Gabriele Albers
NORDLAND
Hamburg 2059 - Freiheit
Roman
Albers, Gabriele: Nordland. Hamburg 2059 – Freiheit,
Hamburg, acabus Verlag 2018
1. Auflage
ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-551-6
PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-550-9
Print: ISBN 978-3-86282-549-3
Lektorat: ds, acabus Verlag
Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag
Covermotiv: © Annelie Lamers, © pixabay.com
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© acabus Verlag, Hamburg 2018
Alle Rechte vorbehalten.
http://www.acabus-verlag.de
für BJj
ohne euch wäre alles nichts
Diese Geschichte ist frei erfunden. Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse entstammen entweder der Fantasie der Autorin oder werden fiktiv genutzt. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich existierenden, lebenden oder bereits verstorbenen Personen, Unternehmen und Ereignissen ist rein zufällig.
Libertatem quam peperere maiores digne
studeat servare posteritas.
Die Freiheit, die schwer errungen die Alten,
möge die Nachwelt würdig erhalten.
Inschrift über dem Eingangsportal am Hamburger Rathaus
Manche Dinge änderten sich nie. Egal, wie sehr sich die Welt verändert hatte.
Die dunkle Limousine rauschte durchs Schanzenviertel, als wären Geschwindigkeitsbegrenzungen nur für die anderen Verkehrsteilnehmer erdacht worden.
Es regnete und auf der Straße standen Pfützen. Die dunklen Spiegel verbargen tiefe Löcher unter ihrer wässrigen Oberfläche. Um einige Schlaglöcher lenkte das selbststeuernde Auto herum. Andere waren nicht in der aktuellen Navigationssoftware enthalten: Die Limousine setzte mehrfach auf und dem Mann auf dem Fahrersitz schlug es heftig in den Rücken.
Er übernahm die Kontrolle und drückte das Gaspedal herunter. In diesem Viertel waren er und seinesgleichen schon vor 30 Jahren nicht willkommen gewesen. In wildem Slalom lenkte er die Limousine um die nur scheinbar harmlosen Pfützen herum.
In dieser Gegend durfte man nichts und niemandem trauen.
Die Scheinwerfer glitten über beschmierte Fassaden, von denen der Putz in langen Fladen herunterblätterte. Das Licht huschte über mit Brettern verrammelte Fensterhöhlen und über tiefgelegene Hauseingänge, in deren Schwärze sich die Schatten zurückzogen, wenn ihnen das Licht zu nahe kam.
Jenseits davon versank alles in schwarzem Regen.
Männer, die an die Dunkelheit gewöhnt waren, warteten, bis das Auto an ihnen vorbei war. Dann folgten sie der Limousine, angezogen von dem Scheinwerferlicht, das immer schwächer wurde. Aber da der Fahrer grundsätzlich den Blick zurück verweigerte, sah er sie nicht.
Der Fahrer schlug den Cordkragen seiner Barbour-Jacke hoch. Etwas stimmte nicht mit der Heizung. Den Griff nach dem Flachmann hatte sein Körper fast so automatisiert wie Herzschlag und Atmung. Dabei übersah er das nächste Schlagloch. Der Schnaps lief dem Mann über Wangen und Hände.
Die Scheibenwischer blieben auf halber Strecke stehen und verweigerten den Dienst. Regentropfen schlugen dicht an dicht auf die Windschutzscheibe. Der Fahrer schlug aufs Lenkrad, drückte auf Tasten herum, kontrollierte die Energieanzeige: Die Batterie war fast voll.
Ein letzter Sprung nach vorne, dann blieb das Auto stehen.
Die Scheinwerfer dimmten herunter. Die Notbeleuchtung reichte zwei Meter weit.
Straßenlaternen gab es in diesem Viertel nicht.
Die Männer, alle in schwarz, ließen sich Zeit.
Der Fahrer stieg aus, ging um seine Limousine herum, verpasste ihr einen Fußtritt.
»Verdammte Scheißkarre«, rief er und: »Vidja, stell eine Verbindung her mit – « Weiter kam er nicht. Die Männer manifestierten sich aus dem Dunkel der Schatten. Ihr Opfer sprang zurück in sein Auto, wollte es von innen verriegeln, aber nicht mal dafür reichte der Strom. »Notfall! Hilfe! Vidja, stell sofort – «, schrie er, bevor ihn die Faust mitten ins Gesicht traf.
Die Männer zogen ihn aus dem Auto heraus.
»Hilfe!«, rief er nochmals. Seine Stimme klang nasal, fast weinerlich. »Was wollt ihr?«
Einer der Angreifer lachte. Es klang wie das Schleifen einer schlecht geölten Kette.
»Alles! Alles, was ihr scheiß Birds habt.«
»Ich …, hier, meine Brieftasche und, und – « Ein Schlag in die Magengrube verhinderte, dass er weiter verhandelte. Die Männer um ihn herum hatten die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Sie hatten Stöcke dabei und Messer. Aber die brauchten sie nicht, um ihn zusammenzuschlagen.
Er lag auf dem Boden, zusammengekrümmt. Das Licht entfernte sich, mehrere Männer schoben die tonnenschwere Limousine davon. Einer der Angreifer zog ihm die Jacke vom Leib, dann die Schuhe und den Anzug. Ein weiterer Tritt in die Seite. Er wand sich, versuchte mit letzter Kraft davonzukriechen, aber der Fuß des anderen genügte, ihn an Ort und Stelle zu halten, während er ihm die goldenen Knöpfe aus den Manschetten riss. Der Mann auf dem Boden versuchte, etwas zu sagen, ein letztes Mal zu verhandeln, aber statt Worten quoll Blut aus seinem Mund.
Ein Messer näherte sich seinem Gesicht. Er wehrte sich, bäumte sich auf, ein Schlag aufs Ohr setzte ihn außer Gefecht, aber er blieb bei Bewusstsein. Alles drehte sich um ihn, und das Messer, das sich seinen Augen näherte, wurde zu hundert Messern.
Die Frau, die alles aus der Ferne verfolgte, konnte nicht helfen. Sie versuchte, die Polizei zu rufen, aber niemand reagierte auf ihren Anruf. Sie nahm den Ohrring ab, der den letzten Schrei des Mannes zu ihr trug und schloss die Augen.
Kurz zuvor
Die Kieselsteine waren rund und glatt. Es waren perfekte kleine Kieselsteine für die perfekte Auffahrt zu einer perfekten Villa. Sie waren eine Katastrophe für Frauen mit hohen Absätzen. Lillith knickte um und klammerte sich an den Arm ihres Vaters, bevor ihre Röckepracht sie komplett aus dem Gleichgewicht brachte und sie wie ein gestrandeter Feuerfisch auf den Steinen landete.
»Einen gebrochenen Knöchel können wir gerade nicht gebrauchen, meine Liebe«, sagte ihr Vater und hastete weiter.
Sehr witzig. Als ob sie sich darum reißen würde, in Stilettos herumzulaufen.
»Mit flachen Schuhen – «
» – siehst du aus wie ein Dienstmädchen.«
Sie freute sich auf ihr Sofa und darauf, die Dinger gleich in die Ecke zu schleudern. Der Tag war lang gewesen und trotz diverser Polster und Ausgleichsmechanismen im Inneren des Schuhs brannten ihre Füße. Langsam humpelte sie die Treppe hoch. Ihr Vater war bereits oben und bog in den Bürotrakt ab. Lillith blieb stehen und löste den Riemen um ihre Fessel. Sobald ihr Vater in seinem Büro verschwunden war, würde sie auf Strümpfen weiterlaufen.
»Ich brauche dich noch für eine halbe Stunde im Grauen Salon. Willem will gleich vorbeikommen.«
Sie stöhnte auf. »Muss das sein? Kannst du die alte Krähe nicht ohne mich empfangen?«
Ihr Vater beachtete ihren Einwand gar nicht. »Außerdem gibt es erste Kandidaten.«
In Lilliths Bauch krampfte sich ein ungutes Gefühl. »Kandidaten? Wofür?«
»Lillith.« Ihr Vater drehte sich zu ihr um und schaute sie an, als ob er nicht glauben konnte, dass sie nicht begriff. »Du bist fast 25. Ich habe unseren Geschäftspartnern eine offizielle Note zukommen lassen, dass ich ihre Angebote erwarte.«
Es dauerte einen Moment, bis die Nachricht einsickerte.
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Du weißt seit Jahren, dass du eines Tages heiraten wirst. Tu nicht so, als käme das jetzt überraschend.«
Aber Lillith war überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, das Schicksal ihrer Freundinnen jemals teilen zu müssen.
Ihr Vater ging weiter den langen Gang hinunter.
»Warte!« Lillith stöckelte hinter ihm her. Das Wasser in ihren Augen hatte nichts mit den schmerzenden Füßen zu tun. »Wie kannst du mit den Verhandlungen anfangen, ohne mich vorher zu fragen? Mich wenigstens darüber zu informieren? Was ist mit unserem Abkommen?« Sie hasste sich für ihren jammernden Ton. Und dafür, die Tränen nicht wegdrücken zu können.
Ihr Vater hatte den Grauen Salon erreicht und hielt die Tür für sie auf. Seine Mundwinkel zuckten, als er die beiden schmalen Spuren in ihrem Makeup entdeckte. »Beherrsch dich gefälligst«, sagte er so leise, dass sie nicht sicher war, ob er überhaupt geredet hatte oder ob seine Stimme automatisch in ihrem Kopf angesprungen war.
Lillith wischte sich über die Augen, zog undamenhaft die Nase hoch und schluckte ein paar Mal, bis der Kloß in ihrem Hals so klein geworden war, dass die Luft zum Argumentieren wieder daran vorbeipasste.
»Ich dachte, ich soll erst über alles Bescheid wissen, bevor ich heirate. Damit ich meinen Zukünftigen bei seinen Geschäften beraten kann.« Ihre Stimme zitterte heftiger als ihr lieb war.
»Daran hat sich nichts geändert. Deshalb bist du jetzt hier und nicht auf deinem Zimmer.«
»Aber wenn ich verheiratet bin – wie soll ich dich dann unterstützen?«
»Ich war in der Vergangenheit erfolgreich, ich werde es auch in Zukunft sein.« Ihr Vater setzte sich an seinen gläsernen Arbeitstisch und öffnete mit einigen schnellen Fingerbewegungen mehrere Dokumente. Für ihn war die Diskussion beendet.
Aber nicht für Lillith. »Und was ist, wenn ich mich weigere?« Ihr Vater reagierte nicht. In seinem Gesicht bewegte sich kein einziger Muskel. Nur die Ader an der Schläfe pulste. Lillith stellte sich vor den Tisch, die Hände auf die Glasoberfläche gestemmt. »Ich bin keine Ware«, rief sie und es war ihr egal, dass die Stimme zitterte und die Tränen wieder nach oben drängten. »Ich lasse mich nicht meistbietend verkaufen.«
»Ich kann dir versichern, dass es nicht nur eine Frage des Preises sein wird«, sagte ihr Vater, ohne seinen Blick von einem Kurvendiagramm abzuwenden. »Du wirst jemanden heiraten, der außerdem gut fürs Geschäft ist.«
Die Logik ihres Vaters. Lillith blieb der Mund offen stehen, aber eine passende Antwort wollte ihr nicht einfallen.
Ein gelber Punkt blinkte auf dem Glastisch. Der Besuch war auf dem Weg zu ihnen.
»Wir reden später über die Kandidaten. Und jetzt beruhig dich. Bis die Verhandlungen abgeschlossen sind, werden noch gut und gerne zwei Jahre vergehen. Du hast also noch reichlich Zeit, um zu lernen, wie man sich beherrscht.«
Ihr Vater schaltete das Bild einer Kamera auf die Arbeitsplatte und Lillith sah, wie Willem Duhnkreih sich die Treppe hochquälte, eine Hand am Treppengeländer, den Blick starr auf ihren Sicherheitsmann gerichtet, der ihn zum Grauen Salon begleitete.
Sie hätte gut Lust, sich aus dem Staub zu machen. Aber wenn sie jetzt herumzickte, würde sie in den nächsten Wochen einen Vorgeschmack auf ihre Ehe bekommen und sich mit langweiligen Frauen über Kosmetik, Mode und ausländische Königsfamilien unterhalten, anstatt mit ihrem Vater zu reisen und über Windgas zu verhandeln. Lillith bückte sich und schloss den Riemen ihres Schuhs. Eine halbe Stunde lang konnte sie die schmerzenden Füße noch aushalten. Aus ihrer Handtasche holte sie Makeup und Spiegel und beseitigte die Spuren ihres Wutausbruchs. Zwei Jahre waren eine lange Zeit. Das sollte reichen, um sich unersetzlich zu machen. Sie zog die Lippen nach und bemerkte erst, als es zu spät war, dass sie den blutroten Lippenstift erwischt hatte, nicht den roséfarbenen.
An ihrem Stehpult öffnete sie das Übungsprogramm für chinesische Schriftzeichen. Die Geschäftspartner akzeptieren ihre Anwesenheit als eine Marotte des mächtigen Davide Civetta, solange sie sich unauffällig im Hintergrund hielt und scheinbar beschäftigt war. Keiner von ihnen wusste, dass sie mehr war als schmückendes Beiwerk.
Sie war Teil des Geschäfts.
»Was für ein Scheißwetter.« Willem Duhnkreih stand im Türrahmen und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Lillith betrachtete ihn: das fahle Gesicht, die Schatten unter den Augen, die bläulich schimmernden, dünnen Lippen. In seiner vor Nässe fast schwarzen Barbour-Jacke sah er aus wie der Tod persönlich. Sie roch seinen Schweiß und den nach Schnaps stinkenden Atem. Ihr wurde übel, als er näher kam, und sie trat einen Schritt zurück. Der Gestank ließ nach, aber die Übelkeit blieb. Sie schluckte.
»Und was für ein Scheißteil.« Duhnkreih warf die Jacke über einen der Sessel. »Die Russen kriegen echt alles kaputt. Das kann doch nich’ so schwer sein, ’ne Jacke wasserdicht zu machen. Ich mein, selbst die Engländer haben das früher geschafft, und die – «
»Guten Abend, Willem«, unterbrach Davide ihn und schloss mit einer kleinen Handbewegung die Dokumente auf seinem Tisch. »Soll ich dir eine neue Jacke bringen lassen oder reicht dir ein Handtuch?« Der Ton ihres Vaters war sachlich, kontrolliert, als er seinem Gast entgegenging und ihm die Hand schüttelte. Aber Lillith spürte seine Abneigung Duhnkreih gegenüber genauso deutlich wie die Übelkeit, die von ihrem Besucher ausging.
Sie reichte ihm ebenfalls die Hand. »Guten Abend, Herr Duhnkreih.«
»Lillith!« Willem drückte ihr einen feuchten Handkuss auf. »Du wirst deiner verstorbenen Mutter immer ähnlicher. Welchem Designer haben wir diese atemberaubende Wespentaille zu verdanken?«
»Baoxiniao.«
»Ich wusste gar nich’, dass die auch in Businessmode für Damen machen.«
»Scheint ein Markt zu sein in China.«
»Ist das so?« Duhnkreih grinste schief. »Ich muss gestehen, die Bekleidungsindustrie verfolge ich mangels Frau und Tochter nur am Rande.« Endlich ließ er ihre Hand los.
»Und dich braucht das auch nicht zu interessieren, Lillith.«
»Ach lass sie doch, Davide. Ein bisschen Konversation muss erlaubt sein. Ich hab gehört, du kommst bald unter die Haube? Wird ja auch langsam Zeit. Ich stehe zur Verfügung.« Er tätschelte mit nassen, kalten Fingern ihre Wange.
Lillith wich zurück und musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufwenden, um Duhnkreih nicht zu ohrfeigen. Sie wischte ihre Hand an den zahlreichen Lagen ihres langen Rocks ab und sah dabei zu ihrem Vater. Wenn jemand wie Duhnkreih auf der Liste stand, dann konnte er sich seine Pläne aber sowas von aus dem Kopf schlagen. Da würde sie eher ins Kloster gehen.
»Danke, alter Freund, aber du weißt doch, dass meine Tochter niemanden aus Nordland heiraten kann. Das würde unser Gleichgewicht zu sehr stören.« Davide legte seinen Arm auf Duhnkreihs Schulter und steuerte ihn zum Konferenztisch. »Was möchtest du trinken?«
»Ach, du immer mit deinem Gleichgewicht.« Duhnkreih zog lautstark die Nase hoch. »Ich nehm ’nen schönen steifen Grog. Aber nicht mit Hamburger Wasser verdünnen, das kriegt Meik grad nicht anständig gefiltert. Tu mir lieber ’nen zweiten Schuss Rum dazu.« Er schlug Davide auf den Rücken. »Der Löffel muss drin stehen, dann ist er richtig.«
Als ob Alkohol den Grog zähflüssiger machen würde.
Lillith verdrehte die Augen, zog sich an ihr Stehpult zurück und rieb die virtuelle Stangentusche, während sie Duhnkreih weiter beobachtete und sich an ihre eigentliche Aufgabe machte: ihren Vater über die Emotionen seines Gegenübers zu informieren. Mit einem leichten Druck auf den Goldreif an ihrem Handgelenk aktivierte sie ihre Vidja. Zwei Wimpernschläge später hatte sie die Verbindung zwischen sich und ihrem Vater hergestellt.
»Ihm ist schlecht vor Nervosität und Aufregung«, twinkerte sie lautlos und für alle anderen unsichtbar auf Davides Vidja-Kontaktlinse. Und mir auch, fügte sie in Gedanken hinzu. Das war der Preis, den sie für ihre besondere Fähigkeit bezahlen musste. Sie wusste genau, was die Menschen um sie herum fühlten – weil sie es selbst fühlte. Fühlen musste.
»Schön hier, mit dem Feuer«, sagte Duhnkreih und rückte seinen Stuhl mit lautem Schrammen an den Konferenztisch. Die Übelkeit ließ ein klein wenig nach, aber der schlechte Geschmack im Mund blieb. Lillith griff nach dem Wasserglas und konnte gerade noch verhindern, dass es ihr aus der schweißnassen Hand glitt. Ihr Puls raste. Himmel, was war denn nur mit Duhnkreih los? Sie hatte nicht damit gerechnet, dass diese halbe Stunde so anstrengend werden würde.
Das Kaminfeuer prasselte.
»Und? Mit der Energieversorgung alles im Lot?«, fragte Duhnkreih.
»Natürlich. Oder gibt es bei dir Probleme?«
»Ja. Also nee, keine, für die du was kannst. Mein Wandler ist kaputt und meine Karre könnte noch etwas Energie vertragen. Kannst du mir mit ein paar Kilowattstunden aushelfen? Damit ich nicht im Schanzenviertel liegenbleibe? Also, natürlich nur, wenn du selber genug Energie hast.«
»Warum sollte ich nicht genug Energie haben?« Davide war verstimmt. Nicht, dass Duhnkreih das bemerkt hätte.
»Na, wegen dieser Steinzeittechnik hier.« Duhnkreih zeigte auf den Kamin.
Davide ließ diese Bemerkung einen Moment im Raum stehen. »Solange ich für die Stromversorgung zuständig bin, wird Nordland immer genug Energie haben. Ich halte meinen Teil der Abmachung.«
»Ja, ja, schon klar.« Duhnkreih nickte. Lillith fühlte, wie sich neben seiner Nervosität Ärger breitmachte. Sie spürte genauer hin. Nein, kein Ärger. Das Gefühl war anders, intensiver: Groll. Tiefsitzender, uralter Groll.
»Er nimmt dir etwas sehr, sehr übel«, twinkerte sie.
Davide lenkte sofort ein. »Ich mag diese Wärme einfach. Hast du bei dir in Finkenwerder keine Kamine?«
»Ja, doch schon, aber ich benutz’ die Dinger nich’. Mutter meint, die machen zu viel Dreck.« Er räusperte sich.
Duhnkreih faltete die Hände vor sich auf dem Tisch, fasste dann ins Jackett und lehnte sich zurück. Seine feuchten Handflächen hatten Flecken auf dem Glastisch hinterlassen. Lillith blickte an ihm vorbei aus dem Fenster und atmete langsam ein und aus. Sie bekam kaum noch Luft. Duhnkreihs Emotionen schnürten ihr, zusammen mit ihrem viel zu engen Mieder, die Luft ab. Sie versuchte, sich auf das Wasser der Außenalster zu konzentrieren, aber es war zu dunkel. Sie sah die Lichter, die im Garten die Uferpromenade beleuchteten, und am anderen Ufer die trüben Lampen der von Eschenburgs. Die Alster selbst verschwand im Schwarz des regennassen Abends. Wie der Rest der Stadt.
Die Tür zum Grauen Salon öffnete sich und Maja kam herein. Sie blieb mit gesenktem Kopf in respektvollem Abstand neben Duhnkreih stehen und bot ihm ein Handtuch und einen dampfenden Grog an. Duhnkreih ignorierte das Handtuch. Gier und Vorfreude verdrängten für einen Moment seine Nervosität und Lillith bekam wieder Luft. Aus der Innentasche seines Jacketts holte Duhnkreih eine Flasche hervor und goss einen weiteren Schluck brauner Flüssigkeit ins Glas. Die auf dem silbernen Flachmann eingravierte Krähe war vermutlich sein persönlicher Scherz.
»Also, Willem, was gibt es so Dringendes, dass du mich um diese Uhrzeit besuchst?«
»Ja, also, da ist die Geschichte mit den chinesischen Staatsanleihen«, fing Duhnkreih an. »Ich hatte da eine Menge investiert, sollte angeblich alles so sicher sein. Hast du von gehört, oder?«
Davide ließ seine halb geöffnete Hand kreisen, um zu zeigen, dass Duhnkreih sich mit seiner Geschichte beeilen solle. Natürlich wussten sie, dass die chinesische Regierung von einem Tag auf den anderen beschlossen hatte, die Kredite ausländischer Investoren nicht zurückzuzahlen. Und natürlich hatten sie – wie alle mit etwas Vermögen – Geld dabei verloren.
»Ich hab deshalb grad Probleme mit meiner Liquidität. Ich weiß, ich weiß, meine Kredite bei dir sind übermorgen fällig. Aber es wär klasse, wenn du sie mir noch einmal stunden könntest. Unserer alten Freundschaft wegen. Und mir vielleicht, ich mein, echt, ein allerletztes Mal, Geld leihst? Drei Millionen? Zwei reichen auch. Ich mein, im nächsten Monat bin ich bestimmt wieder flüssig und kann die Zinsen bezahlen.«
Lillith kannte die Antwort ihres Vaters und es fühlte sich so an, als ob auch Duhnkreih sie kannte.
»Er rechnet mit deiner Ablehnung«, twinkerte sie an Davide.
Ihr Vater ließ sich Zeit mit der Antwort. Er nahm die schwere Wasserkaraffe, in der sich langsam synthetische Coca-Blätter auflösten. Sein drittes Glas heute.
»Nein.«
Duhnkreih sackte zusammen wie ein herausgesaugter Fettklumpen nach einer Schönheitsoperation.
»Aber …«, setzte er an.
»Bei aller Freundschaft, Willem: nein. Du hattest neun Monate Zeit, deine Geschäfte in Ordnung zu bringen. Neun Monate, in denen ich dir deine Zinsen gestundet habe. Ich werde dir kein weiteres Geld leihen, und ich muss darauf bestehen, dass du deine Kredite bei mir wieder bedienst. Wenn du das nicht kannst, werden deine Sicherheiten wie vereinbart zum 1. Oktober in meinen Besitz übergehen.« Er nahm einen Schluck Tee. »Also übermorgen.«
Lillith wusste nicht, welche Sicherheiten Duhnkreih an ihren Vater verpfändet hatte. Aber es war etwas, an dem sein Herz hing. Aus Duhnkreihs Verzweiflung kristallisierte sich innerhalb von Sekundenbruchteilen eine neue Emotion heraus: Wut. Pure, eindeutige Wut. Sie versuchte, den nächsten Strich zu malen, aber statt einer eleganten Linie schmierte der Pinsel einen breiten Klecks auf die Fläche.
Sie biss die Zähne zusammen. Sie spürte, wie Duhnkreih kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren. Er griff zum Grogglas und Lillith rechnete damit, dass er es gegen die Wand schleuderte. Aber er nahm nur einen tiefen Zug.
Die Übelkeit war fort, die Nervosität hatte sich in Luft aufgelöst. Ihre Hände waren trocken. Alles, was sie noch spürte, war eine kalte, mörderische Wut.
»Vorsicht«, twinkerte Lillith an ihren Vater, »extreme Wut.« Davide beobachtete seinen alten Schulfreund gelassen.
Duhnkreihs Mundwinkel war nach oben gezogen.
»Da werd’ ich Mutter wohl beibringen müssen, dass sie auf ihre alten Tage umziehen muss. Du wirst sie nicht dort wohnen lassen, wenn du Finkenwerder übernimmst, oder?«
Das also hatte Duhnkreih aufs Spiel gesetzt. Kein Wunder, dass er darum kämpfte.
»Das wusstest du, bevor du mir euer Anwesen als Sicherheit angeboten hast.« Davide machte eine kurze Pause. »Hast du wirklich keine laufende Einnahmequelle mehr? Keine Geschäfte, die kurz vor dem Abschluss stehen? Was ist mit Aeroflot, kannst du mit denen nochmal verhandeln?«
Duhnkreih wand sich. Sowohl Davide als auch Lillith wussten, dass er die russischen Manager mit einer Bemerkung über deren angebliche Homosexualität vor den Kopf gestoßen hatte. Aber vielleicht ließ sich noch etwas retten.
»Die Schwuchteln haben ihre Flugzeuge gestern bei den Chinesen bestellt. Die wollen lieber sechs olle Comacs statt schöner neuer Airbusse.«
Davide wischte über den Konferenztisch und durch die Details von Willems Vermögen. »Was ist mit den Einnahmen aus dem Luftverkehrsnetz?«, fragte er. »Du könntest die Gebühren anheben, das müsste dir jährlich etwa dreieinhalb Millionen bringen.«
Duhnkreih verzog keine Miene, aber Lillith schmeckte, wie seine Wut einen bitteren Beigeschmack bekam.
»Mit den paar Flugzeugen, die heutzutage in der Luft sind, kann man kein Geld verdienen.« Er nahm einen langen Schluck und stellte das Glas vor sich auf den Tisch. »Mit dem Luftverkehrsnetz habt ihr mich damals echt über den Tisch gezogen«, fuhr Duhnkreih fort. »Während ihr euch die Perlen gesichert habt, gab’s für mich nur die Glasklunker.«
»Wenn du es nicht willst, verkauf es. Petersen bietet dir sicher einen anständigen Preis.«
»Und ich bin dann raus aus allem, was Spaß macht? Nee, nee, ich bin Gründungsmitglied von Nordland, ich bin der Präsident der Bürgerschaft, ich gehöre dazu, wenn ich auch sonst nicht mehr viel hab.«
»Was ist mit deinen Anteilen an Airbus?«
»Da hat Liborius schon den Daumen drauf.« Wieder wanderte eine Hand in die Jackettasche. »Davide, echt, du bist meine letzte Hoffnung.«
Davide tippte auf die Glasfläche des Tisches, rief Zahlen, Diagramme und Kurven auf und hob schließlich in einer entschuldigenden Geste die Hände. »Es tut mir leid, alter Freund, aber ich fürchte, ich kann dir nicht helfen.«
Lilliths Innerstes wurde von einer Welle des Hasses überflutet. Der Pinsel fiel ihr aus der Hand, instinktiv trat sie ein paar Schritte vom Pult zurück. Weg von Duhnkreih. Er würde nicht wagen, ihrem Vater etwas anzutun. Oder? Sie blinzelte und überprüfte in ihrer Vidja Duhnkreihs Körperscan: kein Metall, keine Waffen. Sie atmete aus. Duhnkreih hasste ihren Vater, aber er würde nicht den Pakt aufs Spiel setzen. Seine Schulden verschwanden nicht, wenn Davide starb.
Aber bis der Nachlassverwalter einen Überblick über alle Finanzen hatte … vielleicht spekulierte Duhnkreih darauf, dass er dann wieder flüssig war? Oder dass der Verwalter entgegenkommender war und ihm die Kredite erneut stundete?
Das könnte die Übelkeit am Anfang des Besuchs erklären. Duhnkreih war kein Killer.
Der Hass schwächte sich ab. Aus der Flutwelle war ein ruhig strömender Fluss geworden. Duhnkreih hatte sich entschieden. Aber wofür? Sie beobachtete seine Hand, die nach wie vor in seiner Jackettasche steckte. Was hatte er in der Tasche?
Er nahm die Hand heraus, griff nach Davides Cocatee und schob ihn ihrem Vater über die Balkendiagramme hinweg zu. Dann hob er sein fast leeres Grogglas, um ihm zuzuprosten.
»Tja, schade. Das war’s dann wohl. Auf die Freundschaft.«
Gift!
Davide nahm das Glas und erwiderte die Geste. Mit einem Wimpernschlag kehrte Lillith ins Hauptmenü ihrer Vidja zurück und steuerte zum ersten Mal den kleinen roten Punkt in der unteren Ecke ihres Sichtfeldes an. Gelacht hatte sie, als ihr Vater diesen virtuellen Alarmknopf vor ein paar Monaten in das Gerät hatte programmieren lassen. »Wer sollte dir was Böses wollen? Der Pakt hält seit 25 Jahren. Alle profitieren davon.« Sie hatte ihm vorgeschlagen, den Kurzbefehl lieber mit »Cocatee« oder »Ruhe« zu belegen.
Ihr Vater hatte darauf bestanden.
Und jetzt leuchtete direkt vor ihm und nur für ihn sichtbar das Wort »Lebensgefahr«.
Lillith drängte sich an dem Konferenztisch vorbei. »Bitte entschuldigen Sie mich, meine Herren, eine kleine Unpässlichkeit«, brachte sie leise heraus. Ihr Vater war im Begriff, das Glas an die Lippen zu setzen. Wie konnte er so schwer von Begriff sein? Lillith tat, als ob sie stolperte, ruderte mit den Armen und schlug das Glas aus Davides Hand. Der Cocatee verteilte sich auf dem Tisch und über Davides Anzug.
Aus Willems Entschlossenheit wurde Panik, Lilliths Knie zitterten. Auf ihrer Kontaktlinse tauchte ein »Danke« auf. Dann: »Ich kümmere mich um den Rest.«
Lillith wusste, was das bedeutete. Sie raffte ihre Röcke und verließ den Grauen Salon. Auf der Treppe hoch zu ihren Räumen stolperte sie wirklich, die Röcke zogen sie zurück, sie griff nach dem Geländer, ihre schweißnassen Finger glitten ab, sie schwebte für einen winzigen Moment zwischen Halt und Fall – und dann tauchte Maja aus dem Nichts auf und hielt sie.
Lillith kämpfte die Tränen zurück und ließ sich von der alten Frau nach oben helfen, die ganze Zeit verfolgt von einem irrationalen Schuldgefühl.
Als ob sie für diese Situation verantwortlich wäre. Dabei hatte Duhnkreih sich das ganz alleine zuzuschreiben. Duhnkreih hatte gegen den Pakt verstoßen, er hatte ihren Vater ermorden wollen! Alles, was heute Nacht noch passieren würde, war die Folge seines unüberlegten Verhaltens.
Aber egal, wie oft sie sich einredete, nicht schuld zu sein – ihr Gewissen war anderer Meinung.
Der Tod war in ihr Haus gekommen. Und er hatte die russische Barbour-Jacke gegen ein chinesisches Baoxiniao-Kostüm getauscht.
Sie hatten sich in einem der Hauseingänge versteckt, als die Angreifer über den Mann herfielen. Zu zweit konnten sie nichts gegen die Männer ausrichten, die sich die Reichtümer nahmen und mit der Limousine davonschoben. Als der letzte Täter endlich hinter dem nächsten Häuserblock verschwunden war, liefen sie über die Straße zu dem Eingang der alten S-Bahn-Station, wo das fast nackte Opfer lag. Wie ein Mistkäfer, dachte Bo und schämte sich nicht für den Vergleich.
Joris suchte zwischen den Falten am Hals nach einem Puls.
»Er lebt noch, hilf mir, ihn in die stabile Seitenlage zu bringen.«
Bo setzte den Arztkoffer ab, in dem sein Vater eine medizinische Grundausstattung aufbewahrte und ohne den er nie das Haus verließ. Er packte den Mann an der Schulter, drehte ihn zu sich, sah das blutverschmierte Gesicht und dann die leeren Augenhöhlen. Fast hätte er ihn losgelassen.
»Oh Gott«, rief er. »Die haben ihm die Augen ausgestochen.«
Der Mann auf dem Boden stöhnte.
Joris nahm die Hand des Mannes in seine und legte den Arm vorsichtig in die vorgesehene Position. »Alles wird gut, ich bin Arzt, ich kann Ihnen helfen«, sagte er leise und voller Zuversicht.
Bo bewunderte seinen Vater für die Fähigkeit, selbst in solch einer Situation Hoffnung zu verbreiten. Er war kein Arzt, aber er hatte genug Verletzte gesehen, um zu wissen, dass dieser Mann nicht mehr lange zu leben hatte. Aus der Tiefe des riesigen Körpers kam ein Gurgeln und im nächsten Moment spuckte er Blut. Ein dunkler Bach rann über die hellen Steine.
Bo richtete sich auf. »Lass uns gehen.«
Joris hielt immer noch die Hand des Mannes. Sein Ärmel war blutverschmiert. Aber er rührte sich nicht. »Einen Moment noch.« Ein erneutes Gurgeln, dann ein tiefer, rasselnder Atemzug. Dann Stille.
»Das war’s.« Mit einer verinnerlichten Geste wollte Joris dem Toten die Augen schließen, ließ die Hand aber wieder sinken. »Er hätte ihnen die Kontaktlinse bestimmt auch freiwillig gegeben«, sagte er. »Die Ratten werden immer brutaler.« Er stand auf und wusch sich die Hände in einer der Pfützen.
»Beeil dich, ja?«, sagte Bo. »Wir müssen abhauen, bevor die Bullen kommen.« Er zog sich die Kapuze seines Pullovers noch tiefer ins Gesicht. Die wahren Gegner waren nicht die Ratten, sondern die Polizisten und ihre Überwachungskameras. Ein Wunder, dass sie nicht schon lange hier waren. Er nahm die Tasche und marschierte los. Als er sich nach seinem Vater umdrehte, stand der immer noch vor dem Toten. Der Mond hatte sich zwischen die Regenwolken geschoben. Sein weißes Licht warf scharfe Schatten.
»Komm!«
»Willem Duhnkreih«, murmelte Joris. »Seit wann hast du nicht mehr genug Geld, um dein Auto anständig zu betanken?«
»Joris!«
Endlich setzte sich sein Vater in Bewegung. Er ging gebeugt, als hätte ihm jemand eine unsichtbare Last auf die Schultern gelegt. Bo lief ihm entgegen, besorgt über die plötzliche Veränderung seines sonst so aufrechten Vaters. »Was ist los?«
Aber der antwortete nicht. Mit einer leichten Kopfbewegung deutete er nach hinten, zum Dach der alten S-Bahn-Haltestelle. Jetzt hörte Bo es auch. Ein leises Surren. Er musste nicht hinschauen, um zu wissen, was es bedeutete. Eine Überwachungskamera hatte sich in ihre Richtung gedreht. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie schon lief und was sie alles aufgezeichnet hatte. Er hatte nicht einmal gewusst, dass dort oben eine Kamera hing.
Und dann hörte er die Sirenen.
Sie rannten los, tauchten ein in das Gewirr der Straßen. Aber sein Vater war alt. Schon nach wenigen Minuten lehnte er keuchend an einer Wand. Sie waren in einem kleinen Quergang zwischen zwei größeren Straßen, zu klein für Autos und nach allem, was er wusste, auch ohne Überwachung.
»Gib mir die Tasche, Bo, schnell!«
Er drückte seinem Vater das abgewetzte Stück in die Hand. Der öffnete den Arztkoffer und löste an einer Stelle das Innenfutter. Dahinter, ganz genau konnte Bo es nicht erkennen, lag etwas, an das Joris seinen Daumen drückte. Der Fingerabdruck startete einen Mechanismus, der die feste Außenwand der Tasche wegklappen ließ. Oder das, von dem Bo bisher gedacht hatte, dass es die Außenwand sei. Als Joris seine Hand wieder aus dem schmalen Geheimfach hervorzog, befand sich ein alter, vergilbter Briefumschlag darin.
»Nimm.«
»Was …?«
»Betrachte es als mein Erbe. Lass dich nur nie damit erwischen. Auf den Besitz steht die Todesstrafe.«
»Aber …«
Joris’ Atem ging immer noch viel zu schnell. Trotzdem unterbrach er Bo. »Wir haben nicht viel Zeit. Der Tote, das war Duhnkreih, der Bürgerschaftspräsident. So jemand wird nicht einfach überfallen. Ich weiß nicht, wer ihn aus dem Weg räumen wollte, aber die Polizei wird uns für seinen Tod verantwortlich machen. Du musst untertauchen, Bosse. Sofort. Geh zu Tom, der kann dir helfen.«
»Warum kommst du nicht mit?«
Joris lächelte. Zum ersten Mal an diesem Abend. Er legte seine Hand auf Bos Schulter und sah ihn voller Zuneigung und Zärtlichkeit an. Sein Atem hatte sich beruhigt.
»Ich hab meine Kämpfe gekämpft. Ich bin zu alt für ein Leben im Untergrund. Außerdem möchte ich mich von Johanna verabschieden. Du weißt doch: Sie wird wahnsinnig vor Angst, wenn wir nicht nach Hause kommen. Ich will ihr erzählen, was passiert ist und was passieren wird, bevor sie mich abholen.«
»Dich abholen? Aber du hast doch nur versucht zu helfen.«
»Das ist denen egal. Sie brauchen einen Schuldigen und mich werden sie schneller finden als die Ratten.« Joris drückte ihm den Briefumschlag in die Hand. »Hier steht alles, was du über die Birds wissen musst. Ein Journalist hat diese Sachen recherchiert, damals, vor der Blutnacht, und dafür mit seinem Leben bezahlt. Aber dieser Text hat die Menschen dazu gebracht, sich zu wehren. Auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Vielleicht gelingt es dir erneut.«
»Aber …«
»Lauf. Lauf so schnell du kannst. Und mach mich stolz.«
Joris umarmte ihn. Bo fühlte die festen Arme seines Vaters, roch die Wolle des alten Mantels und dahinter, ganz leicht nur, den Geruch von Desinfekt. Er weigerte sich, diesen Abschied als endgültig zu akzeptieren. Aber in ihm keimte die Ahnung, dass das die letzte Umarmung gewesen sein könnte. Er hatte lange genug in Nordland gelebt, um zu wissen, dass den Birds alles zuzutrauen war. Außer Gerechtigkeit.
Und während sein Vater, die Tasche in der Hand, in die eine Richtung ging, rannte Bo in die andere, immer im Mondschatten der Häuser, die Kapuze seines Pullovers tief ins Gesicht gezogen.