Ärztliche Kunst
Professor Dr. med. Thomas Meinertz
Vorstand der Deutsche Herzstiftung e.V.
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Schattauer
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-43292-3
E-Book: ISBN 978-3-608-19123-3
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-29115-5
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Bevor man die Frage beantwortet, was einen guten Arzt ausmacht, einen, der die ärztliche Kunst beherrscht, sollten wir uns fragen, ob solche Ärzte heutzutage überhaupt noch benötigt werden. Die Frage ist nicht trivial oder rhetorisch gemeint; so gibt es heute Meinungen, nach denen sich der „gute Arzt“ überlebt hat und nicht mehr gefragt ist (s. Lantos 1999).
Worauf gründen sich die Zweifel an der Notwendigkeit eines sogenannten guten Arztes? Diese Frage wurde über Jahrhunderte nicht gestellt, weil die Antwort selbstverständlich war. Mit Beginn der medizinischen Neuzeit (ca. 1850) wird sie in den letzten Jahrzehnten zunehmend häufiger gestellt. Benötigen wir überhaupt noch den Arzt im klassischen Sinn?
Die Veränderung der Medizin mit Beginn der medizinischen Neuzeit war dramatisch. Die Umsetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in den ärztlichen Alltag hat die ärztliche Tätigkeit grundlegend gewandelt. Zunehmend spielen in der Diagnostik und Therapie neue Techniken und Vorgehensweisen eine Rolle. Entsprechend änderte sich auch die Position des Arztes. Bis zu diesem Zeitpunkt war die persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient Grundlage der Behandlung. Seit dieser Zeit kam es zu einer zunehmenden „Entpersönlichung“ dieser Beziehung: Meist hat der Patient mehrere Ärzte, häufig sind mehrere Kliniken beteiligt, die diagnostischen Maßnahmen und therapeutischen Entscheidungen erfolgen nicht mehr aus einer Hand. Ganz wesentlich tragen Zeitdruck und Kommerzialisierung zu dieser Entwicklung im „Medizinbetrieb“ bei.
Ist der gute Arzt also entbehrlich? Die Antwort ist einfach. Nicht wir, nicht die Gesellschaft, der einzelne Patient trifft die Entscheidung. Er sucht nach dem persönlichen Arzt als integrierenden Ansprechpartner, vor allem bei chronischen und schwerwiegenden Krankheitszuständen, aber auch bei subjektiv empfundener Not. Er benötigt den persönlichen Arzt, um seine Fragen zu beantworten, Widersprüche zu erklären, um Trost von ihm zu erhalten. Aber auch, um seiner Krankheit einen Sinn zu geben. Dies alles kann ein auch noch so gut organisiertes Ärzteteam nicht leisten, auch keine Gesundheitsorganisation, Krankenkasse oder ein professioneller Helfer.
Die Rückbesinnung auf den guten Arzt bedeutet keinesfalls einen Rückschritt zum „Medizinmann des Mittelalters“. Auch auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, moderner Medizintechnik und aktueller therapeutischer Verfahren kann man für den einzelnen Patienten ein guter Arzt sein.
… geht an meine ärztlichen Vorbilder, die mich gelehrt haben, was ein guter Arzt ist. Ihre ärztlichen Handlungsweisen und ihre Persönlichkeiten haben mich geprägt.
Dankbarkeit empfinde ich auch gegenüber meinen Kollegen und Schülern, die versucht haben, das Ideal des guten Arztes im klinischen Alltag zu verwirklichen.
Ganz besonderen Dank schulde ich jenen, die mir bei der Abfassung des Manuskriptes mit Kritik und Verbesserungsvorschlägen geholfen haben: zuerst meiner Schwester Petra Frick, die das Manuskript Satz für Satz gelesen und durchgearbeitet hat. Ihre konstruktiven Vorschläge haben wesentlich dazu beigetragen, den Inhalt verständlicher und den Text lesbarer zu machen.
Meine langjährige Sekretärin Frau Annelie Bachmann hat die zahlreichen Neufassungen mit stoischer Geduld zu Papier gebracht.
Für den letzten Schliff des Textes haben zwei „Profis“ gesorgt: Herr Joachim Mohr, ein arzterfahrener Patient und Medizinjournalist, sowie Herr Volker Drüke als autorenerfahrener Lektor. Sie haben mit ihrer fachlichen Expertise die verbliebenen Schwachstellen des Textes ausgemerzt. Dieses Buch wäre nicht ohne die verlegerische Unterstützung von Herrn Wulf Bertram entstanden.
1 Weshalb dieses Buch?
2 Der ärztliche Beruf
3 Ärztliche Vorbilder
3.1 Herman Boerhaave
3.2 William Osler
3.3 Friedrich von Müller
3.4 Ferdinand Hoff
3.5 Meine klinischen Lehrer
3.6 Was lehrt uns die Lektüre dieser Biografien?
4 Was den guten Arzt ausmacht
4.1 Sich für den anderen interessieren
4.2 Zuwenden und Zuhören
4.3 Sich einfühlen
4.4 Vertrauen gewinnen und Sicherheit geben
4.5 Urteilen und entscheiden
4.6 Sich seiner Maßstäbe bewusst sein
4.7 Das für den Patienten Beste im Auge haben
5 Umsetzung im Alltag
5.1 Der klinische Blick
5.2 Das Gespräch
5.3 Die körperliche Untersuchung
5.3.1 Häufige Fehler
5.4 Der Weg zur Diagnose
5.4.1 Vom Zuhören zur Hypothesenbildung
5.4.2 Nach welchen Prinzipien sollen Arbeitshypothesen getestet werden?
5.5 Die Behandlung
5.5.1 Überangebot interventioneller und operativer Maßnahmen
5.5.2 Alternative Behandlungsverfahren
6 Verhalten, das nicht zu einem guten Arzt passt
7 Wie geht ein guter Arzt mit Grenzsituationen um?
7.1 Therapie am Lebensende
8 Ist ärztliche Kunst erlernbar?
9 Wie finde ich den richtigen Arzt?
Zitierte und weiterführende Literatur
»Die Menschen wollen mehr Arzt und nicht mehr Medizin.«
Ellis Huber
Viele Patienten fühlen sich durch ihren Arzt nicht gut betreut – weder durch den niedergelassenen Facharzt noch durch den Arzt im Krankenhaus. Allein die Betreuung durch den Hausarzt wird von den meisten Patienten weniger kritisch gesehen. Diese Kritik an der ärztlichen Versorgung ist umso erstaunlicher, als die Erfolge der modernen Medizin für jeden offensichtlich sind. Immer mehr Menschen haben Zugang zu hochtechnisierter Medizin, leben länger als in früheren Zeiten, vielen geht es gesundheitlich besser, und die meisten sind bis ins hohe Alter leistungsfähiger. Warum sind Patienten mit der ärztlichen Betreuung dennoch unzufrieden?
»Was mir fehlt, ist das vertrauensvolle Gespräch mit meinem Arzt, dass er mir zuhört, dass er sich Zeit nimmt, dass er mir in Ruhe meine Krankheit erklärt und dass er begründet, welche Therapie für mich die beste ist.«
Patienten merken, dass sie nicht im Mittelpunkt des ärztlichen Interesses stehen. Sie leiden darunter, dass sich ihr Arzt nur für bestimmte Organe und nicht für den ganzen Menschen interessiert. Patienten spüren, dass in Klinik und Praxis technische und apparative Leistungen von viel größerem Interesse sind als ihr persönliches Schicksal. Ihnen wird klar, wie sehr finanzielle Aspekte den Ablauf von Diagnostik und Therapie bestimmen.
Ein weiterer, wenig beachteter Aspekt: Die Ärzte selbst sehen nicht, wie wenig befriedigend ihre Betreuung aus Patientensicht ist. Klagende und unzufriedene Patienten werden von ihnen als Einzelfall abgetan oder als Querulanten etikettiert.
In meinem Buch geht es nicht darum,
Dieses Buch beabsichtigt vielmehr,
Das Buch wendet sich an alle in der Versorgung der Patienten tätigen Berufsgruppen, insbesondere an Medizinstudenten und junge Ärzte in der Ausbildung und an die pflegenden Berufe, die mit der Betreuung Kranker befasst sind. Gerade sie spüren häufig als erste Missbehagen und Unzufriedenheit der Patienten mit der heute üblichen ärztlichen Vorgehensweise. Aus meiner Erfahrung im Klinikbetrieb und Praxis kann ich bestätigen, dass diese Unzufriedenheit der Patienten in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat.
»The practice of medicine is an art, not a trade; a calling, not a business; a calling in which your heart will be exercised equally with your head.«
William Osler
Im Folgenden werde ich nach einer Einführung in das ärztliche Berufsbild Beispiele für ärztliche Vorbilder nennen (Kapitel 3). Was den guten Arzt ausmacht (Kapitel 4) und wie sich dies im Alltag niederschlagen sollte (Kapitel 5), will ich anschließend darstellen. Um das noch eingehender zu verdeutlichen, werde ich zeigen, wie sich ein guter Arzt nicht verhalten sollte (Kapitel 6) und wie er in Grenzsituationen bestehen kann (Kapitel 7). Am Ende bleibt die wichtige Frage nach der Erlernbarkeit der ärztlichen Kunst (Kapitel 8).
Wenn sich ein ernsthaft erkrankter Patient einem Arzt anvertraut, überträgt er ihm – zumindest potenziell – die Verantwortung für Leib und Leben. Ohne es auszusprechen, legt der Patient sein Schicksal in die Hand des Arztes. Eine derart individualisierte Hilfsverpflichtung gibt es in keinem anderen Berufsumfeld. Diese Verpflichtung endet für den guten Arzt nicht mit der üblichen Arbeitszeit. Ärzte werden dementsprechend auch für gesundheitliche Probleme im Leben des Patienten verantwortlich gemacht, die zu jeder Tages- und Nachtzeit geschehen können. Aus dieser Verpflichtung resultiert auch das Gefühl des guten Arztes, irgendwie immer im Dienst zu sein und vom Patienten gebraucht zu werden. Die Ambivalenz dieses Gefühls ist evident. Wie befriedigend, gebraucht zu werden, aber auch wie belastend, »rund um die Uhr« in der Pflicht zu sein.
Wie viele andere Berufe basiert der Arztberuf auf Wissenschaft, ist aber in der praktischen Ausübung weniger Wissenschaft als Kunstfertigkeit auf wissenschaftlicher Grundlage. Hans Jonas drückt das so aus: »Die Medizin ist eine Wissenschaft, der ärztliche Beruf eine darauf gegründete Kunst.«
In diesen Kernaussagen stimmen zahlreiche Philosophen überein. Stellvertretend nenne ich Karl Jaspers:
»Das ärztliche Handeln steht auf zwei Säulen: Einerseits der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und dem technischen Können, andererseits auf dem Ethos der Humanität. Der Arzt vergisst nie die Würde des selbstentscheidenden Kranken und den unersetzlichen Wert jedes einzelnen Menschen.
Die Wissenschaft wird weitergegeben durch die Lehre (…).
Die ärztliche Humanität dagegen wird überliefert durch die ärztliche Persönlichkeit, unmerklich in jedem Augenblick durch die Weise des Handelns, des Sprechens, durch den Geist einer Klinik, durch diese still und unausgesprochene gegenwärtige Atmosphäre des ärztlich Gehörigen (…).
Die Humanität ist nicht zu planen. Sie entfaltet sich ohne grundsätzlichen Fortschritt in jedem Arzt, in jeder Klinik durch die Wirklichkeit des ärztlichen Menschen selber.«
Karl Jaspers 1967
Ärztliche Tätigkeit erschöpft sich allerdings auch nicht darin, eine Kunstfertigkeit oder ein Handwerk zu sein. Während ein Handwerk nach bestimmten Regeln und Vorschriften durchgeführt wird, bedarf es zur ärztlichen Kunst zusätzlicher Fertigkeiten: Einfallsreichtum, kritische Analyse von Fakten und Untersuchungsergebnissen, Kombinationsvermögen und die Fähigkeit zu bewerten und Schlussfolgerungen zu ziehen.
Aus Sicht seiner Patienten hat der gute Arzt Fähigkeiten, die nicht jeder Absolvent des Medizinischen Staatsexamens (Mediziner) besitzt. Auch dann nicht, wenn er über noch so umfangreiche naturwissenschaftliche Kenntnisse und noch so perfekte handwerkliche Fähigkeiten verfügt. Der gute Arzt ist in den Augen seiner Patienten in der Lage, mit denselben Untersuchungsergebnissen und Laborwerten die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, wozu andere Mediziner nicht in der Lage sind.
Der Begriff Kunst im Zusammenhang mit ärztlicher Tätigkeit mag vielen als nicht mehr zeitgemäß vorkommen. Diesem Missverständnis liegt ein spezifischer – ästhetischer – Kunstbegriff zugrunde. Mit ärztlicher Kunst meine ich den sachgerechten, einfallsreichen und sich nach festen Prinzipien richtenden Umgang mit dem Patienten. In diesem Sinne spricht auch Bernhard Lown im Titel seines Buchs »Die verlorene Kunst des Heilens« (2002) von der vergessenen Kunst des Heilens, einer Kunst, die man lernen, die aber auch in Vergessenheit geraten kann. Sie unterscheidet sich von der Kunst der Dichter, Maler und Komponisten, die ja nur sehr begrenzt erlernbar ist.
Wenn also die ärztliche Tätigkeit so unterschiedliche Begabungen erfordert, wie kann man sie erlernen? Naturwissenschaft und Handwerk sind lehr- und lernbar. Viel schwieriger ist es, die Fähigkeiten zu erlernen, die den Unterschied zwischen Arzt und Mediziner ausmachen. Einen Aspekt der Kunst des Arztes kann man mit psychologischem Feingefühl gleichsetzen. Die Kunst besteht auch in der richtigen Geste und im richtigen Auftreten gegenüber dem Patienten, in der Art, wie der Arzt auf den Patienten zugeht, ohne dass sich dieser in die Enge gedrängt oder überrumpelt fühlt. Andererseits braucht der Patient in der Regel das Gefühl, durch den Arzt geführt zu werden. Auch hier muss der Arzt intuitiv erfassen – ohne Fragebogen und ohne die Hilfe eines Psychologen –, wo die Toleranzgrenze des einzelnen Patienten liegt. Die Unterschiede zwischen Patienten sind enorm.
An Kunst grenzt auch die Überzeugungskraft, die bei manchem Patienten notwendig ist, ihn in die gewünschte Richtung zu lenken. Entscheidend aber ist die Fähigkeit des Arztes, die Ergebnisse der Diagnostik und die daraus folgenden therapeutischen Konsequenzen seinem Gegenüber plausibel zu machen.
Neben dieser psychologischen Kunstfertigkeit spielt die gedankliche Kombinationskunst eine wesentliche Rolle, die dem Arzt das Vorgehen erleichtert und dem Patienten unnötige Diagnostik erspart. Wie rasch erfasst der Arzt aufgrund der Beschwerden des Patienten und der objektiven Daten, wo das Problem eines Patienten liegt? Wie gut gelingt ihm eine zielgerichtete und sparsame Diagnostik? Wie häufig greift er zu einer weit ausladenden »Schrotschussdiagnostik«?
Viele der genannten Fähigkeiten kann man erlernen – weniger gut theoretisch als vielmehr praktisch, im Umgang mit den Patienten. Eine wichtige Rolle spielt dabei die direkte Unterweisung am Krankenbett durch erfahrene klinische Lehrer. Ebenso wichtig ist die bewusste und selbstkritische Analyse der eigenen Wirkung auf den Patienten. Die ärztliche Kunst besteht darin, mit möglichst jedem Patienten umgehen zu können und nicht nur mit denen, zu denen man ohnehin einen guten Zugang findet. Um zu lernen, benötigt man Vorbilder!
»The higher education so much needed today is not given in the school, is not to be bought in the market place, but it has to be wrought out in each one of us for himself; it is the silent influence of character on character.«
William Osler
Der Arzt nahm – ähnlich wie der Priester – über Jahrhunderte eine letztinstanzliche Stellung ein. Er war Weichensteller für Heil oder Verderben seines Patienten. Dennoch war die Stellung des Arztes in der Gesellschaft nie ohne Widerspruch oder Kritik. Die Reaktion eines Skeptikers gegenüber dieser Position des Arztes wurde zum Sprichwort: »Ärzte und Priester verderben die Menschheit« (Machiavelli). Er spielt dabei auf Willkür und Allmacht beider Berufsstände an. Auch der moderne Mensch hat Schwierigkeiten, sich mit dieser Position des allmächtigen Arztes einverstanden zu erklären. Über Jahrhunderte hinweg wurden Ärzte skeptisch gesehen, wie die Karikaturen von Ärzten zeigen. War man selbst von einer schwerwiegenden Krankheit betroffen, flößt ein solches Arztbild nicht gerade das Gefühl von Vertrauen und Hoffnung ein. Solange man aber gesund war, konnte man sich leicht über Karikaturen und Marotten von Ärzten amüsieren.
Gesucht wurde zu allen Zeiten der unbestechliche und zuverlässige Arzt, der nicht auf eigene materielle Vorteile bedacht ist, sondern das Wohlergehen seines Patienten im Blick hat. Da sich die gesellschaftliche Position des Arztes im Laufe der letzten Jahrhunderte immer wieder verändert hat, sind derart idealtypische Arztfiguren immer seltener geworden: Der Arzt als der persönlich für die Gesundheit seines Patienten Verantwortliche, der Arzt als Vertrauter der Familie, der Arzt als Helfer an den Bruchstellen des Lebens: Geburt, schwere Krankheit und Tod. Dieses ganzheitliche Moment ärztlicher Tätigkeit wurde im 19. Jahrhundert zurückgedrängt. Die bahnbrechenden medizinischen Entdeckungen schienen die ärztliche Tätigkeit allein auf dem Boden der Naturwissenschaften möglich zu machen. Wenn man allerdings genauer hinsieht, erwies sich dies von Anbeginn als Illusion. Was blieb, war eine unzweideutige Erkenntnis: Wir brauchen Ärzte, die ihren Patienten nicht nur naturwissenschaftlich, sondern auch ärztlich – im Sinne eines guten Arztes – gerecht werden.
Heute, in Zeiten einer rasanten medizinischen Entwicklung, befindet sich der persönlich für den ganzen Patienten verantwortliche Arzt auf dem Rückzug. Er wird ersetzt durch den Spezialisten, der je nach Erkrankungsschwerpunkt für einen bestimmten Zeitraum Ansprechpartner des Patienten ist. Durch diese dramatische Systemveränderung ist Einiges gewonnen worden, aber auch vieles verloren gegangen. Der ganzheitlich für den Patienten verantwortliche Arzt scheint verschwunden zu sein. Wie kann man den Verlust verhindern? Kann man die vom Aussterben bedrohte Kunst des Arztseins retten bzw. für den Patienten erhalten? Wie kann man gleichzeitig Spezialist und für den ganzen Patienten verantwortlicher Arzt sein?
Ein Blick in die Medizingeschichte zeigt, dass sich naturwissenschaftliche Medizin und ärztliche Kunst keineswegs ausschließen. Aus den nachfolgenden Beispielen wird deutlich, wie aus Naturwissenschaftlern große Arztpersönlichkeiten wurden und wie sie naturwissenschaftlich fundierte Medizin als »Patientenärzte« praktiziert haben.
Im Folgenden möchte ich Eigenschaften und Verhaltensweisen vorbildlicher Ärzte anhand von Beispielen verdeutlichen. Ein solches Auswahlverfahren ist immer subjektiv und beruht auf persönlicher Wertung. Die Kriterien für das, was vorbildliche ärztliche Verhaltensweisen sind, werden in den nachfolgenden Kapiteln besprochen. Ich habe Biografien und Dokumente von Ärzten durchgesehen und sie danach bewertet, ob diese über die ärztliche Tätigkeit informieren und wie sie die ärztlichen Eigenschaften charakterisieren.
Unter den vielen ärztlichen Vorbildern habe ich Herman Boerhaave, William Osler, Friedrich von Müller und Ferdinand Hoff ausgewählt. Anschließend berichte ich über meine eigene Erfahrung mit ärztlichen Vorbildern. Wohlgemerkt, es geht bei dieser Ausahl nicht um die bedeutendsten Wissenschaftler oder besonders gute akademische Lehrer, sondern um gute Ärzte. Dies erklärt, warum viele der brillantesten Mediziner nicht berücksichtigt wurden, etwa Rudolf Virchow, Robert Koch, Louis Pasteur, Claude Bernard, Carl Ludwig, Edmund Du Bois-Reymond und viele andere. Deren Leistungen liegen mehr auf wissenschaftlichem als auf klinischem Gebiet.
Die Qualität des klinisch tätigen Arztes wird am zuverlässigsten von Patienten, Kollegen und Mitarbeitern beurteilt und ist daher schwer messbar. Weniger aussagekräftig war die Quellensituation bei Albrecht von Haller, Ernst von Leyden, Bernhard Naunyn, Theodor Frerichs, Hugo Wilhelm von Ziemssen, Bernhard von Langenbeck und vielen anderen, die für eine solche Darstellung als ärztliche Vorbilder durchaus infrage gekommen wären. Wie Sie im Folgenden sehen werden, hatte ich gute Gründe, diese vier Ärzte auszuwählen.
Zwischen 1650 und 1750 hat die Medizin in Mitteleuropa eine enorme Wandlung durchgemacht. Sie hat zwar nicht alle mittelalterlichen Vorstellungen einer glaubens- und vitalismusgeprägten Fachkunde abgelegt, aber doch neue naturwissenschaftliche Vorstellungen in das medizinische Gedankengebäude aufgenommen. Einer, der wesentlich für diesen Umbruch und diese Entwicklung mitverantwortlich war, ist Herman Boerhaave. Arzt zu werden war ihm nicht in die Wiege gelegt. Es war vielmehr Höhepunkt und Erfüllung seines Lebens. Voran ging ein langer Weg von der Philosophie über Botanik und Chemie.
Herman Boerhaave stammt aus der nahen Umgebung von Leiden, genießt bei seinem Vater, einem calvinistischen Pfarrer, und in der Schule eine hervorragende, vor allem philologische Ausbildung. Er spricht schon mit 12 Jahren, wenn man den Annalen glauben darf, neben seiner Muttersprache Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, Arabisch, Englisch und Deutsch. Wie sein erster Biograph Samuel Johnson berichtet, leidet er als Schüler und Student mehrere Jahre unter einem schmerzhaften, nicht abheilenden Ulkus am linken Oberschenkel. Ob dieses durch sekundärinfizierte multiple Wespenstiche, durch Hauttuberkulose oder durch eine Pilzinfektion entstanden war, ist unklar. Alle Therapieanstrengungen der Ärzte sind vergeblich. Diese Erfahrungen mit seiner eigenen Krankheit, verbunden mit der Hilflosigkeit der Ärzte, wirken sich prägend auf seine spätere Hinwendung zum Arztberuf aus. Er erfährt am eigenen Leib, wie ausgeliefert sich der Kranke gegenüber seinem Arzt fühlt und wie sehr er von dessen Zuwendung abhängig ist. Doch der Weg zur eigenen ärztlichen Tätigkeit ist hürdenreich.
Auf Wunsch seines Vaters, der wie die Mutter noch während seiner Jugendzeit stirbt, studiert Herman zunächst Theologie und Philosophie. Beide Fächer schließt er mit einem Doktorgrad ab. In Philosophie promoviert er 1690 mit einer Arbeit zum Thema »On the distinction between mind and body«. Daran anschließend nimmt er das Studium der Medizin, Botanik und Chemie auf. Er liest die Werke von Hippokrates, Vesal und Sydenham, besucht aber, soweit man weiß, keine medizinischen Vorlesungen. Als Arzt ist er mit seinem Studium der Bücher Autodidakt. Mit dem medizinischen Examen (1693) promoviert er über eine spezifische medizinische Thematik: »Usefulness of examining the patient excrements for diagnostical purpose«.
Nach seinem Examen ist er zunächst als praktischer Arzt niedergelassen und genießt nach kurzer Zeit einen derartig phänomenalen Ruf, dass die Leidener Fakultät sich entschließt, ihn auf den nächsten frei werdenden Lehrstuhl zu berufen. Klinische Lehrstühle sind nicht verfügbar, daher muss er mit dem Lehrstuhl für Botanik vorliebnehmen.
Er hat zwar Botanik studiert, verfügt aber bislang über keine größeren praktischen Erfahrungen in diesem Fach. Er zieht die Konsequenz und beschäftigt sich eingehend mit diesem Fachgebiet. Im Sommersemester liest er Botanik und baut für den Anschauungsunterricht seiner Studenten einen bis heute existierenden botanischen Garten aus und legt eine umfassendes Pflanzenverzeichnis an. Im Wintersemester liest er Chemie und hält ganzjährig neben seiner praktischen Tätigkeit als Arzt klinische Kurse für Medizin- Studenten. Im Laufe der Jahre wächst die Anzahl von Patienten, die unbedingt von ihm diagnostiziert und behandelt werden wollen, in ungewöhnlichem Maße.
Nach allem, was die Quellen sagen: Ausschlaggebend ist seine Persönlichkeit. Sie findet in zahllosen Beschreibungen und Anekdoten von Kollegen, Mitarbeitern, Schülern und Freunden ihren Ausdruck. Und dennoch bleibt seine Persönlichkeit ein Mysterium, so empfanden es zumindest seine Zeitgenossen. Wollte Boerhaave dieses Geheimnis – bewusst oder unbewusst – nicht preisgeben? War es ihm unangenehm, die Lobeshymnen seiner Bewunderer zu hören?
Ja, wie ich meine: Ein Hinweis ist das, was er selbst auf seinem Totenbett aussprach: »Ich betrachte mich und mein Leben als nicht signifikant.« Dieses Gefühl der Insignifikanz, der Bedeutungslosigkeit eines jeden Menschen angesichts des Weltalls, ist Ausdruck seiner Selbsteinschätzung, ist Leitmotiv seines Lebens. Bei allem, was er geleistet hat, wie erfolgreich er auch war, wie groß der Zulauf von Patienten wurde – er war von der Relativität seines Erfolgs und seiner Leistung überzeugt. In heutiger Sprache: Er hob nicht ab, er blieb immer auf dem Teppich.
Der Lebenslauf zeigt seine überragenden intellektuellen Fähigkeiten: Beherrschung vieler Sprachen und erfolgreiches geisteswissenschaftliches und naturwissenschaftliches Studium. Für seine intellektuellen Fähigkeiten spricht, wie rasch er sich in ihm kaum bekannte Fachgebiete, wie Botanik und Chemie, eingearbeitet hat und wie rasch er diese als akademischer Lehrer vertreten konnte. Ein weiteres typisches Persönlichkeitsmerkmal ist die Intensität und Konsequenz, mit der er die Dinge verfolgte und zu Ende brachte, die er als wichtig erkannt hatte. Wie sämtliche Quellen übereinstimmend überliefern, arbeitete er rastlos von morgens bis abends. Wir würden heute sagen: »Er war ein Workaholic.«
Zwei weitere Merkmale runden das Bild seiner Persönlichkeit ab: Sein Sendungsbewusstsein gegenüber seinen Schülern und Mitarbeitern und sein Vermögen, Kritik seiner Kollegen zu ertragen, ohne zu widersprechen. Gerade diese Fähigkeiten sind bei arrivierten Ärzten weder selbstverständlich noch häufig. Er ist offensichtlich eine derart in sich gefestigte Persönlichkeit, dass er solche Kritik ertrug, ohne mit gleicher Münze zurückzuzahlen.
Aus meiner Sicht ist das Fundament seiner Persönlichkeit seine philosophische Vorbildung (z. B. die Auseinandersetzung mit dem Pantheisten Spinoza und dem Rationalisten Descartes) und nicht zuletzt sein tief verwurzelter Glauben an einen – nicht unbedingt religiös definierten – Gott. Seine Sicht der Welt basierte auf einer intensiven Beschäftigung mit dem Begründer des Pantheismus Baruch de Spinoza (1632–1677) und dem Rationalisten René Descartes (1596–1650). Er teilte die Kritik Spinozas an der Bibel als einem aus ihrer Entstehungsgeschichte verständlichen Werk ohne allgemeingültige Bedeutung. Er folgte der Idee Spinozas, dass Gott in allen Lebewesen – aber auch allen Dingen – präsent sei und der Mensch Teil dieses Universums sei. Diese Einstellung erklärt die Einschätzung seiner eigenen Bedeutung als »insignifikant« (bedeutungslos). Ein offenes Bekenntnis zur Lehre Spinozas vermied er, da es zur damaligen Zeit einer Gotteslästerung gleichgekommen wäre.
Leitmotiv und Grundbekenntnis der Lehre von René Descartes ist – wie bekannt – der Satz »cogito, ergo sum«. Ich denke, daher bin ich. Dieses Bekenntnis zum Denken als Bestimmung des Menschen, auch des Mediziners, wur