Für Pat Schmatz
Jeremy steht an der niedrigen Betonmauer, die sich über mehrere Meilen an der Kante der Sunshine-Skyway-Brücke entlangzieht. Der Wind peitscht ihm das Haar aus der Stirn und bläst uns kühle, salzig riechende Nachtluft ins Gesicht. Jeremy stützt die Hände auf die Mauer und beugt sich übers Wasser. »Komm hier rüber, Mel!«
Die Mauer reicht mir nur bis zur Taille, und als ich mich davorstelle und nach unten schaue, wird mir ganz schwindelig – als könnte ich allein durch die Schwerkraft hinuntergezogen werden. Weit unter mir liegt das tintenschwarze Wasser. Zitternd trete ich zurück und blicke zu Jeremy auf. Er hält das Gesicht in den Wind, und ich präge mir sein Profil ein, als machte ich ein Foto: das schwarze Haar, das ihm aus der hohen Stirn geweht wird, die lange, etwas gekrümmte Nase, die leicht geöffneten Lippen, den ernsten Blick. Entschlossen.
»Jeremy?«, sage ich. Meine Stimme kommt mir fremd vor. »Wir ziehen das doch nicht wirklich durch, oder?«
»Doch.« Er sieht mich an. »Du hast gewusst, dass wir’s tun werden.«
»Keine Ahnung. Ich hab nicht geglaubt, dass wir wirklich so weit gehen.«
»Wir werden nichts spüren. Es wird schnell gehen, Mel. Ganz schnell.«
Ich stelle mir die endlosen Sekunden des Fallens vor, die verlangsamte Zeit, das dunkle Wasser, das auf mich zurast. Wird mein ganzes Leben vor meinen Augen aufblitzen? Oder ist das nur ein Mythos?
»Komm!«, fordert Jeremy mich auf. »Nimm meine Hand. Wir springen zusammen.« Er streckt die Hand nach mir aus, ich ergreife sie und wundere mich, wie warm sie ist. Mit der anderen Hand klammere ich mich noch fester an den Stahlpfosten des Halteverbotsschildes, neben dem wir geparkt haben.
Wahrscheinlich klingt es verrückt, aber ich habe schreckliche Angst, zu fallen.
»Es ist okay, Mel«, sagt Jeremy. Seine Stimme ist so leise, dass ich ihn bei dem Wind, der durch die Brückenkabel heult, kaum verstehen kann.
»Jeremy.« Ich fange an zu weinen. »Hör auf. Bitte.«
»Hast du es dir anders überlegt? Denn wenn es so ist …«
»Vielleicht«, erwidere ich. »Ich weiß nicht.« Mittlerweile ist mein Weinen in Schluchzen übergegangen. »Ich weiß es nicht.« Jeremy glaubt, dass wir zurückkehren, dass wir wiedergeboren werden. Ich weiß nicht, was ich glaube. Ich hatte nie solche Träume wie er. Wenn ich ehrlich bin, denke ich, das hier ist alles, was es gibt: Du kriegst nur eine Chance, ein Leben, und du hast nur die Wahl, ob du es leben willst oder nicht. Wenn wir springen, wird sich die Welt einfach ohne uns weiterdrehen.
»Komm schon«, drängt er. »Wir tun’s jetzt. Bereit?« Er schwingt ein Bein über die Mauer.
»Nein. Jeremy …« Ich greife nach seinem Arm, und das Gewicht seines hinabstürzenden Körpers reißt mich nach vorn. Etwas in meinem Inneren schreit: Nein, nein, nein!, und mein Herz hämmert so verzweifelt in meiner Brust, dass es wehtut, aber es ist zu spät, meine Füße heben sich vom Boden, ich werde fallen …
Doch dann rutscht mir Jeremys Ärmel aus der Hand. Panisch suche ich Halt, umklammere den Stahlpfosten, zappele mit den Beinen, versuche, mit den Füßen wieder Halt auf der Brücke zu finden. Ich bin noch hier, stehe an der Kante.
Und Jeremy ist fort.
Ich starre hinab in die Dunkelheit, die ihn verschluckt hat. Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ich kann nichts sehen, kann nicht einmal die Wasseroberfläche unter der Brücke erkennen. Da unten ist nichts als Schwarz, ein undurchdringliches, schwarzes Nichts.
Ich könnte es immer noch tun, könnte immer noch springen … aber ich weiß längst, dass ich es nicht tun werde. Ich wende mich von der Brüstung ab und sehe ein Auto nach dem anderen vorbeifahren. Leute, die ihr Leben weiterführen, als sei nichts geschehen. Niemand hält an. Meine Beine fühlen sich an wie Pudding. Mein Atem geht unregelmäßig und keuchend. Entferntes Sirenengeheul wird lauter, und am Ende der Brücke blitzen rote und blaue Blinklichter auf. Ich warte wie erstarrt, bis ein Polizeiwagen rechts heranfährt und ich jemanden rufen höre. Erschöpft sinke ich zusammen, lehne mich mit dem Rücken an die Betonmauer. Ich zittere am ganzen Körper und meine Zähne schlagen aufeinander. Zwei uniformierte Männer steigen aus dem Auto. Einer von ihnen kommt langsam auf mich zu, mit erhobenen Händen, die Handflächen nach vorn, als würde er sich einem wilden Pferd nähern, das er nicht erschrecken will. »Ist schon gut«, versucht er mich zu beruhigen.
Aber nichts ist gut. Nichts wird je wieder gut sein. »Er ist gesprungen«, sage ich. »Jeremy ist gesprungen.«
»Willst du nicht ins Auto einsteigen?«, fragt er. Er ist ein älterer Typ mit grauem Stoppelhaar und müden Augen. »Bei dem Wind wirst du noch krank.«
»Was ist mit Jeremy?«
»Ein Rettungsboot ist schon unterwegs und sucht nach ihm«, erklärt er. »Jemand hat ihn springen sehen und es gemeldet.«
Damit sie nach seiner Leiche suchen, denke ich. Mehr ist da unten nicht zu finden. All das, was ihn zu Jeremy gemacht hat, ist fort. Ich setze mich in Richtung Auto in Bewegung und sehe, wie sich die Körperhaltung des Polizisten entspannt. »Er ist einfach gesprungen«, wiederhole ich. »Ich hab nicht geglaubt, dass er es wirklich durchzieht.«
»Schon der Vierzehnte in diesem Jahr«, sagt der zweite Mann. Er lehnt am Wagen, und hinter ihm steigen die beleuchteten, gelben Brückenkabel in den nachtschwarzen Himmel auf – wie ein schimmerndes Kunstwerk von bizarrer Schönheit. Als ich näher komme, richtet er sich auf und öffnet die hintere Wagentür. »Steig ein und wärm dich auf.«
Ich setze mich auf die Rückbank und schlinge die Arme um mich. Der erste Polizeibeamte nimmt neben mir Platz und sein jüngerer Kollege klemmt sich hinters Steuer. Die Türen werden automatisch verriegelt, vielleicht weil sie fürchten, ich könnte nach draußen stürmen und über die Betonbrüstung springen.
Sämtliche Muskeln in meinem Körper vibrieren wie straff gespannte Drähte. »Ich hab nicht geglaubt, dass er es ernst meint«, murmele ich. »Hab nicht geglaubt, dass er es wirklich tut.«
»Ich bin Officer Jeffers«, stellt sich der Polizist, der neben mir sitzt, vor. »Wie heißt du?«
»Melody.«
»Melody, wart ihr ein Paar, du und der Junge, der gesprungen ist?«
Ich schüttele den Kopf. »Wir waren nur Freunde.« Ich fühle mich wie betäubt. Nichts von alldem hier scheint real. »Sein Name ist Jeremy Weathers.«
Der Polizist am Steuer spricht in sein Funkgerät. Dann dreht er sich zu mir um. »Weißt du seine Adresse?«
Ich sehe Jeremys Elternhaus vor mir: ein eingeschossiger Bungalow, Palmen auf dem Rasen. »Ähm, Lakewood Estates«, sage ich. »Er wohnt bei seiner Mom … kann mich nicht an die Hausnummer erinnern. Die Straße heißt Desoto Street, nicht weit vom Columbus Way.«
Der Polizist gibt die Informationen weiter, und ich stelle mir vor, wie jemand losfährt, durch die breiten, dunklen Straßen des Viertels, die lange Einfahrt hinauf. Ein Polizist klopft an die Tür, Jeremys Mutter öffnet. Wahrscheinlich trägt sie einen Bademantel, da sie mitten in der Nacht geweckt wurde. Sie sieht den Polizisten vor der Tür stehen und spürt, wie eiskalte Angst ihr Herz erstarren lässt.
Meine Anwesenheit in der jetzigen Situation ist nicht vorgesehen. Jeremy und ich haben nie über die Zeit nach dem Sprung von der Brücke geredet. Ich habe nie darüber nachgedacht, was danach geschehen würde.
Ein Danach war nicht vorgesehen.
»Der Mann, der es gemeldet hat, meinte, du hättest an der Mauer gestanden, neben dem Jungen, der gesprungen ist«, sagt Jeffers, der ältere Polizist. »Es sah aus, als hättest du versucht, ihn davon abzuhalten.«
Ich schaue ihn verständnislos an und die beiden Männer tauschen einen Blick.
»Wir bringen dich jetzt ins Krankenhaus.« Er greift nach dem Sicherheitsgurt und schnallt mich an. »Sollen wir jemanden dorthin bestellen? Deine Mom vielleicht?«
Ich schließe die Augen und wünsche mir einen Moment lang, ich wäre auch gesprungen. Aber nicht im Ernst. Denn in dem Augenblick, als Jeremys Gewicht mich fast mitgerissen hätte, in dem Augenblick, als ich dachte, ich würde fallen, da wurde mir eines klar: Ich wollte nicht sterben. »Ich möchte nach Hause«, sage ich.
»Ich verstehe das einfach nicht«, meint der jüngere Polizist. »Zwei Kids wie ihr, jung, gesund, noch das ganze Leben vor euch. Was könnte so schrecklich sein, dass ihr deswegen sterben wollt?«
Jeremys Sturz in die Tiefe ist alles, woran ich denken kann.
»Was für eine Verschwendung«, fährt er fort und lässt den Motor an. »Was für eine verfluchte Verschwendung.«
Ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, Jeremy schaute beim Fallen nach oben. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen – erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf sein bleiches Gesicht und seinen offenen Mund, und dann war er verschwunden. Hat er etwas gesagt? Wurde ihm klar, dass ich nicht gesprungen war, dass ich meine Hand weggezogen hatte?
Vielleicht schaute er auch gar nicht nach oben. Vielleicht habe ich diese Erinnerung erfunden. Ich war in Panik, hatte Mühe, Bodenhaftung zu behalten und mich an dem Stahlpfosten festzuklammern.
Ich weiß nicht, wie verlässlich Erinnerungen sind.
*
Ich bitte die Polizisten, mich nach Hause zu fahren, doch stattdessen bringen sie mich ins Krankenhaus. Anscheinend halten sie mich für suizidgefährdet, obwohl ich mich ganz offensichtlich entschieden habe, nicht zu springen, als ich die Möglichkeit dazu hatte. Eine Krankenschwester führt mich in einen winzigen Raum, und der jüngere Polizist bleibt an der Tür stehen – für den Fall, dass ich abhauen will, nehme ich an.
»Gleich kommt eine Sozialarbeiterin runter und redet mit dir«, erklärt die Krankenschwester, eine ältere Frau mit kurzem, grauem Haar und einer Namensschildkette aus kleinen, bunten Perlen. »Sie muss jeden Augenblick hier sein.«
»Hat jemand meine Eltern benachrichtigt?«, frage ich.
»Nein. Soll ich sie anrufen?«
»Nein. Bitte nicht«, sage ich hastig. »Aber es ist schon nach elf und sie erwarten mich bald zurück. Kann ich nicht einfach nach Hause fahren? Bitte!« Der Wagen meiner Mom steht immer noch auf der Brücke im Halteverbot, fällt mir ein. Vielleicht wurde er mittlerweile abgeschleppt.
»Eins nach dem anderen«, mahnt die Krankenschwester.
Ich setze mich auf einen grauen Plastikstuhl. Die Krankenschwester verlässt den Raum und ich blicke zur offenen Tür. Der jüngere Polizist steht immer noch da. »Ist Jeremy … Wissen Sie, ob …«
Er schüttelt den Kopf. »Habe noch nichts gehört.«
»Hallo, Melody?« Ohne den Polizeibeamten zu beachten, schlüpft eine junge Frau durch die Tür. »Ich bin Christine. Ich bin Sozialarbeiterin hier im Krankenhaus. Ich würde gern mit dir reden. Ist dir das recht?«
Anscheinend bleibt mir keine andere Wahl. Sie zieht einen Stuhl heran und setzt sich zu mir. Sie ist jung, Mitte zwanzig, mit schulterlangen, braunen Haaren, Sommersprossen und großen, dunklen Augen. An ihren Ohren baumeln kleine Muffin-Ohrringe. »Du musst ganz schön geschockt sein«, sagt sie.
Ich nicke. »Haben Sie was gehört? Haben sie ihn gefunden …«
»Jeremy? Ja, haben sie. Er ist ziemlich schwer verletzt, Melody.« Ihre Stimme klingt sanft, behutsam.
»Er lebt?« Diese Möglichkeit war mir gar nicht in den Sinn gekommen. Ich fand es unvorstellbar, dass man einen solchen Sturz überleben konnte.
»Ja. Er wurde hierhergebracht – ist kurz vor dir eingeliefert worden. Er ist bei Bewusstsein geblieben, als er auf der Wasseroberfläche aufgeschlagen ist. Zum Glück war gerade ein Bootsfahrer draußen, der ihn schnell herausfischen konnte. Aber er schwebt noch in Lebensgefahr. Er wird gerade operiert.« Sie sieht mir in die Augen und ihr Blick ist unergründlich. »Der Polizist meinte, dass ihr beide zusammen auf der Brücke gestanden habt. Ist das richtig?«
»Ich wollte nur … ich wollte es ihm ausreden. Ihn dazu bringen, es nicht zu tun«, erkläre ich. Gott. Was, wenn er gehofft hatte, dass ich es versuchen würde? Vielleicht hätte er einen Rückzieher gemacht, wenn ich ihm zugeredet hätte. Aber ich habe ihn nicht angefleht, es nicht zu tun; ich habe ihm nicht einmal die Wahrheit gesagt, als er mich fragte, ob ich es mir anders überlegt hätte. Ich hätte ihn aufhalten können. Ich weiß, dass ich es gekonnt hätte.
Wird er mich hassen, wenn er überlebt? »Kann ich ihn sehen?«, flüstere ich.
»Jetzt noch nicht.«
»Aber er wird es doch schaffen?«
»Ich weiß es nicht.« Sie sieht meinen verzweifelten Blick. »Ich weiß es wirklich nicht, Melody. Ich weiß nicht mehr als das, was ich dir gesagt habe.«
Ich nicke, und mir kommen wieder die Tränen. »Kann ich bitte einfach nach Hause? Meine Eltern flippen aus, wenn ich um Mitternacht nicht zurück bin.«
»Wir können sie anrufen.«
»Aber ich möchte nicht, dass sie hiervon erfahren.«
»Wie alt bist du, Melody?« Sie schaut auf den Zettel in ihrer Hand. »Fünfzehn?«
»Sechzehn.«
»Meinst du nicht, dass deine Eltern gern Bescheid wüssten?«
Ich will nicht weinen. Ich balle die Hände zu Fäusten und meine Fingernägel graben sich in die Handflächen. »Ich werd’s ihnen sagen.«
Sie sieht mich lange an. »Ich muss sicher sein, dass du keine Dummheiten machst.«
»Mache ich nicht«, verspreche ich ihr. »Ich wollte nicht springen.«
Ihre dunklen Augen fixieren mich, und ich muss mich zusammenreißen, um nicht wegzuschauen. »Ich wollte nicht springen, wirklich nicht«, wiederhole ich. »Ich wollte nur – mir war einfach nicht klar, dass Jeremy es ernst gemeint hat. Und als ich es kapiert habe, war es zu spät.«
»Erzähl mir ein bisschen von Jeremy«, bittet sie mich. »Wie habt ihr euch kennengelernt?«
»Durch die Schule«, antworte ich. »Zu Beginn des Schuljahres. Wir haben einfach angefangen, uns zu unterhalten.«
Bei unserem allerersten Gespräch redeten Jeremy und ich über den Tod. Es war im letzten September, der Himmel weit, klar und blau, die Sonne eine glühende weiße Scheibe. Ich saß auf der Kirchentreppe gegenüber der Schule, weil das Rauchen auf dem Schulgelände verboten ist. Ich las Camus und drehte mir gerade eine Zigarette, als er sich neben mich setzte.
»Hey«, sprach er mich an. »Hast du Feuer?«
Ich schob den Finger ins Buch, um die Seite nicht zu verschlagen, und blinzelte zu ihm hoch. Er war groß, sehr schlank und zu bleich für Florida im Spätsommer. Ich wusste nicht, wer er war, aber er kam mir irgendwie bekannt vor, als hätte ich ihn schon mal in der Schule gesehen. Ich zog mein Feuerzeug aus der Tasche und reichte es ihm.
Er steckte sich eine Zigarette an. »Normalerweise rauche ich gar nicht«, erklärte er. »Ehrlich gesagt, habe ich die hier gerade geschnorrt, damit ich eine Entschuldigung habe, dich anzusprechen.«
»Ach ja?«, erwiderte ich skeptisch. Auf der anderen Straßenseite sah ich ein paar Mädchen, die dicht beieinanderstanden und miteinander lachten und schwatzten. Devika und Adriana und einige andere. Ich fragte mich, ob sie ihn angestiftet hatten.
»Du drehst selbst, was? Find ich cool.«
Ich zog die Schultern hoch. »Was willst du von mir?«
»Nichts.« Er trommelte mit den Fingern auf dem Oberschenkel, zog an der Zigarette und schnitt eine Grimasse. »Ist ja widerlich. Ich verstehe nicht, wieso irgendjemand sich das antut.«
»Im Todestrakt rauchen fast alle«, erwiderte ich.
Er drückte seine Zigarette aus. »Wir sind alle im Todestrakt.«
»Ich meine es wörtlich«, schnaubte ich. »Die Gefangenen im State Prison. Die rauchen alle.«
»Ich hab’s auch wörtlich gemeint. Wir kennen unser Hinrichtungsdatum nicht, aber wir teilen alle dasselbe Schicksal.«
»Bist du ein Schulamokläufer oder was? Willst du alle umbringen?«
Er lachte unvermittelt auf, wodurch sich sein Gesicht total veränderte. »Nein. Blödsinn. Ich wollte nur sagen, dass wir alle irgendwann sterben werden.«
»Äh, ja. Offensichtlich.« Ich wandte mich wieder meiner Lektüre zu. »Wenn’s dir nichts ausmacht, würde ich gern weiterlesen.«
»Klar.« Er stand auf. »Ich bin übrigens Jeremy.«
»Melody«, entgegnete ich, obwohl er meinen Namen sicher längst wusste. »Richte deinen Freundinnen da drüben aus, dass sie mich mal können.«
»Meinen Freundinnen?« Er schaute zu der Mädchengruppe vor der Schule, auf die ich zeigte. »Die da? Oh, nein. Das sind nicht meine Freundinnen.«
»Schön«, entgegnete ich. »Meine auch nicht.« Ich schlug mein Buch auf und versuchte zu lesen, aber er stand immer noch da und ich konnte mich nicht konzentrieren. Die Zementstufen hatten die spätsommerliche Hitze gespeichert und strahlten sie ab, und das Sonnenlicht, das auf die weißen Buchseiten fiel, blendete mich.
»Wir sehen uns«, verabschiedete er sich.
Ich nickte. Ich wollte nicht zu ihm hochsehen, aber ich konnte nicht anders. Unsere Blicke trafen sich, und er schaute nicht weg, blinzelte nicht und lächelte nicht. Er erwiderte einfach meinen Blick. Es war absolut merkwürdig, aber mir kam es vor, als schaue er direkt in mein Innerstes. Als sehe er mich auf eine Weise, wie mich noch keiner jemals wahrgenommen hatte.
Verlegen senkte ich den Kopf und starrte wieder auf mein Buch, denn er sollte nicht mitbekommen, dass meine Wangen zu glühen angefangen hatten. Als ich wieder aufsah, war er verschwunden.
*
Die Tür geht auf und die grauhaarige Schwester steckt den Kopf in das kleine Krankenhauszimmer. »Könnte ich dich kurz sprechen, Christine?«
Christine steht auf. »Sicher. Bin gleich wieder da, Melody.«
Sie zieht die Tür hinter sich zu, ohne sie ganz zu schließen. Ich versuche zu lauschen, aber obwohl ich Christines Rücken sehen kann – hellgrünes Shirt und schwarze Hose – höre ich nur undeutliches Gemurmel und kann nicht verstehen, was sie sagen. Wenigstens habe ich jetzt einen Moment für mich, um nachzudenken. Mir meine Geschichte zurechtzulegen. Vor allem will ich verhindern, dass meine Eltern ausflippen. Sie sollen nicht glauben, ich sei suizidgefährdet. Sie wären am Boden zerstört. Ich kann ihnen unmöglich erklären, was passiert ist.
Ich muss bei dem bleiben, was ich der Sozialarbeiterin erzählt habe – dass ich versucht habe, Jeremy vom Springen abzuhalten. Es fühlt sich an wie ein weiterer Verrat, aber ich weiß keine Alternative. Die Wahrheit auszusprechen ist keine Option.
Die Tür öffnet sich erneut, und mir stockt der Atem, als ich sehe, wer hinter Christine ins Zimmer kommt.
»Mrs Weathers«, stammele ich. Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen und da haben wir außer Guten Tag und Auf Wiedersehen kaum ein Wort miteinander gewechselt. Sie ist groß und dünn wie Jeremy, mit dunklen Haaren und heller Haut. Sie ist eine schöne Frau, aber jetzt sieht sie furchtbar aus. Ihre Haare hängen strähnig herunter und unter ihrer Regenjacke trägt sie ausgebeulte Jogginghosen und ein T-Shirt.
»Melody«, murmelt sie. Ihre Augen sind ganz rot.
Ich stehe verlegen auf. »Es tut mir so leid«, platze ich heraus. »Ich hätte ihn davon abhalten müssen.«
»Du hast dein Bestes getan«, versichert sie mir und zieht mich an sich. Ich erwidere ihre Umarmung und fühle, wie ihre Schultern beim Weinen beben. »Mach dir keine Vorwürfe.«
Ich löse mich von ihr. Wenn sie die Wahrheit wüsste, würde sie mich hassen.
»Wusstest du … hattest du den Eindruck, dass er depressiv war?«, fragt sie. »Ich kann es nicht fassen. Wie konnte er nur? Es schien ihm doch gut zu gehen. Ich habe mir das Hirn zermartert, ob ich irgendetwas übersehen habe.«
Christine murmelt ein paar mitfühlende Worte, doch Mrs Weathers schenkt ihr keine Beachtung. »Hat er was zu dir gesagt, Melody?«, fragt sie. »Wusstest du, dass er geplant hat, so etwas zu machen?«
»Nein, eigentlich nicht. Nein. Jedenfalls nicht vor heute Abend.« Meine Handflächen sind schweißnass, und mein Herz schlägt so laut, dass ich mich frage, ob sie es hören kann.
Meine Mom behauptet, sie würde es sofort merken, wenn ich lüge. Sie meint, ich könne ganz schlecht etwas verbergen. Ich bete zu Gott, dass sie unrecht hat.
*
Zu Anfang war die ganze Selbstmordgeschichte nichts weiter als ein Spiel. Oder vielleicht nicht gerade ein Spiel, sondern eher eine Art Fantasie. So was wie ein makabrer Scherz. Ich würde es niemals zugeben – und jetzt schon gar nicht mehr –, aber es hat tatsächlich irgendwie Spaß gemacht.
Es begann, als ich zum zweiten Mal mit Jeremy sprach. Nach jenem ersten Treffen gegenüber der Schule begegnete ich ihm ab und an im Schulflur. Ich nickte ihm zu und er nickte zurück, aber wir redeten nicht wirklich miteinander. Dann steckte eines Tages etwas in meiner Schließfachtür: ein liniertes Blatt Papier, zu einem kleinen Quadrat zusammengefaltet. Ich zog es heraus. Es war ein Himmel-und-Hölle-Spiel, wie man es als Kind bastelt, indem man das Papier so faltet, dass kleine Taschen entstehen, in die man Daumen und Zeigefinger hineinschiebt, um das Ganze wie einen Papiermund öffnen und schließen zu können.
Ich schaute genauer hin. Die vier Ecken waren mit den Zahlen eins bis vier nummeriert. Ich überlegte, wie das Spiel funktionierte. Man musste eine Zahl auswählen und den Papiermund entsprechend oft auf- und zumachen. Eins, zwei, drei. Und was dann? Eine Lasche auswählen und aufklappen? Ich war ein bisschen irritiert. War es irgendein Trick, eine weitere Melody-Verarsche? Ich faltete das Spiel auseinander, um zu sehen, welche fiesen Kommentare man hineingekritzelt hatte. Es gab acht winzige Dreiecke, die jeweils eine mit ordentlichen kleinen Buchstaben geschriebene Botschaft enthielten. Und auf allen Dreiecken stand dasselbe: »Da man sterben muss, ist es ganz unwesentlich, wann und wie – das ist klar« (Camus, Der Fremde, 1942). Melody, sollen wir uns nach der Schule treffen? Lass uns zusammen abhängen. Jeremy, dein Kamerad im Todestrakt
Unwillkürlich musste ich grinsen. Es war schräg, na und? Ich war auch schon immer ziemlich schräg gewesen.
Jeremy wartete an der Eingangstreppe der Schule auf mich.
»Hey«, begrüßte ich ihn und hielt die Hand hoch.
»Schöne Fingernägel«, stellte er fest.
Ich hielt sie ihm unter die Nase: kurz geschnitten und neongrün, als Verzierung ein paar Sticker mit pinkfarbenen Schädeln und gekreuzten Knochen. »Suzy hat sie mir gemacht. Das kleine Mädchen, auf das ich immer aufpasse.« Suzy, eine achtjährige, hochbegabte Drittklässlerin, verfügt über einen unglaublichen IQ, ist besessen vom Weltall und besitzt ein pinkfarbenes Zimmer und einen fragwürdigen Modegeschmack. »Gefällt’s dir?«
»Erinnert ein bisschen an Fluch der Karibik«, meinte er. »Disney-Prinzessin trifft Jack Sparrow.«
Ich verdrehte die Augen. »Klingt echt cool.«
Devika und Adriana gingen an uns vorbei, drehten sich um, starrten uns kurz an und begannen zu tuscheln und zu kichern, als hätten sie Jeremy und mich nicht bei einem Gespräch, sondern bei irgendwas Unanständigem erwischt.
»Was sollte das denn gerade?«, wollte Jeremy wissen. »Wieso machen diese Mädchen dir das Leben schwer?«
Das mochte ich an ihm, dass er sich wirklich für mich interessierte und mir Fragen stellte, um mich besser zu verstehen – doch dies war eine Frage, die ich nicht beantworten wollte. »Weißt du das etwa nicht?«
Er wurde tatsächlich rot, was ich ziemlich liebenswert fand, auf etwas vertrottelte Weise. »Ich hab irgendwas gehört, aber ich wusste nicht, ob es nur Gerede war.«
»Was hast du gehört?«
Jeremy zögerte. »Ich habe gehört, du hättest versucht, dich umzubringen. Letztes Jahr auf einer Party.«
Ich fragte mich, ob er mich deshalb angesprochen hatte: aus Neugierde auf meine angeblichen suizidalen Neigungen. »Ja«, erwiderte ich. »Sie nennen mich Todesengel. Nett, was? So ermutigend.«
»Wolltest du denn? Ich meine, stimmt es?«
»Nein. Nicht wirklich. Ich hab ein paar Gläser getrunken und war ziemlich deprimiert. Dann hab ich ein paar Paracetamol-Tabletten eingeworfen, so fünf oder sechs, und es blöderweise jemandem erzählt. Adriana. Ich dachte, sie sei meine Freundin.« Ich zuckte mit den Achseln und zog mir die Sweatshirtärmel über die Hände. »Ehe ich mich versah, wurde ich in einen Krankenwagen gesteckt, und die ganze Schule hat darüber geredet.«
»Fünf Paracetamol? So, so! Mädchen machen das immer. Oder sie schneiden sich in den Arm.« Er grinste. »Sie lieben es dramatisch, aber ohne wirkliches Risiko.«
»Ich habe nie gesagt, dass ich versucht hab, mich umzubringen, Schwachkopf. Wenn ich hätte sterben wollen, hätte ich das ganze Röhrchen Paracetamol geschluckt, okay? Ich bin doch nicht blöd. Was ist mit Rauchen? Das wird mich wahrscheinlich auch umbringen, wenn ich lange genug lebe.«
»Also, was nun? Willst du sterben? Ja oder nein?«
Nein, wollte ich sagen, aber ich wollte verhindern, dass er das Interesse an mir verlor. Und außerdem dachte ich manchmal, dass ich vielleicht wirklich sterben wollte. Manchmal fand ich die Welt echt beschissen. »Ist mir egal, ob so oder so«, eröffnete ich ihm. »Wie es in meinem Zeugnis steht: Ich bin unmotiviert.«
Er lachte. »Ah, eine suizidale Versagerin.«
Ich mochte sein klares, helles Lachen, die Art, wie er das Kinn hob, wie er seine Augen zusammenkniff, dass sie zu zwei wimpernbesetzten Linien wurden.
Er lehnte sich an die Ziegelwand des Schulgebäudes. »Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, hast du Camus gelesen, stimmt’s? Der Fremde.«
»Aufmerksam beobachtet.«
»Ich bin kein Stalker oder so. Mich interessiert einfach, was Leute lesen.«
»Hast du’s gelesen?«
»Ich hab’s angefangen. Bin nicht reingekommen.«
»Du solltest es noch mal versuchen«, riet ich ihm.
»Kann sein. Ich konnte einfach nichts mit dem Typen anfangen. Wie hieß er noch gleich?«
»Meursault.«
»Ach ja. Ich meine, am Anfang, als seine Mutter stirbt und er so tut, als ob nichts passiert wäre? Das fand ich einfach ein bisschen daneben, verstehst du?«
»Hmm«, sagte ich unverbindlich. »Hast du noch nie anders reagiert, als die Leute es von dir erwarten?«
»Wahrscheinlich schon. Aber trotzdem.«
»Ich weiß. Es ist ganz schön krass.«
»Ich hab ein paar andere Texte von ihm gelesen. Mit Sachbüchern komme ich besser zurecht. Ich kann dir Der Mythos des Sisyphos leihen, wenn du willst. Wusstest du, dass Camus gesagt hat, Selbstmord sei das einzige wirklich ernste philosophische Problem?«
»Echt? So wie ›Sein oder nicht sein‹?«
»Im Prinzip schon.«
»Dann hat Shakespeare es also als Erster gesagt.«
Er lachte. »Todesengel. Das ist irgendwie süß. Darf ich dich TE nennen?«
»Nein, darfst du nicht.«
Damals erschien mir diese Unterhaltung nicht besonders wichtig, aber jetzt glaube ich, dass damit alles angefangen hat.
Mrs Weathers weint, und Christine redet leise auf sie ein, und obwohl wir alle in diesem winzigen Raum hocken, kommt es mir vor, als hätten die beiden mich vergessen. Ich erwäge gerade, mich unbemerkt davonzuschleichen, als es erneut an der Tür klopft.
»Mrs Weathers?« Ein Arzt – zumindest nehme ich an, dass er einer ist, weil er grüne Krankenhauskleidung trägt – tritt ins Zimmer. »Jeremy hat die Operation überstanden. Sie ist gut gelaufen. Er hat mehrere Frakturen, einige Rippen sind gebrochen und er hat einen Lungenkollaps erlitten.« Er räuspert sich und fummelt an seinem Namensschild herum, das er an einer Kette um den Hals trägt. »Seine Milz war gerissen und wir mussten sie entfernen. Ein paar gebrochene Wirbel, aber zum Glück keine Rückenmarksverletzung. Er muss eine Weile hierbleiben, aber wir können davon ausgehen, dass er wieder in Ordnung kommt.«
Mrs Weathers steht auf und bricht erneut in Tränen aus. »Oh, mein Gott. Oh, ich danke Ihnen. Danke. Kann ich ihn sehen?«
Der Arzt nickt. »Er ist noch nicht wieder bei Bewusstsein, aber Sie dürfen zu ihm.«
Ohne ein weiteres Wort zu mir folgt sie ihm aus dem Zimmer und ich schaue ihr nach. Ich frage mich, was Jeremy sagen wird, wenn er wieder zu sich kommt.
Christine richtet ihre Aufmerksamkeit erneut auf mich. »Nun, das ist eine gute Nachricht.«
Ich versuche zu lächeln und habe das Gefühl, eine Maske zu tragen. »Ja. Ja.«
»Wirklich unglaublich. Nach einem solchen Sturz. Wie hoch ist die Brücke, fünfzig Meter?«
»Knapp hundert, glaube ich.« Ich wünschte, ich könnte die Worte wieder einsaugen. Ich dürfte das nicht wissen, oder? Ich zupfe am Saum meines kurzen Kleides und ziehe es bis zu den Knien. Meine bloßen Oberschenkel wirken auf dem Plastikstuhl unangebracht nackt.
»Ein Wunder«, sagt Christine.
Ein Wunder. Das ist es wohl, wenn man an solche Dinge glaubt. Nicht, dass ich nicht froh wäre, dass er am Leben geblieben ist – natürlich bin ich das. Ich kann nur einfach nicht glauben, dass er gesprungen ist.
»Lass uns deine Eltern anrufen«, sagt Christine. »Ich sehe keinen Grund, dich hierzubehalten, aber mir wäre wohler, wenn du von einem sorgeberechtigten Erwachsenen nach Haus gebracht würdest.«
Mir bleibt eh keine Wahl, ich kann das hier nicht geheim halten. »Ich rufe sie an.« Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und gebe unsere Nummer ein.
Vicky meldet sich beim ersten Klingeln. »Melody? Wo steckst du?«
»Ich bin im Krankenhaus. Ähm, Bayfront Medical Center.«
»Oh, mein Gott! Geht’s dir gut? Was ist denn passiert?« Ihre Stimme wird mit jedem Wort lauter, und ich weiß, dass sie Autounfälle, betrunkene Fahrer und Gott weiß was vor Augen hat.