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ÜBER DIE AUTORIN

Maile Meloy, 1972 in Montana geboren, ist die Autorin der Romane Tochter einer Familie (2010) und Lügner und Heilige (2011) und mehrerer Erzählbände. Meloys mehrfach ausgezeichnete Kurzgeschichten wurden im New Yorker, der Paris Review, Granta und Best American Short Stories veröffentlicht. 2007 wurde sie als eine von Grantas 21 Best Young American Novelists ausgewählt.

ÜBER DAS BUCH

Eigentlich war die Kreuzfahrt eine großartige Idee: Während Liv und Nora mit ihren Ehemännern entspannen, toben sich die vier Kinder im Kids-Club aus. Doch was bei einem Ausflug an Land passiert, ist der Albtraum so ziemlich jeder Familie: Wegen eines Moments der Unachtsamkeit der Mütter sind die Kinder plötzlich spurlos verschwunden. Während die Eltern zunächst sich selbst und dann sich gegenseitig beschuldigen, geht es bei den Kindern ums blanke Überleben.

Nichts geht so durch Mark und Bein wie das Verschwinden der eigenen Kinder. In Maile Meloys Roman erlebt man Angst und Schuldzuweisungen der Eltern genauso mit wie den Mut und die Abenteuerlust der Kinder.

»Das ist ein Buch, nach dem man sich sehnt: intelligent, spannend und unmöglich beiseite zu legen. Ein beunruhigend gutes Buch.«

Ann Patchett

»Maile Meloy ist eine derart talentierte und unberechenbare Autorin, dass ich offiziell ihrem Fanclub beitrete; was auch immer sie als Nächstes schreibt – ich werde es lesen.«

The New York Times Book Review

»Eine brillante Autorin mit einer packenden Geschichte und so lebensnahen Personen, dass ich keine wieder vergessen kann. Für alle, die wissen, was es heißt, sich um geliebte Menschen zu sorgen.«

Helen Fielding

Kein & Aber

1.

Das Kreuzfahrtschiff ragte riesig über dem Dock in San Pedro auf. Es sah aus wie eine überdimensionale Hochzeitstorte, oder vielleicht auch wie ein schwimmender Häuserblock, jedenfalls nicht wie ein Schiff.

Liv und ihre Familie gaben den Portiers die Koffer und nahmen nur das Handgepäck mit ins Terminal. Ihr Mann Benjamin betrachtete fasziniert den Kai, der Tausende von Menschen auf Schiffe mit bis zu fünfzehn Decks brachte. Beim Check-in beantwortete Liv die Frage auf dem Formular, ob sie oder ihre Kinder während der letzten zwei Wochen krank gewesen seien, mit Nein. Das war gelogen. Sebastian und Penny waren acht und elf, und es war Dezember. Die beiden waren praktisch wandelnde Bazillenschleudern.

»Du kreuzt auch Nein an, oder?«, fragte ihre Cousine Nora im Flüsterton. Noras Sohn Marcus war genauso alt wie Penny, und beide kämpften gerade mit der gleichen Erkältung. Noras sechsjährige Tochter June hatte Husten.

»Klar«, flüsterte Liv zurück. Bestimmt logen alle anderen bei dieser Frage auch, und der Veranstalter rechnete ohnehin damit. Ein Mitarbeiter mit hellgrünem Brillengestell nahm ihre Pässe in Verwahrung und händigte ihnen dafür Plastikkarten zum Öffnen der Türen und als Zahlungsmittel aus.

Penny drehte ihre Karte hin und her. »Kann ich mir damit was kaufen?«

»Ja, wenn deine Mutter es erlaubt«, antwortete der Mann.

»Erlaubst du es mir? Bitte!«, rief Penny und wedelte Liv mit der Karte vor dem Gesicht herum.

»Was willst du denn überhaupt kaufen?«, fragte Liv.

»Na, so Sachen«, gab Penny zurück.

Zwei adrette junge Australierinnen in weißen Uniformen baten sie, sich für ein Foto vor einem Rettungsring aufzustellen. Benjamin legte den Arm um Liv, Penny und Sebastian stellten sich vor ihnen auf. Diese Familienfotos sahen immer blöd aus. Liv war genauso groß wie Benjamin und versuchte, sich auf Fotos stets ein bisschen kleiner zu machen, obwohl sie es eigentlich lächerlich fand, überhaupt darauf zu achten. Es war ungewöhnlich warm, sie fuhr sich mit der Hand über den schweißnassen Nacken. Ihre Haare trug sie meistens kurz, damit sie vor der Arbeit schwimmen gehen konnte und keine wertvolle Zeit mit Haarpflege vergeudete. Doch wenn sie sich auf Fotos sah, musste sie stets an die Worte ihrer Mutter denken, sie solle sie lieber wieder wachsen lassen.

Sebastian, genauso blond wie Liv, wirkte auf Fotos immer ein wenig erschrocken, der Blitz überraschte ihn jedes Mal. Penny hingegen posierte, als wäre die ganze Welt ihr roter Teppich.

Als das Foto im Kasten war, nahmen Raymond und Nora mit Marcus und June ihre Plätze vor dem Rettungsring ein. Liv betrachtete die vier. Die beiden Erwachsenen waren ausgesprochen gutaussehend, Raymond mit seiner dunklen, glatten Haut, Nora blass, die braunen, seidigen Haare im Pferdeschwanz, die Kinder eine perfekte Mischung der beiden. Sie sahen aus wie die glückliche, bunt gemischte Familie aus einem Werbespot, der online einen Shitstorm auslösen würde. Marcus war groß für seine elf Jahre und ließ sich die Haare gerade zu einem Afro wachsen, Junie trug den Kopf voller dünner Zöpfchen. Raymond hatte sich für die Rolle eines Polizisten die Haare sehr kurz schneiden lassen.

»Wird das das Vorher-Bild, oder was?«, fragte er eine der Australierinnen.

»Könnte man so sagen, ja.« Sie lächelte. »Aber Sie sehen ja jetzt schon aus wie das Nachher-Bild.«

Liv war sich nicht sicher, ob die beiden Raymond erkannt hatten oder nicht. Wahrscheinlich nicht.

»Tut er immer«, sagte sie.

»Glaub ich gern«, antwortete die junge Frau.

»Meine Güte«, stöhnte Nora, als sie mit den Fotos fertig waren. »Wir sind noch nicht mal richtig auf dem Schiff, da geht die Flirterei schon los.«

Sie bahnten sich einen Weg durch das Menschengewühl und überquerten eine Art Atrium mit gemustertem Marmorboden. Ein großer Weihnachtsbaum wuchs durch die Decke.

»Wow!«, staunte Sebastian.

»Wie im Nussknacker«, meinte Penny. »Nur in echt.«

Sie fuhren in einem gläsernen Fahrstuhl an der Spitze des Weihnachtsbaums vorbei, stiegen aus und gingen einen Flur mit blauem Teppichboden entlang. Liv und Nora hatten zwei nebeneinanderliegende Kabinen gebucht. Liv steckte die Karte in das Lesegerät, und die Tür öffnete sich mit einem leisen Klicken. Auf dem Tisch standen eine Flasche Sekt und ein Obstkorb. Schränke und Regale waren aus hellem Holz, die Bettwäsche in den typischen Meeresfarben Marineblau und Weiß gehalten. In einer kleinen Sitzecke stand eine Ausziehcouch, auf der die Kinder schlafen konnten, weshalb das Ganze hier als »Suite« galt. Spiegel an den Wänden sorgten dafür, dass alles etwas geräumiger wirkte, und die kalifornische Sonne schien durch die Balkontüren herein. Penny und Sebastian liefen sofort hinaus, um vom Balkon hinunterzuschauen.

»Aber sonst geht ihr bitte nicht alleine auf den Balkon, nur mit einem Erwachsenen. Abgemacht?«

»Abgemacht!«, riefen die beiden im Chor. Sie kamen wieder hereingerannt und inspizierten die abschließbaren Schubladen und den überall clever versteckten Stauraum.

Marcus und June stießen dazu und verglichen ihre Kabine mit der von Liv und Benjamin.

»Genau wie bei uns, nur alles andersrum«, verkündete Marcus.

»Voll komisch.« June ließ sich aufs Bett fallen. Ihre Zöpfe hüpften vergnügt. »Ich komm mir ja vor wie im Spiegelland!«

Über den Lautsprecher an der Wand wurde nur die Rettungsbootübung angekündigt.

»Was ist das?«, wollte June wissen.

Eine Stewardess steckte den Kopf durch die offene Tür. Die zarte, schmale Frau trug die schwarzen Haare akkurat in der Mitte gescheitelt und stellte sich als Perla vor. Sie zeigte ihnen, wo die orangefarbenen Schaumstoffrettungswesten verstaut waren, und erklärte anhand eines Übersichtsplans, wo sie sich im Notfall einfinden sollten.

»Müssen wir richtig in die Rettungsboote steigen?«, wollte Sebastian wissen.

Perla lachte. »Nein, ihr sollt nur alle mal gesehen haben, wie das geht.«

Die beiden Familien machten sich auf den Weg durchs ebenfalls mit Teppich ausgelegte Treppenhaus.

Im Konferenzraum der Jachtclub-Bar erklärte ihnen ein elegant gekleideter junger Mann – ein Tänzer? – das richtige Verhalten im Notfall. Außer ihnen schienen alle Passagiere hier mindestens achtzig zu sein, andere Kinder gab es keine. Penny und Sebastian spielten miteinander »Ertrinken«, und Junie hüpfte im Kreis. Die alten Leute lächelten knapp, man merkte ihnen an, dass sie genervt waren. Marcus saß still neben seinen Eltern.

»Ich hab Hunger«, quengelte Penny. »Wie lange dauert das noch?«

Liv strich ihr über die braunen Haare. Das Mädchen hatte ständig Appetit und nahm überdies auch nie ein Blatt vor den Mund.

Raymond verschloss die Riemen seiner Rettungsweste. »Ich muss die ganze Zeit an Titanic denken.«

»Dann weißt du ja, was zu tun ist, um nicht zu sterben, falls das Schiff untergeht«, gab Nora zurück.

»Ihr wisst schon, dass die Rettungswesten und Lämpchen nur dafür da sind, damit man die Leichen besser findet, oder?«, mischte sich Benjamin ein.

»Ich glaub, das ist nur bei Flugzeugen so«, erwiderte Liv.

»Wir gehen doch aber gar nicht unter«, sagte Marcus.

»Natürlich nicht, mein Schatz«, besänftigte Nora ihn. »Wir machen nur Spaß.«

Das Notsignal ertönte. Marcus steckte sich sofort die Finger in die Ohren.

»Sorry!«, rief Nora und drückte ihm ihre Hände auch noch auf die Ohren. »Ist gleich wieder vorbei.«

Sieben kurze Töne und ein langer. Dann hatten sie es hinter sich.

Liv warf einen Blick auf den Glukosesensor an Sebastians Hosenbund. »Ich glaub, wir gehen gleich mal zum Buffet.«

»Ist das schon offen?«, fragte Nora.

»Ich dachte, das ist immer offen.«

»Also, ich pack erst mal aus«, verkündete Benjamin, was bedeutete, dass er ein Mittagsschläfchen halten würde.

Raymond wollte sich den Fitnessraum näher ansehen.

Die beiden Männer gingen mit den Rettungswesten davon, die Frauen machten sich auf den Weg zum Buffet. Nora hakte sich bei Liv unter und legte ihr den Kopf auf die Schulter, was Liv das Gefühl gab, riesig groß zu sein.

»Ich hab dich so lieb«, sagte Nora. »Das hier war echt eine tolle Idee von dir.«

Die Kinder nahmen sich Tabletts und stürmten vor. Alle bekamen genau das, was sie wollten: chinesische Bratnudeln für Penny, Hähnchennuggets für Sebastian, Sushi für Marcus und Taquitos für June. Liv sah ihnen beim Essen zu und fühlte, wie die Anspannung von ihr wich und ihre Gedanken langsam zur Ruhe kamen. Essen für die Kinder zu machen, bedeutete auch heutzutage viel Aufwand und Planung, trotz all der verfügbaren Annehmlichkeiten. Noch während man die Teller der letzten Mahlzeit wegräumte, setzte schon leichte Panik wegen der nächsten ein. Jetzt hatte sie jedoch zwei ganze Wochen vor sich, in denen sie keinen Gedanken daran würde verschwenden müssen, was es zu Mittag, Abend oder zwischendurch geben sollte. Den Jäger-und-Sammler-Teil ihres Gehirns, der immer einen Großteil ihrer Energie verschlang, konnte sie nun mit gutem Gewissen für eine Weile abschalten.

Die Reise war Livs Idee gewesen.

Noras Mutter war im Frühsommer nach kurzem Leiden an Bauchspeicheldrüsenkrebs verstorben. Nach ihrem Tod war Nora vor Traurigkeit ganz ermattet gewesen, es traf sie zuweilen so sehr, dass sie nicht reden und kaum atmen konnte. Ihre Mutter war eine schwierige Frau gewesen, die an einer Borderline-Störung litt und immer mal wieder einfach für eine Zeit lang verschwand. Als Nora acht war, bat ihre Mutter Livs Familie, sie für eine Weile bei sich aufzunehmen, weil ihr neuer Mann Kinder nicht mochte. Die beiden Cousinen teilten sich zwei Jahre lang ein Zimmer, bis die Ehe in die Brüche ging und die verlorene Mutter zurückkehrte. Nora hatte die Unzuverlässigkeit ihrer Mutter stets recht abgeklärt hingenommen und schien insgesamt frei von Illusionen, was deren Rolle in ihrem Leben anging. Deshalb waren alle sehr überrascht, wie heftig sie der plötzliche Verlust am Ende traf.

Im Oktober hatte sich Nora am Telefon bei Liv ausgeweint: Sie wusste nicht, wo sie dieses Jahr Weihnachten verbringen sollten. Sie wollte über die Feiertage nicht nach Philadelphia zu Raymonds Eltern, solange ihr die Trauer noch derart zu schaffen machte. Zu Livs Eltern, den Adoptiveltern ihrer unglücklichen Kindheit, wollte sie auch nicht. Aber sie hatte auch keine Lust, einfach zu Hause in L.A. zu bleiben, wo der blaue Himmel und die leeren Straßen das Gefühl der Einsamkeit und Isolation nur noch verstärken würden. Sie wollte Familie um sich herum haben, gleichzeitig aber auch nicht. Sie wollte Weihnachten feiern, aber so, dass es sich nicht wie Weihnachten anfühlte.

Liv war ein pragmatischer, lösungsorientierter Mensch. Das hatte sie von ihrer Mutter, einer abgeklärten Anwältin aus Colorado. Wenn man zwei Optionen zur Auswahl hatte und mit beiden unglücklich war, musste eben eine dritte her. Und sie war fest davon überzeugt, dass sich die meisten Probleme mit Geld lösen ließen. Sie entdeckte eine zweiwöchige Kreuzfahrt entlang der mexikanischen und mittelamerikanischen Küste mit kurzem Aufenthalt im Panamakanal, um die Schleusen in Aktion zu sehen – womit sie ihren Mann überredete, seines Zeichens Ingenieur –, und dann ging es wieder zurück Richtung Norden nach Los Angeles. Nur die beiden Familien: Liv, Nora, ihre Männer und Kinder. Sie müssten nicht mal fliegen, sondern könnten in San Pedro direkt an Bord gehen. Raymond war gerade mit einem Filmprojekt fertig, bei Liv im Büro war über Weihnachten nichts los, und Benjamin konnte sich seine Zeit selbst einteilen, solange er seine Fristen einhielt. Also würden sie einfach alle gemeinsam wegfahren.

»Meintest du nicht immer, Kreuzfahrten sind uncool?«, wandte Benjamin erst ein, als Liv den Vorschlag machte.

»Sind sie auch.«

»Und umwelttechnisch ein Albtraum?«

»Deshalb ist die Idee doch so genial«, erklärte Liv. »Meine Eltern werden auf keinen Fall mitkommen, weil sie sich nicht am Verbrauch fossiler Brennstoffe beteiligen wollen und außerdem Angst vorm Norovirus haben. Und deine Eltern wollen nach Kuba. Keine verletzten Gefühle und einmal einfach nur wir. Genau, was Nora jetzt braucht.«

»Ja, aber was ist mit den fossilen Brennstoffen?«

Liv hatte ein schlechtes Gewissen, was das anging, aber es nützte nun mal nichts. »Die Kreuzfahrt findet doch eh statt.«

Benjamin erklärte sich schließlich einverstanden, Liv rief Nora an, die gleich wieder zu weinen anfing, und dann schauten sie sich online die Kabinen an.

Die Kinder hätten einander zum Spielen. Denn oft, wenn Nora sich in diesem Sommer bei Liv ausweinte, ging es auch um Marcus. Mit fünf hatte er bereits alle Länder der Welt und ihre Hauptstädte aufsagen können. Penny kannte damals Colorado, Disneyland und Santa Monica, wo ihr Tanzkurs stattfand. Manche Dinge, wie das Notsignal zum Beispiel, konnte er fast nicht ertragen, aber es trafen eben doch nicht alle Punkte auf der Diagnose-Checkliste auf ihn zu. Nora war lange auf der Suche nach einer Schule gewesen, an der ihr Sohn mit seinen Stärken und Schwächen akzeptiert und gut aufgehoben wäre. Für Raymond war wichtig gewesen, dass Marcus dort nicht das einzige dunkelhäutige Kind sein würde. Liv hatte sie schließlich überredet, es mit der Schule zu versuchen, an die auch Penny und Sebastian gingen. Klein, fortschrittlich und um Multikulturalität bemüht. Trotz verspäteter Anmeldung wurde Marcus aufgenommen und schien sich auch wohlzufühlen. Sein Klassenlehrer organisierte eigens für ihn ein Geografieprojekt, und er durfte lesen, was er wollte.

Nun gingen Penny und Marcus gemeinsam in die sechste Klasse und wuchsen zusammen auf wie ihre Mütter. In einem früheren Jahrhundert wären die beiden Geschwisterpaare wahrscheinlich noch im Kindesalter miteinander verlobt worden, und Liv hätte, ehrlich gesagt, nichts dagegen gehabt. Sebastian und June mochten einander und spielten gern zusammen, obwohl June jünger war. Sebastian hatte ein sanftes Naturell und war leicht beeinflussbar. Als Erwachsener würde er wahrscheinlich von irgendeinem Mädchen mit psychischen Problemen ausgenutzt und für ebendiese Probleme verantwortlich gemacht. Liv hätte ihn nur zu gern jetzt schon mit der lustigen, neugierigen June verbandelt.

Nora saß im Speisesaal und blätterte sich durch das Unterhaltungsprogramm – im Kids Club wurde heute Abend einer dieser Madagascar-Filme gezeigt –, als sich das Schiff in Bewegung setzte. Sofort liefen die Kinder an Deck und spähten über die gelb gestrichene Reling. Die Schiffsschrauben wühlten das blaue Wasser auf, sodass es ganz weiß aussah. Liv hoffte, dass Benjamin gerade vom Balkon aus zusah, denn der Anblick, wie das majestätische Schiff in gemessenem Tempo auslief und San Pedro hinter sich ließ, war atemberaubend: die Wellen am Bug, die winzigen Boote weit unten.

Sie erkundeten gemeinsam die verschiedenen Decks, warfen einen Blick in das überfüllte Casino und machten sich über hässliche Bilder von Martinis und teuren Autos lustig, die zum Verkauf standen. Danach wurden die Kinder zum Filmabend gebracht. Die Betreuerinnen und Betreuer des Kids Club schienen vertrauenswürdig. Eine Neuseeländerin namens Deb versprach, neben Sebastian sitzen zu bleiben und ab und zu einen Blick auf seinen Glukosesensor zu werfen. Liv und Nora machten sich auf den Weg zu ihren Kabinen, um sich fürs Abendessen umzuziehen.

Benjamin lag ausgestreckt auf dem Bett und war gerade von seinem Mittagsschläfchen aufgewacht.

»Wir können die Kinder also einfach immer in diesen Kids Club abschieben?«, fragte er ungläubig.

»Jep! Toll, nicht?«

»Und das finden die okay?«

»Da laufen Filme, und so lieb haben uns die beiden nun auch wieder nicht.«

»Wahnsinn.« Benjamin streckte sich. »Das ist wirklich der Hammer.«

»Hast du die Schiffsschrauben gesehen, als wir abgelegt haben?«

»Nein, bin ja gerade erst aufgewacht.«

Liv duschte und zog sich ein Baumwollkleid über. Dann ging Benjamin ins Bad, und Liv stellte sich vor den hohen Spiegel am Kabinenschrank und drehte sich hin und her. Der Spiegel war gnadenlos. Sie wäre gern ein wenig dünner gewesen, ärgerte sich aber sofort über diesen Wunsch. Und ihre Haare hatten auch schon mal besser ausgesehen. Sie strich sich die kurzen Strähnen genervt hinters Ohr. Zum Essen bestellte Raymond bei dem russischen Schiffskellner Champagner. »Auf Liv!«, sagte er. »Auf die beste Idee seit Kinderschuhen mit Klettverschluss.«

Liv winkte bescheiden ab, hob aber trotzdem ihr Glas.

»Und darauf, dass du grundsätzlich immer die besseren Entscheidungen für mich triffst als ich selbst«, fügte Nora hinzu.

Liv grinste. »Außer dir lässt mich ja auch keiner!«

Damals hatte sie Nora und Raymond einander vorgestellt. Im ersten Film, bei dem Liv für die Projektentwicklung verantwortlich war, hatte er einen Marineoffizier gespielt und war für seine Leistung für einen Image Award der NAACP nominiert worden. Liv hatte Nora zur Preisverleihung eingeladen und ihr ein Kleid geliehen. Nora trug das dunkle Haar in einer traumhaften Hochsteckfrisur, und der Ausschnitt des Kleides hing dank ihrer schmalen Schultern verführerisch tief. Sie hatte ein freundliches, offenes Gesicht mit einem spitzen Kinn und war so zierlich, dass sich Liv neben ihr mal wieder vorkam wie eine norwegische Hünin, besonders, da sie auch noch High Heels trug. Sie standen zu dritt an einem kleinen Tisch und aßen Horsd’œuvres, Raymond strahlte Nora mit ungefiltertem Schauspielercharme an, und da wusste Liv, dass sie nicht mehr gebraucht wurde.

Als der Champagner leer war, brachte der russische Kellner nahtlos eine Flasche Rosé. Auf seinem Namensschild stand Juri. »Waren Sie nicht der Astronaut in diesem einen Film?«, fragte er Raymond, während er ihm einen Schluck Wein zum Probieren einschenkte.

»War er«, bestätigte Liv. Den Astronautenfilm hatte sie auch entwickelt.

»Wusste ich’s doch! Ich sehe ziemlich viele Filme.«

»Ohne sie hier hätte es den aber gar nicht gegeben.« Raymond zeigte auf Liv, doch der Kellner interessierte sich nicht für Projektentwickler, sondern nur für Stars. Kurz darauf kam er mit einem Tablett voller Kaviar, Toast, Schmand, Eiern und gehackten Zwiebeln in kleinen silbernen Schälchen wieder zu ihnen an den Tisch. »Als kleines Dankeschön von einem großen Fan.« Juri verbeugte sich kurz. »Kaviar aus meiner Heimat.«

Liv nahm einen Bissen. Die salzigen Perlen zerplatzten ihr auf der Zunge. Danach gab es Suppe, Fisch und Zitronentarte. Am Ende war sie auf höchst angenehme Weise betrunken, was Benjamin und sie sich beim Essengehen in L.A. nie gönnten, weil sie hinterher stets noch fahren mussten.

Sie holten die Kinder aus dem Kids Club ab und gingen zurück zu ihren Kabinen. Das Schiff schwankte ein wenig, wodurch man auf dem eigentlich geraden Korridor das Gefühl hatte, erst bergauf, dann wieder bergab zu laufen. Die Kinder rannten voraus und brachten sich immer wieder gegenseitig mit übertriebenen Bergsteigerposen zum Lachen.

Man verabschiedete sich vor den Kabinentüren, es gab Küsschen links, Küsschen rechts, und drinnen auf dem Bett wartete bereits ein Handtuch, das zu einem Schwan geformt war.

Am nächsten Morgen brachte Benjamin Penny und Sebastian zum Kids Club, während Liv noch ein bisschen den Luxus genoss, die Kabine nur für sich zu haben. Sie räkelte sich auf dem breiten, weichen Bett unter der Decke mit dem sauber duftenden, gebügelten Bettbezug. Bei gebügelter Bettwäsche musste sie immer an ihre Großmutter denken, wie sie am Bügelbrett stand, die Bezüge ordentlich gefaltet, damit sie nicht auf den Boden hingen. Gebügelte Bettwäsche stand für sie gleichermaßen für ultimative häusliche Geborgenheit und ultimatives Spießertum.

Beim Mittagessen lernten sie eine Familie aus Argentinien kennen. Sie wirkten sehr glamourös, der Vater mit seinen silbrig glänzenden Haaren, die Mutter mit einem Gesicht, dem man mehrere teure, aber auf eine natürliche Wirkung angelegte Schönheitsoperationen ansah. Die beiden hatten zwei ebenso gutaussehende Kinder im Teenageralter, einen Jungen und ein Mädchen, und die ganze Familie wollte am nächsten Tag in Acapulco an Land gehen. Liv und Nora berieten sich unter vier Augen und kamen zum Schluss, darauf zu verzichten. Warum einen Ausflug in ein Land machen, in dem Menschen noch geköpft wurden und man vom Essen krank wurde? Außerdem hatten sie hier auf dem Schiff alles, was sie brauchten.

Marcus war in die Übersicht an der Wand vertieft, an der jemand von der Crew jede Stunde die aktuelle Position des Schiffs eintrug. Nora erklärte ihrem Sohn den Reiseverlauf, wie sie in Panama wenden und der Küste entlang wieder zurückfahren würden.

An diesem Abend hatte das Handtuch auf dem Bett die Form eines Elefanten. Liv und Benjamin halfen Penny und Sebastian dabei, sich bettfertig zu machen, und gingen dann für eine gemeinsame Gutenachtgeschichte mit ihnen rüber in Noras und Raymonds Kabine. Raymond las aus der Schatzinsel vor und gab sich mit den Stimmen der verschiedenen Piraten große Mühe. Das Buch war ernsthafter, als Liv es in Erinnerung gehabt hatte, aber dank Raymond spielte das keine Rolle. Er war wirklich ein fantastischer Vorleser. Bei der Mehrheit der Männer dachte man sich nur, wie gut man es doch mit dem eigenen getroffen hatte. Bei Raymond war das anders. Marcus und June kuschelten sich auf dem großen Bett an ihn. Liv lag neben Benjamin auf der Couch und schlief prompt ein. Als es Zeit war, ins Bett zu gehen, musste Sebastian sie mehrmals in den Arm piken, bis sie aufwachte.

Am nächsten Morgen lag das Schiff schon im blauen Meer vor Acapulco vor Anker. Liv ging eine Runde joggen an Deck und traf dabei Benjamin mit seinem Skizzenblock, wie er gerade die Kräne zeichnete, an denen die Rettungsboote befestigt waren. Auch wenn sie manchmal das Gefühl hatte, ihn kurz am Hosensaum zupfen zu müssen, damit er zurück zur Erde kam, liebte sie auch seine Fähigkeit, sich ganz in die Struktur der Dinge zu vertiefen.

Nach dem Mittagessen spielten Liv und Nora ein wenig Paddle-Tennis und machten es sich dann zum Lesen und Reden auf Liegestühlen gemütlich. Benjamin nannte diese eigene Zeitzone der beiden »Mädelszeit«, dieses stundenlange miteinander Reden und dabei alles andere um sich herum vergessen. Früher oder später waren sie stets so tief ins Gespräch versunken, dass sie Männer und Kinder gar nicht mehr wahrnahmen. Sie hatten ein gemeinsames Vokabular, Anspielungen auf ihre Kindheit, und konnten sich ohne Tabus über Oberflächliches ebenso unterhalten wie über Tiefgründiges. Ältere Damen sahen derweil entzückt Livs und Noras hübschen Kindern in ihren Badeanzügen zu – der sommersprossigen Penny, dem hellblonden Sebastian, dem großen Marcus mit seinen langen Beinen und der kleinen June mit ihren unzähligen Zöpfchen. Liv fühlte sich wie eine junge Mutter in einem Fitzgerald-Roman, glühend vor Leben.

Mehrmals sah Liv kleine Boote eine Ladung Leute vom Schiff an Land bringen und überlegte jedes Mal kurz, ob sie nicht doch hätten mitgehen sollen. Das war etwas, an dem sie arbeiten wollte: nicht ständig die eigenen Entscheidungen zu hinterfragen. Aber woher sollte man denn auch wissen, ob man die richtige getroffen hatte, wenn man immer nur die Folgen dieser einen zu sehen bekam?

Die argentinische Familie kam von ihrem Ausflug zurück. Sie sahen erschöpft aus. »Wir waren schnorcheln auf einem Katamaran«, erzählte die Tochter. »Ich musste mich vier Mal übergeben!«

Vielleicht brauchte Liv auch bloß jemanden, der die Alternative ausprobierte und dann erzählte, wie es war.

Beim Abendessen unterhielten sie sich über den Tag. Anscheinend hatte die brasilianische Kursleiterin im schiffseigenen Sportstudio versucht, Raymond eine Spa-Behandlung aufzuschwatzen.

Nora verzog das Gesicht. »Die will dich bloß mit Schlamm einschmieren und in Frischhaltefolie einwickeln.«

»Das ist die Spa-Behandlung?«, fragte Liv. Die Informationen dazu waren recht vage gewesen, und sie hatte schon so etwas wie Tabletten oder Darmspülungen befürchtet.

»Ich glaube, die kleben einem auch so Elektroden auf die Problemzonen«, antwortete Nora.

»Moment mal«, mischte sich Benjamin ein. »Diese Frau meint also, Raymond hätte Problemzonen?«

»Also, ich krieg irgendwie Lust darauf«, sagte Raymond. »Ihr etwa nicht?«

Nach dem Abendessen versammelten sich wieder alle für die Gutenachtgeschichte, diesmal in Livs und Benjamins Kabine. Die Kinder lauschten mit ängstlichen Gesichtern, wenn es um den Schwarzen Fleck ging, genau wie Liv früher.

»Wenn ich auf der Schatzinsel gewesen wäre, gäbe es gar kein Buch«, sagte Sebastian und kuschelte sich enger an sie. »Ich hätte gleich Angst gekriegt und wär wieder nach Hause gefahren.«

»Ich wäre Piratin geworden«, flüsterte June ihrem Vater ins Ohr.

»Du wärst super darin«, bestätigte der. »Und Sebastian könnte auf die Festung aufpassen, das muss ja auch wer machen.«

Liv spürte mal wieder, wie dankbar sie war, Nora und Raymond zu haben. Sie gehörten zur Familie, aber sie hätte sie sich auch selbst ausgesucht. Sie hatte sie sehr gern und empfand das alles als wirklich großes Glück. Wie ging noch mal dieser Spruch? »Die Hölle, das sind die anderen.« Schon wahr, dennoch gab es ein paar Menschen, auf die das nicht zutraf, und die musste man suchen und einen Platz für sie in seinem Leben schaffen.

2.

Das Weihnachtsessen war eine feierliche Angelegenheit, also trug Benjamin Manschettenknöpfe. Sie würden gemeinsam mit den Kindern im Speisesaal essen. Während Benjamin Sebastians kleine Krawatte band, schaute der Junge aus vertrauensvollen Augen zu ihm auf, und er spürte einen fast schon beängstigenden Druck in der Brustgegend. Aber das hier war kein Herzinfarkt. Sein Sohn war einfach nur so verletzlich, ein kleiner Mann in einem winzigen Jackett mit feinem blonden, zurückgekämmten Haar. Benjamin erinnerte sich noch gut daran, wie sein Vater ihn zum Kauf seines ersten Sakkos mit zu Brooks Brothers genommen hatte und an die ernste Unterweisung in Sachen Knöpfe und Hemdskrägen. Jetzt war Benjamin der Vater. Seltsam. Er hatte ein paar graue Haare; mehr davon, wenn er sich einen Bart stehen ließ. Er hielt es für verfrüht, dabei war er immerhin schon einundvierzig.

»Findet uns der Weihnachtsmann auf dem Schiff überhaupt?«, fragte Sebastian.

»Ich glaube schon. Aber das große Geschenk dieses Jahr ist die Kreuzfahrt.«

»Ich weiß«, sagte Sebastian. »Aber weiß er, dass wir hier sind?«

Meinte sein Sohn das ernst? Ja, es sah ganz so aus. Warum auch nicht? Wieso sollte man die Existenz des Weihnachtsmanns hinterfragen? Außer natürlich, man hieß Penny und musste unter jeden Stein schauen. Wenigstens war sie klug genug, ihrem kleinen Bruder nichts zu verderben. Dieses Jahr hatte es zu Chanukka keine Geschenke gegeben. Eigentlich versuchten sie, die Tradition aufrechtzuerhalten, aber seine Eltern, denen sie am wichtigsten war, waren nach Kuba verreist. Es wäre einfach ein Riesenaufwand gewesen, zwischen all dem Gepacke und der Abreise.

Penny trug ein grünes Samtkleid und hatte Liv dazu überredet, ihr Löckchen zu machen. Marcus und June klopften an die Tür, und die vier Kinder liefen zusammen den Flur hinab. Junes silberner Rock und ihre Zöpfe flatterten hinter ihr her, Marcus in seinem blauen Sakko war gemächlicher unterwegs.

Außer ihnen schien sich niemand in Abendgarderobe geworfen zu haben, und kurz fühlte sich Benjamin unwohl, doch Raymond hatte sich für einen weißen Smoking entschieden. Der spektakuläre Tannenbaum im Atrium war beleuchtet, darunter konnte man mit den Künstlern Weihnachtslieder singen. Sie stimmten in ein paar Lieder mit ein, und Benjamin hörte, wie Nora in ihrem roten Seidenkleid hinter ihm die eher unbekannte dritte und vierte Strophe mitsang.

»Bist du etwa ein Weihnachtswichtel?«, fragte er sie.

»Meine Mutter hat das Weihnachtssingen über alles geliebt.« Sie lächelte. »Kerzenhalter aus Alufolie und so, das volle Programm.«

Die Kinder waren sehr aufgeregt, dass sie im Speisesaal der Erwachsenen essen durften und von Stewards umschwirrt wurden. Wenigstens die Kellner schienen ihre förmliche Kleidung zu schätzen, und Benjamin war es nicht mehr ganz so peinlich. Sie sahen ja auch gut aus, besonders die Kinder mit ihren leuchtenden Augen. Liv trug ein rückenfreies blaues Kleid, in dem ihre Schwimmerinnenschultern zur Geltung kamen, ihre kurzen Haare glichen einer blassen Flamme. Und flache Sandalen, seinetwegen, dabei hatte er ihr doch gesagt, es mache ihm nichts aus.

Als die Kinder an jenem Abend eingeschlafen waren, arrangierten Benjamin und Liv die Geschenke unter der Topfpalme in ihrer Kabine: neue Badeanzüge, kleine Spielsachen, ein paar Bücher, grün-goldene Flip-Flops. Am Morgen liefen Penny und Sebastian mit ihrer Ausbeute nach nebenan, wo June und Marcus dank vorheriger Absprache mit vergleichbaren Geschenken aufwarteten.

Hector, der fünfzehnjährige Argentinier, hatte eine Gitarre bekommen und zupfte auf seinem Liegestuhl amerikanische Popsongs – sein leiser Gesang versetzte Penny ins Schwärmen. Sie sprach seinen Namen gerne argentinisch aus, »ECK-tor«, wobei sie das R leicht rollte. Sebastian und sie hatten früher ein Kindermädchen aus Guatemala gehabt, und ein paar Wochen mit Spanisch-Lern-CDs im Auto hatten nach all den Jahren ein erstaunliches Talent in ihr zum Vorschein gebracht – sie war die geborene Imitatorin.

Hectors Schwester Isabel hatte einen grünen Nagellack geschenkt bekommen, mit dem sie Pennys und Junes Zehen lackierte. Sebastian wollte seine auch lackiert haben. Isabel sah mit ihrem langen sonnengebleichten Haar aus wie ein Model, und überhaupt wohnte dem Geschwisterpaar eine südamerikanische Kultiviertheit inne, so abgeklärt und weltgewandt gaben sie sich. Marcus hielt sich abseits und beobachtete, wie Isabel den Nagellack von den winzigen Zehen wischte, wo er danebengegangen war. Benjamin vermutete, dass Marcus sich ihre Aufmerksamkeit viel zu sehr wünschte, um sie aktiv zu suchen. Die Teenager bemühten sich nicht um die Anbetung der Kleinen, doch sie schien ihnen auch nichts auszumachen. Auf dem ganzen Schiff gab es niemanden in ihrem Alter.

Zwei ereignislose Tage auf See später lag Benjamin auf dem frisch gemachten Bett, erfreute sich an der Stille und las die auf drei Seiten zusammengefasste New York Times. Hier draußen hatte man keinen Empfang, und auf das teure WLAN war auch kein Verlass. Liv tat das gut – mal offline sein und weg vom Filmstudio. Selbst wenn es ein Film in die Produktion schaffte, wirkte der Weg dorthin auf Benjamin immer wie ein schiefgelaufener Drogendeal, einschließlich Lügen, Drohungen, Anschuldigungen, Betrug, Last-Minute-Feilscherei, kompletter Wahnsinn. Sie brauchte eine Pause. Benjamin hingegen fühlte sich ohne seine Arbeit verloren. Er schaltete den Fernseher ein und suchte nach den Nachrichten, blieb jedoch bei einer jungen Frau mit olivfarbener Haut in Stewardess-Uniform hängen. Sie saß vor einem schwarzen Vorhang, ihr Haar war streng zurückgebunden.

»Sehr hart«, sagte sie. »Die Arbeit ist sehr hart. Die Schichten sind lang, und man ist den ganzen Tag auf den Beinen. Am Ende bin ich müde. Ich gehe in meine Kabine. Sie ist sehr klein, und ich muss sie mit jemandem teilen. Aber das ist schon in Ordnung.«

Ein unsichtbarer Interviewer stellte ihr eine Frage.

»Mein Traum?«, fragte sie. Sie wirkte erst überrascht, dann nachdenklich. »Ich würde gerne einen Job an Land finden.«

Der nächste Kandidat war ein schmaler Inder mit grau meliertem Haar. Er saß an einem Esstisch unter einem überdimensionierten Stillleben.

»Früher wollte ich wie Picasso werden.« Er lächelte schüchtern. »Oder Matisse, Sie wissen schon. Der schiere Kampf. Auf der Kunstakademie wollte ich ein berühmter Künstler werden. Und jetzt … na ja.« Er drehte sich zu dem Bild mit der Obstschale um. »Jetzt male ich Stillleben für die gehobenen Bordrestaurants. Immerhin kann ich von der Kunst leben, das können nicht viele. Das rufe ich mir immer wieder ins Gedächtnis.«

Die Kabinentür ging auf, und Liv kam herein.

»Schau dir das mal an«, sagte Benjamin. »Das soll wohl so ein Film über das Schiff und die Crewmitglieder sein, aber die hassen alle ihren Job.«

Sie setzte sich zu ihm ans Fußende. Ein rosagesichtiger Neuseeländer redete gerade mit zwiespältigen Emotionen über den Kids Club.

»Warum strahlen die das überhaupt aus?«, fragte Liv.

»Weiß ich auch nicht«, erwiderte Benjamin. »Konnten die nicht einen fröhlichen Kerl finden, der einfach nur die Welt sehen will? Oder diese Ukrainerin, die so glücklich war, dass sie nicht mehr auf der Krim ist?«

Liv starrte auf den Bildschirm, und Benjamin wusste, dass sie an ihre Stewardess Perla mit den drei Kindern in Manila dachte. »Perlas Vertrag läuft für neun Monate«, sagte sie.

»Ich weiß.«

»Stell dir mal vor, was sie alles verpasst, weil sie nicht bei ihren Kindern ist«, fuhr Liv fort. »Vielleicht wollen die Veranstalter uns mit dem Filmchen dazu bringen, dass wir uns vom Bus überfahren lassen oder so, um das wieder auszugleichen.«

»Vom Bus?«, fragte er. »Was Besseres ist dir nicht eingefallen?«

Sie sah ihn an, und ihr ernstes Gesicht verzog sich zu einem Lachen. Er liebte diese Veränderung. Gemeinsam hatten sie erst ein Zweier-Team gebildet, dann ein Vierer-Team. In seiner rastlosen Jugend war er sich nicht sicher gewesen, ob ihm so ein Glück je widerfahren würde.

»Na, vom Karma-Bus halt!«, sagte sie.

Er streckte ihr die Fernbedienung als Mikrofon hin. »Als Nächstes sprechen wir mit einem Passagier«, sagte er mit Reporterstimme. »Gnädige Frau, wie fühlt es sich an, die begehrenswerteste Dame auf dem ganzen Schiff zu sein?«

»Na ja, die Latte hängt ziemlich niedrig«, erwiderte sie. »Hier sind ja alle über achtzig.«

»Sie geben also zu, dass es stimmt?«

»Nein«, sagte sie. »Da ist schließlich immer noch Nora.«

Er senkte die Fernbedienung. »Nora ist ein toller Mensch, aber heiß finde ich sie kein bisschen.«

»Und die Tänzerinnen?«

»Die werden nicht grundlos keinen Job an Land haben.«

»Aber die kleine Argentinierin!«

»Über die unterhalten wir uns in zehn Jahren noch mal.«

Wieder musste Liv lachen. »Ich habe doch gesehen, wie die alten Knacker sie anstarren.«

»Sag mal, sind Penny und Sebastian eigentlich im Kids Club?«

»Ja.«

Er schaltete den Fernseher aus. »Was glaubst du, wie viel Zeit wir haben?«

»Eine Stunde vielleicht. Dann muss ich nach Sebastian sehen.«

»Komm her.«

»Ich hab noch nicht geduscht.«

»Musst du auch nicht.«

Sie verzog das Gesicht, rutschte aber nach oben. Er schob ihr Shirt ein Stück hoch und küsste sie auf den Bauch. Sie hielt seine Hand fest. »Haben die Interviews jetzt deine Traumwelt zerstört?«

»Nein«, sagte er. »Mein Traum ist ganz und gar in Erfüllung gegangen.«

Sie drückte die Oberschenkel aneinander. »Im Ernst?«

Er seufzte angesichts der aufgezeigten Grenze und ließ sich wieder zurück in die Kissen sinken. Hoffentlich mussten sie sich jetzt nicht über diverse Studiointerna unterhalten. »Ja.«

»Und da denkst du nicht manchmal, dass wir so viel Glück gar nicht verdient haben? Dass es uns irgendwann weggerissen wird?«

»Nein.«

Sie schaute an die Decke. »Ich schon.«

»Und du meinst, es hilft, wenn du dir deswegen Sorgen machst?«

»Ja«, erwiderte sie. »Die Katastrophe passiert nämlich immer genau dann, wenn man sie nicht erwartet. Deswegen muss man sich auf alles einstellen.«

Er spürte, wie ihnen die ungestörte Zeit davonlief. »Du weißt schon, dass die Kinder bald wieder da sind, oder?«

»Ja.«

Er streckte die Hand nach ihr aus. »Können wir die Katastrophenszenarien vielleicht auf später vertagen?«

3.

Penny und Marcus saßen im Kids Club auf dem Fußboden und spielten Mau-Mau. Penny stand kurz vor dem Sieg. Es gehörte zwar auch Glück dazu, aber sie war vor allem eine gute Strategin. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, eine Karte auszuspielen, wenn sie mehrere in der gleichen Farbe hatte. Wenn nicht, richtete sie sich nach dem Wert. Marcus kannte sich mit Ländern aus und konnte sich besser irgendwo zurechtfinden, aber beim Kartenspielen hatte sie ihm etwas voraus. Sie legte die Karo-Zwei ab.

Marcus zog eine Karte und legte eine Neun.

Penny spielte ihre Königin. »Mau! Letzte Karte!«

Marcus zog mehrere Karten, bis er einen Buben fand. Triumphierend legte er ihn ab. »Ich wünsch mir Pik!«

Penny spielte ihre Pik-Vier und hatte damit gewonnen. Marcus murrte.

»Noch eine Runde?«, fragte Penny.

»Nee, du gewinnst ja eh immer.«

»Nicht immer.«

Marcus sah sich um. »Wo ist eigentlich June?«

Seine kleine Schwester war erst sechs, und Marcus passte immer auf, dass ihr nichts passierte. Pennys Mutter sagte stets, dass man auch auf Sebastian gut aufpassen müsse, aber das sah Penny anders. Als kleines Kind war er einmal fast gestorben, und nun trug er immer eine Insulinpumpe in der hinteren Hosentasche mit sich herum, von der ein Schlauch in einen Portkatheter unter seiner Haut führte. Den mussten ihre Eltern alle paar Tage wechseln, und das tat weh. Außerdem musste sich Sebastian mehrmals am Tag in den Finger piksen, um zu gucken, ob mit seinem Blut alles okay war. Penny fand, das mache ihn stärker als andere Kinder. In ihren Augen war er niemand, mit dem man besonders vorsichtig sein musste.

Marcus stand auf und sah im Spielhaus nach. Es war leer. Er fragte Deb, die neuseeländische Betreuerin. Die sagte, die beiden wären nach dem Mittagessen nicht wiedergekommen.

»Aber wir waren doch die ganze Zeit zusammen«, sagte Penny.

»Ich glaube, da irrst du dich.« Deb blätterte durch die Seiten ihres Klemmbretts. »Guck.« Sie zeigte den beiden die Häkchen hinter ihren Namen, doch hinter Junes und Sebastians waren keine.

»Dürfen wir raus und sie suchen?«, fragte Penny.

»Ich rufe lieber eure Eltern an.«

»Nein, ich weiß, wo sie sind. Wirklich.«

Deb zögerte.

»Wir kommen auch gleich wieder, versprochen.«

Erwachsene ließen Penny oft ihren Willen, weil sie so verantwortungsbewusst wirkte. Dafür wurde meistens auch mehr von ihr erwartet als von anderen Kindern, aber das war es ihr wert.

Sebastian und June waren nicht am Buffet. Der Ansturm um die Mittagszeit war bereits vorbei, nur ein paar Leute saßen an den Tischen. Die Fahrstühle waren langsam, weil oft ältere Herrschaften mit Rollstühlen oder Rollatoren ein- und ausstiegen. Das dauerte Penny und Marcus zu lange, also nahmen sie die Treppe, rannten die Flure entlang und umkurvten dabei die anderen Gäste. Sie hatten ihre Keycard nicht dabei und klopften, noch ganz außer Atem, bei Marcus’ Eltern an der Tür. Niemand machte auf. Dann klopften sie bei Pennys Eltern. Erst Stille, dann erklang gedämpft die Stimme ihres Vaters.

»Ja?«

»Ich bins!«

Wieder Stille. Ihre Mutter öffnete die Tür einen Spaltbreit. Sie trug einen Bademantel, und ihre Haare waren verwuschelt.

»Warum seid ihr denn nicht im Kids Club?«

»Macht ihr gerade Mittagsschlaf ?«

»Ja«, sagte ihre Mutter.

»Tut mir leid, dass ich euch geweckt hab.«

»Ist alles in Ordnung?«

»Sind du und Dad allein da drin?«

»Ja.«

»Ach so. Na gut. Wir gehen dann mal wieder zum Kids Club.«

»Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Ja.«

»Mit den Kleinen auch?«

»Na klar.« Das war ja bestimmt auch die Wahrheit, dachte Penny. Solange die beiden nicht über die Reling geklettert waren. Was aber eh keiner machte, man bekam ja schon so ein komisches Gefühl, wenn man sich nur kurz auf die unterste Sprosse stellte. Also war sicher alles okay.

»Dann geht bitte wieder zurück«, sagte Pennys Mutter. »Wir holen euch nachher da ab.« Sie schloss die Tür.

»Warum hast du nichts gesagt?«, fragte Marcus auf dem Rückweg im Flüsterton.

»Weil sie gerade Mittagsschlaf machen«, antwortete Penny. Sie wusste, dass das irgendwie nicht ganz stimmte, aber sicher war sie sich nicht. »Komm, wir gucken mal auf dem Tennisplatz.«

Die beiden rannten die Treppen hinauf bis zum obersten Deck. Der Tennisplatz war kleiner als die normalen an Land, und ringsherum waren Netze gespannt, damit die Bälle nicht ins Meer plumpsten. Die flachen Schläger waren aus Holz und hatten kleine Löcher.

Die argentinische Familie spielte gerade ein Doppel, Hector hatte Aufschlag. Penny sah zu, wie er sich die dunkelblonden Haare aus der Stirn wischte, den langen, gebräunten Arm in die Luft streckte und dann den Schläger niedersausen ließ. Seine Schwester schlug den Ball über das Netz zu ihm zurück. Das silbrig glänzende Haar des Vaters war schweißnass. Die Mutter trug Ketten und Armreife mit großen bunten Edelsteinen. Eine juwelenbesetzte Familie. Sie sahen aus wie Adelige. Hector und seine Mutter machten den Punkt.

Als der Ball einmal ins Aus flog, fragte Penny: »Haben Sie meinen kleinen Bruder und June gesehen?«

Hatten sie nicht. Hector trat einen Schritt näher. »Hast du schon auf dem Basketballplatz nachgeschaut?«

Penny wurde unter seinem freundlichen Blick ein wenig schwindelig. Fast, wie wenn sie sich auf die unterste Sprosse der Reling stellte.

»Nein.«

Also machten sie sich auf zum Basketballplatz, wo abends immer die philippinischen Crewmitglieder spielten. Dort war jedoch niemand. Als Nächstes suchten Penny und Marcus alle drei Schwimmbecken ab, selbst das, wo Kinder gar nicht reindurften. Beim Gedanken daran, dort Sebastians blonde Haare wie bleiches Seegras am Boden des Beckens zu entdecken, durchzuckte Penny ein Schrecken, der nicht gänzlich unangenehm war. Sie würde hineinspringen, durch die blaue Stille zum Grund schwimmen und ihn wieder nach oben ins Sonnenlicht ziehen. Sie war eine gute Schwimmerin und sehnte sich danach, jemanden zu retten. Gäbe es für Sebastian noch Hoffnung, nachdem er schon eine ganze Weile dort unten gelegen hätte? Ein Schauder überlief sie, der Gedanke war beängstigend, aber auch aufregend. Erst würde er reglos daliegen, dann husten und wieder zu sich kommen. Doch Sebastian und June waren nicht bei den Schwimmbecken und auch nicht im Whirlpool.

Juri, der russische Steward, arbeitete gerade im feucht-warmen Café des Wellnessbereichs. »Ach, der kleine Astronaut!«, rief er, als er Marcus entdeckte, und streichelte ihm über die Haare.

Marcus zog den Kopf weg. »Wir suchen meine Schwester und Pennys Bruder.«

Juri verzog besorgt das Gesicht. »Wo habt ihr sie denn zuletzt gesehen?«

»Beim Mittagessen«, antwortete Penny. »Sie sind danach nicht zurück in den Kids Club gekommen.«

»Alles klar, ich rufe die Security.«

»Nein«, widersprach Penny. »Sonst erzählen die das unseren Eltern.«

Juri hob erstaunt die buschigen schwarzen Brauen. »Ja, natürlich.«

Ein Wachmann in weißer Uniform erschien und nahm Penny und Marcus mit in eine große Kabine am Ende des Korridors, auf dem sie wohnten. Sie war wirklich riesig, in der Ecke stand ein glänzender schwarzer Flügel und an der Wand ein schicker Tresen mit einer Oberfläche aus grünem Glas. Hier wohnten wahrscheinlich reiche Leute.

Sebastian und June standen draußen auf dem großen Balkon hinter der Glasschiebetür. Davor kniete ein Mann in Handwerkerhose und machte sich mit einem Schraubenzieher an der unteren Schiene der Schiebetür zu schaffen. Sebastian und June schlugen von außen mit den Fäusten dagegen.

»Sag denen mal, sie sollen damit aufhören«, bat der Wachmann.

Penny gestikulierte. »Hört auf, es ist doch alles okay!«

Die beiden Kleinen beruhigten sich etwas und sahen dem Handwerker zu. Der Wachmann meinte, die Kabinentür habe wohl offen gestanden, und die Kinder seien hineingeschlüpft und dann auf den Balkon spaziert. Dessen Schiebetür klemmte und sollte heute repariert werden, aber bevor der Handwerker dazu kam, hatten sich die beiden schon ausgesperrt.

»Meine Eltern haben eigentlich gesagt, wir dürfen nicht allein auf den Balkon«, erklärte Penny. »Meine Mama meint, das ist gefährlich.«

»Da hat sie auch recht«, antwortete der Wachmann. »Sie sollte wirklich ein bisschen besser auf ihre Kinder aufpassen.«

»Sie kann doch nichts dafür!«, verteidigte sie Penny. »Die beiden sind einfach weggelaufen, obwohl sie im Kids Club sein sollten.«

Endlich bekam der Handwerker die Tür auf. Sebastian und June stürmten herein und fingen sofort an zu erzählen. Sie hatten sich nur das große Klavier anschauen wollen, aber dann wollten sie auch gucken, ob draußen Delfine waren, weil nämlich jemand gesagt habe, die gäbs da draußen, und plötzlich war die Tür zugegangen, und sie hatten ganz lange gerufen, bis endlich jemand kam, und jetzt hatten sie Hunger. »Können wir zum Buffet?«

»Erst gehen wir zu euren Eltern«, sagte der Wachmann.

»Die machen gerade Mittagsschlaf«, wandte Penny ein.

»Dann wirds jetzt wohl Zeit zum Aufwachen.« Sie gingen gemeinsam zur Kabine. Der Wachmann klopfte laut an. Pennys Mutter öffnete die Tür, zu Pennys Erleichterung vollkommen bekleidet und mit geordneten Haaren. Sebastian warf sich ihr in die Arme. Nora und Raymond, beide in Sportsachen, kamen dazu. Es gab Entschuldigungen und ein paar verspätete Tränchen.

»Wieso haben die euch beim Kids Club überhaupt gehen lassen?«, fragte Pennys Mutter.

»Wir haben gesagt, wir wollen Sebastian und June suchen«, sagte Penny.

»Und wieso ist euch nicht gleich aufgefallen, dass sie weg waren?«

»Ist uns doch aufgefallen, deshalb sind wir sie ja suchen gegangen.«

Pennys Dad sagte, wenn sie nur auch einen Konzertflügel in der Kabine hätten, wäre das alles sicher nicht passiert. Der Wachmann lachte, und alles war wieder gut. Ihre Mutter hob Sebastians T-Shirt hoch und warf einen Blick auf seinen Glukosesensor.

»Na, dann mal los, auf zum Buffet.«