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Zur Autorin:

Kathrin Heinrichs wurde 1970 im Sauerland geboren, studierte in Köln Germanistik und Anglistik und arbeitet seit 1999 als Autorin und Kabarettistin. Bekannt wurde sie mit ihrer Krimireihe um Hauptfigur Vincent Jakobs. Zuletzt erschien mit „Nichts wie es war“ der erste Kriminalroman um ihre Figuren Anton und Zofia.

Kathrin Heinrichs hat drei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in Menden.

Mehr zur Autorin unter www.kathrin-heinrichs.de

Kathrin Heinrichs

Bis auf den Grund

Kriminalroman

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2018 by Kathrin Heinrichs
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag & Satz: Olaf Warburg
eISBN 978-3-934327-60-3

Für die vielen polnischen Pflegekräfte,
die hierzulande mit großem Engagement
alte Menschen betreuen

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Prolog

Eine Fliege.

Sie krabbelte unter dem starr blickenden, halboffenen Auge vorbei, quer über die Wange, schließlich verschwand sie im Ohr. Womöglich würde sie sich dort einnisten und Eier ablegen. Larven würden sich im Körper breitmachen und ihn nach und nach fressen. In Janeks Magen rumorte es, ein Würgereiz stieg in ihm auf; er musste sich zusammenreißen, um sich nicht zu übergeben.

Trotzdem starrte er weiter auf den leblosen Körper, auf die fahle Haut in dem feinen Gesicht, auf das angetrocknete Blut, das von der Kopfwunde zum Ohr gesickert war. O Boże, wie hatte die Situation nur so eskalieren können?

Mit einem Mal begann er zu zittern; er riss die Hände hoch, starrte entsetzt auf seine langen feingliedrigen Finger. Er würde Spuren hinterlassen haben! Natürlich würde er Spuren hinterlassen haben! Hautpartikel, Schweiß, Fasern. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Wieder der Würgereiz, und diesmal konnte er ihn nicht unterdrücken. Der Schwall traf den Waldweg, aber nicht nur den. Psiakrew, er hatte tatsächlich auf die Leiche gekotzt!

Sein Atem überschlug sich, Gedanken flogen in seinem Kopf herum wie wildgewordene Vögel. Seit zwei Tagen lag er krank im Bett, er hätte mit seinem Infekt gar nicht herkommen dürfen, er hätte nicht hoffen dürfen, dass – noch einmal würgen. Der saure Geschmack im Mund war unerträglich.

Erschöpft lehnte er sich an einen Baum, zwang sich zum gleichmäßigen Atmen. Nach einer Weile wurde er ruhiger. Er lauschte, spürte, wie die Dämmerung in den Ästen Platz nahm, vernahm das immerwährende Rauschen des Meeres als sonoren Bass. Ansonsten keine Geräusche. Niemand in der Nähe, der wusste, was hier passiert war.

Und dann wurde ihm klar, was jetzt zu tun war. Der einzig gangbare Weg. Einen Moment stand er trotzdem noch bewegungslos da – wie beim Konzert, bevor der erste Ton gespielt wurde. Schließlich griff er ihren Knöchel und zog. Sie war nicht schwer, aber er musste mit ihr durchs Gestrüpp. Auf den fünf Metern zum See blieb sie immer wieder hängen, einmal hatten sich ihre Haare so um einen Ast gewickelt, dass er sie kaum losbekam. Am Ufer versuchte er vergeblich sie ins Wasser zu schieben; am Ende musste er selbst hinein. Er gab ihr einen Stoß, damit sie endlich versank.

Jetzt war er bis zur Hüfte nass und Schüttelfrost überkam ihn. Er hätte sich gern auf einen Baumstamm gesetzt und ausgeruht, aber es ging nicht – das Erbrochene musste weg! Hektisch klaubte er Laub und Ästchen zusammen, bemühte sich den Brei zu überdecken, mit wenig Erfolg. Irgendwann zog er die Jacke aus, nahm das Ganze auf, die Matsche mit dem Dreck und dem Laub, und schüttete es im Halbdunkel der Bäume wieder aus.

Sein Körper schlotterte, das Fieber hatte ihn jetzt fest im Griff. Er fühlte eine tiefe Ungerechtigkeit, er fühlte auch so etwas wie Trauer. Aber es nützte nichts – er musste hier weg! Doch wie um Himmels willen sollte er unbemerkt von dieser Insel verschwinden?

1

Anton Wieneke wusste nicht, wann er zuletzt so unglücklich gewesen war. Vielleicht, als seine Frau gestorben war. Vielleicht nach seinem Schlaganfall, der ihm die linke Seite lahmgelegt hatte. Vielleicht, als seine Pflegekraft Zofia nach Polen abgereist war. Was er aber wusste: Seit Krystina in sein Leben gepoltert war, war das Unglücklichsein Dauerzustand.

„Smacznego!“ Mit einem ‚Mahlzeit‘ knallte ihm die neue Pflegekraft seinen Teller vor die Nase. Darauf der immer gleiche Sauerkrauteintopf mit Schweinefleisch und Speck. Bigos sollte das sein. Anton mochte Bigos. Eigentlich. Sein Sohn Thomas hatte es einmal sehr lecker gekocht. Doch seitdem die stämmige Polin bei ihm wohnte, gab es praktisch täglich Bigos und das schmeckte kein bisschen.

Zugegeben, anfangs hatte sie noch andere Dinge gekocht. Aber die waren ähnlich fettig gewesen, so dass Antons Magen sie nicht gut vertrug. Krystina war enttäuscht gewesen, wenn Anton nicht aufgegessen hatte. Und dann beleidigt. Und irgendwann wütend. Zwischen ihnen hatte sich eine unselige Spirale entwickelt. Und eine von Krystinas Waffen war tägliches Bigos.

„Bezczelność!“, murrte sie jetzt und wischte unwillig einen Krümel vom Tisch. Vielleicht war es besser, dass er nicht alles verstand.

Sicher hatte Krystina auch Qualitäten. Die Fenster waren bei Zofia nie so sauber gewesen und die Küche war immer tipptopp. Nur legte Anton darauf nicht allzu viel Wert. Auch nicht darauf, dass sie ihm ständig den Mund abwischte wie einem kleinen Kind. Und dass sie einfach in sein Badezimmer stürmte, wenn er sein Geschäft verrichtete. Er würde ja abschließen, aber sie hatte den Schlüssel abgezogen, um das zu verhindern.

Krystina konnte auch nett sein. Zum Beispiel wenn sie am Telefon mit ihrem Enkelsohn sprach. Dann ging ihre Stimme ganz hoch, sie war fröhlich und ganz aus dem Häuschen. Anton glaubte deshalb, dass Krystina einfach am falschen Ort war. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, sie nach Hause zu schicken. Aber bei einigen Dingen brauchte er Hilfe und wenn er Krystina hinauswarf, blieb nur noch das Heim.

Inzwischen hatte Anton allen Widerstand aufgegeben; er wartete einfach, dass es vorbeiging. Zwei Tage noch, dann würde Zofia zurückkommen.

Sicherheitshalber tastete Anton nach dem schnurlosen Telefon in seiner Tasche. Er hatte den Hörer immer dabei, damit er ihren Anruf bloß nicht verpasste. Heute oder morgen würde sie sich melden und sagen, ob alles nach Plan lief.

„Jedz!“, sagte Krystina ungeduldig. Anton wusste, was da hieß: „Iss!“ Der Polin war es wichtig, die Küche so schnell wie möglich wieder in Ordnung zu bringen.

Trotzig begann er mit der Gabel in seinem Essen zu stochern. Doch just, als er den ersten Bissen in den Mund schieben wollte, klingelte es in seiner Jacke. Krachend ließ er die Gabel fallen. Krystina warf ihm einen wütenden Blick zu, doch Anton ließ sich nicht beirren.

Vor Aufregung konnte er den Hörer kaum greifen, aber dann hatte er ihn doch und ein Blick darauf ließ sein Herz hüpfen. 0048 – die Vorwahl von Polen!

„Zofia“, keuchte er glücklich in den Hörer hinein.

Ein Moment Stille. Dann eine männliche Stimme mit polnischem Akzent. „Hier ist Carenow, Ihren Pflege-Agentur. Spreche ich mit den Herrn Anton Wieneke?“

Mehr als ein heiseres „Ja“ brachte Anton nicht heraus.

„Ah, guten Tag. Möchte ich Sie nur über einen kleinen Änderung informieren. Wird Ihre Pflegekraft Zofia Bartoszewski später anreisen. Eine Woche, vielleicht mehr.“

Es war Anton, als würde ihm der Kreislauf wegbrechen. „Wie kann das sein?“

„Muss Frau Bartoszewski eine Reise antreten. Wegen Familie.“

„Eine Reise? Was ist passiert?“

„Für Sie alles ist geregelt, keine Verschlechterung für Sie. Wird Frau Mazowickie länger bleiben bei Ihnen. Wenn Sie sie mir nur jetzt geben, dass wir alles besprechen.“

Anton sah hoch – direkt in Krystinas mürrische Augen.

„Nein!“, sagte er tonlos in den Hörer hinein.

„Ist Frau Mazowickie nicht da?“

„Schon, aber – “, Anton suchte krampfhaft nach Worten. „Rufen Sie bitte heute Abend noch einmal an. Ich will – ich muss – erst etwas klären.“ Dann drückte er mehrere Tasten auf einmal, damit das Gespräch ganz sicher weg war.

„Mein Sohn“, murmelte er nach einer Schrecksekunde. Im selben Moment fiel ihm ein, dass er den natürlich nicht siezte. Egal, Anton nahm seine Gabel. Krystina verstand sowieso nichts.

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„Pragnienie jest gorsze niż tęsknota za domem“, das war einer der Sprüche seiner Mutter gewesen. „Durst ist schlimmer als Heimweh.“

Er wusste nicht allzu viel über Heimweh. Er hatte einfach nur schrecklichen Durst.

Offenbar war er nicht allein. Es war ein Klappern zu hören. Im nächsten Moment wusste er, woher das Geräusch kam. Von seinen Zähnen, die aufeinanderschlugen wie Kastagnetten.

Seine Lider waren schwer, als er die Augen öffnete. Eine weiße Wand. Holz. Eine Leiste. Er lag auf einem Sofa, von den Holzdielen am Boden strömte starker Wachsgeruch aus.

Und dann kam die Erinnerung. Er hatte sich in dieses Ferienhaus geschleppt. Der Schlüssel hatte tatsächlich hinter der Regentonne gelegen. So hatte es ihm der Besitzer vor Monaten in der Hotelbar erzählt.

Hier angekommen, hatten ihn offenbar die Kräfte verlassen. Er hatte auf dem Sofa gelegen und endlos geschlafen. Wie lange? Zehn Stunden, zwölf, zwanzig …?

Alles an ihm schmerzte, seine Glieder waren steif, als hätte er draußen in der Kälte gelegen. Und dann dieser Durst! Das Fieber musste ihn ausgetrocknet haben. Resigniert schloss er die Augen, doch sofort flogen Bilder ihn an, Bilder und Fragen. Er riss die Augen auf, klammerte sich an das, was er sah. Eine Wand. Einen Fußboden. Eine Leiste.

Mühsam setzte er sich auf, orientierte sich. Küche und Wohnzimmer waren ein einziger offener Raum – dahinten eine Küchenzeile, ein Spülbecken, ein Wasserhahn!

Als er aufstand, wurde er von Schwindel erfasst. Er klammerte sich an einen Sessel, ruhte kurz aus, tastete sich dann Richtung Spülbecken vor. Dort betätigte er den Wasserhahn und trank. Trank, trank, trank. Nur um plötzlich zu spüren, wie es warm wurde zwischen seinen Beinen. Psiakrew, er nässte sich ein wie ein Kind!

Den Bootstrailer entdeckte er, als die Tränen weniger wurden. Man konnte ihn durchs Küchenfenster sehen, er stand draußen im Nieselregen neben einem Schuppen. Der Trailer war nicht groß, darauf ein Schlauchboot mit Außenborder, wie sie es in Polen gehabt hatten. Das Boot war notdürftig mit einer Plane abgedeckt; sofort wollte er hingehen und nachsehen, ob es fahrtüchtig war. Doch als diesmal der Schwindel kam, hielt es ihn kaum auf den Beinen. Er taumelte zum Sofa, ließ sich dort fallen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste erst Kraft tanken, schlafen, das Fieber loswerden. Als er die Augen schloss, war er am See, am Zbiornik Sosnówka. Es war warm, sie saßen am Ufer, er spielte auf der Gitarre „Gdy bym miał gitarę“. Vielleicht nannten die Leute so etwas Heimweh.

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„Herr Anton!“ In Zofia stieg Freude auf, als sie sah, wer da anrief, aber auch ein bisschen Sorge. Der alte Mann hatte sich während ihres Heimaturlaubs kein einziges Mal gemeldet, nun zeigte ihr Handy gleich mehrere Anrufe an.

„Zofia“, seine Stimme klang dünn, so kannte sie ihn nicht, „ich wollte mich melden, weil –“ Zofia hatte Probleme, Herrn Anton zu verstehen. Weil er zittrig sprach und weil sie vier Wochen kaum Deutsch gehört hatte.

„Die Agentur hat hier angerufen und mir gesagt –"

O kurde! Sie hatten versprochen, sich nicht bei Herrn Anton zu melden!

„– dass Sie später zurückkommen. Was ist denn passiert?“

Zofia schluckte, der alte Mann war ja ganz aus der Fassung.

„Das tut mir sehr leid“, testete Zofia ihre ersten Worte auf Deutsch. „Wollte ich nicht, dass Sie alles erfahren von der Agentur. Wollte ich selber anrufen sehr bald.“

„Nicht schlimm“, hörte sie den alten Mann sagen, aber in Wirklichkeit klang er, als wäre doch alles sehr schlimm.

„Es ist so“, Zofia versuchte sich zu konzentrieren. „Machen wir uns große Sorgen um Kajas Bruder. Er arbeitet auf eine deutsche Insel, aber seit Tagen wir können ihn nicht erreichen.“

„Kajas Bruder“, hörte Zofia den alten Mann sagen, „Janek. Der mit Ihnen Trauzeuge war.“

Zofia musste lächeln. Herr Anton hatte sich alles gemerkt, was sie vor ihrer Abfahrt erzählt hatte. Er war ein guter Zuhörer.

„Aber er war doch auf Kajas Hochzeit?“, fragte er jetzt nach. Seine Stimme hatte sich etwas erholt.

„Ja, er war da. Aber ist er lange zurück in Deutschland. Lebt er auf einen Ostfriesischen Insel. Er spielt als Musiker da. Ich glaube, die Insel heißt Just.“

„Juist“, verbesserte Herr Anton.

„Auf jeden Fall wir bekommen keine Nachricht von ihm.“

„Aber das muss doch nichts heißen. Vielleicht ist einfach sein Handy kaputt.“

Zofia holte tief Luft. „Es ist so: Janek hat am Donnerstag bei Kaja gemeldet. Er hat geschrieben, er hat großen Ärger und sie müssen telefonieren am Freitagabend.“

„Und dann hat er sich nicht gemeldet?“

„Nein, und auch nicht am Samstag. Und heute ist schon Sonntag und er hat wieder nicht gemeldet.“

„Wenn aber tatsächlich sein Handy kaputt ist –“

„Kaja kann nicht ihn über Handy erreichen, nicht über Skype und auch nicht über den Hotel, in dem er arbeitet als pianista.“

„Kaja hat im Hotel angerufen?“

„Hat sie, aber niemand weiß, wo Janek ist. Ist er nicht bei Arbeit gewesen. Und auch nicht in seinen Wohnung. Eine Frau hat gesagt, dass er oft hat gesprochen von Polen, sie sagt, bestimmt er ist auf den Weg, aber ein Mann sagt, die Konzertgitarre von Janek ist noch in Hotel. Ohne die geht Janek nicht weg. Darum wir haben Sorgen.“ Zofia machte eine Pause. O kurde, war das ein Geeiere. Es kam ihr vor, als könnte sie keinen richtigen Satz mehr auf Deutsch. Alles klang krumpelig und schief.

„Ich kann Ihre Sorge verstehen“, sagte Herr Anton. „Vielleicht sollte man eine Vermisstenanzeige aufgeben.“

„Haben wir gemacht“, platzte Zofia heraus. „Haben wir Polizei angerufen; sie haben alles aufgeschrieben, aber sagen sie, Janek ist ein erwachsener Mann und sicher er kommt bald zurück.“

„Das glaube ich auch“, beharrte Herr Anton. „Was sagt denn Thomas? Er hat doch bei der Polizei ständig mit sowas zu tun.“

„Habe ich keinen Kontakt.“ Zofia schwieg verlegen. Sie hatte sich von Tomasz eine Pause erbeten. Es war kompliziert.

Am anderen Ende hörte sie jetzt Herrn Anton laut atmen. „Hören Sie, Zofia, womöglich ist dieser Janek bald wieder da. Wenn er Ärger hat, ist er vielleicht ein paar Tage untergetaucht.“

„Aber was ist das für einen Ärger?“ Zofia schob beiseite, dass sie vielleicht wusste, was das war. „Und warum meldet er nicht bei seiner Schwester?“

Herr Anton schwieg. Darauf wusste er natürlich auch keine Antwort.

„Habe ich Kaja versprochen, ich fahre hin, wenn er sich bis morgen nicht meldet.“

„Auf die Insel?“ Herr Anton klang plötzlich wieder heiser.

„Kaja kann nicht weg hier, ihre Mutter ist krank, ihr Vater tot. Ich bin Kajas Freundin, da muss ich helfen, das verstehen Sie doch?“

Es kam keine Antwort vom alten Mann.

„Vielleicht ich bin ja schon nächstes Wochenende zurück“, versuchte Zofia es weiter.

„Nächstes Wochenende?“ Herr Anton sagte das, als hätte sie einen Termin im nächsten Jahr vorgeschlagen.

„Was ist los?“, fragte Zofia. „Was ist nicht in Ordnung?“

„Es ist –", Herr Anton begann zu stottern, „also, wenn ich ehrlich bin –"

Und dann hörte Zofia eine Stimme, eine polnische Stimme. Und was genau sie da hörte, machte sie blass. So wurde auf dem bazar in Polen gesprochen.

„Was ist das?“, brachte Zofia heraus.

„Sie will, dass ich aufhöre zu telefonieren. Sie hat ihren Namen gehört.“

„O Boże!“ Zofia wurde jetzt selbst laut. „Was ist das für einen Mensch?“

„So ist es immer“, Herr Anton klang verzweifelt. „So ist es von morgens bis abends.“

„Lieber Himmel, warum weiß nicht Tomasz davon? Oder Ihren Tochter, Sabine?“

„Sie sind sehr beschäftigt. Außerdem wollte ich nicht – ich dachte doch, Sie kommen bald wieder, und ich schaffe vielleicht –“, hier brach er ab und Zofia presste ihre Faust vor den Mund. Alles war schon so schlimm genug! Warum musste es jetzt auch noch Herrn Anton schlechtgehen?

Am anderen Ende hörte Zofia eine Tür knallen, dann ein Aufatmen. „Sie ist aus dem Zimmer.“

„Das ist alles sehr furchtbar“, sagte Zofia.

„Ja, das ist es, und deshalb – bitte – seien Sie nicht böse, aber ich habe mir meine Gedanken gemacht“, der alte Mann klang angespannt, aber nicht mehr so verzweifelt wie vorher. „Es ist ungewöhnlich, aber vielleicht – also – ich wollte immer schon eine Ostfriesische Insel bereisen – warum fahren wir nicht einfach zusammen?“

Zofia war nicht sicher, ob sie richtig verstand. „Sie wollen mit auf den Insel?“

„Für meine Bronchien ist es sicher gut, an die Nordsee zu reisen. Und ich habe viel mit dem Rollator geübt. Wir machen dort Urlaub – wäre das nicht eine Idee?“

„Ich weiß nicht –“ In Zofias Bauch verklumpte sich etwas. Janek hatte erzählt, dass auf der Insel keine Autos fahren durften. Wie sollte das mit dem alten Mann gehen?

„Bitte, Zofia! – Wie heißt das Hotel? Ich buche zwei Zimmer und zahle sie auch. Es ist kein allzu großer Umweg, übers Sauerland in den Norden zu fahren. Wenn Sie schon morgen abreisen, können Sie hier übernachten, dann nehmen wir am Dienstagmorgen das Auto und noch am selben Abend sind wir auf der Insel.“

„Aber was ist mit Krystina?“

„Die freut sich nach Hause zu kommen; sie fährt ja nur einen Tag früher.“

Zofia wusste nicht, was sie sagen sollte. Herr Anton hatte sich tatsächlich viele Gedanken gemacht. Dann waren plötzlich wieder Geräusche zu hören. So als würde bei Herrn Anton eine Tür aufgerissen, kurz darauf wieder die schreckliche Stimme. „Ciągle jeszcze? Immer noch dran?“

„Ich versuche“, flüsterte Zofia, „ich versuche, ob vielleicht geht. Aber geben Sie mir für den Planung ein paar Stunden Zeit.“

2

Anton wusste selbst nicht, warum, aber als das Schiff die Fahrrinne verließ und ins offene Meer stieß, liefen die Tränen. Die schreckliche Zeit mit Krystina, die Angst, dass Zofia nicht zurückkommen würde, all das fiel jetzt von ihm ab und blieb auf dem Festland zurück. Vielleicht war dies das berühmte Inselgefühl?

Verlegen wischte er sich mit der gesunden Hand durchs Gesicht und schaute über die Reling. Genoss das Kreischen der Möwen, die das Schiff begleiteten, freute sich am leichten Seegang, an der salzigen Luft und an der weißen Gischt, wenn eine Welle sich überschlug.

Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Das war es, was er so schätzte. Zofia fragte nicht. Zofia drängte sich nicht auf. Zofia war einfach da, wenn er sie brauchte. Unbeholfen fasste er ihre Hand.

Für die junge Polin war alles sehr hektisch gewesen, die Fahrerei, das Packen, sie wirkte völlig erledigt.

„Wollen wir reingehen?“, fragte sie matt.

Anton warf einen letzten Blick aufs Meer. „Von mir aus. Wobei das mit dem Gehen …“, er klopfte auf die Lehne seines Rollstuhls, „naja, egal.“

Drinnen an den festgeschraubten Tischen und Bänken war es gemütlich. Junge Leute mit großen Rucksäcken, Familien mit kleinen Kindern, Handwerker, die vor sich hindösten oder mit ihren Handys herumspielten. Es war ein bisschen rummelig und gleichzeitig gedämpft. Auf jeden Fall war es hundertmal besser als mit Krystina zu Hause.

„Ist hier noch frei?“

Anton fuhr herum. Ein Mann stand im Gang. Er war drahtig und trug eine Nickelbrille, von der selbst Anton wusste, dass sie nicht mehr oft vorkam. Dadurch wirkte er auf eine altmodische Weise intellektuell.

„Dieser ist besetzt“, Anton zeigte auf den Platz neben seinem Rollstuhl. „Meine Pflegerin holt uns gerade einen Kaffee. Aber der Platz gegenüber ist noch frei.“

Der Mann schälte sich aus seiner Jacke und zog Schal und Handschuhe aus.

„Man muss hier wohl auf jedes Wetter eingestellt sein“, begann Anton ein Gespräch.

Der Fremde ließ sich auf dem Sitz nieder. „Ja, wir hatten jede Menge Regen letzte Woche. Und Nebel. Und Graupel.“

„Du liebe Güte“, Anton schlug sich aufs Knie. „Und ich dachte, wir wären für alles gerüstet. Wohnen Sie auf der Insel?“

Der Mann nahm seine beschlagene Brille ab, sofort wirkte er älter. „Ja, ich bin Insulaner. Wettermäßig kann mich nichts mehr erschüttern.“

„Was macht man auf einer Insel bei schlechtem Wetter?“

Der Einheimische lächelte nachsichtig, als hätte Anton eine falsche Frage gestellt. „Hmmh, leben?“ Er rieb seine Brille an seinem Pullover. „Aber Sie haben schon recht, es ist nicht ganz leicht. Im Winter trinken die Insulaner zu viel.“

Die Insulaner. Das klang, als gehörte der Nickelbrillenmann doch nicht so richtig dazu.

„Und zur Not haben wir ja auch noch unsere Tanzgruppe.“

„Ihre Tanzgruppe?“

Der Fremde setzte seine Brille wieder auf. „Wir üben Volkstänze ein. Schauen Sie mal zu, wenn Sie Gelegenheit haben.“

Noch bevor Anton antworten konnte, stellte Zofia zwei Tassen vor ihnen ab. „Gut, dass Sie kommen“, bezog Anton sie ein. „Der Herr erzählt gerade von seiner Volkstanzgruppe.“

„Ah“, Zofia lächelte freundlich zu ihm hinüber, „haben wir auch in meinen polnischen Dorf.“

Ein Leuchten huschte über das Gesicht des Mannes. „Darf ich mich vorstellen? Feiko Harms. Freut mich Sie kennenzulernen.“

Feiko war ein seltsamer Name, fand Anton, verkniff sich aber eine Bemerkung. „Anton Wieneke“, kam er stattdessen seiner Pflegerin zuvor, „und das ist Zofia – Bartoszewski“, er sagte den Namen, so gut es eben ging. Als Zofia damals zu ihm gekommen war, hatte er lange geübt.

„Wir wollen jemanden besuchen“, plauderte Anton weiter drauflos. „Jemanden aus Polen. Einen Freund von Zofia.“

Die setzte sich hin und griff ihren Kaffee.

„Verstehe“, der Fremde nickte. „Auf der Insel arbeiten viele Polen, vor allem in der Saison.“

„Vielleicht kennen Sie ihn. Er heißt Janek.“

Der Fremde runzelte die Stirn. „Arbeitet er als Musiker drüben?“

„Genau“, auch Zofia wurde jetzt wacher. „Kennen Sie ihn?“

Der Mann mit der Nickelbrille schien darüber nachzudenken. „Die Insel ist klein“, sagte er schließlich. „Er ist ein guter Pianist, so etwas spricht sich herum.“

„Moin, Feiko!“

Da rief jemand von hinten. Anton wandte sich um, kam aber nicht so weit, wie er wollte.

„Kommst du rüber? Hier ist noch ein Platz frei.“

Der Mann mit der Nickelbrille zögerte einen Moment. Dann griff er seine Sachen und stand auf. „Sorry, aber drüben wird jemand fürs Skatspiel gesucht.“ Er wandte sich an Anton. „Kartenspielen ist bei Regen unsere Hauptbeschäftigung – neben Tanzen und Trinken.“

Bevor er tatsächlich ging, warf er Zofia noch einen bedauernden Blick zu. „Ich bin sicher, wir sehen uns wieder. Wie ich schon sagte, die Insel ist klein.“

„Bis dann!“ Zofia strahlte ihm hinterher.

„Ist was?“, wandte sie sich an Anton, als Feiko Harms außer Sichtweite war. „Sie gucken sehr komisch!“

„Hmmh“, Anton griff nach seiner Tasse Kaffee. „Das weiß ich noch nicht. Aber es bleibt ja Zeit, das herauszufinden. Schließlich haben wir Urlaub.“

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Na großartig, Überraschung gelungen, sie waren nicht da! Thomas hatte sich im Auto mehr als einmal vorgestellt, wie sie schauen würden, wenn er zum Abendessen plötzlich vor der Tür stand. Natürlich hatte er sich vor allem vorgestellt, wie sie schauen würde, wenn er plötzlich vor der Tür stand.

Für Polen hatte sie sich „einen Pause zum Nachdenken“ gewünscht. Sie fand es schwierig, für „Herrn Anton“ zu arbeiten und gleichzeitig mit dessen Sohn zusammen zu sein. Thomas hatte das akzeptiert, aber er hoffte trotzdem nach ihrem Urlaub auf eine neue Chance.

Heute jedenfalls sah es nicht danach aus; der Wagen war weg, das Haus dunkel und verwaist. Aber verflixt, sie musste doch angekommen sein, heute war Dienstag, der Termin stand ewig lang fest! Und da hing auch eine ihrer Jacken an der Garderobe. Rollstuhl und Rollator allerdings waren nicht zu sehen, hinten waren außerdem die Rollläden heruntergelassen. Was, wenn sein Vater erneut ins Krankenhaus gekommen war?

Hektisch zog er im Wohnzimmer die Medikamentenschublade auf. Leer. Er ging ins Schlafzimmer seines Vaters. Das Bett war gemacht, aber auch hier wirkte alles sehr trist. Kein Buch auf dem Nachtschränkchen, keine Pantoffeln unterm Bett. Er riss die Tür zum Badezimmer auf. Es fehlten alle Waschutensilien.

Resigniert lehnte sich Thomas an die Badezimmertür. War Zofia tatsächlich angekommen? Wenn ja, wo waren die beiden jetzt hin? Und warum, verflixt nochmal, hatte man es nicht für nötig gehalten, ihn zu informieren? Er war schließlich der Sohn.

Das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, meldete sich bereits, als er nur die Treppe hochstieg. Er klopfte zunächst, als gäbe es noch die Möglichkeit, dass Zofia sich in ihrem Zimmer versteckte. Natürlich keine Reaktion. Vorsichtig öffnete er die Tür.

Auch hier war das Bett ordentlich gemacht, ansonsten fehlte fast alles, was er an ihr kannte. Ihre Reisetasche lag nicht auf dem Schrank. Ihre sonnengelben Turnschuhe schauten nicht unter dem Bett hervor. Das hellblaue Schlafhemd hing nicht über dem Stuhl. Nur auf dem Schreibtisch herrschte Chaos: eine Fahrkarte für den Fernbus nach Deutschland, ausgestellt auf den gestrigen Tag. Sie war also definitiv angekommen, sogar einen Tag früher als geplant. Ein Übungsbuch zur deutschen Grammatik. Ein paar Zettel mit Notizen. Thomas zwang sich, sie nicht zu lesen. Unter einem Wörterbuch lugten ein paar Fotos hervor. Thomas zog sie heraus. Fotos von Kajas Hochzeit. Zofia als Brautjungfer in einem schlichten, aber sehr pfiffigen Kleid. Es war von Kaja selbst genäht worden, Zofia hatte immer wieder irgendwelche Körpermaße durchgeben müssen. Es hatte sich gelohnt, Zofia sah umwerfend aus. Nicht nur wegen des Kleides – Zofia gehörte zu den Frauen, die hübsch waren, ohne es selbst zu registrieren. Ihre großen runden Augen, ihr kurzgeschnittenes Haar, das sie auch für die Hochzeit nicht aufgestylt hatte, ihr breites, aber so hübsches Gesicht. Thomas musste sich zwingen, das Foto weiterzuschieben.

Auf dem nächsten Bild das Brautpaar, eingerahmt von den Trauzeugen. Der Mann neben Kaja musste ihr Bruder sein, Janek, Zofia hatte ihn erwähnt. Dann Kaja mit einer von Krankheit gezeichneten Frau, wahrscheinlich ihre Mutter. Die Hochzeit hatte so schnell stattfinden sollen, damit Kajas Mutter sie noch erlebte. Kaja mit Janek, ihrem Bruder. Ein gutaussehender Kerl. Schlaksig, blond, dunkel umschattete Augen, ein Künstlertyp. Das passte, Zofia hatte erzählt, dass er Musiker war.

Eine weitere Aufnahme zeigte die Trauzeugen; dieser Janek hatte den Arm um Zofia gelegt. Es war eine freundschaftliche Geste, so wie man sie auf Fotos oft machte, dennoch versetzte sie Thomas einen Stich. Diese Bilder entstammten einer Welt, zu der er keinen Zugang hatte. Er hatte ganz zu Anfang ihres Heimaturlaubs einmal mit Zofia telefoniert, aber speziell von der Hochzeit hatte sie wenig erzählt. Warum fiel ihm das gerade jetzt wieder ein?

Er wusste es beim nächsten Bild. Es war der Blick, mit dem dieser Janek sie betrachtete. Wie zur Bestätigung auch noch ein Foto, auf dem sie tanzten. Was tanzte man da in Polen? Das sah nach Klammerblues aus. So etwas wurde hier in Deutschland schon ewig nicht mehr getanzt!

Wütend pfefferte er die Bilder auf den Schreibtisch. Von wegen, Arbeit und Beziehung gingen nicht zusammen. Der Grund für Zofias Reserviertheit hieß Janek.

Es war sein Smartphone, das Thomas ins Hier und Jetzt zurückholte. Eine Mail wurde angezeigt. Von seinem Vater!

Hektisch klickte Thomas sie an. Und konnte kaum fassen, was er da las. Sein Vater war nicht im Krankenhaus, das war schon mal gut. Stattdessen machten die beiden kurzfristig Urlaub! Auf einer Ostfriesischen Insel!

„Das Wetter ist hier viel besser als zu Hause“, schrieb sein Vater vergnügt. „Vielleicht mache ich morgen mal eine Thalasso-Therapie.“

Alles an dieser Mail machte Thomas wütend. Zofia war gestern erst angereist – warum war sie dann jetzt auf einer Insel? Und wieso mit seinem Vater und nicht mit ihm? Und warum hielt man es erst jetzt für nötig, ihm mit Zofias Tablet eine E-Mail zu schreiben?

„Mach dir keine Sorgen!“, schrieb sein Vater zum Schluss. „Du hast sicher viel Arbeit.“

„Nein, im Gegenteil. Ich habe drei Tage frei!“, brüllte Thomas und erschrak vor seiner eigenen Stimme.

Ich werde verrückt, sagte er dann leise zu sich selbst. Diese Frau macht mich verrückt.

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Zofia stand vorm Salatbuffet und wusste nicht, was tun. Sie hatte großen Hunger nach diesem anstrengenden Tag. Riesengroßen Hunger, um genau zu sein. Und da waren verschiedene Salate. Berge von Salaten, um genau zu sein. Aber sie war hier in einem piekfeinen Hotel, wie verhielt man sich da?

Sie nahm ein bisschen grünen Salat, ein paar Tomatenscheibchen und etwas Mais. Herr Anton sah sie mit großen Augen an, als sie damit zum Tisch zurückkam.

„Machen Sie eine Diät?“, wollte er wissen.

„Nein“, sie ruckte vor und versuchte möglichst leise zu sprechen. „Aber alles hier ist sehr fein. Ich weiß nicht, wie man hier isst.“

„Ich glaube, mit dem Mund!“ Herr Anton gab sich leider überhaupt keine Mühe, leise zu sprechen. „Zumindest machen das alle anderen.“ Vergnügt schob er ihr das Brotkörbchen hin und ein Tellerchen mit Butter.

„Aber“, Zofia versuchte verzweifelt, ihrem Tonfall mehr Dringlichkeit zu verleihen, „bin ich eben über den Flur gegangen und da hat eine Dame auf meine Turnschuhe gestarrt.“ Sie ruckte noch weiter nach vorn. „Außer mir überhaupt keiner hier trägt gelbe Turnschuhe.“

„Ist das eine neue Erfahrung?“ Herr Anton grinste ein klein bisschen frech. „Und übrigens: Außer mir fährt überhaupt keiner hier einen Rollstuhl.“

Zofia schaute sich um. Rechts saß eine Dame, die ungefähr siebzig Jahre alt war. Sie trug einen Rollkragenpullover, der auch ungefähr siebzig Jahre alt war. Dazu eine graue Strickweste und eine sehr, sehr ordentliche Frisur. Sie sah wie eine ehemalige Lehrerin aus. Und sie schaute interessiert zu ihnen herüber. Zofia schob sofort ihre Füße weiter unter den Tisch.

„Auf jeden Fall ist es hier sehr, sehr fein“, beharrte Zofia.

„Finde ich gar nicht“, widersprach Herr Anton und sah sehr munter dabei aus. „Dahinten sitzt ein Mann mit Gammelturnschuhen und einem Vollbart, der längst hätte gestutzt werden müssen. Das Hotel ist stilvoll, aber die Leute sind ganz normal.“

„Herzlich willkommen noch einmal in unserem Hause!“

Zofia fuhr herum, da stand die Frau, die eben beim Einchecken schon nicht zurechtgekommen war.

„Entschuldigen Sie bitte die Turbulenzen bei Ihrem Empfang! Ich hoffe, Sie haben in Ihren Zimmern alles gut vorgefunden?“

Zofia hielt den Atem an. Die Zimmer waren toll. Allerdings hatte der alte Mann festgestellt, dass die Tür zu seinem Badezimmer quietschte. Bestimmt sagte er das jetzt, er holte schon Luft.

„Wir überlegen gerade, wie viel Salat man nehmen darf!“

Zofia wollte sterben! Das war eindeutig schlimmer, als etwas übers Badezimmer zu sagen. Sie funkelte den alten Mann an, aber der schien es überhaupt nicht zu merken.

„Wie viel Salat?“ Die Frau sah Herrn Anton ernst an. „Für jeden sind 200 Gramm vorgesehen. Inklusive Dressing.“

Zofia erschrak. Was war hier los? Sie wartete auf ein Zeichen, dass diese Frau Spaß gemacht hatte. Die Deutschen benutzten oft Ironie. Aber da kam nichts. Und dann irgendwann doch – ein winzig kleiner Anflug von Lächeln, Zofia atmete auf. Diese Hotelfrau hatte offenbar einen sehr eigenen Humor. Zofia konnte sie sich besser in Jeans und gelben Turnschuhen vorstellen als im schwarzen Hoteldress.

„Nehmen Sie, sooft Sie wollen. Ich empfehle besonders den Bulgursalat nach dem Rezept unserer Empfangsleiterin Beata.“ Sie warf Zofia einen aufmunternden Blick zu. Zofia wusste, warum. Diese Beata war Polin. Eine Frau mit akkuratem Pagenschnitt und sehr blauen Augen. Sie allein hatte es hingekriegt, dass Zofia und Herr Anton am Ende ihre bestellten Einzelzimmer bekamen, obwohl die Buchung falsch aufgeschrieben war. Zofia hätte sie danach gern nach Janek gefragt, aber dazu hatte Herr Anton zu dringend auf die Toilette gemusst.

„Richtig lecker ist außerdem der Krautsalat mit angebratenem Speck und Champagner. Probieren Sie mal!“

„Ah, vielen Dank, aber wir hätten gleich noch eine Frage.“ Herr Anton lehnte sich zurück. Bestimmt kam jetzt die Badezimmertür. „Ist es möglich, mit Ihrem Pianisten zu sprechen – Janek – äh –“ Der alte Mann schaute Zofia hilfesuchend an.

„Sinkiewicz“, sagte sie, erleichtert, dass er dieses Thema ansprach – und nicht die Badezimmertür.

Die Hotelfrau schaute überrascht. „Sie möchten Herrn Sinkiewicz sprechen? Geht es um Musik für eine Feier?“

„Nein, er ist ein – hm, alter Bekannter. Allerdings können wir ihn im Moment nicht erreichen.“

„Verstehe.“ Die Hotelfrau strich über die gestärkte Tischdecke, obwohl Zofia den Eindruck hatte, dass sie absolut glatt war. „Da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Herr Sinkiewicz ist zur Zeit nicht verfügbar. Wir wissen nicht, wo er sich aufhält.“

„Ist das normal?“, mischte Zofia sich ein. „Ist es öfter, dass Sie nicht wissen, wo sich Herr Sinkiewicz aufhält?“

Die Hotelfrau überlegte kurz. „Ich bin nur aushilfsweise hier“, sagte sie dann. „Mit dem derzeitigen Personal bin ich nicht sehr vertraut. Aber angeblich hat Herr Sinkiewicz bei Kollegen von einer Rückkehr nach Polen gesprochen. Ich gehe davon aus, dass er einfach abgereist ist.“

„Aber es hieß, Janeks Gitarre sei noch hier. Meinen Sie, er ist ohne sein Instrument abgefahren?“ Herr Anton blickte zu dem schwarzen Klavier hinüber, das in der Ecke des riesigen Speisesaals stand – fast als überlegte er, ob Janek das nicht auch gut hätte mitnehmen können.

„Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen“, die Hotelfrau zuckte bedauernd die Schultern. „Mein Bruder und seine Frau, die das Hotel eigentlich führen, sind im Urlaub. Morgen ist mein Bruder zurück, vielleicht wissen wir dann mehr.“

„Verstehe“, Herr Anton nickte großmütig. „Dann warten wir mal ab. Zofia, wenn Sie mir auch ein wenig Salat holen würden? Der Bulgursalat soll ja köstlich sein.“

Die Hotelfrau zögerte kurz, dann nickte sie und zog sich zurück.

„Komisch, dass hier keiner Bescheid weiß.“ Nun war es Herr Anton, der sich zu ihr über den Tisch beugte. „Ich würde vorschlagen, Sie nehmen Kontakt zu dieser Empfangsdame auf.“

Dann stach er ein Stück Butter ab und wickelte es, so gut es mit seiner gesunden Hand ging, in eine Serviette.

Zofia beobachtete ihn mit einem großen Fragezeichen im Kopf. „Ist das für die Not?“

„Nein“, der alte Mann wirkte plötzlich sehr heiter. „Damit öle ich gleich meine Badezimmertür.“

Einen Moment schaute Zofia ihn einfach nur an, dann platzte sie heraus. „Sie haben recht, so fein ist es hier gar nicht.“

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Erschöpft hielt er inne. Den Bootstrailer vom Grundstück Richtung Dünen zu ziehen, war gefährlich gewesen. Immer wieder hatte er auf die Fenster der umliegenden Häuser geschaut, um zu sehen, ob jemand wach geworden war. Aber alles war dunkel geblieben, vielleicht hatte das Crescendo des Windes alle Geräusche verschluckt.

Jetzt allerdings musste er mit dem Trailer über den Sand, eine Strapaze. Sein Fieber war gesunken, aber er fühlte sich immer noch matt. Einen Moment sammelte er sich, dann biss er die Zähne zusammen und zog.

Es ging besser, als er befürchtet hatte, der Sand war hart, die Reifen sanken nicht ein. Erst am Wasser wurde es knifflig. Die Gummistiefel, die er im Haus gefunden hatte, liefen voll. Er musste tief hinein und das eiskalte Wasser lähmte ihn für einen Moment. Irgendwann ließ sich der Anhänger keinen Millimeter mehr ziehen. Mit klammen Fingern löste er die Gurte, mit denen das Boot auf dem Trailer festgezurrt war. Eine Welle half ihm, das Schlauchboot ins Wasser zu ziehen; er hievte sich ins Innere und blieb entkräftet liegen.

Das sanfte Schaukeln der Wellen, der Wind, vor dem man geschützt war; es war eine verlockende Vorstellung, einfach nicht mehr weiterzumachen. Dann sah er plötzlich seine Schwester vor sich, seine Schwester und seine Mutter. Und sie stellten Fragen. Warum, warum, warum?

Abrupt fuhr Janek hoch, krabbelte nach hinten zum Motor und senkte den Außenborder ins Wasser. Jetzt kam die Stunde der Wahrheit. Er hatte den Motor nicht testen können; zu groß seine Angst, dass ihn jemand hörte. Er konnte nur hoffen, dass er seetüchtig war – und dass er mit der Bedienung klarkam!

Er öffnete den Benzinhahn, zog den Choke. Der Motor stotterte, sprang aber nicht an. Beim zweiten Zug kam er, er kam, es war kaum zu glauben. Janek holte tief Luft, versuchte das richtige Maß an Gas zu geben, steuerte langsam aufs offene Meer. Er musste um die Insel herum, um ans Festland zu kommen. Bei der Dunkelheit beinah unmöglich. Mochte Gott ihm helfen – nur noch dieses eine Mal!

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„Oh ja, Seeluft macht müde!“

Anton fuhr hoch. Waren ihm tatsächlich die Augen zugefallen? Er hatte nach dem Abendessen in der Hotelbar noch ein letztes Getränk nehmen wollen, während Zofia diese Empfangsdame suchte. Nun stand ihre betagte Tischnachbarin vor ihm und hatte ihn bei einem Nickerchen erwischt.

„Darf ich?“ Sie zeigte auf den Stuhl ihm gegenüber. Was sollte er sagen? ‚Tut mir leid, ich halte alle Stühle frei, falls ich vom Rollstuhl mal rüberrucken will?‘

„Aber natürlich“, murmelte er.

„Sie haben sich nach dem Pianisten erkundigt“, begann die Dame das Gespräch. Mit einem Mal war Anton hellwach. Und mit einem Mal fand er ihre graue Strickweste fast attraktiv.

„Er hat bis letzten Donnerstag abends im Restaurant Klavier gespielt“, erklärte die Dame. „Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.“

Anton nickte. Das passte zu dem, was Zofia sagte. Leider enthielt es keinerlei neue Information.

„Darf ich mich vorstellen?“, fragte die Dame. „Hannelore Schwarz. Ich komme seit zweiundfünfzig Jahren in dieses Hotel.“

„Respekt!“ Anton war ehrlich beeindruckt. Zweiundfünfzig Jahre! Im Grunde hatte Frau Schwarz mit dem Hotel ja schon Goldene Hochzeit gefeiert.

„Früher bin ich in den Schulferien gereist – aus beruflichen Gründen.“

„Sie waren Lehrerin.“

„Nein.“

Anton fuhr erstaunt hoch.

„Ich war Schulleiterin. Übrigens: Als ich das erste Mal herkam, war gerade der kleine Redolf geboren.“

„Redolf?“

„Redolf Jenssen, der jetzige Hotelchef.“

Anton schmunzelte, Redolf, Feiko, offenbar wurden bei den ostfriesischen Vornamen gern Buchstaben vertauscht. Hier oben würde er wohl Inton heißen. Oder Antok.

„Er ist nicht da“, wollte Anton auch mal etwas beitragen.

„Stimmt! Erst ist Redolf in Urlaub gefahren, am Wochenende dann auch noch seine Frau, aber ganz ehrlich: So kurz vorm Saisonstart – das hätte es bei den alten Jenssens nicht gegeben.“

Da war sie, die Klage seiner Generation: Früher hätte es das nicht gegeben!

„Und wo dieser Janek sein könnte, wissen Sie nicht?“

„Wie sollte ich?“ Frau Schwarz‘ Antwort kam heraus wie ein Tadel an einen ihrer schlechtesten Schüler. „Ich erinnere mich nur, dass er leichenblass war, als er letzten Donnerstag spielte. Er hatte irgendetwas in den Knochen. Daher war ich nicht überrascht, als er am Freitag nicht kam.“

Endlich einmal eine neue Information. Dankbar speicherte Anton sie ab.

„Darf ich Ihnen etwas bestellen?“, kam es ihm plötzlich in den Sinn.

Frau Schwarz überlegte. „Eigentlich trinke ich abends immer einen Sex on the beach. Aber auch Bartosz ist weg; der Barkeeper macht ein paar Tage Urlaub und er ist der Einzige hier, der die Cocktails gut mixt“, Frau Schwarz klang schon wieder ein bisschen verschnupft. „Egal. Versuch ich‘s halt mit einem doppelten Grog.“

Anton nickte nach kurzem Zögern. Gut, dass er um ihre Standardbestellung herumgekommen war. Sex on the beach!

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Zofia war furchtbar erschöpft, als sie über den Flur ging. Das Abendessen hatte sie zusätzlich müde gemacht. Aber als sie plötzlich die beiden Zimmermädchen vor sich Polnisch sprechen hörte, machte sie das wieder wach. Auch einer der Kellner war Pole gewesen. Die Ostfriesischen Inseln schienen ein kleines Polen zu sein.

„Przepraszam!“, rief sie ihnen nach. „Darf ich euch etwas fragen?“

Erstaunt drehten sie sich um. Zofia beeilte sich und holte sie ein.

„Znacie Janka tego pianistę? Wíecie gdzie on jest?“

Die beiden schauten sich an. „Napewno z szeową w łóżku!“, sagte die eine und dann kicherten sie.

Zofia glaubte nicht recht zu hören. „Was soll das heißen?“

Die Mädchen wurden sofort ernst. „Przepraszam, wir haben es eilig.“ Im nächsten Moment waren sie weg.

Zofia war geschockt. Was redeten die? Sie musste mit dieser Beata sprechen, sofort.

Sie fand die Empfangsleiterin an der Rezeption. Sie saß hinter dem weiß-blauen Tresen an einem Schreibtisch und arbeitete dort am Computer.

„Hallo“, sagte sie überrascht, als Zofia angestürmt kam. „Hat alles geklappt mit Ihrem Patienten?“

Zofia wollte sagen, dass Herr Anton nicht ihr „Patient“ war, aber das war eigentlich egal. Etwas anderes war wichtig.

„Alles sehr gut“, sagte Zofia. Sie fühlte sich ganz durcheinander. Am liebsten hätte sie Polnisch gesprochen, aber diese Beata machte den Eindruck, als wäre das unter ihrem Niveau. „Habe ich eine Frage, eine dringende Frage.“

„Immer heraus damit!“ Beata lächelte nachsichtig. Sie trug jetzt eine sehr blaue Brille, die ihre sehr blauen Augen betonte.

„Frage ich um einen Bekannten“, Zofia überlegte, wie sie es formulieren sollte. „Sein Name ist Janek und er kommt aus meinem Dorf. Ich weiß, er arbeitet hier, aber seit Tagen wir können ihn nicht erreichen.“

„Janek?“ Beata fasste unsicher an ihre Brille, dann stand sie auf und kam näher heran. „Sie kennen Janek?“

„Von früher“, erklärte Zofia. „Ist er den Bruder von meiner Freundin. Er wollte sich melden bei Kaja vergangenen Freitag, aber dann er hat nicht gemacht. Wir machen uns Sorgen, sogar haben wir die Polizei angerufen.“

Beata hörte aufmerksam zu, sie wirkte überrascht und blieb doch ruhig und souverän. Zofia versuchte sich eine Scheibe abzuschneiden von dieser Person. Aber wie sollte das gehen, wenn man so aufgeregt war?

„Habe ich gerade zwei Zimmermädchen nach ihn gefragt und die eine hat gesagt –“, sie brachte es kaum über die Lippen, „die eine Zimmermädchen hat gesagt, bestimmt er wäre bei der Chefin in Bett.“

„Oh je“, Beata fasste sich an die Stirn. „Diese jungen Dinger.“

„Ist denn das wahr?“

Beata schien zu überlegen. „Kommen Sie mal herum“, sagte sie schließlich. Im Grunde war das bereits eine Antwort.

„Haben wir vorher auch eine andere Frau nach Janek gefragt“, sprudelte es aus Zofia heraus, während sie zu Beata hinter den Tresen trat. „Sie ist die Schwester von Ihren Hotelchef. Und sie hat gesagt, keiner weiß, wo Janek ist. Es ist doch komisch, dass niemand das weiß. Und dass auch niemanden das interessiert.“

Beata betrachtete sie ernst. Es sah aus, als überlegte sie, was sie ihr zumuten konnte. „Setzen Sie sich!“

Da war ein zweiter Stuhl an Beatas Schreibtisch. Zofia setzte sich vorsichtig hin.

„Wissen Sie, Zofia – Sie heißen doch Zofia, nicht wahr?“

„Ja“, beeilte sich Zofia zu sagen.

„Ich heiße Beata“, ein dünnes Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. Ein Lächeln, das sagte, dass es eigentlich nichts zu lächeln gab. „Darf ich ehrlich mit Ihnen sein?“ Zofia nickte beklommen.

„Sie haben recht, Janek ist verschwunden. Aber das eigentliche Problem ist: unsere Hotelchefin auch.“

Zofia versuchte das zu verstehen. „Sie ist in Urlaub mit ihren Mann, hat diese Hotelschwester gesagt. Und dass es ist deswegen sehr hektisch.“