessen, sie war mir stets lebendig in Erinnerung, doch wir sahen einander lange nicht mehr. Mich ergriff oft eine düstere Schwermut, ohne dass mir der wahre Grund dafür bewusst wurde; dann suchte ich in meinen freien Stunden Zuflucht im Wein und Ablenkung beim Würfelspiel. Fortuna belohnte meine Unvernunft, indem sie mich häufig gewinnen ließ. Nur die Frauen, die sich gerne zu den Spielern an den Tisch setzten, mit dunkel geschminkten Augen und rot bemalten Lippen, wollten mir nicht mehr gefallen, so dass die Kameraden schon meinten, ich hätte mich entweder der Knabenliebe verschrieben oder mein Herz bereits verschenkt. Und gerade als ich fühlte, dass sie richtig lagen – mit dem Letzteren freilich! – begann das Glück, mir seine Gunst zu entziehen. Das war im Sommer 792 nach Gründung der Stadt, zu eben jener Zeit, als der Kaiser Caligula nach Baiae reiste, um die ganze Welt in Staunen zu versetzen.
In jenen Tagen war die anfängliche Begeisterung des Volkes zwar noch nicht in Hass und Abscheu umgeschlagen, doch der Zauber, der dem Anfang innewohnte, war dahin. Es war, wie wenn man sein Triclinium mit bunten Fresken schmücken lässt, der Maler aber unsauber zu Werke geht, so dass unter den hellen Farben dunkle Flecken zum Vorschein kommen und den hübschen Bildern ein kränkliches Aussehen verleihen. So hatte auch Caligula auf vielfache Weise, die ich nicht näher beschreiben will, seine Beliebtheit zu einem Teil, sein Vermögen aber fast zur Gänze verloren. Denn er neigte zu verschwenderischen Spielen und anderen Ausschweifungen, welche die Staatskasse aufs Äußerste belasteten.
Wie so oft bekamen das zuerst diejenigen zu spüren, deren zahllose kleine Dienste das große Räderwerk der Macht am Laufen halten. An den Wechselstationen und Rastplätzen, die für die Boten und Transporte der Staatspost eingerichtet waren, ging es weniger geregelt und solide zu als früher. An frischen Tieren wurde zusehends gespart, die notwendigen Abgaben aus den Dörfern kamen zögerlicher, und die Grüße der Leute erschienen mir immer häufiger nur eine Floskel zu sein und nicht mehr von Herzen zu kommen. Im Kreise der Botenreiter sprachen wir freilich selten darüber und wenn, dann nur mit scheuen Blicken über die Schulter, denn all die Denunzianten und Anzeiger, die unter Tiberius wie die Maden im Speck lebten, waren noch lange nicht ausgestorben. Zudem weiß jeder, dass ein armer Bauer dem Esel eher die Rüben vorenthält als die Gerte.
Im Sommer dieses Jahres also, kurz nachdem der Kaiser nach Baiae aufgebrochen war, wurde auch ich mit einem dringlichen Auftrag dorthin entsandt. Das war mir nicht unrecht, denn überall machten Gerüchte die Runde von einem großartigen und nie dagewesenen Schauspiel, das dort in den nächsten Tagen stattfinden sollte. Außerdem war es nicht weit bis nach Misenum. Tatsächlich zog die Stadt in dieser Zeit unzählige Menschen an, und bei weitem nicht nur die reichen Sommergäste mit ihrem Gefolge. Bereits auf den letzten Meilen wurde der Verkehr dichter, hier jedoch, in Sichtweite der ersten Häuser, stauten sich auf allen Wegen die Ochsenkarren, Reisekutschen, Packesel und Lastenträger.