SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7402-2 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5827-5 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© der deutschen Ausgabe 2018
SCM Verlagsgruppe GmbH · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de
Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben,
folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: shutterstock.com
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Über die Autorin
Dank
Über dieses Buch
I. Grundsätzliche Gedanken zum Thema Hochsensibilität
Hochsensibilität – eine inflationäre Zeiterscheinung?
Was ist Hochsensibilität?
Merkmale hochsensibler Menschen
Sensation Seeking
II. Hochsensible Eigenschaften
Die 7 Gaben hochsensibler Menschen nach Ulrike Hensel
Gerechtigkeitsempfinden
Das Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung
Perfektionismus
Ablenkbar und strukturiert?
Selbstregulation
Fazit
III. Berufseinstieg
Der Berufsstart
Ein Wort an die Eltern von hochsensiblen Jugendlichen
IV. Berufsleben
Kurze Geschichte der Arbeit
Die Suche nach dem Sinn
Berufsfelder aus der hochsensiblen Perspektive betrachtet
Hochsensible Unternehmenskultur
Selbstständig oder angestellt?
Teamwork
Die Balance halten
Überreizung und Langeweile
Burn-out und Mobbing – eine Gefährdung speziell für Hochsensible?
V. Hochsensibles Potenzial entfalten
Was bedeutet Potenzialentfaltung?
Der Selbstwert und die Hochsensibilität
Die große Kraft der Selbstwirksamkeit und ihrer Erwartungen
Epilog
Anhang
Fragebogen nach Elaine Aron
Fragenkatalog nach Ulrike Hensel (in Auszügen)
Fragebogen »Sind Sie ein Sensation Seeker?« (nach Elaine Aron)
Literaturempfehlungen
Internetseiten zum Thema
Anmerkungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Ein Buch zu schreiben, ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Über Monate, manchmal sogar Jahre hinweg taucht man tief in ein Thema ein. Es scheint so, als würde man alles, was einem begegnet, alles, was geschieht, in Zusammenhang mit diesem Thema sehen. So habe ich in der Zeit, als ich an diesem Buch gearbeitet habe, alles aufgesaugt, worin ich eine Verbindung zum Thema Hochsensible im Beruf gesehen habe. Ich befürchte, als Autorin ist man in dieser Zeit und während des Schreibens kein netter Mensch. Umso dankbarer bin ich all denen, die mir durch ihre Nachrichten, ihre Präsenz, ihre Anteilnahme, ihre Ermutigungen und ihre Unterstützung beigestanden haben. Namentlich sind dies: Tom Falkenstein, Melanie Santa Vita, Doris Wehrli, Judith Buchter, Sabine Sothmann und Susann Held.
Ein Buch ist immer ein Gemeinschaftswerk. So gilt mein Dank auch den Mitarbeitenden von SCM Hänssler, allen voran dem Verlagsleiter Hans-Werner Durau und den Lektoren Marcus Beier und Christiane Kathmann.
Daneben bin ich nicht zuletzt allen meinen Klientinnen und Klienten sehr dankbar, die mir einen Einblick in ihr hochsensibles Berufs- und Arbeitsleben gewährt haben.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Die Verbindung der Themen Hochsensibilität und Beruf ist äußerst komplex. Vielleicht ist dies mit ein Grund, warum die Pionierin der Hochsensibilitätsforschung, Elaine Aron, sich bis jetzt erfolgreich dagegen gewehrt hat, ein Buch zum Thema Beruf zu veröffentlichen. Ich habe die Herausforderung dennoch angenommen und mich intensiv damit beschäftigt, was es heißt, hochsensibel zu sein und im Berufsleben zu stehen. Dabei sind mir neben meinen eigenen Erfahrungen vor allem die meiner Klientinnen und Klienten ein Leitfaden gewesen.
Wenn wir davon ausgehen, dass menschliches Zusammenleben und -arbeiten immer auch vom Aufeinandertreffen verschiedener Temperamente und Persönlichkeitsstile geprägt ist, dann ist es außerdem wichtig, dass wir uns Gedanken darüber machen, wie die Berufs- und Arbeitswelt der Zukunft gestaltet werden muss, damit Hochsensible und Normalsensible in gegenseitiger Toleranz und Wertschätzung produktiv, innovativ und gestaltend wirken können.
Das Zusammenwirken verschiedener Temperamente begegnet uns in jedem Lebensbereich, ob in Familie, Kindergarten und Schule, im Sportverein oder eben im Beruf. Wie Kagan und Snidman in ihrem Buch »The Long Shadow of Temperament« feststellen, gibt es in jedem Menschen Persönlichkeitsanteile, welche stabil und überdauernd sind und sich wie ein roter Faden durch das Leben ziehen.1 Deshalb werden wir meistens so leben, wie wir arbeiten, und es ist nicht unbedingt erforderlich, das eine vom anderen zu trennen. In diesem Buch liegt der Fokus zwar auf der beruflichen Seite, aber meine Ausführungen und Gedanken, Tipps und Hilfestellungen können für andere Lebensbereiche ebenfalls nützlich sein.
Laut neuerer Forschung hat beinahe jeder Fünfte eine hochsensible Veranlagung. Bei dieser Verteilung liegt es auf der Hand, dass es sinnvoll ist, sich mit dem Thema Hochsensibilität zu beschäftigen, da es in jedem Unternehmen, jeder Schulklasse, jedem Verein, jedem Gremium und jeder Organisation hochsensible Menschen geben dürfte.
Weil hochsensible Menschen innere und äußere Reize sehr stark wahrnehmen, empfinden sie Missstimmungen besonders stark. Daher favorisieren sie oft eine ganzheitliche Sichtweise. Sie machen sich viele Gedanken und haben einen hohen ethisch-moralischen Anspruch an den Umgang miteinander.
In meinen Beratungen begegnen mir oft Menschen, für die berufliche Fragen im Vordergrund stehen. Ob sie sich in der Berufsfindung, der Neuorientierung, der Stellensuche oder kurz vor der Pensionierung befinden, immer ist berufliche Orientierung zentral und trägt wesentlich zum Wohlbefinden der Betroffenen bei. Wir verbringen bei einer Vollzeittätigkeit an Werktagen etwa 60 bis 70 Prozent unserer wachen Zeit am Arbeitsplatz. Deshalb überrascht es nicht, dass wir uns dort wohlfühlen möchten. Es ist schlichtweg zu viel Lebenszeit, um sie unglücklich, frustriert oder krank zu verbringen.
Allerdings wird dieses Wohlbefinden oft stark beeinträchtigt. Mancher übt einen ungeliebten Beruf aus oder sieht in seiner Tätigkeit keinen Sinn. Andere fühlen sich von Vorgesetzten oder Kollegen herabgesetzt, nicht wertgeschätzt und kontrolliert. Einige Menschen strengen sich mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte immens an, um den Anforderungen zu genügen, und sind nun müde und ausgelaugt. Andere wiederum sind ihren Interessen gefolgt und haben sogenannte berufliche Nischen gefunden, die sie zwar gern ausfüllen, die aber nicht ihren Lebensunterhalt sichern.
Vielleicht stellen Sie sich Fragen wie die folgenden:
»Irgendwie fühle ich mich in letzter Zeit unzufrieden – habe ich wirklich den richtigen Beruf?«
»Ich komme mit dem Chef und den Kollegen nicht zurecht – wieder einmal. Was soll ich tun?«
»Die Struktur im Angestelltenverhältnis engt mich ein – sollte ich mich vielleicht lieber selbstständig machen?«
»Ich habe nun so viele Aus- und Weiterbildungen gemacht, aber was soll ich damit anfangen?«
»Irgendwie habe ich das Gefühl, beruflich auf keinen grünen Zweig zu kommen. Wie kann ich das ändern?«
Die Berufs- und Arbeitswelt unterliegt einem stetigen Wandel. Zurzeit sind zwei Tendenzen zu beobachten:
Die eine Tendenz geht in die Richtung des Bewahrens und Erhaltens. Damit sind alle die Merkmale gemeint, welche auf Traditionalität, wirtschaftliches Wachstum im Sinne von Gewinnmaximierung und hierarchische Strukturen setzen.
Die zweite Tendenz zielt eher auf Partnerschaftlichkeit, Innovation, Stärken- und Ressourcenorientierung bei der Rekrutierung, Stellenbesetzung und im Führungsverhalten.
Besonders hochsensible Menschen fühlen sich eher in einem Unternehmen, welches die zweite Variante bevorzugt, wohl. Aber auch normalsensible Menschen reagieren positiv auf diese Möglichkeit. Grundsätzlich gilt: Was hochsensiblen Menschen guttut, davon profitieren alle Menschen, ob hochsensibel oder nicht. Oft haben Hochsensible eine Art Frühwarnfunktion und können daher als Erste auf ungünstige Entwicklungen oder Rahmenbedingungen aufmerksam machen.
Es geht mir aber nicht darum, eine Weltsicht durch die andere ablösen zu wollen oder nur die zweite Tendenz als die »Heil bringende« anzupreisen, sondern um ein Miteinander, um eine »Winwin-Situation«, von der alle profitieren, und um Wertschätzung auch den gewachsenen traditionellen Strukturen gegenüber.
Ruth Cohn, eine bekannte deutsche Psychologin, hat es einmal so ausgedrückt: »Kommunikation ist die einzige Brücke von Insel zu Insel.« Wir sollten uns bewusst sein, dass Hochsensible und Normalsensible jeweils in ihrer eigenen Welt leben. Bei aller Anstrengung, die andere Welt zu betreten, zu entdecken und zu verstehen, wird man niemals ein Teil dieser Welt werden. Es ist wie bei einer Urlaubsreise in ein exotisches Land, zum Beispiel Thailand, Marokko oder Argentinien. Wenn Sie für ein paar Wochen dorthin reisen, können Sie einen Eindruck von Land und Leuten gewinnen, aber Sie werden nicht wirklich dazugehören. Sie könnten sich entscheiden, ein ganzes Jahr dort zu verbringen, und Sie würden immer mehr verstehen, aber Sie wären trotzdem anders. Doch im Gegensatz zu exotischen Ländern, in die man auch auswandern kann, ist ein Wechsel bezüglich der Sensibilität nicht möglich.
Berufliche Themen, wie der Arbeitsplatz als Selbstständiger oder Angestellter, die Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen, der Umgang mit Vorgesetzten, Kollegen und Kunden, der Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit, beschäftigen fast alle Menschen. Sind sie überdies hochsensibel, besetzen diese Themen Verstand und Gefühl manchmal derart stark, dass ständig ein Teil ihrer Aufmerksamkeit damit beschäftigt ist.
In diesem Buch möchte ich aufzeigen, welche Mechanismen bei hochsensiblen Menschen im Beruf- und Arbeitsleben wirksam sind, und damit zum besseren Verständnis der hochsensiblen Veranlagung beitragen. Außerdem möchte ich Ihnen helfen, Wege zu finden, wie es möglich ist, trotz oder gerade wegen Hochsensibilität ein erfülltes Berufsleben zu führen. Deshalb finden Sie am Ende der meisten Kapitel und Abschnitte Fragen. Diese sind als Anregungen zu verstehen und nicht als ein Muss. Wenn Sie sich mit ihnen beschäftigen, werden Sie sich selbst besser kennenlernen und dadurch mehr verstehen, wie Sie als hochsensibler Mensch funktionieren.
Mir ist es ebenfalls wichtig, Ihnen Werkzeuge an die Hand zu geben, anhand derer Sie sich selbst, Ihre Kollegen oder Vorgesetzten besser verstehen können. Dazu stelle ich verschiedene Modelle und Theorien vor, welche die Hintergründe des menschlichen Verhaltens erklären. Ich hoffe, dass Sie dadurch einen Wegweiser für Ihre berufliche und private Zukunft bekommen.
Verstehen und Bewusstsein sind für mich die Grundlagen zu einer größeren Sicherheit und die Bausteine für jegliche Veränderung.
Dieses Buch richtet sich an gesunde Hochsensible. Viele hochsensible Menschen stoßen erst auf das Thema Hochsensibilität, wenn das hochsensiblen-ungerechte Leben bereits seinen Tribut fordert und sich Krankheiten, körperliche Schwächen oder Resignation breitgemacht haben. Dann gibt es natürlich ebenfalls Möglichkeiten, dem zu begegnen, aber dafür greifen die Anregungen in diesem Buch möglicherweise zu kurz und es ist eine Beratung oder Therapie notwendig. Das ist kein Zeichen von Schwäche. Meiner Ansicht nach sollte jeder Mensch ab und zu Therapie oder Beratung in Anspruch nehmen und es sich wert sein, diese Zeit und das Geld für eine gesündere und zufriedenere Zukunft im Einklang mit der eigenen Veranlagung zu investieren.
Meine eigene wechselvolle und vielseitige Berufsbiografie hat mir gezeigt, dass auch in der Mitte des Lebens oder darüber hinaus noch Korrekturen möglich sind, oftmals gerade erst durch die verschiedenen Erfahrungen der Vergangenheit.
Es ist mir ein großes Anliegen, Sie mit diesem Buch ein Stück auf Ihrem individuellen Weg zu begleiten.
Brigitte Schorr
Im Herbst 2017
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I. Grundsätzliche Gedanken zum Thema Hochsensibilität |
In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass das Thema Hochsensibilität in der Öffentlichkeit angekommen ist. Es vergeht kaum ein Monat, in dem nicht eine neue Veröffentlichung zum Thema erscheint, sei es in Buchform, als Artikel in einer Zeitung oder Zeitschrift oder sogar als Beitrag im Radio oder Fernsehen.
Grundsätzlich begrüße ich es, dass dem Thema seit einiger Zeit so viel Aufmerksamkeit zuteilwird. Gleichzeitig besteht dabei aber die Gefahr, dass die Vorstellung davon, was hochsensibel ist, einseitig geprägt wird und dadurch mit dem Begriff hochsensibel das Bild einer nicht belastbaren, instabilen Persönlichkeit verbunden wird. Hochsensible Menschen sind nicht nur »zart besaitet« oder empfindlich, sie haben ebenfalls eine sehr starke Seite. Jemand, der tagtäglich mit vielen Reizen unterschiedlichster Art umgehen muss, alles stark wahrnimmt und trotzdem das Leben meistert, muss grundsätzlich auch widerstandsfähig sein.
Berichterstattungen, welche nur die fragile Seite der Hochsensibilität betonen, sind ungenau und verfälschend. Tom Falkenstein schreibt in seinem Buch »Hochsensible Männer«2, dass die feine Wahrnehmungsfähigkeit ein Schutz vor negativen Erfahrungen sein kann, weil man eine Art Warnsystem in sich trägt, welches Unstimmigkeiten frühzeitig meldet.
Doch es gibt ebenso viele positive Berichte und es trifft wohl einen Nerv der Zeit, sich mit der sensibleren Art, im Leben zu stehen, auseinanderzusetzen. Immer mehr Menschen entdecken sich als hochsensibel, besuchen Seminare und Workshops zum Thema und lassen sich in Coachings oder Therapien zu einem besseren Umgang mit ihrer Veranlagung anleiten und begleiten. Demzufolge wächst die Anzahl derer, die zum Thema Hochsensibilität etwas zu sagen haben. Fast unüberschaubar scheint die Fülle an mehr oder weniger seriösen Angeboten. Jedes verspricht, mit eigens entwickelten Methoden und Konzepten der Reizüberflutung Herr zu werden. Wenn man die Webseiten und Plakate eingehender studiert, fällt auf, dass es unterschiedliche Haltungen hinter den Angeboten gibt. Die einen versprechen durch Energiearbeit mehr Kraft und Leistung, die anderen durch Abgrenzungsübungen mehr Schutz vor Reizüberflutung, die Nächsten erheben gar den Anspruch, durch einschlägige Therapien Hochsensibilität »heilen« zu können. Jeder scheint sein eigenes Heil bringendes Süppchen zu kochen.
Ich bin zwar der Meinung, dass es nicht den einen Königsweg gibt, beobachte diese Fülle an Maßnahmen aber doch mit Sorge. Hochsensible Menschen erleben momentan nicht nur durch ihre Veranlagung selbst, sondern auch durch gezieltes Marketing einiger sich durchaus widersprechender Anbieter eine große Verunsicherung. An dieser Stelle möchte ich Sie deshalb dazu einladen, genauer zu recherchieren und das Weltbild sowie die Grundhaltung des Anbieters zu erforschen, wenn Sie Veranstaltungen zum Thema besuchen oder eine Beratung oder Therapie in Anspruch nehmen möchten. Es nützt wenig, wenn Sie der Meinung sind, dass es sich um eine angeborene Veranlagung handelt, Ihr Coach diese aber »heilen« will, damit Sie besser ins System passen.
Deshalb ist es mir wichtig, meine Haltung zu erläutern, bevor ich Sie auf die Reise in die hochsensible Berufswelt mitnehme.
Die berufliche Situation ist oft ein Ausdruck davon, wie der Mensch insgesamt im Leben steht. Gemäß dem bekannten Zitat von Viktor Frankl: »Ich muss mir von mir selbst nicht alles gefallen lassen«, sollten hochsensible Menschen nicht alles hinnehmen, was mit ihrer Veranlagung verbunden ist. Gleichzeitig ist es wichtig, sich grundsätzlich die Frage zu stellen, welchen Sinn es haben könnte, dass man hochsensibel ist. Ich denke, wenn es so viele hochsensible Menschen gibt (etwa 15 % bis 20 % der Bevölkerung), muss dies einen Grund haben. Ich bin wie Gerald Hüther, der bekannte deutsche Neurowissenschaftler, der Meinung, dass Eigenschaften in einer Gesellschaft immer dann sichtbar werden, wenn die Gesellschaft diese benötigt.3 Wenn man sich in der Welt umschaut, dann braucht es dringend selbstbewusste Hochsensible in wichtigen Positionen, um ein Gegengewicht zu den kämpferischen und wettbewerbsorientierten Kräften zu bilden. Ich möchte damit nicht sagen, dass Hochsensible so etwas wie die besseren Menschen wären, meines Erachtens sind beide Qualitäten wichtig: das Nachdenkliche, Tiefgründige und Vorausschauende, aber auch das Handelnde, Vorwärtsstrebende und Zielbewusste. Damit beides zur Entfaltung kommen kann, sind Selbstbewusstsein und Toleranz auf beiden Seiten notwendig.
Um aber selbstbewusst und hochsensibel zugleich zu sein, braucht es mitunter Persönlichkeitsentwicklung.
Die meisten hochsensiblen Menschen, die ich kenne, haben in ihrem Leben schon früh die Erfahrung gemacht, dass es nicht gut oder sogar unerwünscht ist, so sensibel zu sein. Auch wohlmeinende Eltern beobachten die Sensibilität ihres Kindes oftmals mit Sorge. Sie fragen sich, ob es in Kindergarten und Schule, später dann im Berufsleben seinen Platz finden wird. Vorstellungen von Sensibilität als Schwäche sind noch zu sehr verankert, als dass man sich vorbehaltlos über diese Veranlagung freuen könnte. Hochsensible Kinder nehmen die Sorgen und Befürchtungen ihrer Eltern wahr, selbst wenn diese nicht ausgesprochen werden. Wenn man merkt, dass man anders sein sollte, als man ist, und doch nicht weniger empfinden und wahrnehmen kann, schafft dies Verunsicherung. Diese Verunsicherung führt letztlich dazu, dass viele Hochsensible eine Brüchigkeit in ihrem Selbstbewusstsein erleben. Untersuchungen haben gezeigt, dass hochsensible Menschen besonders stark von einem liebevollen und förderlichen Umfeld profitieren.4 Die Veranlagung der Hochsensibilität bedeutet also nicht automatisch, dass man Schwierigkeiten haben wird.
Wenn eine große Verunsicherung vorhanden ist, ist es aber wichtig, sich so weiterzuentwickeln, dass die Hochsensibilität als Stärke wahrgenommen wird und nutzbringend in die gesamte Persönlichkeit integriert werden kann. Das mag ein längerer oder kürzerer Weg sein, je nachdem, wie der biografische Erfahrungshintergrund aussieht. Die menschliche Persönlichkeit entwickelt sich ständig, ob wir es wollen oder nicht. Jede Erfahrung, jede Begegnung schafft eine Resonanz, aus der sich die Persönlichkeit bildet. Temperamentsmerkmale, zu denen auch die Veranlagung der Hochsensibilität gehört, korrespondieren mit Erfahrungen aus der Umwelt. So bildet sich mit der Zeit ein höchst individuelles Muster an Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen. Als Erwachsener hat jeder Mensch die Möglichkeit, sich selbst so zu formen, dass es zu einer sogenannten Performance der Persönlichkeit kommt, das heißt zu einem günstigen Zusammenspiel aller Merkmale. Ich hoffe, dass Sie in diesem Buch einige Impulse dazu bekommen werden.
Ich bin überzeugt davon, dass hochsensible Menschen ihren stimmigen Platz im Leben finden können, privat wie beruflich, dass es aber dafür den persönlichen Einsatz von Verstand, Seele und Körper braucht und nicht dem Zufall überlassen werden sollte, wie sich die hochsensible Veranlagung aufgrund der Lebensereignisse entwickelt. Eine Persönlichkeit besteht natürlich aus mehr als einer Veranlagung, die Hochsensibilität ist nur ein Teil davon. Daher ist es wichtig, sie als einen Teil der Person zu behandeln und nicht als das Ganze zu sehen.
Wenn wir etwas zu wichtig nehmen, dann wird es größer, allein durch die Aufmerksamkeit, die ihm gewidmet wird. Sie kennen das sicher: Ein Kind fällt hin, es gibt einen kurzen Schmerz im Knie, es erschrickt und fängt an zu weinen, die Eltern kommen gelaufen, heben es hoch, trösten und verbringen vielleicht mehr Zeit als nötig damit. Vielleicht gibt es sogar noch ein Eis obendrauf. Dabei ist der Schmerz gar nicht so groß gewesen, aber das Kind merkt, dass es wohl etwas Großes gewesen sein muss, was ihm zugestoßen ist, sonst würden sich die Eltern doch nicht so bemühen.
So ist es mit der hochsensiblen Veranlagung auch. Es ist wichtig, sie zu erkennen und wertzuschätzen, sie ernst zu nehmen, aber man kann das Ganze auch zu groß machen und infolgedessen nur noch aus der Hochsensibilität bestehen. Zweifellos ist dieser Wesenszug dominant und zieht sich durch alle Bereiche des Lebens. Dennoch sollten wir ihm den Platz zuweisen, der ihm gebührt, und ihn nicht überhöhen. Im Umgang mit der hochsensiblen Veranlagung gibt es ein paar Dinge zu berücksichtigen, das ist alles.
Das Thema Hochsensibilität wird sehr kontrovers diskutiert. Teilweise liegt das vermutlich daran, dass es von Hochsensiblen ungünstig dargestellt und transportiert wird. Die Art und Weise, wie Hochsensible sich in ihrer Überstimulation und Reizüberflutung präsentieren, dient nicht gerade dazu, andere Menschen von den Stärken dieser Veranlagung zu überzeugen.
Die Zunahme und die Verschiedenartigkeit der Angebote zum Thema Hochsensibilität scheint mir kein Zufall zu sein, sondern mit der gesellschaftlichen Entwicklung zusammenzuhängen. Der Druck von außen wird immer größer, die Menschen sollen immer bessere Leistungen in immer kürzerer Zeit erbringen, Multitasking und Großraumbüros sind an der Tagesordnung, Unternehmen stehen unter großem Konkurrenzdruck und in Zeiten von E-Mails und WhatsApp wird, kurz nachdem eine Nachricht verschickt wurde, eine Antwort erwartet. Durch diese Geschehnisse wird der Organismus des Menschen darauf trainiert, schnell zu sein und Schnelligkeit zu erwarten. Deshalb kommt es vor, dass Menschen auch in einer Beratung oder Therapie Schnelligkeit voraussetzen. Es ist ihnen meistens nicht bewusst, dass sie sich mit dem gewünschten Tempo im Grunde ständig überfordern. Das gilt übrigens ebenso für normalsensible Menschen, nur können diese länger Schritt halten. Ich habe manchmal den Eindruck, dass Klientinnen und Klienten innerhalb einer Stunde die Lösung für ihr Problem bekommen wollen. Wenige sind bereit, sich auf den mitunter längeren und nachhaltigeren Prozess der Persönlichkeitsentwicklung einzulassen. Dies ist aber unerlässlich, um das eigene Wesen nachhaltig zu formen, sodass alles, was sie als Persönlichkeit ausmacht, zur Entfaltung kommen kann – und die Hochsensibilität ist ein Teil davon.
Es mag überraschend und ungewohnt sein, in der Beratung oder Therapie eine langsamere Gangart vorzufinden, aber mit der Zeit merken die Klientinnen und Klienten, dass dieses Tempo ihnen eher entspricht und dass durch die Entschleunigung in den Sitzungen mehr Tiefe, Bewusstsein und Integration von bislang vernachlässigten Persönlichkeitsanteilen in die Gesamtpersönlichkeit erreicht wird als durch oberflächliche Symptombekämpfung.
Ich lade Sie daher ein, dem nachhaltigen und längeren, aber auch spannenden Weg der Persönlichkeitsformung zu folgen, und hoffe sehr, Ihnen mit diesem Buch Anregungen und Impulse dazu zu geben.
Zu diesem Weg gehören meiner Ansicht nach folgende vier Ebenen:
• Kognition: Kognition umfasst Verstand und Wissen. Deshalb erkläre ich verschiedene Theorien und Modelle, denn der Verstand ist ein Kanal, über den wir wahrnehmen, und wenn wir etwas verstehen, ergeben sich Sinnhaftigkeit und Bewusstsein.
• Seele: Im psychologischen Zusammenhang meint dies die Gesamtheit aller Gefühlsregungen beim Menschen. Ich komme deshalb immer wieder auf die emotionalen Äußerungen, deren Entstehung und Veränderung zu sprechen.
• Geist: Dies meint hier den Ausdruck der Belebtheit, des Atmens, zu trennen von der reinen Kognition als Begreifen und Verstehen. Hierbei wird die spirituelle Komponente des Menschseins erfasst. Darum lasse ich immer wieder einmal religiöse und philosophische Gedanken und Zitate einfließen. Schon C.G. Jung bezeichnet den Geist als das »essenziell Belebte und Belebende«.5
• Körper: Der materielle Teil des Menschen, der genährt sein will, genügend Regenerationszeit benötigt und seine eigenen Bedürfnisse hat. Der Körper reagiert oft unmittelbar auf Unstimmigkeiten, ein falsches Tempo oder eine ungünstige Situation. Zu lernen, auf den Körper und seine Signale zu achten, ist oft der Schlüssel zum besseren Verständnis der eigenen Person. Darum werde ich Sie immer wieder einladen, sich in Ihrer körperlichen Wahrnehmung zu schulen.
Diese vier Ebenen sind jederzeit aktiv – in jedem Menschen. Aufgrund der persönlichen Entwicklung ist aber vielleicht die eine oder andere Ebene unterschiedlich stark ausgeprägt: Bei den einen ist es der Verstand, bei den anderen sind es die Emotionen und bei den Dritten die Körperlichkeit. Es handelt sich bei diesen Ebenen um Kanäle, durch die wir wahrnehmen und empfinden und die bei jedem Menschen unterschiedlich gewichtet sind. Das ist einer der Gründe dafür, dass es nur wenige Methoden gibt, die für alle Menschen gleich wirkungsvoll sind. Deshalb versuche ich, Ihnen einen Blumenstrauß an Möglichkeiten anzubieten, und ich lade Sie ein, eigenverantwortlich diejenigen auszuwählen, die für Sie Sinn ergeben.
Menschen, die durch ihre erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit mehr zu verarbeiten haben, stellen bald fest, dass sie der Schnelligkeit und dem Druck nicht standhalten können oder wollen. Das liegt meines Erachtens nicht daran, dass sie von Natur aus langsamer wären, sondern eher daran, dass sie andere Wertmaßstäbe und eine andere Einstellung zum privaten und beruflichen Leben haben. Die Gefahr ist allerdings groß, dass sie das Gefühl haben, sie sollten »schneller gemacht« werden. Sich anzupassen ohne Rücksicht auf die eigenen Grenzen, sind Hochsensible oft von Kindheit an gewohnt. Es ist also nicht verwunderlich, dass sie auch im Erwachsenenalter, mittlerweile berufstätig, mit allen Mitteln versuchen, den Anforderungen und Erwartungen gerecht zu werden, und damit regelmäßig und konstant die eigenen Belastungsgrenzen überschreiten.
So werden im Zuge der oben skizzierten gesellschaftlichen Entwicklung die Stimmen derjenigen lauter, die ein Umdenken fordern und eine andere Art, zu leben und zu arbeiten, anstreben. Darunter dürften sich viele Hochsensible befinden, weil sie meiner Beobachtung nach oft über ein hohes Maß an ethischen Vorstellungen verfügen. Sie haben meistens ein genaues Bild davon, wie Menschen miteinander umgehen sollten, und Ideen, wie man die Welt verbessern könnte. Doch dazu später mehr.
Die zahlreichen Publikationen zum Thema Hochsensibilität haben quasi eine Gegenbewegung hervorgebracht, deren Haltung ausgesprochen skeptisch gegenüber dieser Veranlagung ist. Es gibt nicht wenige Menschen, die der Meinung sind, es handele sich um eine Modeerscheinung und um eine neue »Schublade«, in die alle Personen gehören, die nicht leistungsbereit sind und eine hohe Empfindlichkeit als Entschuldigung und als Ausrede für eine Verweigerungshaltung benutzen.
Doch was sind eigentlich Schubladen? Dieser Begriff ist in der Regel, wenn es um menschliche Eigenschaften geht, negativ besetzt. Dabei haben Sie in Ihrem Haushalt sicherlich einige Schubladen, ohne die der Alltag schwerer zu bewältigen wäre. Stellen Sie sich nur einmal vor, in Ihrer Küche gäbe es keine Schubladen. Innerhalb eines Tages würde wahrscheinlich das Chaos ausbrechen und Sie würden nichts mehr finden und viel Zeit mit der Suche nach Dingen, die Sie zum Kochen benötigen, verbringen. Schubladen sind also zunächst einmal Ordnungssysteme. Und als solche haben sie ihre Berechtigung. Um bei dem Bild der Küche zu bleiben: Es gibt Schubladen für Besteck, für Töpfe und Pfannen und für Gewürze. Viele Haushalte besitzen eine sogenannte »Krimskrams-Schublade«, wo alles verstaut wird, was nicht in die anderen Schubladen gehört und auf den ersten Blick nicht zugeordnet werden kann. Ohne diese Ordnungssysteme wäre das Leben in manchen Bereichen schwieriger. Ebenso ist es mit den Begriffen für menschliches Verhalten. Betrachten wir die Bezeichnung »Hochsensibilität« einfach als Ordnungssystem, in welchem Verhaltensweisen und Eigenschaften »eingeräumt« werden können. Ordnung macht das Leben leichter. Viele Menschen spüren als Erstes eine große Erleichterung, wenn sie merken, dass es für die Art, wie sie sind, eine Bezeichnung gibt. Es ergibt also durchaus Sinn, so eine Schublade zu haben.
Auf der anderen Seite genügt es aber nicht, eine Schublade mit der Aufschrift »Hochsensibilität« zu haben und dort alles zu versorgen, was nirgendwo anders hinpasst. Eine »Krimskrams-Schublade« muss mitunter aufgeräumt werden. Und da beginnt die Arbeit. Von Zeit zu Zeit sollte dieses Ordnungssystem auf seinen Inhalt überprüft werden. Kann vielleicht doch etwas davon in andere Bereiche verräumt werden? Oder gehört vielleicht sogar etwas gänzlich entsorgt? Auch die Veranlagung der Hochsensibilität unterliegt einer Dynamik und verändert sich im Laufe eines Lebens. Es ist hilfreich zu wissen, dass man hochsensibel ist, aber die Arbeit besteht darin, sich nicht damit zufriedenzugeben oder gar darauf auszuruhen, sondern um der eigenen Entwicklung willen ständig so damit umzugehen, dass die bestmögliche Performance entsteht, das heißt, das effektive und günstige Zusammenspiel aller Wesenszüge und Eigenschaften eines Menschen.
Also: Begrüßen wir die Schubladen als Ordnungssysteme, welche die Arbeit erleichtern, aber uns nicht die Arbeit des Aufräumens und Organisierens abnehmen.
Ähnlich verhält es sich mit den Moden. Die Modenschauen in Paris und London zeigen der Öffentlichkeit, was in dieser Saison angesagt ist. Manche Menschen kleiden sich nach der neuesten Mode, andere tun dies bewusst nicht. Kataloge und Geschäfte bieten komplette Outfits an, um den Nutzern sogar die Arbeit des Zusammenstellens zu ersparen. In manchen Jahren sind Rosé-Töne aktuell, in anderen eher schwarz-weiße Muster, dann wieder bestimmte Silhouetten-Formen, man denke nur an die unsäglichen Schulterpolster der 1970er-Jahre. Mode bietet Beispiele an, wie man sich präsentieren kann. Das gilt für Männer und Frauen gleichermaßen. Man kann sich dem Modediktat unterwerfen oder sich verweigern, ganz nach Belieben. Aber eigentlich kreiert die Mode nichts wirklich Neues. Die Farben, die in einer Saison aktuell sind, gab es schon vorher. Die Muster, Schnitte und Stoffe werden variiert und neu zusammengefügt, aber es gab sie bereits, vielleicht in anderer Form. So ist es meiner Ansicht nach mit der Hochsensibilität auch. Nur weil das Thema jetzt so stark im Fokus steht, ist es keine neue Erfindung. Es hat immer schon hochsensible Menschen gegeben, Beispiele aus Kunst, Literatur und Wissenschaft belegen dies. Hochsensibilität an sich ist also nichts Neues, sie wird nur gerade ins Rampenlicht gerückt, und wenn diese Aufmerksamkeit wieder vergangen sein wird, wird sie immer noch da sein.
Zu Beginn kann es sehr wichtig sein, sich mit dem Begriff der Hochsensibilität zu identifizieren und sich dieser Personengruppe zugehörig zu fühlen. Sehr viele Betroffene erleben sich oft als isoliert und unverstanden. Da hilft es zu erkennen, dass man nicht als einziger dieses Wesensmerkmal hat, sondern dass es viele Menschen gibt, denen es ähnlich geht. So wichtig diese Solidaritätserfahrung jedoch ist, es gibt einen Punkt, an dem es wichtig ist, den Blick wieder zu weiten und über den eigenen Tellerrand hinauszusehen, denn es hilft Betroffenen und auch dem Thema selbst wenig, sich nur in den Grenzen dieses Begriffes aufzuhalten. Meines Erachtens geht es darum, die hochsensible Veranlagung als eine Spielart des Lebens zu erkennen, zu akzeptieren, in die Gesamtpersönlichkeit zu integrieren und nicht als Grund für eine Trennung zwischen sich und »den anderen« zu benutzen.
Einmal nahm eine Frau an einem meiner Vorträge teil, die sehr vehement auf ihrer Meinung beharrte, »die anderen« sollten sich jetzt bitte schön einmal den Hochsensiblen anpassen. Sie forderte das in einem sehr aggressiven Tonfall, der darauf schließen ließ, dass sie bereits viele Frustrationen in diesem Bereich erlebt hatte. Nun hatte sie wohl das Gefühl, sie habe sich ihr ganzes Leben lang den anderen (Nichthochsensiblen) angepasst und könne erwarten, dass sich andere nun nach ihr richten.
Diese Haltung erinnert mich ein wenig an George Orwells »Farm der Tiere«, in der ein Unterdrückungssystem durch ein anderes abgelöst wird. Durch diese Revolution wird keine Besserung erzielt, im Gegenteil. Bei Revolutionen gibt es immer Gewinner und Verlierer, aber ich bin überzeugt, dass es beim Thema Hochsensibilität möglich ist, dass es zwei Gewinner gibt, wenn man überhaupt in diesen kämpferischen Ausdrücken denken möchte.
So verständlich das Erleben dieser Teilnehmerin auch war, machen Sie sich bitte Folgendes bewusst:
Es stellt in der Regel keine »böse« Absicht von Normalsensiblen dar, wenn sie Hochsensible in ihrem Erleben oder Verhalten nicht verstehen. Es liegt einfach in der Natur der Sache. Seien wir ehrlich: Trotz allen guten Eigenschaften, Einfühlungsvermögen und Empathie verstehen Hochsensible »die anderen« ebenso wenig. Wenn wir uns das eingestehen, dann können wir demütiger sein. Normalsensible verlangen ja gar nicht, dass Hochsensible sich ihnen anpassen, die Anpassung geschieht im Erleben des hochsensiblen Menschen. Sicherlich ist zu beobachten, dass Hochsensible eine hohe Anpassungsbereitschaft und -fähigkeit haben. Dies ist einerseits der Tatsache zu verdanken, dass sie in der Regel Konflikte verabscheuen und alles dafür tun, dass Frieden herrscht, andererseits der Fähigkeit, viele Meinungen gelten zu lassen und viele, auch sich widersprechende Aspekte ein und derselben Angelegenheit als richtig anzusehen. Daher fällt es ihnen oft schwer, eine einzige Meinung und Haltung zu vertreten. Im Nachhinein ärgern sie sich dann vielleicht sehr über ihre Nachgiebigkeit und machen dem Gegenüber Vorwürfe, sie überrannt zu haben. Es ist aber nicht die »Schuld«, böse Absicht oder Manipulation des anderen, die dies verursacht hat.
Wenn wir wollen, dass Hochsensibilität ernst genommen wird, dann müssen wir uns den »Schattenseiten« der Prozesse und Mechanismen innerhalb der hochsensiblen Seele zuwenden, um damit aufzuräumen, ins Reine zu kommen und zu einer gereiften Sichtweise zu gelangen.
Mir scheint, dass die kontroverse Diskussion um Hochsensibilität unter anderem damit zusammenhängt, dass das Thema von den Betroffenen selbst teilweise kämpferisch, teilweise unterwürfig transportiert wird. Hochsensible sind mitverantwortlich für die Reaktionen, die das Thema in der Öffentlichkeit und bei Fachleuten sowie in der freien Wirtschaft hervorruft. Somit darf sich jeder hochsensible Mensch aufgerufen fühlen, an einer günstigen Wahrnehmung mitzuwirken und so an sich zu arbeiten, dass es das Thema voranbringt.
Was verbirgt sich nun hinter diesem Begriff, der von den einen als Modeerscheinung, von den anderen als Charakterzug und von den Dritten als Erfindung, um sich vor der Verantwortung zu drücken, angesehen wird?
Um Hochsensibilität zu verstehen, hilft ein Blick in die Geschichte.
Das Thema Hochsensibilität ist nicht neu, es lässt sich bis ins Altertum zurückverfolgen. Philosophen beschäftigten sich ernsthaft mit der Frage, ob Pflanzen eine Sensitivität besitzen oder nicht. Wilhelm Walker lässt in seinem Buch »Die Obstlehre der Griechen und Römer«6 Theophrast, einen antiken Philosophen, zu Wort kommen. Theophrast war der Ansicht, dass Pflanzen eine Sensibilität besitzen müssen, da sie ja auf Einflüsse, wie Sonneneinwirkung oder Regen, Wind und Wetter, reagieren, und dass es ein Organ geben müsse, welches für diese Sensibilität zuständig sei. Diese Frage erinnert an die sehr aktuelle Diskussion, wie sich Hochsensibilität biologisch nachweisen lässt. Gibt es Unterschiede im Gehirn, im Nervensystem oder in der Art und Weise des Hormonaustauschs?
Bereits in den Jahren 1854 bis 1862 beschäftigte sich Freiherr Carl von Reichenbach, seines Zeichens Chemiker und Erfinder des Paraffins, mit dem Phänomen der erhöhten Sensitivität. Er verfasste mehrere Schriften dazu.7 Sein Anspruch war durchaus wissenschaftlich und er versuchte mit den Mitteln der damaligen Zeit, seine Theorie von sensitiven Menschen zu belegen. Leider ließen sich seine Ergebnisse nicht wiederholen, was ihm Spott und Häme seitens seiner Kollegen eintrug und ihn verbittern ließ.
In der neueren Geschichte ist vor allem C.G. Jung zu nennen. 1913 erwähnte der Schweizer Psychiater und Tiefenpsychologe erstmals das Konzept der »angeborenen Empfindlichkeit«.8 Jung war der Auffassung, dass etwa 25 9