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STANISŁAW STRASBURGER

DER
GESCHICHTEN
HÄNDLER

oder

DER WETTKAMPF DER DICHTER

Roman

Aus dem Polnischen
von Simone Falk

Die vorliegende deutsche Fassung des Textes wurde in Zusammenarbeit mit dem Autor angefertigt. Es wurden Veränderungen gegenüber dem polnischen Original vorgenommen.

Titel des polnischen Originals:

Erste Auflage

Die Arbeit des Autors am Text wurde gefördert von der Kunststiftung NRW

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Übersetzung: Simone Falk

Gestaltung und Satz:

Führe uns auf den geraden Weg,

den Weg derer,

denen Du Gnade erwiesen hast,

die nicht Dein Missfallen erregt haben

und die nicht irregegangen sind!

Koran, Sure 1

INHALTSVERZEICHNIS

1.Isnaden oder wer was sagte

2.Salim und Seine Königliche Weißheit

3.Salomo, göttliche Stimmen und andere

4.Harun, die Makellosigkeit und der Tourismus

5.Djamila, das Tagebuch und die verführerische Schnelligkeit der Schönheit

6.Malicha und die Erhabenheit im Zeitalter des Internets

7.Walid und der männliche Händedruck

8.Alimajd und die Schönheit verkehrt herum

9.Simeon und andere göttliche Wettkämpfer

10. Salim und die erfüllte Weissagung

Literatur- und Quellenverzeichnis

KAPITEL 1

Isnaden
oder
wer was sagte

Und hier das Ende, das in alten arabischen Büchern stets der Anfang ist:

Jan schrieb auf, was Mirek und Kerim sagten, aber auch das, was seine Eltern und seine beiden Großmütter erzählten, denn leider hatte er seinen Großvater nie kennengelernt, und auch das, was Odo Marquard in Zeitalter der Weltfremdheit? Ein Beitrag zur Analyse der Gegenwart notierte, womit Umberto Eco in Baudolino auf den Seiten 285 und 286 in die Irre führte, was Andrzej Stasiuk in Die Welt hinter Dukla auf Seite 19 beobachtete, worauf Lars von Trier im Film Breaking the Waves seinen Fokus legte, was Nizar Qabbani in seinen Gedichten Hundert Liebesbriefe (Nr. 71) und in Wenn der Mond im Orient … [Brot, Haschisch und Mond] prophezeite, wovon Tahar Ben Jelloun in Mit gesenktem Blick berichtete, was David Lynch seine Schauspieler im Film Twin Peaks sprechen ließ, worüber Herbert Grönemeyer im Lied Mensch sang, was Jacques Berque, zitiert nach Albert Hourani in Der Islam im europäischen Denken, auf Seite 162 erwähnte, was Jerzy Kosiński in Blind Date auf Seite 178 bemerkte, wonach Marek Hłasko sich in Alle hatten sich abgewandt auf Seite 90 und 104 sehnte, was Jorge Luis Borges in Der Garten der Pfade, die sich verzweigen auf Seite 166 phantasierte, wie sehr Jean-Luc Godard im Film Die Verachtung von Farben fasziniert war, was Federico Fellini im Film Achteinhalb lehrte, was Albert Camus in Der Fremde auf den Seiten 73 und 74 wahrnahm, was Luis Buñuel im Film Simon in der Wüste zeigte, worüber Antoine de Saint-Exupéry in Der Kleine Prinz auf den Seiten 23, 75, 95 und 97 sowie in Die Stadt in der Wüste (Citadelle) auf den Seiten 26–28 und 56 nachdachte, was Louis-Ferdinand Céline in Reise ans Ende der Nacht auf Seite 108 offenlegte, worüber sich Zofia Nałkowska in Die Schranke auf Seite 33 sorgte, wovon sich Witold Gombrowicz in Ferdydurke bedrückt fühlte, was Edward Morgan Forster in Auf der Suche nach Indien auf Seite 301 beschrieb, was aus Hermann Hesses dadaistischen Inspirationen in Der Steppenwolf wurde, wovor Nazim Hikmet Pierre Loti in Orient – Okzident warnte, worüber sich James Matthew Barrie in Peter Pan den Kopf zerbrach, was Pierre Loti in Madame Chrysanthème beobachtete, was Gustave Flaubert sich in Die Versuchung des heiligen Antonius auf den Seiten 34 und 35 ausmalte, was René Descartes in seiner Abhandlung über die Methode, richtig zu denken und Wahrheit in den Wissenschaften zu suchenSorgen bereitete, was Fjodor Dostojewski in Aufzeichnungen aus einem Totenhaus formulierte, was Scheich Nefzaui in Der duftende Garten des Scheich Nefzaui. Die arabische Liebeskunst auf den Seiten 13–15, 19, 22 und 23 sowie zitiert nach Erdmute Heller und Hassouna Mosbahi in Hinter den Schleiern des Islam: Erotik und Sexualität in der arabischen Kultur auf den Seiten 131–133, 136, 139 und 194 seinem Brotgeber empfahl, was Daud a-Antaki in Tazyin al-aswaq fi ahbar al-ussaq, zitiert nach Wiebke Walther: Die Frau im Islam, auf Seite 115 sprach, was Mehmed in seinem Gedicht Koste das Glück tropfenweise … [Buch der Liebe] improvisierte, worüber Galal ad-Din as-Suyuti in Kitab al-Idah, zitiert nach Erdmute Heller und Hassouna Mosbahi in Hinter den Schleiern des Islam: Erotik und Sexualität in der arabischen Kultur, auf Seite 135 nachdachte, was in Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten in Band 6 auf Seite 598 und in Band 3 auf den Seiten 441 f. geschrieben steht, was Ibn Qayyim al-Gauziyya in Raudat al-muhibbin wa-nuzhat al-mustaqin, zitiert nach Wiebke Walther: Die Frau im Islam, auf Seite 115 lehrte, worüber ’Obeid-e Zakani in Die Sitten der Vornehmen auf Seite 281 sprach, was Ahmed an-Nuwairi in Nihaya, zitiert nach Heinz Grotzfeld: Das Bad im arabisch-islamischen Mittelalter. Eine kulturgeschichtliche Studie, auf Seite 93 niederschrieb, was Dante Alighieri in Die Göttliche Komödie von seiner Phantasie eingeflüstert bekam, was Ibn Battuta in Die Reisen des Ibn Battuta auf den Seiten 18, 85, 87–89, 104 und 105 beschrieb, was Ibn Bassam in ad-Dahira, zitiert nach Heinz Grotzfeld: Das Bad im arabisch-islamischen Mittelalter. Eine kulturgeschichtliche Studie, auf Seite 51 anführte, was Abu Hamid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazali in Von der Ehe. Das 12. Buch von al-Ghazali’s Hauptwerk »Neubelebung der Religionswissenschaften« auf Seite 76 dachte, was Ibn ’Arabi in Ich bin der schwache Gottesdiener … [Buch der Nachtreise] aufzeigte, womit sich Abu L-Ala’ Al-Maarri in Paradies und Hölle. Die Jenseitsreise aus dem »Sendschreiben über die Vergebung« auf den Seiten 43, 44, 48, 147 und 148 auseinandersetzte, was Rabia Balkhi sich in dem Gedicht O könnte nur mein Leib … wünschte, was der junge Ibn Hazm Al Andalusi in Das Halsband der Taube. Von der Liebe und den Liebenden auf den Seiten 28, 51, 62 und 64 riet, worüber Abu Bakr Ibn Quzman in seinem Gedicht Die Welt ist so, wie du sie siehst … nachdachte, was Al-Hamadhani in Vernunft ist nichts als Narretei. Die Maqamen auf den Seiten 30 und 152–154 verkündete, worüber Abu L-Faradsch in Und der Kalif beschenkte ihn reichlich. Auszüge aus dem »Buch der Lieder« auf den Seiten 22, 42 und 103 sinnierte, was Ibn Hisham in Das Leben Mohammeds nach Mohammed Ibn Ishak auf Seite 163 mitteilte, was Al-Tha’labi in Die meisten Religionsgelehrten erzählten … [Prophetenerzählungen] schilderte, was Sahih al-Buchari in Das umfassende Gesunde. Hadithe und in Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad auf Seite 349 behauptete, was Ibn al-Washsha in Kitab al-muwashsha, zitiert nach Wiebke Walther: Die Frau im Islam, auf Seite 114 erklärte, wie Ibn Abi Tahir Taifur in Kitab balagat an-nisa, zitiert nach Wiebke Walther: Die Frau im Islam, auf Seite 69 bemerkte, womit Abu Nuwas in seinem Gedicht Ich sagte ihm … provozierte, was Al-Walid Ibn Jazid in dem Gedicht Dein Herz, Walid, ist entflammt … beunruhigte, was in verschiedenen Übersetzungen des Koran geschrieben steht, womit Ghailan ibn Uqba, bekannt als Dhu Rumma, zitiert nach Al-Hamadhani in Vernunft ist nichts als Narretei. Die Maqamen, sich auf Seite 49 quälte, was der heilige Augustin in seinen Bekenntnissen in Buch 3, Absatz 10 auf Seite 66 bemerkte, was Theodoret in Des Bischofs Theodoret von Cyrus Mönchsgeschichte auf den Seiten 74, 75, 158, 160 und 167–169 niederschrieb, was Hesiod in Werke und Tage und in Theogonie behauptete, was im Alten Testament im Ersten Buch der Könige in Kapitel 11, im Zweiten Buch der Chronik in Kapitel 9 und im Hohelied Salomos geschrieben steht, was anonyme Quellen und andere berichteten – Freunde, Bekannte und zufällig getroffene Menschen sowie arabische Sänger und Sängerinnen, deren Namen man oft nur schwerlich ausfindig machen kann, wenn man auf der Straße ein Lied hört. Jan schrieb auch die Erzählungen auf, die man aus den Bildern von Salvador Dalí, Witkacy, Jean-Leon Gérôme, Feliks Wygrzywalski und Jean-Auguste-Dominique Ingres herauslesen kann, und die Geschichten, die von den Bauwerken vorwiegend unbekannter Architekten erzählt werden – denn es gibt viele Architekten, die gleichzeitig Geschichtenerzähler sind. Und falls jemand aus Versehen vergessen wurde, so entschuldigt sich der Autor, der übrigens nicht Jan ist, sondern jemand vollkommen anderes, und verspricht, dies Versäumnis in der zweiten Auflage dieses Romans nachzuholen. Danke.

KAPITEL 2

Salim
und
Seine Königliche Weißheit

Ein leerer Stand. Ich verkaufe bewahrte, wahre und bewährte Geschichten. Ein Schild über mir, und in mir?

Ein Stimmenmeer.

Hoch sollen die Geschichten leben!

Eines Abends in Akaba: Damals, da las Mirek … Halt!, halt!, der Held des Geschichtenhändlers ist doch Jan, Mirek, der war beruflich in die Wüste verreist, Gas-Seek Inc., oder Die Jagd nach dem verlorenen Erdgas, ach, armer Mirek, dieser Reise wegen stellte sich sein ganzes Leben auf den Kopf, das Tagebuch besagt ja die Wahrheit, Jan eben erzählt Geschichten, und dann, dann gab es da auch noch Kerim mit seinem leeren Stand, der drängte sich einfach rein wie ein schlechter Witz.

War Wirklichkeit geworden.

Aber Jan schrieb den Roman.

Oder war’s Peter Pan?

Sowohl Knabe als auch Mann, der sich nicht entscheiden kann … Und so also sprach Jan: Bei Rashid aus Alexandrien habe ich gelesen, was Malicha aus Asmara über Djamila aus Tripolis schrieb.

»hallo mein edler, nun, wie geht’s?

ich hoffe bei dir alles okay ich jedenfalls habe heute viel an dich gedacht also war ich im bimarestan in aleppo wo wir nicht geschafft haben zu fahren aber das werde ich ein andermal erzählen :-)

ich denke recht viel an dich

hör mal gern ich würde nach deutschland polen oder in eines dieser anderen schönen europäischen länder fahren um weiter zu studieren ich möchte sehen wie dort aussieht wie die menschen so sind wie sich in einem solch kalten klima lebt daher wollte ich dich fragen ob du weißt was machen und wo gehen um dorthin zu reisen? gib mir bescheid ich warte auf antwort von dir

ich muss dir noch was über unsere freundin djamila sagen also du wirst lachen ich weiß nicht ob ich dir sage oder nicht jetzt ich weiß sicher diese frau führt immer an der nase herum also verabredet sie sich jede woche mit einem neuen mann und schleppt geschenke heran es tut mir leid djamila entpuppt sich als böse frau und besser wenn du weißt das von anfang an schien mir sie hat so eine komische nase

viel liebe von mir malicha«

Malicha schrieb auf Englisch, als schriebe sie Arabisch. Keine Majuskeln, keine Interpunktion.

Ins C@feinternet trat ich mit Salim, der einmal wöchentlich mit seiner Geliebten aus Moskau zum Telefonat verabredet war. Gegen zehn sollte sie anrufen. Wir hatten Zeit. Bevor wir eintraten, schütteten wir den Rest unserer Biere in leere Coladosen um, damit Rashid uns nicht vor die Tür setzen würde: Das Café besaß keine Konzession für Alkohol.

Rashid war vor etlichen Jahren aus Ägypten ausgewandert und betrieb im Zentrum von Akaba ein Internetcafé. Das Erdgeschoss war voller Telefonboxen, im ersten Stock befanden sich Plastikstühle und Gartentische samt Computern.

»Was mache ich, wenn sie …«, fing Salim zu reden an, während ich noch immer Malichas E-Mail las, »… wenn sie mich wie auch schon letzte Woche nicht hören wird?«

Trotz später Stunde herrschte auf der Straße eine Affenhitze. Auf dem Weg hatten wir was getrunken, nicht viel, aber ein wenig. Die gewundenen, leicht schwingenden Stufen hinaufzusteigen war mir schwergefallen.

»Was soll sein?!«, fragte ich gereizt. Ich wollte nicht schon wieder ertragen müssen, wie er von seiner Geliebten redete. Soll doch mal wer nach meiner fragen! … Egal, ich hatte sowieso keine Lust mehr an dem Lügenspiel. »Sicherlich klappt es«, wimmelte ich ihn ab. Die Nase aus Malichas E-Mail ließ mir keine Ruhe. Cleveres Mädchen. Sie wollte mir Djamila verleiden.

»Hab’ ich schon erwähnt? Lubov ist fünfunddreißig. Vielleicht zu alt …«, drängte Salim.

Wie eigentlich sah Malichas Nase aus?

»Was meinst du?«

Ich hatte völlig vergessen, wie ihre Nase aussah. Malicha war Afrikanerin, also bestimmt mit kurzer, stumpfer Spitze …

»Auf den Fotos gefiel sie dir …«

Nein! Jetzt wusste ich es! Eine Stupsnase, mit kleinem Höcker. Nicht ganz gerade. Ein scharfer Nasenrücken, dessen Linie sich zur Stirn hin verlor. Ja, vielleicht war dies die Nase einer bösen Frau … Wie konnte ich das wissen?

»Ach, wirklich?«, richtete ich meine Frage mehr an mich selbst als an ihn.

»Vielleicht stimmt ja mit Lubov irgendwas nicht«, sagte er. »Ist ja noch immer nicht verheiratet.«

Ich wäre regelrecht beleidigt, spräche jemand mit mir wie ich hier mit Salim.

»Schließlich bin ich erst Ende zwanzig, weißt du … Sie schreibt mir so schöne Briefe. Nennt mich ihren größten Schatz … Na ja, Scheiße noch mal! Alles auf Englisch! Ich hab’s ja mit Russisch versucht. Einfach zu wenig Zeit. Und Arabisch bei ihr: Nichts … Ist echt schwer, ich kann’s nicht von ihr verlangen. Weißt du, dass Lubov auf Russisch Liebe bedeutet?«

Na gut, sei’s ihm gegönnt. Ich erzähle die Geschichte:

Liebe war vor einem Jahr mit einer Reisegruppe nach Akaba gekommen. Salim war ihr Tourguide, als sie an den Korallenriffen tauchten. Es amüsierte ihn, nur Schnorchel und Hintern zu sehen. Sie amüsierte das auch. Dann kam sie wieder her, diesmal nur seinetwegen. Sie bezahlte für das Zimmer, ein paar Tage lang wohnten sie zusammen. Das war die glücklichste Woche meines Lebens, hatte Salim später dann zu mir gesagt.

»Sie hat einen guten Job, in einem Konzern, sie ist Chemikerin, sie verdient recht ordentlich …«

Liebe hatte ihm Fotos gezeigt, von ihren Eltern, ihrer Wohnung in Moskau, vom Wochenendhäuschen vor den Toren der Stadt. Wir könnten da gemeinsam leben, hatte sie gesagt. Mach dir keine Sorgen, lern Russisch, und alles wird gut.

Liebe hatte versprochen, ihn einzuladen.

»Und wer bin ich schon? … Ein Putzmann!«, empörte sich Salim. »Ab und zu betreue ich mal ’ne Reisegruppe. Ja, manchmal tauche ich mit denen, aber wie häufig kommt das schon vor. Nichts Langfristiges. Sie möchte, dass ich zu ihr ziehe. Ich kenne dort niemanden! Und sie müsste mich finanzieren. Aber hier, was kann ich ihr hier bieten? Die wird doch niemals Arabisch lernen! Wenn ich zumindest ’n anständigen Job hätte … Scheiße noch mal!«, er spuckte auf den Fußboden. »Echt, die Frauen, die ham’s im Leben leichter. Die halten dir abends mal eben ihr Loch hin – und, na bitte, das war’s. Fünf Minuten, was für eine Mühe! Sie sitzen zu Hause rum, müssen sich ihr Köpfchen über nichts zerbrechen, und du kannst schon froh sein, wenn sie’s in der Zwischenzeit nicht ’nem andern hinhalten. Denn keine Frau ist nur von einem Mann gesättigt, wie kein Auge gänzlich gesättigt ist vom Hinsehen*…«, zitierte er irgendeinen Dichter. »Drüben bei euch, da ist das anders, was?«

Er zögerte.

»Manchmal, da wünschte ich, ich wäre als Frau geboren«, sagte er leiser. »Man würde mich verkuppeln, und ich würde mich aushalten lassen …«

Salim kümmerte sich gern um sein Äußeres. Jeden Morgen rasierte er sich sorgfältig, einen schmalen Streifen Bart ließ er dabei entlang der Wangenknochen und von den Mundwinkeln herunter senkrecht bis zum Kinn stehen. Er hatte wohlgeformte schlanke Hände, der Nagel seines kleinen Fingers war länger als die der anderen. Das bedeutet, dass ich ledig bin, sagte er. Seine messingfarbene Haut, sein dezent muskulöser Körper und sein dichtes Haar erinnerten an die orientalischen Figuren aus den Bildern von Jean-Léon Gérôme. Das verkehrt aufgesetzte Baseballcap, die abgetragenen, weiten Jeans und das bunte, direkt oberhalb der Brust aufgeknöpfte Hemd ließen einen eher denken, dass er häufig MTV schaute.

»Ring-Ring! Ring-Ring!« – Das Telefon.

Salim stürzte die Treppe hinunter. Ich griff nach der Dose und folgte ihm schwerfällig.

»War nicht für mich. Aber gleich ruft sie an. Sie muss!«, beschwor er Liebe.

Ich trat hinaus. Die unfertigen Betonstufen führten direkt auf die Straße. Statt eines Gehweges lag dort ein wenig grauer Sand verstreut; vielleicht auch Erde, die beim Bau aufgewühlt worden war. Das zweistöckige Haus war unverputzt. Aus den Stützen für ein virtuelles Dachgeschoss ragte Betonstahl heraus. Über dem Eingang leuchteten eine schlampig montierte Neonlampe und ein Schild mit der Aufschrift C@feinternet.

Ich setzte mich auf die Stufen. Das kalte Bier und der raue Beton waren angenehm erfrischend. Salim hatte mal Fotos von Liebe dabei. Es war dunkel gewesen. Wir hatten uns am städtischen Strand getroffen. Im Licht der entfernten Laterne prägte ich mir ihr blasses, vorzeitig gealtertes Gesicht ein, das Plastikgestell der Brille und ihr sympathisches Lächeln. Unter ihrem knappen Kleid quollen Speckfalten hervor. Ihre Wange leuchtet von rötlichem Licht, ihre Stirn ist wie der Blüten Kreis, ihre Zähne stehen wie Juwelen dicht, ihre Hüften sind von schwerem Gewicht, und wunderherrlich ist ihr Angesicht. Wer einmal ihre Gemächlichkeit erblickt hat, der ist auf ewig von ihrem Reiz verzaubert, schwärmte Salim.

»Ring-Ring! Ring-Ring!«

»Hallo, hallo! Lubov? Lubov!«, schrie er schon ins Telefon. »Du ju hir mi? Jeeeeeii … O, ei lof ju so motsch …«

Ich erhob mich von den Stufen. Mir schien, meine Anwesenheit beschämte ihn, obwohl der Kabine gegenüber auch noch Rashid saß. Vielleicht war ja nur ich es, der sich schämte.

»Sie liebt mich sehr.«

Nach den Telefonaten betrank Salim sich meistens. Die Einladung ließ auf sich warten. Es gab nur diese Gespräche, die jeden Freitag zum großen Feiertag machten … Und so traute er sich nicht, nach den Papieren zu fragen. »Vielleicht ist das Wichtigste, dass eine Frau liebt. Ich weiß es nicht … Ich hatte im Leben so viele Frauen. Aus Europa, Afrika, sogar Australien … Lubov sehe ich doch nur zweimal im Jahr, da ist das schon in Ordnung. Wenn du zu mir kommst, zeige ich dir Fotos. Mit allen mache ich Fotos. Ich zeige sie dir!«

»Kam, kam hir mei lof! Ei miss ju so motsch …«, rief er ins Telefon.

Und so geriet die Liebe auf die Straße … geradewegs unter die Räder der Polizisten. Der amerikanische Jeep mit dem hohen Einstieg passte kaum durch die schmale Gasse vor dem C@feinternet.

Trotz ihrer jahrhundertealten Vergangenheit ist Akaba eine junge Stadt. Alles Neue ist made in USA. Eigentlich patrouillieren die weißen Polizeiwagen am Küstenboulevard. Die verträumten Gendarmen schauen dort Frauen hinterher. Es ist ihnen gleichgültig, dass ihre Jeeps für das Zentrum zu groß sind. In engen Gassen laufen keine Schönheiten herum. Große Autos auf breiten Straßen – das gefällt den Frauen. In enganliegender Kleidung spazieren sie auf dem Gehweg an der Küste hin und her, halten sich an den Händen und lächeln.

»Haschüsch, haschüsch, mei frient. Du ju wont?«, riss mich ein Typ mit Kapuze aus meinen Gedanken.

Wenn der Boulevard sich mit Menschen füllt, rufen die Muezzins zum Abendgebet. Die Polizisten setzen dunkle Brillen auf. Ihre Gläser spiegeln die Silhouetten der Frauen, schlank wie Zypressen mit ihren sich in der Abendsonne streckenden Schatten*.

»Jes, plies weit for mi!«, rief Salim in der Kabine.

Sobald die Neonlampen anspringen, betreten die ersten Gäste die Straßencafés. Fürsorgliche Brüder und Väter wählen Plätze aus, rufen nach den Kellnern. Wenn der Tabak der Wasserpfeifen endlich nach Erdbeeren riecht, lichten sich die Schatten auf dem Boulevard und nehmen eigene Tische ein. Neugierige Finger versenken sich in die vagen Erscheinungen, die Träume männlichen Schlummers.

Ein Stand, ein Schild, ich verkaufe bewahrte, wahre und bewährte Geschichten.

Also gut, versuchen wir es noch einmal: Wenn die Muezzins zum Abendgebet rufen, füllt sich der Boulevard mit Menschen. Unerwartet, mitten im städtischen Stimmenmeer, erklingt eine durchdringende Tiefe – auf den Minaretten werden die Megaphone eingeschaltet und ein Summen erfüllt die Nachbarschaft; eine erhabene Stimme enttarnt das alte Gotteshaus – irgendjemand muss ja anfangen; die Stimme bahnt sich ihren Weg mitten in das Lärmen der Stadt hinein – der Muezzin übt seine Atmung mit den ersten Vokalen; gemächlich flutet die Stimme hinein in den Raum – der geübte Ruf erstarkt, der Atem reguliert sich; Ort um Ort und Kraft um Kraft schließen sich an – dem ersten Mutigen folgen die restlichen Muezzins; die vibrierenden Stimmen überlagern sich und weisen einander den Weg – wer übertönt wen, wer hat die besseren Lautsprecher? Hitzig erbebt die Stadt …

»Hilfe!«

Teilen die Muezzins etwa die Stadt unter sich auf? Um dieses Minarett gebe ich den Ton an, um jenes du?

»Verschwinde!« Der Raum zerfällt. Kakophonisch dröhnen die Megaphone … und in Akaba, da schwindet die Harmonie.

»Ich rauche nicht!«, sagte Salim. Ich hatte nicht bemerkt, dass er an mich herangetreten war. »Wir haben uns für nächste Woche verabredet.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Wir konnten einander gut hören. Du weißt ja, meine große Liebe …« Ich roch den Alkohol in seinem Atem. »Gehen wir wieder an die Computer? Ich zeige dir was.«

Rashid lächelte Salim verschmitzt an.

»Anfangs ist die Begierde kaum mehr als ein Tröpflein, zunächst zurückgehalten, schwillt bald aus ihr ein Meer, riesengroß«, flüsterte er, als nähme auch er am Wettkampf der Dichter teil.

Und weiter?

Diesmal fiel mir das Treppensteigen leichter. Salim rückte mir einen Stuhl an den Computer heran, loggte sich in einen Chat ein. Es öffnete sich ein Fenster, Dein Profil.

»Wollen wir ›Mieze aus Polen, blond, eins achtzig, große Oberweite, wartet auf andere Pussys‹ schreiben?«

»Ähm …«

Salim sendete die Beschreibung ab, ohne auf meine Antwort zu warten. Es reagierte die Rosarote Wildkatze: ›Hast du eine Webcam?‹

Salim hatte unsere ausgestellt.

›Hast du denn eine?‹

›Soll ich dir was zeigen?‹

›Nun mach schon! Ich will dich lecken!‹

»Du, Jan, schreibt man das so auf Englisch?«

»…«

Rosarote Wildkatze: ›Nun öffne schon das Fenster, Mieze!‹

»Scheiße!«, rief Salim. »Auch bei euch gibt es nur Frustrierte, die scharf sind auf lesbische Chatrooms. Schau dir das an!«

Im Fenster der Rosaroten Wildkatze umschloss eine männliche Hand einen Penis und änderte sprunghaft die Position: schlechte Verbindung. Ein behaarter Bauch füllte den Bildschirm aus … und da schwand die Menschengestalt.

»Gehen wir!« Salim stieß den Stuhl weg.

»Jungs, zahlt ihr gemeinsam? Das macht zwei Dinar!«, sagte Rashid.

»Warum das denn?! Eben haben wir doch einen PC gemeinsam benutzt. Das macht eins fünfzig!« Salim legte das Geld auf die Theke.

»Das habt ihr nicht angemeldet.«

»Rashid, entspann dich. Das ist mein Freund«, er zeigte auf mich. »Er spricht sogar Arabisch. Und heute hat es mit Lubov geklappt.«

»Arabisch?«, wunderte sich Rashid. »Was willst du mit Arabisch? Heute hält sich jeder mit Englisch über Wasser«, er zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seinem Chat zu.

An der nächsten Ecke betrat Salim einen Laden. Er winkte, ich sollte ihm folgen, aber ich tat so, als sähe ich ihn nicht. Ich wollte allein bleiben.

Ich mit mir selbst.

Ich bin mit Mirek hier, er und ich, ein Spiegel also, ich weiß nicht mehr, wie es genau war. Mirek, weißt du es? Du bist mit Gas-Seek Inc. nach Syrien gefahren. Ich kam damals überhaupt nicht vor. Niemand kam vor, obwohl es uns alle bereits gab, nur, davon wusstest du nichts. Vielleicht wolltest du es aber auch einfach nicht wissen. Schon damals hast du es geliebt, anderen was vorzuspielen. Nette Arbeitskollegen und eine nicht allzu hübsche Freundin. Deine wenigen Freunde waren vom Schicksal überall in der Welt verstreut. Gas-Seek Inc. war dein erster Auftrag im Ausland. Du hattest dich vorbereitet. Hattest sogar ein wenig Arabisch gelernt.

Al-Dschumhuriyya al-Arabiyya as-Suriyya. Eine Fläche von hundertfünfundachtzigtausendzweihundert Quadratkilometern. Die Hauptstadt Damaskus hat etwa vier Millionen Einwohner. Weitere Großstädte: Aleppo, Latakia, Homs. An der Küste herrscht Mittelmeerklima, im restlichen Gebiet ist es kontinental. Mehr als siebzig Prozent der Bevölkerung sind unter dreißig Jahre alt. Mit der neunzehnhundertdreiundsiebzig verabschiedeten Verfassung der Arabischen Republik Syrien sollte eine sozialistische Gesellschaft aufgebaut werden. An der Spitze des Staates steht der Präsident, gewählt für eine siebenjährige Amtszeit. Gesetzgebendes Organ ist der Einkammern-Volksrat. Seit dem Tod von Hafiz al-Assad, der die Macht von 1973 bis 2000 innehatte, ist dessen Sohn Bashar al-Assad Präsident. Syrien ist ein Agrarstaat mit allmählich sich entwickelnder Industrie und verfügt über bedeutende Rohstoffressourcen. Die Bergbauindustrie spielt eine wichtige Rolle. Am besten entwickelt sind die Textil- und Verarbeitungsindustrie.

Du notierst in deinem Tagebuch:

Ankunft Damaskus. November. Ein Uhr dreißig, nachts. Mit dem Bus fahren wir direkt zum Basislager. Ich wundere mich, dass es so kalt ist. Als es hell wird, merke ich: Der Bus fährt durch die Wüste. Wir fahren an Tadmur vorbei, dem antiken Palmyra. Es gibt keine Dünen. Teilweise sehr harter Boden. Ich erwarte Probleme mit der Parametereinstellung für die Reflexionsmessung. Den Euphrat überqueren wir in Deir al-Zour. Weiter Richtung Al-Hasaka, Halbwüstengebiet. Zum Glück erweist sich unser Messgebiet als zugänglicher. Am Morgen erhalte ich die Geländekarten. Die Jungs haben ziemlich gute Arbeit geleistet.

Im Basislager Schwierigkeiten. Seit einem Monat hält man am Hafen unsere Geräte fest. Die Vibratoren haben wir abgeholt, aber auf unsere Pick-ups warten wir noch. Im Dezember regnet es. Es wird schlammig. In vielen Geländeabschnitten benutzen wir Bulldozer, um den Boden zu ebnen. Manchmal verhindern die abschüssigen Wände, ein Gestell zu errichten. Unser ortsansässiger Betreuer ist ein emeritierter Oberst. Er half uns, einen Vertragspartner für Arbeitskräfte zu engagieren, und vermittelt Gespräche mit den Beduinen. Die Menschen hier sind sehr gastfreundlich. Natürlich spricht kaum jemand Englisch. Mein Arabisch ist völlig nutzlos. Ich kann keinen Unterhaltungen folgen. Wo ich Aufschriften lese, verstehe ich sie meist nicht.

Weißt du noch?

Als die Pick-ups eintrafen, standen einige Wochen harter Arbeit an. Und ihr habt euch mit der Verwaltung vor Ort herumgeschlagen. Die Beamten wollten, dass ihr zunächst für sie nach Wasser sucht. Regnete es, hörten die Einheimischen auf zu arbeiten. Sie bewunderten eure Standhaftigkeit. Du dachtest aber, es fehlte ihnen einfach nur an Qualifikation.

Die Bedingungen im Basislager waren spartanisch, der Auftraggeber quälte euch zudem mit strengen Auflagen. Du hast eure Mülltrennung verflucht, da man im ganzen Land keinen Kunststoff zurückgeben konnte. Es schien, als ob ihr die gesammelten Wasserflaschen in die Türkei schaffen müsstet. Nur selten war Zeit, um in die Stadt zu fahren. Damaskus hast du kein einziges Mal aufgesucht.

Du schweigst.

Mit deiner Freundin lief es auch nicht gerade besonders gut. Die Internetverbindung war schlecht, Instant-Messaging funktionierte kaum. Im Januar errichtete die Oil-Eco einige Kilometer vom Basislager entfernt einen Stützpunkt. Mit eigener Satellitenverbindung. Du warst neidisch, da sie mehr Geld zur Verfügung hatten und in neuen Containern wohnten, statt wie ihr in von Chinesen abgekauften.

Arbeit, Kollegen, Ehefrau, Urlaub. Das Musterleben eines angesehenen Bürgers, wie dein Vater dir stets zu verstehen gegeben hatte. Ein echter Mann gibt niemals auf. Bei Oil-Eco hast du dir Zugang zu einer besseren Verbindung verschafft. Zu spät. Ohnehin fraglich, ob du eine Trennung hättest verhindern können. Schon vor deiner Abreise gab es Spannungen zwischen euch. Es ist vorbei, und versuch erst gar nicht, mich zu finden, hatte sie in ihrer letzten E-Mail geschrieben.

Die Frühlingshitze gab deiner Laune den Rest. Die Migräneanfälle aus deiner Kindheit kehrten zurück. Die nächtlichen Attacken waren so heftig, dass du nicht mehr schlafen konntest. Dich regten die Kinder auf. Selbst in der Wüste gab es sie überall. Neugierig, energisch, manchmal hartnäckig und grausam, wenn sie Steine nach euch warfen. Nein. Ich weiß, dass du Kinder magst. Es störte dich was anderes. Sie sprachen besser Arabisch als du. Jeder dahergelaufene Sechsjährige konnte dich zum Narren halten.

Im Basislager gab es niemanden, mit dem du hättest reden können. Du warst der Jüngste, die Kollegen behandelten dich wie einen Laufburschen. Der Leiter, fast sechzig, hatte seine junge Frau mitgenommen, die einzige Frau im Team. Jede Nacht hast du darauf gewartet, dass sie miteinander schlafen würden. Dich irritierte, dass man sie nie hören konnte.

Eines Tages lud dich der Oberst zur Hochzeit seines Neffen nach Aleppo ein. Die Feierlichkeiten fielen in deine Urlaubszeit, zu deinem größten Bedauern, hattest du doch vorgehabt, nach Hause zu fahren. Die Pracht aus Tausendundeine Nacht würde dir entgehen.

Du hattest dich mit dem Oberst angefreundet – wenn ich das so sagen darf. Abends habt ihr gern in seinem Container gesessen und Tee getrunken, während er Verse rezitierte. Du warst verwundert, dass ein Berufsoffizier so viele Gedichte kennt.

Er hat dich gelehrt, Shisha zu rauchen. Betäubt von ihrem aromatischen Duft, hast du der Poesie zugehört, als wäre es Musik. Irgendwann konntest du wieder ruhig einschlafen. Als hätte die Mutter ihren kleinen Jungen zur Nacht geküsst. So selten hatte sie das gemacht …

Al-Maarri, der Dante des Nahen Ostens, nur zweihundert Jahre früher, war für dich eine große Entdeckung. Du hattest deine Lieblingsfragmente und wolltest sie immer und immer wieder hören. Du hast einige Verse gelernt und sie wie eine Melodie gesummt. Du hast von Zenobia erfahren, der schönen Königin von Tadmur. Jener Frau, die sich den Römern zuwider Ägypten unterwarf und deren Herrschaft sich bis nach Armenien erstreckte. Besiegt und versklavt von Aurelian, erfreute sie sich dank ihrer Bildung und Schönheit großer Beliebtheit in den Salons. Für die Freiheit des Nahen Ostens eine wahrhaftige Vorreiterin!, erzählte der Oberst.

Sein Lieblingsthema bildeten die Wettkämpfe der Dichter. Zu längst vergangenen Zeiten, weit vor dem Propheten Mohammed. Vielleicht zu Lebzeiten von Zenobia? Einmal jährlich versammelten sich die Dichter in den schmalen Straßen der Stadt. Amateure und Profis standen einander gegenüber. Natürlich wimmelte es auch nur so von Betrügern. Die Menschen ließen ihre Arbeit liegen, hörten zu, stimmten ab. Wer sich langweilte, ging weg und spitzte woanders die Ohren. Im Finale traten die beiden besten Dichter gegeneinander an. Danach schien es so, als begänne die Welt noch einmal von vorn.

Du notierst in deinem Tagebuch:

Ich sehe zusammen mit unserem Geologen fern. Eine Dokumentation über neue Ölfelder macht mich wütend. Diese Öl-Deppen! Soll doch mal wer einen Film über Erdgas machen! Werbung drängt sich plötzlich auf. Ich schalte den Kasten aus. Der Geologe schnarcht auf seinem Plastikstuhl. Auf dem Tisch liegt ein Roman von Nałkowska. Ich schlage das Buch auf:

Fitek lag Tag und Nacht an der Kette; sie war um einen langen Draht geschlungen, der rechts vom Zaun von der Pforte aus, hoch über den Hof hinweg zum Schuppen auf der linken Seite gespannt war. So war der Hund gewissermaßen aufgehängt. Er kauerte entweder in seiner Hütte neben dem Holz- und Geräteschuppen oder irgendwo auf dem Steinpflaster längs der Drahtbahn, die für ihn die Lebenslinie bedeutete. Er lag zusammengerollt oder ausgestreckt auf dem Bauch oder, wenn es heiß war, auf der Seite, suchte Flöhe, kratzte sich, spähte in die Runde, schnupperte, spitzte die Ohren und legte sie wieder an. Manchmal bellte er unversehens, gleichgültig und matt, aus Gründen, die allein ihm bekannt waren, dann wieder jaulte er in gelangweiltem Bass. Anscheinend war er vollauf beschäftigt, im Grunde aber war das Leben, das er tagaus, tagein, monate-, jahrelang führte, deprimierend, einförmig und unproduktiv. Lulu, der lustige weiße Spitz, trottete manchmal auf seine Hütte zu. Dann zerging Fitek vor Seligkeit wie Butter in der Sonne, begann zu spielen, robbte wedelnd an seinen Besucher heran und bot ihm die Schnauze zum Hineinschnappen. Allzu bald wurde Lulu des Spiels überdrüssig und trollte sich. Fitek setzte ihm, seine Fessel vergessend, nach. Aber plötzlich, mit einem Ruck von der Kette hochgerissen, schnellte er auf die Hinterbeine und schlug röchelnd mit den Vorderpfoten in die Luft. Er merkte sich nie, wo seine Lebenssphäre ein Ende hatte, und war jedes Mal überrascht, an ihre Grenzen zu stoßen.

Mirek, weißt du noch? Immerhin hattest du vor Geophysik Literatur studiert! Dein Vater hatte sie dir so lange schlechtgeredet, bis du die Fächer schließlich gewechselt hast. Er war Ingenieur, er wollte, dass du in seiner Firma arbeitest. Aber du hast die humanistische Klasse besucht, hast die Literaturlehrerin geliebt. Als der Urlaub kam, hast du dich umentschieden. Anstatt in deine Heimat zurückzukehren, bist du im Land geblieben …

Nehmen wir nichts vorweg!

Erst in Akaba erinnertest du dich mehr und mehr. Da hast du angefangen zu schreiben. In deinem Tagebuch existiert die Vergangenheit nicht. Die väterliche Ordnung – Tusche und Lineal auf schneeweißer Pappe. Nur ein Klecks, Sohn, und du musst von vorne beginnen. Deine Mutter hat in dieser Sauberkeit ihr Leben vergeudet. Mein Peterchen Pan, sprach sie in Momenten der Zärtlichkeit, du und dein ewiges Jetzt. Trotz deiner dreißig Jahre hast du noch nicht einmal angefangen erwachsen zu werden.

Moment mal! Ich bin Geophysiker und kein Kind!

Ja, ja, die Jagd nach dem verlorenen Erdgas … Schon als kleiner Junge bist du auf die Suche gegangen. Erinnerst du dich an das Wettschwimmen der Stöckchen, die du und deine Freunde ins Flüsschen warfen? … In Akaba hattest du Zeit. Ist es heiß, strengt sich kein Körper unnötig an. Kriggelige Kleinbuchstaben auf der rechten Seite, Arabisch von rechts nach links, und deine, von links nach … Musst du so herumschmieren?

Hör auf! Apathisch warst du!

Auf dem Papier – schau an! Da hast du angefangen, dich selbst zu erfinden. So, wie du immer sein wolltest.

Genug! Ein Roman ist kein Eimer fürs Spülwasser der Erinnerungen!

Über die ersten Tage in Aleppo hast du notiert:

Ich habe mir Stadtpläne gekauft und studierte sie aufmerksam. Im Laufe des Tages wurde es stets heiß, obwohl der Frühling noch nicht begonnen hatte. Ich fuhr nach Ma’arrat an-Numan, einer kleinen Stadt, wo der blinde Al-Maarri geboren wurde. Abgesehen von einer kurzen Reise nach Bagdad hatte er dort sein ganzes Leben verbracht. An seinem Grab traf ich zufällig den Oberst. Es stellte sich heraus, dass er seinen Neffen besuchte, der in Aleppo heiraten wollte. Ich sagte ihm, dass ich zur Hochzeit kommen würde. Es freute ihn sehr. Doch unser Gespräch dauerte nur kurz. Ich wollte mir noch die Toten Städte ansehen. Vor Anbruch der Nacht musste ich abfahrbereit sein, um den Bus nach Aleppo zu erwischen, in Ma’arrat gab es kein Hotel.

Ich war noch mehrmals in den Toten Städten. Die von der vibrierenden Luft eingehüllten Ruinen der byzantinischen Villen, Bäder und Gotteshäuser sind voller Geheimnisse. Ich wunderte mich, dass niemand nach ihnen suchte … Geduldig entstaubte ich die Vitrinen in den leeren Museumsräumen. Doch über den handgeschriebenen Beschriftungen der Exponate tränten mir nur die Augen. Ich bekam Ausschlag im Gesicht und an meinen Händen klebte ewiger Schmutz. Die Wärter lugten nach mir, als wäre ich ein Außerirdischer.

Und es gab das Fernsehen. Das Hotelfenster hinaus in die Welt. Im Auge der Kameras erwachen verfallene Patios vor plätschernden Springbrunnen, ausgestorben daliegende Villen werden zu Oasen der Frische. Wie von Zauberhand öffnen sich Saaltüren, »Wegen Renovierung geschlossen«. Der Sprecher übersetzt zuvorkommend die Beschriftungen, die Exponate sind hervorragend beleuchtet. Die Füße auf dem Schemel, der vertraute Mief – so viel besser als die staubige Luft der Fremde …

Einmal ging ich durch eine der Toten Städte und – schau an! Da ziehen sie Kabel, tragen Lampen und Mikrophone. Die Großen Entdecker mit ihren Kameras. Kusch-kusch, fort mit euch! Scheußliche Mumifizierer. Klappert doch die Friedhöfe ab, ihr Nekrophilen, ihr!

Die vergessenen Ruinen und die Lichtspiele der Flimmerkiste auf der Kommode ließen das Fremde unerreichbar bleiben. So fing ich an, aufs Land zu fahren. Ich ließ das verfallene Kloster, wo Simeon auf seiner Säule gestanden hatte, hinter mir und widmete mich dem lebhaften Dorf in seiner Nähe. Auf römischen Brücken und Straßen meckerten mich nun Hirten an, fürsorglich, als wäre ich ein Schafskopf.

Am Ende des Urlaubs war ich dann so weit: Das Schweigen der Dinge drängte mich in die Alltäglichkeit der Menschen.

Eines Morgens wachte ich auf und begriff: Jede Geschichte verliert sich, wenn sie den Zeiten und Menschen entrissen wird, deren Erbe sie ist. Und so dankte ich den Toten Städten, dass sie sich nicht mästen ließen von dem mehrsprachigen Netz aus Tafeln, Bildschirmen und Souvenirläden.

Das einheimische Vieh, das auf die Vergangenheit pinkelt, hatte meine Wachsamkeit lange genug getäuscht. Ein Schafskopf mit Bewusstsein … das müsste man sein! Endlich begann ich, Hirten anzusprechen. Auch Museumswärter ließen sich gerne auf Gespräche ein. Und siehe da, plötzlich öffnete sich eine Pforte hin zur fremden Welt … Ich hatte mich vor meiner Abreise den Empfehlungen des nationalen Institutes für Tropenmedizin entsprechend impfen lassen. Auf dem Formular hatte ich »enge Kontakte zur lokalen Bevölkerung« sowie »Aufenthalt außerhalb von Touristenzentren« angekreuzt. Und das Wichtigste: »lokale Transportmittel und Übernachtungen«. Dafür bekommt man die meisten Spritzen.

Lebe wohl, Ordnung, sei gegrüßt, Pandora!

Nur wie …? Hitze, Shisha, mein Hotel, klirr!, Düfte, Araberinnen von makelloser Arabeskengestalt … Von wegen! Nutzlos, die Stadtpläne mit lateinischen Namen. Verschlungene Gassen fügen sich in kein rechteckiges Gradnetz, obwohl »Azimut« aus dem Arabischen stammt. Die verführerische Gestalt wollte sich meiner Figur einfach nicht anschmiegen …

Ich hatte beschlossen, mich für Arabisch einzuschreiben.

»Hör mal«, sagte der Lehrer zu mir schon in der ersten Stunde, »dieses ›bieg in der zweiten Straße links ab‹ oder ›geh hundert Meter geradeaus‹ ist allein eure Erfindung. Auf Arabisch klingt das künstlich. Warum sich überhaupt an Karten halten? Einfacher ist es mitzugehen. Ein Spaziergang in Gesellschaft ist pures Vergnügen, Beschreibungen sind unhöflich … Und gib acht, wenn du nach der Entfernung fragst. Den Weg misst man nicht, wenn man allein geht. Zehn Minuten Geselligkeit und zehn Minuten Einsamkeit – dazwischen liegen Welten.«

Ich horchte auf.

Du hast Düfte geschnuppert. Speisen geschmeckt. Kochen ist ja dein Hobby, in all deinen Lebensläufen betonst du es. Es locken die Hirten, die Duftverkäufer und Gemüsehändler auf den Suks*… Bist du bereit?

»Na, Jan! Was stehst du da so rum?« Schon wieder hatte ich Salim nicht gehört, als er an mich herantrat.

»Ich habe nachgedacht …«

»Du mit deinem Denken … Dass du dich ja nicht überarbeitest! Was hast du nur davon?«

Ich zuckte mit den Schultern.

Schweigend gingen wir an den Strand. Abends kam hier kaum jemand vorbei, obwohl der Sand die Feuchtigkeit speicherte, es kühl war und nach Meer roch. Ich mochte diesen Ort, da ihn das Durcheinander der Stadt nicht erreichte.

»Auf dein Wohl!«

Zisch! Der Schaum aus der Dose floss Salim über die Finger.

»Auf deins!«

An den Brettern eines durchlöcherten, auf seinen Rücken geworfenen Bootes zehrte das Salz. Wir setzten uns auf den Kiel und schlugen die Beine übereinander. Gemütlich war es nicht, aber trocken.

Mirek notiert in seinem Tagebuch:

Das Fleckchen Ufersand in Akaba wird »Strand« genannt. Es ist eine kleine Sandbank, eingezwängt zwischen dem mickrigen Yachthafen und den Flügeln des Wellenbrechers, die den Garten eines beliebten Restaurants flankieren. Die Stümpfe der Strandschirme rufen seinen vergangenen Glanz wach. Trockene Palmenblätter und Plastiktische sind über den Boden wie eine zerstreute Schar Kakerlaken versprenkelt. Im Westen säumt die Stadt das Ufer der Bucht, zieht sich dann nach oben gen Norden, in Richtung Amman. Die neueren Stadtteile liegen im Inneren des Landes, zwischen der alten und der neuen Route, also der Grenze mit Israel und der zweiten Gebirgskette. Die Güter- und Passagierhäfen liegen im Süden, näher zur saudischen Grenze. Dort ziehen sich auch die berühmten Korallenriffe entlang. Der Boulevard führt erst am Zentrum vorbei, das sich leicht erhöht rechts von ihm befindet, dann an den Yachten, schließlich vereint er sich mit dem Zubringer der neuen Route. Indessen beschreibt der Verlauf der Küste eine Kurve, die Luxushotels stanzen Grundstücke für ihre exklusiven Strände aus, ginge man weiter, käme man nach Eilat.

Nur, dort darf man nicht hin.

»Gutes Bier, was?« Rülps! »’tschuldigung. Ich war mal in Eilat.« Salim knackte mit den Zähnen Sonnenblumenkerne. »Es war gar nicht mal schlecht.« Ich würde es gerne so gut können wie er. »Die jüdischen Viertel sind sauber und superneu. Hast du Geld, kannst du da alles kaufen. Aber die Menschen sind nicht nett. Nicht wie bei uns … Gut, dass Akaba Freihandelszone ist. Wenigstens kann man hier trinken. Weißt du, dass dich die Polizei in Amman einbuchtet, wenn sie dich besoffen auf der Straße erwischt? Ganz Akaba müssten sie einbuchten … Ha, ha, ha! An der Grenze nerven die Israelis schrecklich. Sie haben mich vier Stunden lang kontrolliert. Idioten! Sehe ich aus wie ein Terrorist!? Jetzt fahre ich nicht mehr hin. Warst du mal da?«

»Nein«, sagte ich. »Ich fahre nach Syrien zurück. Mit einem Stempel von der israelischen Grenze im Pass würden die Syrer mich nicht reinlassen, um keinen Preis …«

»Tja … Hier, bedien dich!«

Salim hatte immer Kerne in der Tasche. Am liebsten mochte ich die gerösteten Kürbiskerne. Nur das Knacken gelang mir nicht. Jede meiner Bewegungen war irgendwie gekünstelt, während er, wann immer er mit der Hand nach den Kernen griff, etwas Schönes, keiner weiteren Vervollkommnung Bedürftiges, ins Werk setzte. Wenn der Schwirrlaut des Handelns verstummte, nahm jene Geruhsamkeit der Gebärde sichtbare Gestalt an und enthüllte eine Kultur, von der ich wusste, dass ich sie mir nie anzueignen vermochte.

»Pfuu!«, wieder die Schale zerbissen.

Ich schämte mich, vor ihm in meinen Zähnen rumzupulen.

Noch einmal: Ich schämte mich, denn meine weißen Hände waren ewig schmutzig …

»Tja … die Syrer. Ich habe mir einen neuen Pass besorgt«, fing Salim an. »In Ägypten mögen sie auch keine israelischen Stempel. Es gibt keine Vorschriften, aber sie mögen sie trotzdem nicht. In Syrien ist das wenigstens von vornherein klar … Bah! Ein vergammelter Kern!« Eine träge Welle trug die Schale fort. Das Wasser verdunstete schnell, die dünnen Salzkristallschlieren verwischten die Grenzen.

»Siehst du die Lichter dort?«, fragte Salim.

Ein schmaler Streifen Wüste, eingezwängt zwischen Akaba und Eilat, teilt die Berge Israels von den Bergen Jordaniens. Nachts wirken die israelischen Laternen, als stünden sie in den Vororten des königlichen Hafens. In jordanischen Reiseprospekten erscheinen sie wie der farbenfrohe Studiohintergrund von Fotografen aus alten Zeiten. Die schimmernde Kulisse verlockt dazu, die Bucht durchschwimmen und vom westlichen Glanz kosten zu wollen.

Doch die Bucht darf nicht durchschwommen werden. In der Wüste lauern Scharfschützen und Minenfelder. Zivilboote patrouillieren in der Bucht, ein Bunkernetz bedeckt die Gipfel. In dichten Lichtreihen fließt der Boulevard den Abhang der israelischen Anhöhe hinunter. Biegt ein Auto ab, schießen dessen Lichtbündel quer zum Hang. Immer wieder spielte ich mit den Fahrern Verstecken. Ich blickte Richtung Laternenreihen, schaute knapp an ihnen vorbei und wartete, bis seine gelblichen Lichtbündel das abbiegende Fahrzeug verrieten. Immer häufiger gewann ich: Ich überlistete das Licht der orientalischen Stadt.

»Kommst du zum Abendessen mit zu mir?«, unterbrach Salim mein Spiel.

»Nein, danke. Mach dir keine Umstände …«

»Was denn für Umstände? Zum Essen reicht’s.«

»Wohnst du bei deiner Familie?«

»Ja. Ich habe einen älteren Bruder und zwei Schwestern. Obwohl, eigentlich …«, er zögerte. Aus dem nahegelegenen Restaurant dröhnte arabische Popmusik zu uns herüber. »Zu Hause haben wir fast nichts. Ich kotze von diesem Essen! Zweimal täglich dasselbe. Hummus, Eier und Käse, von Mama zubereitet. Es tut mir leid, was anderes gibt es nicht.«

Mirek notiert in seinem Tagebuch:

Hummus muss man unbedingt mit gerösteten Pinienkernen essen, dazu Pita, sauer eingelegtes Gemüse, frische Zwiebeln und Minze.

»Köstlich! Ich liebe Hummus!«, sagte ich.

»Jeden Tag dasselbe …« Rülps! »Kannst du dir das vorstellen!?«

Im Tal nah am Meer liegt versteckt ein israelischer Flughafen. Alle paar Minuten wendet ein Flieger über dem Sinai und setzt zur Landung an. Sobald die Maschine die Bergspitzen unterflogen hat, verschwimmen ihre Scheinwerfer mit dem Hintergrund der städtischen Lichter. Das Flugzeug verschwindet. Jedes Mal hatte ich Angst vor einer Katastrophe.

»Hast du Lubov deinen Eltern vorgestellt?«

Erst nach der Landung war ich beruhigt.

»Nein … Sie mögen nicht, was ich so mache. Dass ich mich mit Touristen rumtreibe. Immerhin gibt’s so ein bisschen Kohle! Aber ich rede mit ihnen nicht darüber. Lubov wäre für sie wie jede andere. Warte, ich hole uns noch ein Bier aus dem Laden. Hast du Kleingeld?«

»Hier. Kauf vier!«

Über die ersten Tage in Aleppo hast du notiert:

Trotz des Staubes las ich damals viel: Poesie, Romane, Sachbücher – alles, was mir in die Hände kam. Die Bibliothek des Konsuls, das Kulturinstitut, die Universität … Wochenlang habe ich nichts anderes unternommen. Ich hatte das Gefühl, wieder in der Schule zu sein.

Tatsächlich, auf Reisen über die Fremde zu lesen ist ein wenig wie onanieren. Mäßige Anstrengung ohne emotionales Risiko. Ermüdet die Hand, kann man einen Moment warten und wieder ansetzen.

Aller Erwartung zum Trotz, war es hier nicht leicht, Bekanntschaften zu schließen. Der Anfang schien einfach: Neugier als Vorwand, den weißen Exoten ansprechen zu können.

»Hallo, mein Freund! Wie heißt du?«

»Soundso.«

»Oh, das ist sehr schön! Und woher kommst du?«

»Daunddaher.«

»Oh, also von weit her! Und wie lange bist du hier?«

»Soundsolang.«

»Oh, so lang! Und was hast du gesehen?«

»Dasunddas.«

»Oh, das ist viel! Hat es dir gefallen?«

»Sehrsehr!«

»Oh, das ist toll! Hast du eine Frau?«

»??«

»Ey, warum hast du denn keine? Brauchst du etwa Hilfe …?«

Weißt du noch?

Eine Reise ist wie verliebte Euphorie, und wie enttäuschte Liebe erschüttert sie. Verzückung und Demütigung sind dabei wie zwei Kugelhälften, zerrissen vom zornigen Zeus. Und trotzdem … Man versucht es immer wieder. Auf eigene Faust. Verzeihung, die Hände kommen später ins Spiel. Das war Kerims Idee.

Die Höflichkeit der Passanten war nicht bedeutsamer als das Plätschern des Springbrunnens im Fernseher. Das aufgesetzte Vergnügen erschöpft sich zwischen dem Titel und der stets zu schnell abgespulten Gehaltsliste im Abspann. Gemeinsam kann man ein wenig spazieren gehen, und dann auf Nimmerwiedersehen!

Hören, Schnuppern und Schmecken … In Aleppo warst du von Männern umgeben. Portiers, Köche, Taxifahrer und Busfahrer. Hirten, Verkäufer, Kellner und Wärter. Wie ein Schwarm Fliegen zogen sie aufdringlich hinter deinem verschwitzten Körper her.

Weißt du noch?

In den Taxen: Du siehst gut aus, du gefällst mir! Danke, das ist rührend, aber ich gehe zu Fuß weiter. In den Umkleiden: Schwer ist es, allein zu reisen, ohne Freundin, stimmt’s? Ich komme schon irgendwie klar, lass mich bitte zur Tür raus.